Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen -  - E-Book

Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen E-Book

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Beschreibung

Der Anteil der Kinder, die zwei- oder mehrsprachig aufwachsen und bei denen Deutsch nicht die Erstsprache ist, nimmt in Deutschland deutlich zu. Deshalb haben mittlerweile etwa 28% der Kinder im Kleinkind- und Vorschulalter einen Migrationshintergrund und in jeder fünften Familie wird nicht vorrangig Deutsch gesprochen. Entsprechend ist davon auszugehen, dass dies auch für viele Familien zutrifft, in denen ein Kind mit einer Beeinträchtigung lebt und für das Zwei- oder Mehrsprachigkeit im Lebensalltag bedeutsam ist. Häufig besteht jedoch das Vorurteil, dass vor allem Kinder mit einer kognitiven Beeinträchtigung mit einem mehrsprachigen Angebot überfordert würden. Das Buch möchte diese kritische Haltung überwinden und reflektiert deshalb, welche Bedingungen für das mehrsprachige Lernen bestehen und was für die Sprachförderung der Kinder zu berücksichtigen ist.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort: Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen

Mehrsprachiger Erwerb

1 Mehrsprachig werden: Nicht nur etwas für Kronprinzessinnen

2 Kognitive Überforderung durch Mehrsprachigkeit?

3 Was macht mehrsprachigen Erwerb besonders?

4 Was wird erworben und wie können Fortschritte im mehrsprachigen Erwerb erfasst und bewertet werden?

Literatur

Diagnostische Fragen zur Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen

1 Die diagnostische Herausforderung

1.1 Sprachdiagnostik bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen

1.2 Diagnostische Fragen im Kontext kindlicher Mehrsprachigkeit und kognitiver Beeinträchtigung

2 Der entwicklungsorientierte Ansatz

2.1 Grundannahmen des entwicklungsorientierten Ansatzes

2.2 Das zugrundeliegende theoretische Modell des Spracherwerbs

3 Das diagnostische Vorgehen bei mehrsprachigen Kindern mit einer kognitiven Beeinträchtigung

3.1 Das Elterngespräch

3.2 Erfassung der kommunikativen und sprachlichen Kompetenzen des Kindes in allen Sprachen

3.3 Analyse weiterer sprachrelevanter Fähigkeiten

4 Das entwicklungsorientierte diagnostische Vorgehen an einem Fallbeispiel

4.1 Das Elterngespräch

4.2 Erfassung der kommunikativen und sprachlichen Fähigkeiten des Kindes in allen Sprachen

4.3 Analyse der nichtsprachlichen sprachrelevanten Fähigkeiten

4.4 Zusammenfassung, Interpretation und Empfehlungen

Verzeichnis der genannten Testverfahren

Literaturverzeichnis

Sprachförderung von mehrsprachigen Kindern mit Beeinträchtigungen im Vorschulalter

1 Einführung

2 Gestaltung sprachförderlicher Interaktionen für mehrsprachige Kinder mit Beeinträchtigungen – Interaktionspartner*innen und Prinzipien

2.1 Sprachförderliche Gestaltung von Erwachsenen-Kind-Interaktionen

2.2 Peer-Interaktionen von mehrsprachigen Kindern mit Beeinträchtigungen fördern

3 Kooperation im Kontext Sprachförderung für mehrsprachige Kinder mit Beeinträchtigungen

3.1 Zusammenarbeit von Eltern und frühpädagogischen Einrichtungen

3.2 Interdisziplinäre Kooperation

4 Ausblick

5 Materialtipps und Links

Literatur

Sprachsensibler Unterricht – ein Konzept für zwei- und mehrsprachige Schülerinnen und Schüler mit kognitiven Beeinträchtigungen?

1 Problemaufriss

2 Mehrsprachigkeit im Kontext kognitiver Primärbeeinträchtigung

2.1 Typen des Zweit- und Mehrspracherwerbs

2.2 Sprachliche Profile bei kognitiver Behinderung

2.3 Besonderheiten des mehrsprachigen Erwerbskontexts bei kognitiven Beeinträchtigungen

3 Didaktisch-methodische Konzeptelemente für mehrsprachige Schülerinnen und Schüler mit kognitiven Beeinträchtigungen

3.1 Erfassung der Lernausgangslage und des Lernfortschritts

3.2 Sprachsensibler Unterricht als Rahmenkonzept im Schwerpunkt Geistige Entwicklung

3.3 Ausgewählte Konzeptelemente des sprachsensiblen Unterrichts

4 Fazit

Literatur

Die Bedeutung von Gebärden in der Sprachförderung zwei- und mehrsprachiger Kinder mit kognitiver Beeinträchtigung

1 Gesten, Gebärden und Gebärden-unterstützte Kommunikation

2 Förderung des Spracherwerbs mit Gebärden

3 Mit GuK zwei- und mehrsprachige Kinder mit kognitiven Beeinträchtigungen fördern

4 Erfahrungen mit Gebärden bei zwei- und mehrsprachigen Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen

Literatur

Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen

1 Autismus und Sprachentwicklung

2 Autismus und Bilingualität

3 Perspektive der Familien von Kindern im Autismus-Spektrum

4 Konsequenzen der Empfehlungen zur Einsprachigkeit

5 Richtlinien für die Praxis

6 Praxisbeispiel

7 Schluss

Literatur

Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit Down-Syndrom

1 Zwei- und Mehrsprachigkeit als Lebensbedingung

2 Sprachentwicklung und Zwei- und Mehrsprachigkeit

3 Sprachentwicklung, Zweisprachigkeit und Kognition

4 Sprachentwicklung bei Kindern mit Down-Syndrom

5 Zweisprachigkeit bei Kindern mit Down-Syndrom

6 Erfahrungen mit Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit Down-Syndrom

7 Elternbefragung zur Zwei- und Mehrsprachigkeit

Beratung

Gebärden

Simultane oder sukzessive Zweisprachigkeit

8 Sprachförderung bei zweisprachigen Kindern mit Down-Syndrom

Literatur

Unterstützte Kommunikation bei Zwei- und Mehrsprachigkeit

1 Problemaufriss

2 Perspektiven auf Mehrsprachigkeit (Wissen)

3 Perspektiven auf Mehrsprachigkeit reflektieren (Einstellungen)

4 Mehrsprachige UK-Maßnahmen (Fähigkeiten)

5 Einbeziehung des Umfelds

6 Mehrsprachige Kommunikationshilfen

7 Mehrsprachige UK-Interventionen

8 Fazit

Literatur

Bilinguale Entwicklung von Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen unter kultur- und sprachspezifischen Aspekten – Elternselbsthilfe Mina – leben in Vielfalt e.V. Berlin

1 Sprache und Wahrnehmung

2 Behinderungs- und kultur-spezifische Selbsthilfe

3 Kultur- und sprachspezifische Selbsthilfe – Mina – Leben in Vielfalt e. V. Berlin

4 Erfahrungen mit bilingualer Entwicklung von Kindern mit einer geistigen Beeinträchtigung

Sinem

Serhat

Malik

5 Erfahrungen mit bilingualer Entwicklung türkischer Kinder

Literatur

Ein Chromosom extra und zwei Sprachen – Aufwachsen mit Down-Syndrom auf zwei Kontinenten

Thea spricht zwei Sprachen

Lesenlernen in Englisch und Deutsch

Sprechapraxie und viele Sprachen

Der Weg in die Zukunft

Deutsch und Holländisch – das ist für mich kein Problem

Down-Syndrom und Sprache?

Welche Sprache war besser?

Wie wurde dieses Problem gelöst?

Meine Sprachentwicklung!

Wie sieht es jetzt aus mit meinen Holländisch Kenntnissen?

Sprache macht Spaß!

Verzeichnis der Autorinnen

Die Herausgeberin

Prof. Dr. Etta Wilken lehrte am Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover Allgemeine und integrative Behindertenpädagogik. Sie verfügt über jahrzehntelange Erfahrungen in der Förderung von Kindern und Jugendlichen mit kognitiver Beeinträchtigung sowie in der Beratung von Eltern und Pädagogen.

Etta Wilken (Hrsg.)

Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-041504-1

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-041505-8epub: ISBN 978-3-17-041506-5

Vorwort: Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen

Etta Wilken

Der Anteil der Familien, in der zwei oder mehrere Sprachen gesprochen werden, hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen und wird weiter wachsen. Während bisher in Deutschland, anders als in vielen anderen Ländern, Einsprachigkeit die Regel war, haben mittlerweile über 20 % der Kinder im Kleinkind- und Vorschulalter auch hier einen Migrationshintergrund und in jeder fünften Familie wird nicht vorrangig Deutsch gesprochen (Statistisches Bundesamt 2021, 321). Auch der Anteil der Familien, in denen ein Elternteil eine andere Muttersprache als Deutsch spricht, hat deutlich zugenommen.

Diese Bedingungen betreffen auch Kinder mit kognitiven Beeinträchtigungen und erfordern, die entsprechenden Konsequenzen für die sprachliche Förderung in Krippe und Frühförderung, im Kindergarten und in der Schule zu reflektieren.

Denn während das zweisprachige Aufwachsen von Kindern mit regelhafter Entwicklung in gemischtsprachigen Familien oder in verschiedenen sprachlichen Familien- und Umfeldbedingungen überwiegend positiv gesehen wird, gibt es vor allem bei therapeutischen und pädagogischen Fachkräften oftmals Bedenken, ob es sinnvoll und möglich ist, dass Kinder mit einer kognitiven Beeinträchtigung zwei oder sogar mehrere Sprachen lernen. Deshalb wird noch oft die Empfehlung gegeben, sich auf eine Sprache zu beschränken. Allerdings wird dabei nicht die Lebenswirklichkeit der Kinder berücksichtigt, in der beide Sprachen – oder auch mehrere – für das Kind und seine Bezugspersonen bedeutsam sind.

Deshalb ist es wichtig, die besonderen Bedingungen für das sprachliche Lernen der Kinder sowohl bezogen auf die verschiedenen Altersstufen zu berücksichtigen als auch die speziellen Anforderungen bei unterschiedlichen Behinderungen zu bedenken. Vor allem der Beratung und Zusammenarbeit mit den Eltern kommt dabei eine wesentliche Bedeutung zu.

Die vorliegenden allgemeinen Erkenntnisse zur sprachlichen Entwicklung von Kindern bei Zwei- und Mehrsprachigkeit sind eine wichtige Grundlage für Beratung und Förderung, auch von Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen (siehe den Beitrag von Solveig Chilla).

Da die Anwendung der üblichen diagnostischen Verfahren mit gewissen Einschränkungen zu sehen ist, kann die Einschätzung der kommunikativen und sprachlichen Entwicklung von Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen schwierig sein. Deshalb ist es wichtig, aufzuzeigen, welche diagnostischen Vorgehensweisen unter diesen Bedingungen geeignet sind (siehe den Beitrag von Maren Aktas und Sylvia Mira Wolf).

Der Erwerb sprachlicher und kommunikativer Kompetenzen ist für alle Kinder ein wichtiger Entwicklungsbereich in den ersten Lebensjahren und im Vorschulalter. Das gilt auch für Kinder mit Beeinträchtigungen. Es ist deshalb zu reflektieren, wie die Sprachförderung von zwei- und mehrsprachigen Kindern mit Beeinträchtigungen in diesem Alter gestaltet werden kann. Eine wesentliche Bedeutung hat dabei die Zusammenarbeit mit den Eltern, aber auch die Förderung positiver Peer-Kontakte (siehe den Beitrag von Janina Dott & Ulla Licandro).

Bei der Sprachbildung zwei- und mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler im Schwerpunkt Geistige Entwicklung bietet sich unter Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen das Konzept des sprachsensiblen Unterrichts an, das von der Wertschätzung der Herkunftssprache und einer positiven Einstellung zur Bilingualität ausgeht. Dabei werden viele Gelegenheiten für Sprachhandlungen wie Benennen, Beschreiben, Erzählen, Beurteilen geboten und ergänzend sind auch multimodale Kommunikationsformen der UK einzusetzen (siehe den Beitrag von Tanja Jungmann und Ingeborg Thümmel)

Um die präverbale Kommunikation zu fördern und noch nicht sprechenden Kindern Verständigung zu ermöglichen, haben sich verschiedene Verfahren der Unterstützten Kommunikation bewährt. Dazu gehört auch das Konzept der Gebärden-unterstützten Kommunikation (GuK). Es fördert bei nicht oder noch nicht sprechenden Kindern nicht nur das Verstehen und Mitteilen, sondern auch sprachrelevante Basisfähigkeiten. Für zwei- und mehrsprachige Kinder können zudem die Gebärden eine Brücke zwischen den Sprachen sein (siehe den Beitrag von Etta Wilken).

Wenn bei Kindern aufgrund einer vorliegenden diagnostizierten Behinderung eine erhebliche Beeinträchtigung der Sprachentwicklung zu erwarten ist, besteht häufig die Annahme, dass Zweisprachigkeit eine Überforderung sein könnte. Deshalb soll am Beispiel von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen, Kindern mit Down-Syndrom und von Kindern, die auf Unterstützte Kommunikation angewiesen sind, aufgezeigt werden, wie Förderung gelingen kann und welche verschiedenen Aspekte zu berücksichtigen sind.

Die Sprachentwicklung von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen zeigt spezielle Beeinträchtigungen in den Bereichen Kommunikation und soziale Interaktion. Manche Kinder benötigen therapeutische Hilfe, um in die verbale Sprache zu kommen. Bei vielen Kindern sind vor allem die pragmatischen Fähigkeiten beeinträchtigt. Es ist verständlich, dass Zwei- und Mehrsprachigkeit deshalb oft kritisch gesehen wird und die Sorge besteht, Kinder mit dieser Beeinträchtigung wären damit überfordert. Mit entsprechender therapeutischer und pädagogischer Unterstützung sind sie jedoch sehr wohl in der Lage, diese Herausforderungen zu bewältigen (siehe den Beitrag Kristin Snippe).

Vorliegende Untersuchungen und Erfahrungen zur Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit Down-Syndrom verdeutlichen, dass der Spracherwerb nicht abweichend erfolgt und die erreichte Sprachkompetenz die typische Streubreite und die bekannten syndromtypischen Probleme mit dem üblichen Fähigkeitsprofil zeigt. Es ist deshalb wichtig zu betonen, dass es keine speziellen negativen Auswirkungen der Zweisprachigkeit bei Kindern mit Down-Syndrom gibt (siehe den Beitrag von Etta Wilken).

Eine besondere Herausforderung bei Zwei- und Mehrsprachigkeit stellt die Unterstützte Kommunikation dar. Damit Kinder, die nicht oder nicht hinreichend verbal kommunizieren können und auf UK angewiesen sind, eine alltagsrelevante und kultursensible Unterstützung erhalten, ist es erforderlich, die Handlungskompetenzen sowohl von UK-Fachkräften zu erweitern als auch im Umfeld des Kindes entsprechende Unterstützung zu gewährleisten. Die Berücksichtigung der verschiedenen Perspektiven von Mehrsprachigkeit ermöglicht, konkrete Hinweise für eine praktische Umsetzung zu entwickeln (siehe den Beitrag von Lena Lingk).

Ein wichtiger Aspekt der Sprachförderung von Kindern mit Beeinträchtigungen ist die Zusammenarbeit mit den Eltern. Vor allem wenn die Eltern aus einem anderen Sprach- und Kulturkreis kommen, sind deren familiäre Lebensbedingungen und Einstellungen zu berücksichtigen. Eine entsprechende kultursensible Beratung und Begleitung ist deshalb nötig und muss differenziert angeboten werden (siehe den Beitrag von Etta Wilken).

Der Bericht einer Mutter über die sprachliche Entwicklung ihrer Tochter vermag einen Eindruck zu geben, wie es gelingt, dass unter geeigneten Bedingungen eine zweite Sprache sukzessiv gelernt werden kann (siehe den Beitrag von Verena Weinert).

Interessant ist auch der Bericht einer jungen Frau mit Down-Syndrom, zeigt er doch, welche sprachlichen Kompetenzen erworben werden können, wenn die entsprechenden Rahmenbedingungen gegeben sind und das individuelle Potential sich optimal entwickeln kann. Die Erfahrungen zeigen auch, wie Teilhabe und Lebensqualität durch eine zweite Sprache erweitert wird (siehe den Beitrag von Andrea Halder).

Das vorliegende Buch hat das Ziel, Informationen zur Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen zu geben und Eltern sowie pädagogische und therapeutische Fachkräfte zu ermutigen, den simultanen bilingualen oder sukzessiven Mehrspracherwerb als möglich anzusehen und nicht vorschnell abzulehnen. Dann können durch Kooperation aller Beteiligten angemessene Förderbedingungen gestaltet werden, die sowohl die individuellen behinderungsspezifischen Bedürfnisse als auch die Lebenssituation der Familie berücksichtigen.

Mehrsprachiger Erwerb

Solveig Chilla

In diesem Beitrag wird ein kurzer allgemeiner Überblick zum Thema »Mehrsprachiger Erwerb« gegeben. Im Vordergrund stehen dabei fünf wesentliche wissenschaftliche Erkenntnisse.

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Erstens ist Mehrsprachigkeit weltweit die Regel, Einsprachigkeit die Ausnahme.

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Zweitens können Kinder mehrere Sprachen gleichzeitig erwerben, ohne dass dies zu einer kognitiven Überforderung führen würde.

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Drittens nutzen mehrsprachige Kinder, Jugendliche und Erwachsene ihre Sprachen zu verschiedenen Zwecken, in unterschiedlichen Situationen und in unterschiedlichen sozialen Kontexten. Sie können als Mehrsprachige auf mehr sprachliche Ressourcen zurückgreifen als einsprachige Personen, d. h. sie können ihre Sprachen kreativ nutzen, um gemischte Sprache zu produzieren. Auch wirkt der Erwerbskontext auf den Erwerb sprachlicher Ressourcen: So kann der Wortschatz in einer Sprache sehr eng an die Erfahrungen in dieser Sprache geknüpft sein.

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Viertens nehmen viele rein sprachwissenschaftliche Studien eine einsprachige Perspektive auf Mehrsprachigkeit ein, indem die Erwerbsfortschritte von mehrsprachigen Kindern mit denen einsprachiger Gleichaltriger verglichen werden.

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Dies ist an sich nicht problematisch und für die Erforschung von Erwerbsstufen oder -schritten durchaus sinnvoll. Allerdings wird der Sprachenerwerb von vielen Faktoren beeinflusst. Speziell das Sprachenangebot und die Sprachgebrauchsbedingungen variieren zwischen einzelnen Kindern stark. Es ist nicht leicht, diese Einflussbedingungen und ihre Bedeutung für den Erwerbsverlauf jeder einzelnen Sprache eines individuellen mehrsprachigen Kindes zu erfassen, zu dokumentieren und zu bewerten. Daher reichen die für Monolinguale entwickelten Definitionen und Erwerbsmodelle oft nicht aus, um die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Kinder zu erfassen und zu bewerten.

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Fünftens gibt es viele Aspekte, in denen ein mehrsprachiges Kind ähnliche oder sogar gleiche Schritte wie ein einsprachiges Kind in derselben Sprache vollzieht. Dies bedeutet aber nicht, dass der Erwerbsverlauf von Kindern, die beispielsweise Deutsch als einzige Sprache erwerben, in jeder Hinsicht derselbe ist wie der von Kindern, die neben Deutsch gleichzeitig noch weitere Sprachen erwerben. Daher stellt die Bewertung von Erwerbsschritten im Kontext von Mehrsprachigkeit eine besondere Herausforderung dar.

1 Mehrsprachig werden: Nicht nur etwas für Kronprinzessinnen

Zu Beginn des Jahres 2018 erfreute eine Pressemitteilung die Weltöffentlichkeit:

»Prinzessin Charlotte wächst zweisprachig auf – Seit einigen Wochen besucht Prinzessin Charlotte nun den Kindergarten. Charlotte scheint zudem ein kleines Sprachtalent zu sein. Die kleine Prinzessin Charlotte scheint ein aufgewecktes Mädchen zu sein. Mit zwei Jahren geht sie bereits in den Kindergarten und lernt sogar eine Fremdsprache« (RED 2018).

Was für Prinzessin Charlotte eine Pressemitteilung wert ist, ist für eine große Zahl von Kindern selbstverständlich: Fast jedes 3. Kind wurde 2020 in eine internationale Familie geboren (Statistisches Bundesamt 2021, zit. nach verband-binationaler.de), in der sie oft neben Deutsch noch eine oder mehrere weitere Sprache‍(n) sprechen. Auch Kinder aus bilingualen Familien, in denen in Deutschland anerkannte Minderheitensprachen (z. B. Niederdeutsch, Sorbisch, Dänisch, Friesisch) gesprochen werden, sind mehrsprachig. Jedes fünfte Kind kommt erst in der KiTa verstärkt mit der deutschen Sprache in Berührung (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020) und ein Drittel aller KiTa-Kinder unter sechs Jahren in Berlin spricht in der Familien eine andere Sprache als Deutsch (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020). Auch gehörlose Kinder oder hörende Kinder gehörloser Eltern, die die deutsche Lautsprache und die deutsche Gebärdensprache erlernen, wachsen mehrsprachig auf. Mit anderen Worten: Viele Kinder können mit Eintritt in die Krippe oder die Kita ihr »Sprachtalent« beweisen: Sie erwerben neben ihren Familiensprachen die Sprache der Mehrheitsgesellschaft in einem institutionellen Kontext.

In weitgehend nationalsprachlich geprägten Gesellschaften dominiert immer noch die Vorstellung, dass Einsprachigkeit das typische, Mehrsprachigkeit das Besondere sei. Dabei gibt es auf der Erde circa 200 Länder mit mehr als 7000 Sprachen (Eberhard et al. 2021). Man schätzt, dass in Brasilien 227, in den USA 347 und im Inselstaat Papua-Neuguinea bis zu 840 Sprachen gesprochen werden (Eberhard et al. 2021). In Deutschland überwiegen die Menschen, die sich selbst als monolingual, bzw. einsprachig bezeichnen oder im Mikrozensus als solche erfasst werden. Dabei wird geschätzt, dass zwischen 60 und 75 % der Weltbevölkerung zwei- oder mehrsprachig sind, nicht zuletzt, weil die Abgrenzung zwischen Dialekt und Sprache oft fließend ist. Hinnenkamp (2010) fasst zusammen: »Mehrsprachigkeit in Deutschland ist wie ein Flickenteppich mit vielen Löchern. Die Löcher sind dabei die Zonen der Einsprachigkeit.«

Die immer noch weit verbreitete idealisierte Vorstellung, dass Einsprachigkeit und einsprachige Sprecher*innen die Norm sei (»monolingual bias«, Zubrzycki 2019), beeinflusst auch die unterschiedliche Bewertung mehrsprachigen Aufwachsens von Kindern. Vor dem Hintergrund vieler Forschungsergebnisse der letzten Jahre, die einerseits die Variabilität im Spracherwerb und im Sprachgebrauch von Ein- und Mehrsprachigen betrachten und andererseits die Bedeutung von Sprachgebrauchsbedingungen und Lebenswelt für den Sprach‍(en)‌erwerb in den Vordergrund rücken, wird dieses Konstrukt des »idealen einsprachigen Sprechers« aber heute in Frage gestellt. Als mehrsprachig soll im Folgenden gelten, wer in mehr als einer Sprache, Modalität, Varietät, einem Dialekt über kommunikative Kompetenzen und unterschiedliche mündliche und/oder schriftliche Fähigkeiten verfügt, um mit Sprecher*innen in einer oder mehrerer Sprachen zu interagieren (Chilla & Niebuhr-Siebert 2017, 2022). Dabei ist zunächst unerheblich, zu welchen Zeitpunkt im Leben und unter welchen Bedingungen (z. B. schulischer Fremdsprachenerwerb, Migration, bilinguale Familien) die mehrsprachigen Fähigkeiten erworben wurden und wie die individuellen Sprachleistungen einer mehrsprachigen Person im Vergleich zu gleichaltrigen Einsprachigen derselben Sprachen bewerten werden. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass aktuelle Forschungsergebnisse zur Bedeutung der Lernumgebung und der institutionellen Förderung des Sprachenlernens zeigen, wie stark sich die Lernumgebungen auf den Sprachenerwerb, den Sprachengebrauch und letztlich auch auf die bildungs- und schriftsprachlichen Fähigkeiten von Kindern auswirken – und dies unabhängig davon, ob sie überwiegend einsprachig oder in mehreren Sprache groß werden und ob individuelle (kognitive, psychosoziale, entwicklungsbedingte, auditive oder sozial-emotionale) Voraussetzungen vorliegen, die das Sprachenlernen an sich beeinflussen.

»Mehrsprachigkeit« ist ein komplexes Konstrukt, weil sich Menschen nicht nur in der Anzahl ihrer Sprachen oder darin, wie gut sie die Sprachen sprechen, unterscheiden. Wenn von Mehrsprachigkeit gesprochen wird, können sowohl individuelle Sprachfähigkeiten (das linguistische Sprach‍(en)‌wissen bzw. die mentalen Grammatiken) als auch der soziale Kontext, in dem die unterschiedlichen Sprachen gemeinsam oder getrennt verwendet werden, im Vordergrund der Betrachtung stehen (vgl. Backer & Bortfeld 2021). Die Institutionen der Mehrheitsgesellschaft, wie Kita und Schule, sind die Bildungs- und Lernorte, in denen sich Kinder ihrer Sprachen bewusst werden, Sprachen erproben und Sprachen begegnen und Wertschätzung für ihre sprachliche und ggf. mehrsprachige Identität erfahren können (Chilla & Niebuhr-Siebert 2022).

Viele in Deutschland aufgewachsene Menschen verbinden mit dem Erwerb gesellschaftlich und politisch bedeutsamer europäischer Fremdsprachen (Englisch, Französisch, Spanisch) einen hohen Wert, der es dem Kind ermöglichen soll, im späteren Berufsleben erfolgreicher als Monolinguale zu sein. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass Eltern sich immer öfter wünschen, dass ihre Kinder eine bilinguale Kindertagesstätte besuchen. Dagegen werden Minderheitensprachen von Migrant*innen oder die Deutsche Gebärdensprache weitaus seltener als Wert an sich betrachtet: bei dieser Gruppe von Kindern stehen oft nur die Fortschritte im Erwerb der deutschen Lautsprache im Vordergrund. Testen Sie sich selbst: Welches Kind aus dem folgenden Beispiel beeindruckt Sie in Bezug auf die sprachlichen Leistungen in seiner Zweitsprache mehr?

Beispiel 1

Faruk wächst mit Türkisch als Familiensprache auf. Mit 2 Jahren und 11 Monaten ist er in eine Hamburger Kita gekommen und seitdem und vornehmlich dort regelmäßig mit der deutschen Sprache in Kontakt.

das passt hier schon.ich komme.eine bo monster komme. (= So ein Monster kommt.) (3;4, nach 6 Monaten in der Kita)was is in de ecke?du nimms die.hast du keine toilette mehr? (3;5, nach 8 Monaten in der Kita)

Soey wächst mit Deutsch als Familiensprache auf. Mit 3 Jahren kommt sie in eine englischsprachige Hamburger Kita. In der Kita wird ausschließlich Englisch mit den Kindern gesprochen.

Vater:Soey, kannst du auf Englisch zählen?

one two three four five six eight nine ten.

Vater:And what colour is that (zeigt einen Londoner Bus)?

mhh, I glaube, red.

Vater:And what is your name?

soey! (3;11, nach 12 Monaten in der Kita)

Wie Beispiel 1 zeigt, ist es aus der Perspektive einer nationalsprachlich und monolingual geprägten Gesellschaft wie Deutschland nicht unbedeutend, welche Sprachenpaare ein Kind erwirbt: Soey wird möglicherweise für jedes englischsprachige Wort gelobt und ihr Vater ist stolz, dass seine vierjährige Tochter schon auf Englisch bis zehn zählen kann. Viele Kinder wie Faruk, die Türkisch als Familiensprache haben, erfahren dagegen schon früh, dass ihre Entwicklung des Deutschen mit anderen Augen betrachtet wird und eher die Abweichungen von der deutschen Standardsprache als Fehler bewertet werden (eine bo monster komme) als die Tatsache, dass er in nur 8 Monaten Kontakt mit dem Deutschen die Hauptsatzstruktur bereits sicher anwenden kann und kaum grammatische Fehler macht.

Soey und Faruk erwerben beide ihre zweite Sprache (Englisch bzw. Deutsch), nachdem sie ihre erste Sprache in Grundzügen bereits gut können. Sprachwissenschaftlich wird für diese Erwerbskonstellation der Begriff sukzessiv-mehrsprachig genutzt, um sie vom simultanen Erwerb zweier Sprachen von Geburt an abzugrenzen. Weder Faruk noch Soey sind mit dem frühen Sprachenangebot überfordert. Beide Kinder werden ihre sprachlichen Fähigkeiten in allen ihren Sprachen weiter ausbauen, wenn ihnen genügend Gelegenheit zur Erprobung und Erweiterung ihrer sprachlichen Fähigkeiten gegeben wird.

2 Kognitive Überforderung durch Mehrsprachigkeit?

Für viele Familien in Deutschland gilt immer noch, dass die Bezugspersonen eines Kindes (Eltern) und die Umgebung (Mehrheitssprache, Umgebungssprache) dieselbe Sprache (Deutsch) teilen. Sofern keine Beeinträchtigung des Erwerbs vorliegt, wird das Kind das Deutsche vollständig erwerben und kompetent darin kommunizieren. Derartige soziale und gesellschaftliche Erwartungshaltungen und Ideale beeinflussen den »Wert« mehrsprachigen Aufwachsens für unterschiedliche Gruppen von Kindern.

Die Tatsache, dass die meisten Menschen auf der Welt mehrsprachig sind, trägt auch dazu bei, anzuerkennen, dass der mehrsprachige Erwerb für Kinder selbstverständlich ist. Die überwiegende Zahl der Studien zur Zwei- und Mehrsprachigkeit beweist: Weder werden Kinder durch ein mehrsprachiges Angebot überfordert noch sind nur echte »kleine Sprachtalente« in der Lage, sich mehrere Sprachen gleichzeitig zu erschließen. Und dies gilt ebenso für Kinder, bei denen der Lautspracherwerb aufgrund individueller Voraussetzungen beeinträchtigt wird. Spracherwerbstheoretisch ist es nicht zu begründen, auf eine der Sprachen (meist die Familiensprache) zu verzichten, um den Erwerb der Mehrheitssprache (Lautsprache Deutsch), mit der einige mehrsprachig aufwachsende Kinder erst in den Institutionen (Frühförderung, Kita oder Schule) regelmäßig in Kontakt kommen, nicht zu behindern oder »um wenigstens eine Sprache gut zu beherrschen«. Im Gegenteil zeigen Studien mit gehörlosen Erwachsenen übereinstimmend: Kinder benötigen genügend und genügend gute Anregung in mindestens einer Sprache im ersten Lebenshalbjahr, um Sprache‍(n) zu erwerben (Mayberry & Kluender 2018; Hänel-Faulhaber 2018). So ist es für gehörlose Kinder wichtig, (die deutsche) Gebärdensprache (DGS) zu erwerben, denn der Erwerb dieser ersten Sprache ist ausschlaggebend für den späteren Sprach‍(en)‌erwerb (Mayberry 2007). Wird der Zugang zu DGS als Erstsprache für gehörlose Kinder verzögert, weil ihre hörenden Eltern diese Sprache nicht sprechen, hat das zur Folge, dass gehörlose Kinder nur ungenügende Anregung in einer ersten Sprache erhalten und sich dies auch auf alle später erworbenen Sprachen auswirkt.

Eltern, die sich für ihre Kinder eine bilinguale Erziehung im Kindergarten wünschen, haben darüber hinaus konkrete Vorstellungen davon, dass Mehrsprachigkeit auch für die geistige Entwicklung Vorteile hat (»bilingual advantage«, Bialystok et al. 2003). Letztlich soll das frühe mehrsprachige Angebot dem eigenen Kind Vorteile für die spätere schulische und berufliche Zukunft verschaffen. Bei Bilingualen sind die Sprachen parallel aktiviert, sodass keine der beiden Sprachen ganz abgeschaltet wird. Die Verarbeitungsprozesse sind bei ein- und mehrsprachigen Erwachsenen grundsätzlich ähnlich, d. h. Bilinguale und Monolinguale nutzen gleiche oder angrenzende Areale der Sprachverarbeitung, aber Mehrsprachige aktivieren zusätzlich kognitive Kontrollareale (Festman et al. 2010). Bilinguale trainieren folglich bestimmte kognitive Fähigkeiten täglich mehr als einsprachige Personen, und es wird angenommen, dass sich dieser Trainingseffekt auch auf die Sprachleistungen auswirkt. So können Bilinguale schnell und problemlos zwischen Sprachen hin- und herwechseln und sich gleichzeitig den Sprachen anpassen, die die Interaktionspartner*innen sprechen und die jeweils nicht der Situation angemessene Sprache (unbewusst) unterdrücken (»inhibition«) (Beispiel 2).

Beispiel 2

Kamal ist 2;6 Jahre alt und wächst mit palästinensischem Arabisch und Englisch als Familiensprachen auf. Mit 2 Jahren kommt er in eine deutschsprachige Bremer Krippe, in der überwiegend deutsch gesprochen wird. Seine Bezugserzieherin spricht weder Arabisch noch Englisch. Er wird von seinem Vater abgeholt und sieht seinen Vater kommen

Kamal zur pädagogischen Fachkraft:»Mein Papa ist da!«

Kamal zum Vater:»Marhaba baba!« (= Guten Tag, Papa!)

Und tatsächlich zeigen Studien, die meist mit simultan-bilingualen Proband*innen durchgeführt wurden, dass Zweisprachige mental flexibler sind. Wie Kamal lernen sie früh, dass Objekte und Ereignisse zwei oder mehr Bezeichnungen haben (baba/Papa/daddy) (vgl. auch Kuhl et al. 2016).

Auch in nichtsprachlichen kognitiven Bereichen wie Aufmerksamkeitssteuerung oder Gedächtnisleistungen kann Zweisprachigkeit positive Auswirkungen haben. In bestimmten Bereichen können Zweisprachige sogar Einsprachige übertreffen. Zu den Teilkomponenten der Kognition gehören die Entwicklung metasprachlicher Kompetenz und die Entwicklung der Intelligenzleistungen, z. B. Problemlöseverhalten und Konzeptentwicklung. Kognitive Kontrolle kann als »die Koordination und Regulierung von Gedanken, um angemessen auf hervorstechende Reize in der Umwelt zu reagieren und den Fokus auf zielgerichtetes Verhalten zu legen« (Braver 2012) verstanden werden. Sie umfasst hemmende Kontrolle, Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis, kognitive Flexibilität, Planung, Argumentation und Problemlösung. Insbesondere der Bereich der Exekutiven Funktionen ist bei der Erforschung des bilingualen Vorteils von großem Interesse. Exekutive Funktionen sind nach Sodian (2018, S. 405) »Prozesse‍(.) der kognitiven Verhaltenskontrolle, die an der Überwachung und Regulation von kognitiven Vorgängen sowie an der Handlungsplanung und der Inhibition störender Handlungsimpulse beteiligt sind«.

In Beispiel 3 wird Siren gebeten, die Karten zweimal umzusortieren, und zwar so, dass immer 2 – 3 Gruppen entstehen. Die Karten können beispielsweise nach Farbe oder nach Form oder nach anderen Regeln, die das Kind sich erschließt, gruppiert werden.

Beispiel 3

Siren wächst mit Russisch und Deutsch auf. Sie wird von der Interaktionspartnerin gebeten, die Karten (Abb. 1) mehrfach zu sortieren, wobei sie bei jedem Durchgang eine andere Sortierregel entdecken und umsetzen sollte.

Abb. 1:Siren ordnet die Karten nach einer eigenständig erkannten Sortierregel.

Um diese Aufgabe angemessen auszuführen, sind kognitive Prozesse auf höherer Ebene wie Aufmerksamkeit, Ausdauer, Arbeitsgedächtnisleistungen und Fähigkeiten zum abstrakten Denken vonnöten. Siren benötigt für diese Aufgabe Fähigkeiten der Inhibition (Impuls- und Aufmerksamkeitskontrolle). Um zwischen Kategorien wechseln zu können, muss sie außerdem über eine hohe intellektuelle Flexibilität und Fähigkeit zur Konzeptbildung verfügen. Mit ihrem Arbeitsgedächtnis kann sie Informationen kurzzeitig speichern, um sie dann weiterzuverarbeiten. Inhibition erlaubt es, spontane Impulse zu unterdrücken, die Aufmerksamkeit willentlich zu lenken (also zum Beispiel nicht bei zwei Durchgängen dieselbe Regel anzuwenden) und Störreize auszublenden. Bilinguale sind in der Bearbeitung von Aufgaben zu exekutiven Funktionen schneller und genauer als Monolinguale (Übersicht in Bialystok 2017; Grundy 2020), aber dies bedeutet nicht, dass sie insgesamt klüger oder intelligenter wären.

Eine Vielzahl von Studien belegt: Unabhängig von den Sprachenkonstellationen überwiegen die Vorteile bilingualer Entwicklung. Nachteile werden stets dann offenbar, wenn Bilinguale in einer ihrer beiden Sprachen mit der monolingualen Norm verglichen werden. Tatsächlich entwickeln Bilinguale andere kognitive Strukturen und veränderte kognitive Verarbeitungsmechanismen und -strategien und schneiden global betrachtet in vielen Untersuchungen zur kognitiven Leistungsfähigkeit besser ab als Monolinguale. Bialystok (2017) betont aber, dass die Leistungen mehrsprachiger Kinder in metasprachlichen Aufgaben in besonderem Maße von den erreichten sprachlichen Fähigkeiten in beiden Sprachen abhängen. Insgesamt zeigen umfangreiche Meta-Analysen, dass die individuellen Auswirkungen der Zweisprachigkeit auf die exekutiven Funktionen weniger deutlich sind, als viele Einzelstudien nahelegen (van den Noort et al. 2019; Gunnerud 2020). Auch ist umstritten, ob sich aus besseren Leistungen Bilingualer in Tests zu Exekutiven Funktionen ableiten lässt, dass dies sich auch auf die Sprache‍(n)‌leistungen übertragen lässt. Besonders die Existenz des sogenannten zweisprachigen Vorteils über die Lebensspanne, d. h. die Vorstellung, dass sich mehrsprachiges Aufwachsen auch auf alle die anderen kognitiven Fähigkeiten der Einzelperson, die sprachlichen (Kontroll-) Fähigkeiten und auch den Schulerfolg auswirkt, wird immer noch diskutiert (Fenoll & Kuehn 2021; Festman et al. 2010).

3 Was macht mehrsprachigen Erwerb besonders?

Im Sprach‍(en)‌erwerb müssen viele verschiedene Aspekte erworben werden, wie (soziale) Funktion, Form, Inhalt und Gebrauch von Laut-‍, Gebärden- und Schriftsprache (Owens 2012; Bockmann et al. 2019). Auch wenn die Kategorie »mehrsprachige Kinder« oft gruppenbezogen verwendet wird, bilden sie keine homogene Gruppe. Insgesamt hängt die individuelle Mehrsprachigkeit und damit auch der mehrsprachige Erwerb sehr von den persönlichen Lebensumständen und der eigenen Lebensgeschichte ab. Im Forschungskontext wird Sprachenerwerb oft zeitlich biographisch geordnet, so dass eine Sprache als Erstsprache festgelegt wird, der die anderen folgen (L1, L2, ... Ln). Weiter werden die Erwerbsbedingungen berücksichtigt, indem zwischen gesteuertem Fremdsprachenerwerb und ungesteuertem Zweitspracherwerb unterschieden wird. Gesteuerter Fremdspracherwerb meint in diesem Zusammenhang den Erwerb einer Fremdsprache in der Schule, die im Alltag in der (monolingualen) Mehrheitsgesellschaft gar nicht oder nur kaum genutzt wird. Ungesteuerter Erwerb von Sprachen findet statt, wenn ihr Erwerb in einer Mehrheitsgesellschaft ohne gezielte schulische (institutionelle) Unterweisung erfolgt und alle Sprachen im Alltag aktiv genutzt werden. Früher Kontakt zu überhaupt einer (gesprochenen oder gebärdeten) Erstsprache ist für einen erfolgreichen Spracherwerb wichtig. Das bedeutet umgekehrt aber nicht, dass erst mit einer zweiten Sprache begonnen werden darf, wenn die erste schon gut beherrscht wird.

Der Kontakt zur Zweitsprache muss nicht innerhalb der ersten Lebensjahre stattfinden, um die vollen zweitsprachlichen Fähigkeiten auszubilden (Hakuta 2001). Auch bei sehr kompetenten bilingualen Erwachsenen, die bei spontanen Gesprächen im Alltag kaum auffallen, können subtile Abweichungen von monolingualen Erwachsenen festgestellt werden. So zeigen sich Unterschiede in der Sprachmelodie (»Prosodie«), in der Wahl stilistisch passender Äußerungen (Wahl des sprachlichen Registers: Duzen/Siezen) oder in bestimmten komplexen grammatischen Strukturen (z. B. grammatisches Genus – »der Sonne scheint»/»die Sonne scheint«). Für mehrsprachige Kinder wie Erwachsene ist die »Arbeitsteilung zwischen Sprachen« (Tracy 2008) typisch, da die soziokulturelle Umgebung einen bedeutenden Einfluss darauf hat, wie eine Sprecher*in ihre verschiedenen Sprachen nutzt (Pot et al. 2018). So berichten erwachsene Zweitsprachlerner*innen oft, dass sie bei Gesprächen Einsprachiger, bei denen es um bekannte Figuren aus dem Fernsehen oder aus Kinderbüchern geht, kaum folgen können. Bestenfalls kennen sie »Löwenzahn« als Pflanze und »Keks« als Nahrungsmittel, aber Fritz und seinen Hund oder Peter Lustig nicht.

Zweisprachiger Sprachgebrauch ist komplementär: Die Sprache, die eine mehrsprachige Person in vielen verschiedenen Zusammenhägen und mit vielen Menschen im Alltag nutzt, kann weiter entwickelt sein als die Sprache, die nur in wenigen Zusammenhängen mit wenigen Gesprächspartner*innen verwendet wird (z. B. wird Niederdeutsch nur mit der Großmutter gesprochen). Neben einem im Vergleich mit einsprachigen Gleichaltrigen geringeren Wortschatz wirkt sich die seltenere und situationsgebundene Nutzung auch auf das stilistische Niveau und die pragmatischen Kenntnisse aus (Grosjean 2020). In gewisser Weise gilt dieser Gebrauchsbezug auch für den Wortschatz Einsprachiger – oder können Sie auf Anhieb alle Vögel in Ihrem Garten benennen?

Der Erwerbskontext wirkt sich nicht nur auf den Erwerbsprozess, sondern auch darauf aus, wie die Sprachen erworben werden: so tragen informelle Lernumgebungen, wie Kitas, in denen Deutsch als Zweitsprache erworben wird, eher dazu bei, dass Kinder Deutsch im Alltag flüssig sprechen lernen und zielgerichtet sprachlich handeln können. Formelle Umgebungen (Unterricht) tragen (ergänzend) dazu bei, Sprache‍(n) linguistisch korrekt zu erwerben (vgl. Montrul 2020), aktiv sprachvergleichend zu handeln, Übersetzungsfähigkeiten bewusst zu üben und idealerweise auch die jeweiligen Schriftsprachen zu erwerben.

Ausgehend vom Modell der universellen Mehrsprachigkeit verfügen alle Ein- und Mehrsprachige über verschiedene Sprachregister und Sprachvarietäten, die koexistieren und auch interagieren können. »Kinder entwickeln von Anfang an ›quersprachige Neugier‹ – handeln und lernen quer durch Sprachen hindurch« (List & List 2004; List 2010, S. 10). Mehrsprachige erwerben so ein über die Grenzen von Sprachsystemen hinausgehendes Gesamtrepertoire an Sprachpraktiken (vgl. Panagiotopoulou 2016), zu dem auch Sprachmischungen als Ausdruck mehrsprachiger Kompetenz gehören. Dieses basiert jedoch nicht auf einem gemeinsamen Sprachsystem für alle Sprachen einer mehrsprachigen Person, sondern erfasst Mehrsprachigkeit an sich als universal, wobei die Grammatiken von Mehrsprachigen sowohl voneinander getrennte als auch gemeinsame Eigenschaften aufweisen können (»Integrated Multilingual Model«, MacSwan 2017). Zusammenfassend ist festzuhalten: Perfekt ausbalancierte Sprachkompetenzen in allen Sprachen einer bilingualen Person sind eher die Ausnahme als die Regel.

4 Was wird erworben und wie können Fortschritte im mehrsprachigen Erwerb erfasst und bewertet werden?

In nationalsprachlich geprägten Forschungskontexten wird als Bezugsgröße vieler Studien der monolinguale (L1) Erwerb herangezogen. Die für den L1-Erwerb bestehenden Forschungsergebnisse zu verschiedenen formalen (Grammatik, Satzbau, Lautbildung), inhaltlichen (Wortschatz/Lexikon und Satzsemantik) sowie prosodischen und gebrauchsorientierten (pragmatischen) Erwerbsmodellen und werden als Schablone genutzt, um den Erwerb der jeweiligen Sprache einer bilinguale Person zu untersuchen und zu charakterisieren. Übereinstimmend zeigen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte, dass die Art und Weise des Spracherwerbs, d. h. die dabei eingesetzten Strategien, zwischen Kindern und Erwachsenen und auch bei Kindern, die in verschiedenen Altersstufen mit einer zweiten Sprache begonnen haben, unterschiedlich ist (Montrul 2020). So ist der Erwerbsverlauf etwa sechsjähriger Kinder im Erwerb bestimmter grammatischer Phänomene in wesentlichen Merkmalen anders als der Erwerb von Kindern, die vor dem vierten Lebensjahr den ersten Kontakt mit der zweiten Sprache hatten. Zugleich aber differiert der Erwerbsverlauf bei den Kindern, die im Alter von sechs Jahren mit der deutschen Sprache ersten Kontakt hatten, noch einmal klar vom Zweitspracherwerb Erwachsener (u. a. Chilla 2008; Meisel 2011; für einen Überblick vgl. Chilla 2022). Wichtig ist, dass bilingual aufwachsende Kinder ihre Sprachen früh trennen können. Dies zeigt sich auch in neurolinguistischen Studien (Kovelman et al. 2008).

Und tatsächlich widmen sich etliche Untersuchungen der Frage, wann genau sich die Änderung in der Art der Sprachaneignung vollzieht, also welches Erwerbmodell angemessen ist. Es wird erforscht

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Welche Erwerbsschritte wir von Kindern erwarten können, die Deutsch ab dem 2., dem 3. oder dem 7. Lebensjahr erwerben?

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Wann die wesentlichen, aus dem L1-Erwerb bekannten Meilensteine erreicht sind?

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