Zwei ungemütliche Geschichten - Walter Zeis - E-Book

Zwei ungemütliche Geschichten E-Book

Walter Zeis

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Beschreibung

Was macht eine Geschichte "ungemütlich"? Wenn sie, abends im Bett gelesen, einen am Einschlafen hindert? Wenn man ein Unbehagen verspürt beim Lesen am Sonntagnachmittag, bequem im Sessel sitzend, vielleicht bei einem Glas Rotwein? Ist vielleicht eine Geschichte "ungemütlich", die berührt, aufwühlt, weil sie so verdammt nach Leben "riecht"? Ich lade ein zu zwei Geschichten, die auf je eigene Weise berühren, die erste lebt von prallem ungemütlichem Leben, in dem wir einer kleinen Familie, Mutter, Vater und Sohn, begegnen, die etwas durchlebt, was man schicksalhaft nennen könnte, was aber auch von realen, man könnte sagen, politischen Verhältnissen bestimmt ist. Es ist nicht falsch, von Tragik zu sprechen. Die zweite Geschichte ist ganz anderer Art. Auch sie findet unter Bedingungen statt, die man pralles, aber auch bedrohtes Leben nennen kann. Sie berührt ein Problem, das Zeit um Zeit ungelöst geblieben ist: das Problem von Krieg und Frieden, verdichtet im Wirken eines jungen Priesters in friedlosen Zeiten. Die "Kulisse" wirkt wie aus einem historischen Milieu, ist aber mit ein paar Eingriffen in die Szene brandaktuell. Dieser "Umbau" ist jedem Leser anheim gegeben. "Ungemütlich" das alles? Ja. Existenziell? Auch das.

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Seitenzahl: 201

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Walter Zeis

Zwei ungemütliche Geschichten

© 2018 Walter Zeis

Umschlag und Grafiken: Walter Zeis

Satz und Lektorat: Kirsten Lorberg

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Hardcover:

978-3-7469-7496-5

e-Book:

978-3-7469-7497-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Akazien im Feuer

Der Kelch und das Gewehr

Da pacem, Domine, in diebus nostris

Akazien im Feuer

Fast ein ganzes Jahr schon hatte Pachler den Mann da vor sich: Montag für Montag nahm Hagendorf ihm gegenüber seinen Platz ein, sagte sein Gutenmorgen, als hätte er sein Gesicht dabei in eine Schüssel mit Wasser getaucht. Er sah ihn an mit Augen wie von einem toten Hund, mit einem Schatten darunter, als hätte er mit dem Daumen auf ein ausgetrocknetes Stempelkissen gedrückt und dieses Gemisch von Grau und Violett unter die Augen gewischt. An den Haarwurzeln saß noch der fettige Schweiß, in dem der Geruch von Rauch, abgestandenem Bier und billigem Verschnitt hing. Sein sonst regelmäßig gescheiteltes und glatt gekämmtes Haar zerfiel in Strähnen.

Hagendorf stieß den Atem ein paarmal schwerfällig aus, und Pachler umgab ein Geruch von moderndem Gewebe, wenn es aus einem feuchten Holzkoffer gezogen wird.

Pachler erhob sich aus dieser Welle von Rauch, Alkohol und geplatztem Bierschaum, und es war ihm, als hätte er sie schon jahrelang, Tag für Tag, über sich ergehen lassen müssen. Pachler hatte mitverfolgt, wie sein Gegenüber die Schreibtischschublade herausgezogen und ihr einen Bleistift entnommen hatte. Hagendorf stützte sich mit den Unterarmen auf die Seitenwände der Schublade und starrte wie durch Wasser auf das Durcheinander von farbigen Stiften, auf die abgebrochenen Spitzen, die sich auf dem Grund des Schubfaches von dem sinnlosen Hin und Her allmählich abgerieben und ein mattes, verschwommenes Muster ergeben hatten wie ein groß aufgezogenes Farbbild dieser unterlaufenen Augen, in denen ein Ineinanderfließen von Tag und Nacht lag, als gieße man dünne, schlechte Tinte in schales Wasser.

Pachler wollte verhindern, mitansehen zu müssen, wie der andere den Bleistift in die Maschine schob, vielleicht wie schon oft, mit dem anderen Ende, dieses träg-bedächtige Auf und Ab der Kurbel, dieses Geräusch von trockenem, festem Holz, mit dem der Bleistift aus der Hand in die Kunststoffschale fiel, diesen Schlaf auf der Schreibtischplatte, als wäre er mit dem Gesicht in eine Pfütze gefallen.

Pachler hatte genug davon, was an Arbeit anstand, auf seinen Schreibtisch herüberziehen zu müssen. Er hatte ein für alle Mal genug davon.

Pachler griff nach dem Stuhl, ruhig, als wollte er einen schweren Hammer heben. Er hob ihn über seinen Kopf, verharrte, als er ihn in der Waage hatte, fasste den Mann wie ein glühendes Stück Eisen ins Auge, das er mit einem Schlage verändern wollte.

Er spürte, wie sich sein Entschluss in Kraft umsetzte, wie sie in seinem Körper emporstieg, sich in den Armen und Händen sammelte, wie der Stuhl über seinem Kopf zitterte. Er brauchte ihn nur von sich fort zu stoßen. Aber da spürte er, wie sich seine Hände nicht vom Holz lösten, wie der Stuhl ihn niederdrückte, als senke sich die Decke des Raumes auf ihn herab. Er sah nur noch, wie die Augen Hagendorfs zitterten, wie die Augen eines toten Hundes zittern, wenn er mit einem Griff hochgehoben wird, um eingescharrt zu werden. Ein Geschmack von Kalkstaub lag auf seiner Zunge, und der Stuhl fiel ihm aus den Händen auf den eigenen Schreibtisch.

Mit dem Kopf war Pachler an die rechte Rolltür seines Schreibtisches geschlagen, und mit einem Rasseln war sie heruntergerutscht. Der Stuhl lag mit der Sitzfläche auf den Akten, die er über seinen Arbeitsplatz verteilt hatte; die Lehne hing über die Kante der Schreibtischplatte herunter.

Seine Augen waren weit geöffnet, und der Blick war weggewischt. Gelber als sonst waren die Pupillen umgeben. Seine breiten Hände mit dem behaarten Rücken und den starken Fingergliedern lagen neben ihm und öffneten sich immer noch, als wiche die Kraft, mit der sie die Stuhllehne umfasst hatten, nur allmählich. Die Stirn über den spärlichen Brauen war entspannt, die Wangen eingefallen, und der unregelmäßig gewachsene, grau durchsetzte Bart überzog Kinn und Wangen wie ein Schleier von Asche und Kalk. Der Mund war geöffnet. Unregelmäßige, flache Atemstöße zeigten an, dass er lebte. Die Jacke war hochgeschoben, und ein hellgrauer Schlips hing an der Seite herunter.

Sonnenstrahlen fielen durch die verstaubten Fenster, auf denen der letzte Regen Spuren hinterlassen hatte. Man konnte sehen, wie die letzten Tropfen von oben nach unten zusammengeflossen waren und in immer breiteren Bahnen den Staub mitgespült hatten, bis sie von Sonne und Wind oder dem Holz des aufgerissenen Rahmens aufgesaugt worden waren.

Pachler lag unter dem Schattennetz eines dieser Fenster, und das staubgebrochene Licht hatte sich wie eine verwaschene Mullgardine über ihn gebreitet.

Hagendorf wollte erleichtert aufatmen, doch als er ansetzte und die trockene Büroluft in sich heineinsaugen wollte, ging es plötzlich nicht, und er hatte das Gefühl, als dränge sich eine schwere, grobe Faust in seine Kehle.

Wie sollte er erklären, was da vorgefallen war? Er erhob sich von seinem Platz, schluckte ein paarmal, ging an den beiden Schreibtischen vorbei und sah Pachler liegen.

Er wusste, dass es mit einer bloßen Beschuldigung nicht getan war. Das verlangte nach einer Erklärung.

Nie hatte er von seinem Kollegen ein scharfes Wort gehört. Er erinnerte sich an die Stunden, die ihm Pachler vor zwei Jahren fast Sonntag für Sonntag geopfert hatte in diesem verwachsenen Fachwerkhaus, wo er von ihm geduldig eingewiesen worden war in die Anfertigung von Bilanzen und Prüfungsberichten. Ihm hatte er es zu verdanken, dass er hier saß und die Berichte durchzusehen gelernt hatte, die die Kollegen vom Außendienst einreichten.

‚Ich bin ein Schwein‘, dachte er. ‚Ich habe ihn auf dem Gewissen!‘ Doch kaum hatte er das gedacht, zweifelte er an seiner Schuld, schob einen Teil jener Gewalt zu, die sich mit dem Parteiabzeichen an seinem Jackett auf seine Brust gelegt hatte. Seit er dieses Zeichen auf dem Jackett und den dazugehörigen Ausweis in einem Beutel auf der nackten Brust trug, war alles anders geworden: Er brauchte nichts zu tun, und die Türen öffneten sich vor ihm. Doch hinter jeder Tür wurde die Luft schwerer, die Kehle trockener, und er hatte mit dem Trinken begonnen.

Trotz der Lobsprüche, der Prämien, der Beförderung, die eigentlich dem anderen zustanden. Das wusste er. Das war ihm ganz klar.

Wenn er ihm gegenübersaß in seiner ganzen Jämmerlichkeit am Anfang einer jeden Woche, dann glaubte er dem anderen Genugtuung zu geben: Am Montag war er schwach und mürbe.

Hagendorf erinnerte sich, wie es ihn einmal überkommen war, dem grauweißen Briefumschlag, den man ihm am Aktivistentag mit 200 Mark überreicht hatte, die Hälfte zu entnehmen.

‚Hier, nehmen Sie!‘ wollte er sagen, ‚nehmen Sie!‘ Und er wollte den Geldschein auf dem Schreibtisch liegen lassen und nie mehr an sich nehmen, sollte damit geschehen, was wollte. Hagendorf wusste nicht, warum er Pachler diesen Schein nicht gegeben hatte damals. ‚Hätte ich es doch getan‘, dachte er. Er sah auf die beiden Schreibtische, sah die Ordnung auf dem Platz des anderen und das Durcheinander von Blättern und Stiften auf seinem Platz, das am Nachmittag zunahm, weil er nur wenige Stunden des Montags seiner Arbeit gewachsen war.

Hagendorf erschrak, als er gewahr wurde, dass er Pachler bis jetzt nicht geholfen hatte. Er riss das Fenster auf, holte einen Becher Wasser und beugte sich über den Mann. Er sah die weit geöffneten Augen, die fast faltenlose Stirn, die schlaffen Hände, suchte mit umständlichen Bewegungen des Oberkörpers mit dem Gesicht in die Blickrichtung Pachlers zu kommen. Er fand sie nicht: Als ob ihm dieser immer wieder auswich. Jetzt war doch nichts zwischen ihnen, nicht diese stumme Abweisung im verbissenen Eifer, mit dem Pachler die Prüfungsberichte durchsah.

Hagendorf entfernte die Spange von den Kragenspitzen, lockerte den Knoten des Schlipses, öffnete den Kragenknopf, zog sein Jackett aus, schlug es zusammen und schob es Pachler unter den Kopf. Er rieb ihm die Wangen, schlug vorsichtig darauf und bohrte seine Blicke immer unruhiger in Pachlers Augen. Er spürte, wie er plötzlich zu zittern begann. Er schlug heftiger auf die Wangen Pachlers, neigte das Ohr an seinen Mund und spürte den unregelmäßigen Atem. Angst ergriff ihn, als ihm schien, dass Pachler die Luft nur ausstieß.

Als er sah, dass alle seine Bemühungen vergeblich waren, erhob er sich, zog mit zitternder Hand das Telefonbuch aus dem Schreibtischfach, schlug es auf und setzte seinen Finger auf die erste Spalte und hastete mit seinem Blick über die Anfangsbuchstaben: L, M, N, O, P, Pa; Parteibüro. ‚Nein, nicht das‘, dachte er, ‚nur nicht das!‘

Pe, Pno, Politische Abteilung. Es schwirrte ihm vor den Augen. Er musste übersprungen haben, was er suchte. ‚Was hilft hier eine politische Abteilung? Nichts! Warum fallen mir gerade diese Adressen immerfort ins Auge?‘

Sein Finger lag noch immer auf der Politischen Abteilung, das wusste er, und noch bevor er die Augen öffnete, schob er den Finger ein Stück die Spalte hinauf, dann sah er auf das Blatt. Da war, was er suchte: Poliklinik 8-6-3. Er zog das Telefonbuch mit der anderen Hand zum Apparat, presste dabei den Finger auf die Nummer, hob ab, und mit dem Hörer in der Hand wählte er: 0-1, hob den Hörer ans Ohr; das Rufzeichen vom Amt bohrte sich in seinen Kopf.

„Fräulein“, rief er, „Fräulein, Fräulein!“ Er fluchte: „Diese verdammte Vermittlung!“ Er konnte dieses Bohren in seinem Kopf nicht mehr ertragen und zog den Hörer ein Stück weg vom Ohr.

„Sie wünschen?“ hörte er eine Stimme, abgespannt wie immer.

„8-6-3, Fräulein, 8-6-3, schnell, bitte schnell!“

Es klirrte und rasselte im Hörer, dann drang das Rufzeichen aus der Muschel, dumpfer und nicht so stechend wie vorher.

„Poliklinik, Sie wünschen?“

„Einen Arzt und einen Krankenwagen, aber schnell!“

„Ich schicke Ihnen erst einen Arzt. Er entscheidet alles Weitere. Über die Krankenwagen kann ich ohne Dringlichkeitsbescheinigung nicht verfügen.“

„Aber dann den Arzt, bitte sofort.“

„Wohin soll ich ihn schicken?“

„Hallische Straße 8, Büro.“

„Was für ein Fall liegt vor?“ hörte Hagendorf fragen.

„Ohnmacht. Ich habe alles versucht. Der Kollege kommt nicht zu sich!“ Hagendorf wurde ungeduldig: „Ich würde Sie nicht anrufen, wenn es nicht dringend wäre!“

„Ja, sofort. Ich notiere: Hallische Straße 8, Ohnmacht. Das haben wir öfter“, sagte die Frau noch, und er hörte daraus: Das ist nicht so gefährlich, da haben wir Erfahrung damit.

„Also schnell, Kollegin!“ sagte er noch, legte auf und ging wieder zu Pachler.

Er musste Bescheid sagen. Er öffnete die Tür, ließ sie offenstehen hinter sich, ging, ohne anzuklopfen, in das nächste Büro. Einige Männer und Frauen saßen um einen Tisch. Hagendorf erkannte die Kollegen von der Molkereiprüfungsstelle.

„Ihr entschuldigt, aber der Kollege Pachler liegt bewusstlos in unserem Büro!“

Er legte seine Blicke auf jedes Gesicht. Er hätte sie alle mit einem Mal festhalten wollen, diese Züge auf den Besprechungsgesichtern, um zu sehen, wie und wie schnell sie sich verändern würden, ob diese aufgeklebte Maske, gemischt aus Angst, Eifer und Schmeichelei, von ihnen abfallen würde.

Da sah er die hochgestellte Ellipse des Parteiabzeichens auf den Kleidern und Jacketts. Nur wenige, zwei, jetzt sah er es ganz deutlich, hatten sie nicht anstecken. Doch das war egal: Auch über die Gesichter dieser zwei, einer Frau und eines Mannes, war es gezogen wie matter, dehnbarer Kunststoff, der bei solchen Besprechungen die Züge zusammenzog und ausrichtete.

Hagendorf fühlte, wie frei sein eigenes Gesicht von dieser Maske war und wie in seinen Augen nur lag, was er vorher erlebt hatte und was ihn nicht losließ. Er war zufrieden, einmal der Macht dieser Maske nicht nachgeben zu müssen. Er hatte einen guten Grund dafür und brauchte sich gar nicht zu widersetzen.

Hagendorf empfand Genugtuung, als er sah, wie von einem zum anderen seine Botschaft diese Maske zerschnitt, wie sie herunterblätterte. Und plötzlich war nichts mehr von ihr da. Nur der Schrecken, bei dem einen oder anderen sogar etwas wie ein schlechtes Gewissen, drang von innen her in die Augen, auf die Stirn. Zwischen Hilfsbereitschaft und Betroffenheit zuckten die Augen hin und her, und dazwischen lag bereits die Frage, wie das geschehen konnte. Aber keiner sprach sie aus.

‚Ich bin ein Schwein. Wir sind alle Schweine‘, wollte er sagen, biss aber die Zähne zusammen und dachte: ‚Ich bin ein feiger Hund.‘

Die anderen erhoben sich von ihren Plätzen, schoben die Stühle zurück und gingen Hagendorf nach über den dunklen Gang in das Büro, in dem Pachler lag.

Noch bevor sie in die Tür traten, läutete es.

„Der Arzt“, sagte Hagendorf, ging zur Tür und öffnete sie. Sie ließen den Arzt eintreten.

Ohne eine Frage zu stellen, beugte sich der Arzt über Pachler, legte das Ohr auf dessen Brust, drückte das untere Augenlid herunter, sah zu den Umstehenden hinauf und sagte: „Der Mann ist schwer leberkrank. Das hier wird ihm zusetzen.“

Hagendorf trat einen Schritt heran und wünschte, dass er gefragt würde. Aber der Arzt, ein grauhaariger, abgehetzter Mann mit einem ganz ungewohnten wissenden Blick, in dem kein Platz für eine Frage war, ging an seine Tasche.

Dabei streifte er mit seinen Augen die Gesichter der Umstehenden und erkannte, dass einer unter ihnen war, den diese Sache hier am meisten anging. Er ging einen halben Schritt auf Hagendorf zu, spannte seinen Blick irgendwohin ins Unbestimmte über den Mann hinweg und an ihm vorbei. Hagendorf schien es, als fädele ihn der Arzt nur als eins von vielen Gliedern auf eine Kette, und atmete erleichtert auf.

Der Arzt nahm die Ampulle aus seiner Tasche, sägte sie auf, füllte eine Spritze mit der Flüssigkeit und sagte zu Hagendorf:

„Ziehen Sie ihm die Jacke aus und machen Sie seinen linken Arm frei!“

Dann beugte er sich über Pachler, tastete nach der Vene und sagte:

„Er hat schon viele Spritzen bekommen. Mal sehen.“

Er drückte die Nadel flach auf die Stelle, wo er stechen wollte, schob sie in die Erhebung, die sich vor der Kanüle gebildet hatte, und ließ die Flüssigkeit langsam in die Vene eindringen. Dabei fragte er:

„Wo wohnt Ihr Kollege?“

„In Bergen“, antwortete Hagendorf.

„Er muss mit dem Krankenwagen nach Hause gebracht werden. Rufen Sie die 8-6-3. Ich sage gleich Bescheid. Da brauchen wir keine Dringlichkeitsbescheinigung. Ich mache das schon.“

Der Arzt legte einen Wattebausch in die Beuge des Arms.

„Halten Sie!“ sagte er. Eine Frau nahm die Hand Pachlers und drückte den Ellbogen an den Oberarm.

Der Arzt nahm den Hörer.

„Schicken Sie einen Wagen. Hallische Straße 8. Nach Bergen. Sofort.“ Er hielt den Hörer noch einen Augenblick und legte dann auf.

„Wie heißt Ihr Kollege?“ fragte er Hagendorf.

„Pachler, Johannes Pachler. Er wohnt in der Friedrich-Engels-Straße, Nr. 42.“

„Danke.“

Der Arzt notierte, schrieb einen Auftragsschein für den Fahrer des Sanitätswagens.

„Haben Sie kein Sofa oder eine Pritsche, wo wir ihn hinlegen könnten?“

„Nein“, sagte Hagendorf.

„Ist das Ihre Jacke?“ fragte er Hagendorf.

„Ja, ich glaubte, es sei gut so.“

„Ja, es ist gut so.“

Der Arzt ging wieder zu dem Bewusstlosen, tastete nach dem Puls, hielt ihn eine Zeitlang und sagte: „Schon regelmäßiger.“

„Wie lange kann es dauern, bis er wieder zu sich kommt?“ fragte Hagendorf.

„Es kann lange dauern. Das ist so, als ob er in diesen Zustand geflüchtet ist. Im Moment ist es das Beste für ihn. Was ich tun konnte, habe ich getan. Das andere …“

Der Arzt sah die Umstehenden zum ersten Mal jeden einzeln an. Hagendorf verstand; was er zusichern konnte, war er jetzt bereit zu tun. Aber das andere …‘ dachte er, und sah die Kollegen an. Da waren sie alle machtlos.

‚Wir sind alle wie Messer, die jemand fallen gelassen hat. Wir fallen und fallen, bis wir jemanden durchbohren. Zurück können wir nicht‘, dachte er.

Sie hörten unter dem Fenster einen Wagen halten. Zwei Türen schlugen zu. Sie hörten, wie die Trage aus dem Wagen gezogen wurde.

Hagendorf atmete auf: ‚Jetzt werden sie nicht mehr fragen‘, dachte er, ‚es ist Feierabend.‘ Er erinnerte sich daran, wie es ihm noch wenige Minuten vorher so sehr darauf angekommen war, dass ihn der Arzt fragte, wie es dazu gekommen war, dass Pachler das Bewusstsein verloren hatte.

‚Ich bin feige, feige wie ein geprügelter Hund‘, dachte er und hatte dabei ein Gefühl der Erleichterung. Er löste sich aus dem Kreis, der immer noch um Pachler stand, eilte mit schnellen Schritten zur Tür, ging durch den Gang, öffnete die beiden Flügel zum Treppenhaus und ließ die Männer mit der Trage ein.

In seinen Bewegungen war etwas von einem Soldaten, der Mut und Entschlossenheit beweisen wollte, um über seine Feigheit und über die Angst hinwegzutäuschen. Er sprach auf die Männer ein, ging ihnen voraus, löste die Riegel des zweiten Türflügels, schob die anderen beiseite, hob Pachlers Kopf, schob sein Jackett zur Seite und half, den Mann auf die Trage zu legen. Immer wieder sah er zu den Umstehenden auf, als wollte er mit seiner Geschäftigkeit und Hilfsbereitschaft jede Frage erdrücken, als wollte er immer wieder neue Situationen schaffen, die die Aufmerksamkeit seiner Kollegen beanspruchten und keine Gelegenheit zu einer Frage gaben. Er schob seine Handgriffe so eng wie möglich aneinander, gab Anweisungen, sein Jackett aufzunehmen, die Tasche Pachlers zu holen, nachzusehen, ob alles drin war, was er täglich wieder mit nach Hause nahm: Die Brotdose, den Thermosbehälter, in dem Pachler täglich sein Diät-Mittagessen mitbrachte, das Geschirrtuch, in das der Behälter eingeschlagen war, die Bestecktasche und das Besteck. Mit jedem Handgriff glaubte er die Sekunden hinter sich zu schieben.

‚Sie dürfen nicht fragen, nur fragen dürfen sie nicht‘, dachte er zwischen seinen Bewegungen, die er wie Gips in eine Fuge schmierte. Ängstlich suchte er nach Antworten.

Hagendorf sah sich allein im Büro. Pachler hatten sie hinausgetragen. Die anderen waren der Trage nachgegangen. Er hörte: „Danke, Doktor, Danke!“ Dann schlug der linke Türflügel des Krankenwagens an, der untere Riegel schob sich quietschend in die Öffnung, dann der obere. Der rechte Flügel schnappte weich ins Schloss.

Hagendorf trat an Pachlers Schreibtisch, hob den Stuhl auf, hielt ihn einige Augenblicke, sah hinüber auf seinen Platz, schob die Akten von Pachlers Schreibplatte fort auf seinen eigenen Arbeitsplatz und setzte den Stuhl mit der Sitzfläche wieder auf Pachlers Schreibtisch auf. Mit einem Gefühl der Erleichterung, das sich einstellt, wenn man aus großer Höhe fällt und ein ausgebreitetes Sprungtuch unter sich sieht, schritt er an den beiden Schreibtischen vorbei und begann, die Akten zu ordnen, übereinander zu legen, als wären es seine gewesen.

‚Ja, so war es‘, dachte er, und legte sich für diesen Vorfall eine eigene Version zurecht. Diese sah so aus: Pachler hatte den Stuhl auf den Schreibtisch gehoben, um der Putzfrau Arbeit zu ersparen. Das stand dem Pachler, das war wie auf ihn zugeschnitten, auf diesen Pedanten mit seinen sauberen, rücksichtsvollen Zahlen, die zum Addieren einluden, mit dem Punkt über der Eins und diesem abgezirkelten Abstand zwischen den Tausendern und Hundertern und dem Punkt hinter der Million. ‚Das glauben sie mir alle, sollen sie nur kommen‘, sagte sich Hagendorf und atmete erleichtert auf.

Hagendorf sah zur offenen Tür. Er hörte Schritte. Die alten Dielen knarrten. Erleichtert nahm er wahr, dass die ersten an der Tür vorbeigingen. Er hörte nacheinander Türen schlagen. ‚Soll nur jemand kommen‘, dachte er. Er wollte die Erklärung los sein wie etwas Gestohlenes, das er wie ein Geschenk den andern überreichen wollte.

‚Ich bin gut vorbereitet‘, dachte er und legte die Akten in einen Schrank. Da hörte er Schritte. Er blieb dem Schrank zugewandt stehen und glitt mit den Fingern an den Seitenflächen der Aktenstöße entlang und schob überstehende Blätter zwischen die anderen.

„Wie ist das passiert, Kollege Hagendorf?“

„Pachler hat den Stuhl auf den Schreibtisch gehoben. Sicher wollte er der Putzfrau Arbeit ersparen. Und dann war er in sich zusammengesunken. Ich dachte, er wollte sich nach der Rolltür bücken, um sie zu schließen. - Du weißt ja, wie er ist.“

Hagendorf nahm die Hände von den Aktenstößen, drehte sich um, sah den anderen mit einem Achselzucken an, ging zu Pachlers Schreibtisch hinüber, nahm den Aschenbecher und sagte: „Das hat er vergessen heute. Er ist doch sonst so ordnungsliebend.“ Er ging zum Fenster, nahm die Zigarettenreste aus dem Aschenbecher, warf sie in den Papierkorb, neigte sich aus dem Fenster und verstreute die Asche mit einer schnellen, weiten Bewegung seines Armes, so dass sie in einer kleinen grauen Wolke, mehr und mehr zerstiebend, auf die Straße sank. Dann wandte er sich um und sagte: „Kollege Pachlers Platz wird wohl lange leer bleiben“, und befriedigt spürte er, wie sein Gesicht mit Mitleid bestrichen war.

„Du wirst viel zu tun haben“, sagte der andere, „Arbeit für zwei.“

Hagendorf beachtete die Bemerkung nicht und spürte, wie der Ehrgeiz in ihm aufstieg.

„Ich muss jetzt gehen“, sagte er, „mein Zug fährt in zehn Minuten. Ich werde bei Pachlers Frau vorbeigehen und ihr alles erklären.“

„Ja, das ist gut“, sagte der andere. „Du wohnst ja auch in Bergen. Da macht es ja keine Mühe. Auf Wiedersehen, Kollege, und sag uns morgen, wie es Pachler geht!“

„Mach ich, mach ich“, sagte Hagendorf, „auf Wiedersehen!“

Der andere ging aus dem Büro und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Hagendorf ging um Pachlers Schreibtisch herum, schob seinen Stuhl zur Seite, stützte die Hände auf die Schreibtischplatte und sah hinüber auf Pachlers Platz:

‚Soll Pachler doch zusehen, wie er zurechtkommt. Warum tritt er nicht auch in die Partei ein? Dieses ganze Getue mit der Kirche … Wer will es ihm denn nehmen? Sieht doch keiner, wenn er hingeht. Und wer weiß es schon?! - 25km. Das ist eine weite Strecke. Dahinter kann er doch unbemerkt machen, was er will. Ich werd's schon keinem erzählen. Auf mich kann er sich verlassen.‘

Hagendorf ergriff seinen Schreibtisch an der überstehenden Kante und rückte ihn ein Stück von Pachlers Schreibtisch ab.

‚Ist doch alles Quatsch, das mit den Messern. Wir tun doch keinem was. Wir schneiden höchstens eine Quaste ab, nur das, was nicht in unsere Zeit passt. Das müssen sie sich schon gefallen lassen, wenn sie nicht wie ein altes Möbel oder ein alter Lampenschirm herumstehen wollen. Dass sie das so schwer begreifen!‘

Hagendorf löste sich vom Schreibtisch, packte seine Tasche, zog sich den Staubmantel über, setzte den Hut auf, ging aus dem Büro und verschloss die Tür. ‚Hat auch er sonst gemacht‘, dachte er und hängte den Schlüssel ans Brett. Dann schlug er die Tür zum Treppenhaus hinter sich zu, ging die Stufen hinunter, überquerte die Straße und ging die dreihundert Meter zum Vorortbahnhof.

*

Gerd stand am Bahnhof und wartete auf den Vater. Fast jeden Tag stand er dort, sah immer öfter zur Uhr hinauf und ging dann wenige Minuten vor der Zeit, da der Zug kommen sollte, hinein in das Bahnhofsgebäude, ging vorbei an einem Zeitungskiosk, stieß dann auf einen schmalen Gang, an dessen Ende die Sperre war. Dahinter ging es einunddreißig Stufen hinunter in den Tunnel. Gerd hatte sie einmal gezählt, diese Stufen, die der Vater Tag für Tag einmal hinunter und einmal hinauf gehen musste, hinunter jeden Tag zu dem Zug um 5 Uhr 43, hinauf entweder von dem Zug um 17 Uhr 52 oder, wenn es später wurde, von dem Triebwagen um 20 Uhr 45. Eigentlich wusste er keinen Tag, ob er nicht umsonst zu dem 17 Uhr 52er kam. Es war nicht vorauszusehen, wann der Vater ankommen würde. Manchmal machte Gerd den Weg zweimal, weil er wusste, wie sehr ihn der Vater erwartete.

Gerd hatte immer wieder den Gedanken an eine Waage und die Idee, er müsste sich drauf stellen und schauen, was da an Last in ihm war. Aber er wusste, das wog nichts, es war nicht messbar. Er konnte also nirgends hingehen und sagen: Seht, wie schwer das ist, so und so viel Kilo. Und davon sind so und so viel mehr, als ich tragen kann. Und es wurde ihm nicht leichter, wenn er nach Hause kam, wenn er in Mutters Gesicht sah, in diese suchend, ja flehend ausgestreckten Augen, die Jahre hindurch nicht gefunden hatten, was sie suchten: nicht das Stück Fleisch, das sie in den Topf legen wollte, nicht die Blumen auf dem Tisch.

Gerd zögerte, dem Vater alles zu sagen auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause, den sie allein für sich hatten, weil er wusste, dass der Mann neben ihm auch für sich schon genug zu tragen hatte, und gleichzeitig verstand er nicht, warum ihm Vater nichts abgab von seiner Last, die er mit dem Zug nach Hause brachte.