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Die Geschichte von Tom und Annkathrin. Von lustig bis traurig. Von der Ostsee bis nach Föhr. Auf einem gefrorenen See in Ostholstein zieht Annkathrin auf Schlittschuhen ihre Kreise, als ihr ein Mann auffällt, der sich offenbar ins Eiswasser stürzen will. Beim Versuch, ihn zu retten, stürzt sie schwer. Der Mann rettet nun sie. Wie immer hat ihm das Leben einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ein paar Monate später treffen sie sich wieder und erleben zusammen einen wunderschönen Sommer. Doch Toms Schwermut ist nicht so einfach mal aus der Welt zu schaffen, und auch über ihrem Leben liegt ein dunkler Schatten. Kann es eine Zukunft für sie beide geben?
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Seitenzahl: 275
Veröffentlichungsjahr: 2016
Janne Mommsen
Roman
Die Geschichte von Tom und Annkathrin. Von lustig bis traurig. Von der Ostsee bis nach Föhr.
Auf einem gefrorenen See in Ostholstein zieht Annkathrin auf Schlittschuhen ihre Kreise, als ihr ein Mann auffällt, der sich offenbar ins Eiswasser stürzen will. Beim Versuch, ihn zu retten, stürzt sie schwer. Der Mann rettet nun sie. Wie immer hat ihm das Leben einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Ein paar Monate später treffen sie sich wieder und erleben zusammen einen wunderschönen Sommer. Doch Toms Schwermut ist nicht so einfach mal aus der Welt zu schaffen, und auch über ihrem Leben liegt ein dunkler Schatten. Kann es eine Zukunft für sie beide geben?
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2016
Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Redaktion Katharina Schlott
Umschlaggestaltung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Titelillustration Stefano Riboli/Agentur M. Hubauer e.k.
ISBN 978-3-644-55441-2
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Motto
Vor dem besten Sommer ihres Lebens
Prolog
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Der beste Sommer ihres Lebens
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Ende Februar
Danksagung
Der Wald steht schwarz und schweiget
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar
Matthias Claudius
Schon im Herbst hatte sie sich nach einem knackig kalten Winter mit Schnee gesehnt, aber meistens kam so etwas, wenn überhaupt, erst im Januar oder Februar. Nun war es Anfang Dezember, und schon seit zwei Wochen hielt ein strenger Frost das Land im Griff. Vor ihr streckte sich die gefrorene Fläche des Ukleisees aus, der im Schatten eines uralten Waldes in einer tiefen Senke lag. Er war eine Hinterlassenschaft der letzten Eiszeit. Sie wusste, dass dies der kälteste Ort im ganzen Landkreis war, weswegen die Eisdecke hier besonders dick sein musste. Ein frostiger Wind raunte durch die Kronen der Buchen und Eichen, die kahlen Äste wiegten ächzend hin und her.
Der Winter war ihre Lieblingsjahreszeit, was kaum jemand verstehen konnte. Trübe Stimmung? Melancholie? Keine Spur! Was auch daran lag, dass sie ein Faible für dicke Jacken hatte wie andere Frauen für Schuhe. Heute zum Beispiel hatte sie ihren hellgrauen italienischen Skianorak mit dunkler Kunstfellkapuze herausgekramt, der seit Jahren in ihrer Kommode gelegen hatte. Jetzt war er fast schon retro. In der Seitentasche hatte sie eine alte Kino-Eintrittskarte gefunden, ein peinlicher Film mit Robert de Niro. Noch peinlicher war damals ihre Begleitung gewesen, den Typen hatte sie schon vollkommen verdrängt.
Unterhalb des alten Jagdschlosses setzte sie sich auf einen gefrorenen Baumstumpf und fischte ihre weißen Schlittschuhe aus der extragroßen Karstadt-Tüte. Das Leder war an einigen Stellen abgewetzt, aber sie passten noch genauso gut wie früher. Voller Vorfreude stieg sie auf den weichen Waldboden mit den gefrorenen Fichtennadeln, der unter ihr leicht federte. So sah die Welt also aus, wenn man fünf Zentimeter größer war, nicht schlecht. Im normalen Leben würde sie mit dieser Höhe wohl vielen Männern Angst machen, denn sie war mit ihren eins neunundsiebzig auch ohne Schlittschuhe nicht gerade klein. Wie eine langbeinige Riesin stakste sie in Richtung See.
Vorsichtig stellte sie einen Fuß aufs Eis und wippte ein bisschen hin und her. Offiziell waren die Gewässer noch nicht freigegeben, aber das Eis wirkte fest wie Beton. Trotzdem blieb sie zunächst ein paar Schritte vom Ufer entfernt. Sicher war sicher. Doch nach wenigen Sekunden war ihr alles egal, sie nahm Schwung und jagte los. Die kahlen Bäume rauschten an ihr vorbei, der Fahrtwind füllte ihre Lungen und lud ihr Blut mit purem Sauerstoff auf.
«Jaaaaa!», rief sie laut.
Am Ende der Strecke ging sie aus vollem Lauf in eine enge Linkskurve, das rechte Bein gestreckt, das linke angewinkelt. So kannte sie es von früher – und es funktionierte immer noch. Anschließend schwenkte sie scharf nach rechts. Dabei verlor sie prompt das Gleichgewicht. Erst im letzten Moment konnte sie sich fangen, der Schreck schoss ihr wie eine Faust in den Magen. Das war gerade noch mal gut gegangen. Danach fuhr sie erst mal eine Weile langsam und brav geradeaus, bis sie wieder zu Atem kam. Ein paar Meter vor sich sah sie einen vermoosten Baumstamm aus dem Eis hervorlugen. Eine gefährliche Stolperfalle, der See war eben kein Eisstadion. Spontan nahm sie volle Fahrt auf und sprang über ihn hinweg – um auf der anderen Seite ziemlich wackelig zu landen. Bestimmt hatte sie eine jämmerliche Figur abgegeben. Also versuchte sie es noch einmal.
Sie zog eine Schleife und nahm diesmal mehr Anlauf, wurde dabei schneller und schneller. Der Absprung vor dem Stamm musste genau zum richtigen Moment kommen, volles Risiko, zum Bremsen war es zu spät. Beine anziehen, Atem anhalten, hoch und – siehste, geht doch! Diesen Sprung hätte man filmen sollen, er war richtig hoch, die Landung perfekt, so was konnte sich sehen lassen.
Unter dem Skianorak wurde ihr jetzt viel zu warm. Sie fuhr zum Baumstumpf am Ufer zurück und warf die Jacke zu ihren Schuhen. Der Norweger-Pullover würde reichen. Von aller Last befreit, fuhr sie den Ukleisee noch einmal in ganzer Länge ab. Unterhalb des Jagdschlösschens war er bauchig und breit, zum anderen Ende hin wurde er eng wie ein Teich. Dort hallten die Geräusche ihrer Schlittschuhe vom bewaldeten Ufer zurück, als befände sie sich in einem geschlossenen Raum.
Plötzlich knackte das Eis laut. Sie starrte panisch zwischen ihre Beine: Waren da Risse? Bitte nicht! Aber das Geräusch war eindeutig gewesen. Da entdeckte sie einen Mann, der vor einer umgestürzten Eiche stand. Der mächtige Stamm war samt Wurzelwerk und Krone in den See gekippt und dort festgefroren. Der Mann war gerade dabei, mit einer riesigen Axt ein Loch ins Eis zu hacken. Ein Angler vermutlich. Aber bohrten die ihre Löcher nicht normalerweise? Egal, immerhin war das eine Chance herauszubekommen, wie dick die Eisdecke wirklich war. Langsam fuhr sie auf den Typen zu.
Als sie näher kam, sah sie, dass er ungefähr in ihrem Alter war, Mitte dreißig. Sein dunkler Bart stand ihm überhaupt nicht, die braunen Haare waren lang und zottelig, das ausgeleierte T-Shirt und die fleckige Armeehose waren ein Fall für die Mülltonne. Mal abgesehen davon, dass das alles bei diesen Temperaturen überhaupt nicht ausreichte.
Der Mann setzte sich auf den Baumstamm und starrte auf das Loch vor ihm, in dem ein paar Eisstücke dümpelten. Sie bremste in respektvollem Abstand, um mögliche Fische nicht zu vertreiben.
«Moin», grüßte sie.
Es kam keine Antwort, er schaute nicht mal hoch zu ihr, sondern starrte weiter in sein Loch.
«Wie dick ist es?», fragte sie und guckte neugierig auf die Eiskante.
«Reicht», murmelte er.
«Danke.» Nach dem, was sie erkennen konnte, waren es über zehn Zentimeter. Wie war noch der Anglerspruch? «Na denn, Mast- und Schotbruch!», rief sie und fuhr wieder los. Nach ein paar Metern musste sie über sich selbst grinsen: Wie dämlich, das sagte man doch beim Segeln.
In diesem Moment fiel vor ihr eine dünne Schneeflocke herab und drehte sich dabei ganz langsam, wie eine Feder. Sie fuhr mit weit ausgestreckten Armen einen Kreis um die Flocke herum. Eine weitere kam vom Himmel, dann immer mehr. Sekunden später war es ein Tanz Tausender Schneeflocken. Über dem See wurden sie von Windböen erfasst und teilweise wieder nach oben gewirbelt. Um sie herum schneite es nun senkrecht und waagerecht, und sie war mittendrin! Der Laubwald am Ufer war in kurzer Zeit von einer weißen Pulverschicht bedeckt. Obwohl es auf den Abend zuging und sich der Himmel verdunkelte, wurde die Landschaft heller und freundlicher. Vor Freude hätte sie fast geheult, so schön war das. Sie fühlte sich, als ob sie auf einem großen Ball in einem Schneeschloss tanzte, wie im Märchen. Die Flocken jubelten ihr zu und freuten sich mit ihr, dass sie den Prinzen abbekommen hatte. Der alte Mädchentraum, da war er wieder: Schwanensee, Froschkönig, Dornröschen und ein bisschen auch Pippi Langstrumpf.
Die Schneeflocken wirbelten um ihn herum und bedeckten seine Haare, sein T-Shirt, seine Hose. Er starrte auf das Loch, das er mit der Axt ins Eis gehauen hatte. Faustgroße Eisklumpen schwammen im Wasser hin und her. Die würde er gleich von unten sehen. Langsam wurde ihm so kalt, dass seine Nieren zu schmerzen begannen. Egal, in ein paar Sekunden würde alles ganz leicht werden. Zu Anfang rechnete er mit einem Kälteschock, aber der ging schnell vorbei. Seine Kleidung würde sich voll Wasser saugen und ihn in die Tiefe ziehen. Der Kältetod, so hatte er gelesen, war einer der gnädigsten. Nach kürzester Zeit war man mit allem einverstanden und ließ los.
Er lächelte. Endlich ausschlafen, eine ganze Ewigkeit! Er ließ seinen Blick über die Hänge und den vereisten See wandern. Vorhin war ein Fuchs mit federleichten Schritten übers Eis gelaufen. Sein Fell hatte in der Winterlandschaft geleuchtet. In der Mitte des Sees war er stehen geblieben und hatte ihm direkt in die Augen geschaut. Der Fuchs war überhaupt nicht scheu, er schien ihn als Freund zu betrachten. Was für ein schönes Tier. Es würde das letzte Lebewesen sein, das er auf dieser Welt sah. Dachte er. Doch er irrte.
Blöderweise war diese Tussi auf ihren weißen Mädchen-Schlittschuhen herangestürmt und hatte das Tier vertrieben. Mit schnellen Schritten war der Fuchs im Wald verschwunden. Und sie hatte es noch nicht einmal bemerkt! Er war stinkesauer auf sie. Falls sie noch mal wiederkam, würde er sie mit der Axt verscheuchen.
Er holte zwei dünne Seile aus seiner Jackentasche und band die Zehn-Kilo-Hanteln, die er mitgebracht hatte, an seine Fußgelenke. Die Eisen würden ihm mehr Abtrieb geben und ein Auftauchen unmöglich machen. Wenn, dann richtig.
Eigentlich war es widersinnig, dass er gerade jetzt ging, denn er liebte die kalte, dunkle Jahreszeit. Alles konzentrierte sich im Winter auf das Wesentliche, Überflüssiges hatte keinen Bestand und wurde konsequent entfernt. Wie er. Die Kälte war ihm ein guter Freund. Passenderweise hieß er mit Nachnamen «Winter», sein Name war also Programm.
Langsam dämmerte es. Er war bereit. Nur noch einen Millimeter war er vom Paradies entfernt. Es musste gar nicht so großartig werden wie in der Bibel versprochen. Das Ende seiner jetzigen Existenz genügte ihm schon. Angst vor der Hölle hatte er keine – die kannte er bereits aus dem Leben. Leicht war es trotzdem nicht.
Er hatte seine Entscheidung gefällt, und sie war richtig. Sein Herz raste, ein unerträgliches Fiepen drang in sein Ohr und wurde immer lauter. Dazu stieg ein absurdes Gefühl in ihm hoch, mit dem er als Allerletztes gerechnet hatte: Er hatte irrsinnigen Durst! Und zwar nicht nach irgendwas, sondern … nach Mezzomix. Es musste Mezzomix sein. Er kicherte wie irre in sich hinein. Es war eiskalt, es schneite, und er konnte nicht aus dem Leben scheiden ohne Mezzomix? Der Durst wurde immer schlimmer, dazu kam ein helles Wimmern, wie von einer Frauenstimme. Ein Güterzug kreischte in einer Kurve auf, und ein gemischter Chor sang ein Lied in einer Sprache, die er noch nie gehört hatte. Sein Hirn lief Amok, die Geräusche in seinem Kopf wurden lauter und lauter.
«Spring endlich!», schrie er sich an. Er hörte, wie seine Stimme zwischen den Bäumen verhallte. «Los jetzt, worauf wartest du noch?»
Nichts und niemand antwortete darauf.
An der breitesten Stelle lief sie den See zweimal ab. Die Flocken wurden immer dichter. Das hatte den Nachteil, dass sie nicht weit sehen konnte, außerdem bremste der Schnee ihre Kufen. Plötzlich fiel ihr der richtige Spruch für Angler wieder ein: «Petri Heil». Aber sie hatte bei dem Mann gar kein Angelzeug gesehen. Auf dem Steg hatten nur eine Holzfällerjacke und zwei Hanteln aus dem Fitness-Studio gelegen. War das einer von den ganz Harten, die auch im Winter jeden Tag baden gingen? So wie diese sibirischen Omis, über die um Weihnachten rum gerne in der Zeitung berichtet wurde? Aber wozu die Hanteln? War das ein neuer Trendsport? So etwas wie «Hantel-Ice-diving»? Gab es das?
Oder … wollte er sich womöglich umbringen?
Quatsch, das war irgendein Spinner, und sie war keine Sozialarbeiterin. Andererseits war sie außer ihm der einzige Mensch hier weit und breit. Es war ihre Pflicht, noch mal hinzufahren und nachzusehen. Sie nahm Schwung und fuhr auf die schmale Stelle am Ende des Sees zu. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass jede Sekunde zählte, und sie nahm Fahrt auf. Es war ein totaler Blindflug, sie sah nichts außer Schneeflocken. Dann ging alles schneller, als sie es fassen konnte. Ihre Beine wurden weggerissen, sie flog in hohem Bogen durch die Luft. Ein paar Augenblicke später knallte sie ungebremst auf ihr rechtes Knie, das von einem harten Pickel im Eis regelrecht aufgespießt wurde.
Im allerersten Moment tat überhaupt nichts weh. Erst nach einer Schrecksekunde schrie sie laut auf vor Schmerz. Sie bekam kaum Luft, jede noch so kleine Bewegung wurde zur Tortur. Sie konnte das Knie nicht bewegen, zusätzlich kroch von unten eine unbarmherzige Kälte in ihren Körper. Lange würde sie es so nicht aushalten. Jetzt fehlte ihr Skianorak, doch der lag weit weg am Ufer. Es war der bescheuerte Baumstamm gewesen, der sie zu Fall gebracht hatte. Der, über den sie mehrmals gesprungen war, im Schneetreiben hatte sie ihn vollkommen vergessen. Tragischerweise steckte auch ihr Handy im Anorak. Sonst hatte sie es immer dabei, nur ausgerechnet jetzt nicht.
«Hiiilfee!», schrie sie.
Beim Schreien tat das Knie noch mehr weh. Solche Schmerzen hatte sie noch nie in ihrem Leben gehabt. Ihr Mund war trocken wie an einem heißen Augusttag, ihr wurde schlecht. Alleine käme sie niemals vom Eis herunter, und im Schneetreiben würde sie vom Ufer aus bestimmt keiner sehen, außerdem dämmerte es bereits.
Wie lange es wohl dauerte, bis man erfror? Eine Stunde? So, wie es sich gerade anfühlte, wohl eher zehn Minuten. Alles in ihr zog sich zusammen. Das durfte nicht sein! Blöderweise hatte sie niemandem Bescheid gesagt, wo sie war, es würde sie also keiner vermissen. Der Typ vor seinem blöden Eisloch war jetzt ihre einzige Hoffnung, ausgerechnet! Falls der schon im Wasser schwamm, war das auch ihr Ende – bitte nicht!
«Hiiilfee!»
Dann betete sie, etwas leiser: «Hallo, Herr Gott, schick den Kerl von mir aus in die Hölle. Aber vorher soll er noch bei mir vorbeischauen. Hiiilfee!»
Ihr Magen krampfte sich zusammen, sie fing an zu heulen. Wieso antwortete der Typ nicht? Sie brauchte jetzt keinen Selbstmörder, sondern einen Feuerwehrmann, oder einen gelben Engel vom ADAC, oder überhaupt einen Engel, egal von welcher Organisation. Am besten original aus dem Himmel. Sie schrie, bis ihr schwarz vor Augen wurde. Aber es war zwecklos. Ihre Stimme wurde heiser, ihre Kraft ließ nach. Es schneite immer noch. Die Flocken würden das Letzte sein, was sie von der Welt sah. In einem der am dichtesten besiedelten Länder der Erde war der Tod, den sie hier fand, geradezu lächerlich. Aber hinterher war man immer schlauer. Nur dass es diesmal kein Hinterher geben würde. Dabei hatte sie noch so viel vorgehabt. Und ihre wunderbaren Schwestern würde sie auch nicht mehr wiedersehen. Johanna. Wiebke. Merle.
Irgendwann wurde sie müde und legte den Kopf aufs Eis. Vielleicht war es auch gut, etwas zu dösen, um Kraft zu sammeln. Aber war es nicht gefährlich einzuschlafen? Das war wohl der vielzitierte Anfang vom Ende.
«Ja?», fragte eine Stimme.
Gott?
Neben sich sah sie grüne Sommerturnschuhe, die waren vorher noch nicht da gewesen. Sie blickte hoch. Ein Mann stand neben ihr, im dichten Schneetreiben konnte sie ihn nur als Schatten erkennen. Er hielt seine riesige Axt in der Hand. Es war schlimmer, als sie gedacht hatte: Der wollte nicht sich selbst umbringen, sondern sie! Instinktiv hielt sie sich die Arme vors Gesicht.
«Ich bin gestürzt», wimmerte sie, während sie gegen einen Brechreiz ankämpfte. «Mein Knie. Bitte helfen Sie mir …»
… und tun Sie mir nichts!
«Wie?»
Er reagierte verzögert auf das, was sie sagte. Stand er vielleicht unter Drogen?
«Hubschrauber, schnell!», flehte sie ihn an. Wenn der Typ nicht sofort in die Gänge kam, erfror sie!
«Nein!», wies er sie barsch zurück.
Das klang bedrohlich. Was wollte er?
Der Wald von Kellenhusen war zwar nicht riesig, aber groß genug, um Tom von der Welt abzuschirmen. Von Kindheit an wohnte er hier in dem alten Forsthaus, das hinter meterhohen Brombeerbüschen verborgen lag. Jetzt streckte er sich unter seiner dicken Daunendecke aus und wollte die Bettwärme nicht mehr hergeben. Nach dem Abend am Ukleisee war er so erschöpft gewesen, dass er drei Tage hier liegen geblieben war. Durchs Fenster blickte er auf die schneebedeckten Kronen der Fichten, Buchen und Eschen, die sich in der Wintersonne aalten. Gerade machte der Wind eine kaum wahrnehmbare Welle um das Haus. Normalerweise folgte von der nahen Ostsee gleich eine zweite, heftigere Böe – da war sie schon. Es rauschte und klapperte im Gehölz, die Bäume stöhnten kurz auf, etwas Schnee rieselte von den Ästen.
Toms Magen grummelte, er hatte riesigen Hunger. Widerwillig pulte er sich aus dem Bett und schlurfte nach nebenan ins Wohnzimmer. Es war der größte Raum im Haus, ausgeschlagen mit grobem, ungehobeltem Holz. In der Mitte stand ein Kanonenofen, daneben waren Holzscheite bis zur Decke gestapelt. Mehrere Regale an den Wänden quollen über vor Büchern, davor waren in zwei Reihen kleine Holzstühle aufgestellt, die er vor kurzem für den Kindergarten im Ort fertig gebaut hatte. Jeder einzelne war aus einem eigenen Holzblock gefertigt und besaß eine individuelle Form. Er hatte lange daran gebastelt, dass sie sich trotzdem stapeln ließen. Auf einem der Stühle klebte ein Zettel mit der Aufschrift «Für den evangelischen Kindergarten in Kellenhusen». Wenn er ins Eisloch gegangen wäre, hätten die Kinder ihre Stühle trotzdem bekommen. Das alte Klavier in der anderen Ecke hatte er ihnen ebenfalls zugedacht.
Als er die Küche betrat, hielt er sich schützend die Hand vors Gesicht. Die Mittagssonne wurde durch den Schnee um ein Vielfaches verstärkt und stach in seinen Augen. Missmutig schaute er in den Küchenschrank. Da er vorgehabt hatte, ins Eisloch zu gehen, hatte er nichts mehr eingekauft. Es war erbärmlich, sogar die allerletzten Toastbrotvorräte und Marmeladengläser waren vollständig geplündert. Nur noch zwei Eier waren da. Er setzte sich Kaffee auf und briet sie in seiner gusseisernen Pfanne. Verschlafen schaute er auf den weißen Wald hinaus. Irgendetwas musste seinen Kreislauf in Schwung bringen, wie wäre es mit Schneeschippen? Nur für wen? Er wohnte allein und bekam so gut wie nie Besuch.
Nach dem improvisierten Frühstück wurde er wieder müde, aber er wollte nicht zurück ins Bett. Das würde ihm nicht guttun. Im kleinen Bad ließ er einige Liter Wasser in den Boiler laufen. Dann holte er ein paar dünne Holzspäne aus dem Korb, warf sie in den Ofen und zündete sie mit einem langen Streichholz an. Das Reibegeräusch erschreckte ihn fast, denn ansonsten war es absolut still im Raum. Bald würde er warmes Wasser haben, die heiße Dusche würde ihm helfen, wach zu werden.
Er setzte sich ans Klavier, schlug ein A an und ließ es im Raum verklingen. Dann spielte er einen Moll-Akkord, der nur aus schwarzen Tasten bestand, Es-Ges-B. Dazu summte er leise «Summertime, and the livin’ is easy». Es war das Absurdeste, was ihm einfallen konnte: Weder war Sommer, noch war sein Leben easy.
Zehn Minuten später spülte er den Tag am Eisloch von seiner Haut. Er verbrauchte das warme Wasser aus dem Boiler bis zum letzten Tropfen. Jetzt war er zwar wach, aber immer noch hungrig. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als ins nahegelegene Kellenhusen zum «Nahkauf» zu fahren. Zurück in die Alltagswelt, die Kassiererin beim Hinausgehen nett grüßen: «Schönen Tag noch, Frau Hansen.» – «Für Sie auch, Herr Winter.» Alles nicht sein Liebstes, aber da kam er nicht drum rum.
Als er sich gerade die Haare abrubbelte, spielte das Handy in der Küche seinen Klingelton, es war der Anfang von «Smoke on the water». Wer konnte das sein? Er kannte doch kaum jemanden. Wahrscheinlich wieder jemand von einem Callcenter, der ihm irgendeinen Schrott andrehen wollte. Der Text war immer derselbe: «Hallo, Herr Winter, schön, dass wir Sie erreichen. Wir haben etwas für Sie, das Ihnen weniger Kosten bereitet, aber mehr Leistung bringt – wie hört sich das für Sie an?» Er wollte erst gar nicht rangehen, tat es dann aber doch. Letztlich hatte er Mitleid mit den Mitarbeitern von Callcentern. Sie machten schließlich einen harten Job, der auch noch schlecht bezahlt war. Missmutig nahm er das Telefon zur Hand, während das Wasser noch aus seinen Haaren tropfte. «Ja?»
«Annkathrin Gehrke, die Schlittschuhläuferin.»
Er war verdattert: die Tussi vom See? Woher hatte die seine Nummer?
«Ich wollte mich bei Ihnen bedanken, dass Sie mir das Leben gerettet haben.»
«Bitte.»
Eigentlich war es ja umgekehrt gewesen: Sie hatte ihm das Leben gerettet, auch wenn sie das nicht wissen konnte. Damit waren sie quitt, fand er.
«Ich möchte Sie gerne zum Essen einladen.»
«Muss nicht.» Er hatte keine Lust, mit der Schickifrau einen ganzen Abend zu verbringen. Worüber sollte er mit ihr quatschen? Außerdem musste er jetzt dringend zum Supermarkt.
«Das Blöde ist nur, ich kann noch nicht Auto fahren», plapperte sie weiter. «Mein Knie ist schwer geprellt, es tut beim Kuppeln aasig weh …»
Verstand die jetzt Deutsch oder nicht? Hatte er nicht eben «Muss nicht» gesagt?
«Haben Sie Zeit?», insistierte sie.
«Na ja.»
«Super. Können Sie mich gleich abholen? Ist auch nicht weit.»
Sie überrollte ihn einfach.
«Heute?», fragte er gestresst, als ob er tausend Termine in seinem Kalender stehen hätte.
«Ich wohne auf Gut Behnskow, kennen Sie das?»
Hatte er sie doch richtig eingeschätzt: Gut Behnskow kannte er noch aus der Zeit, als der Gutsherr Graf von Behnskow noch nicht bankrottgegangen und sein Anwesen daraufhin in ein überkandideltes Wellness-Hotel umgewandelt worden war. Die Frau hatte Kohle, spielte Golf und besaß wahrscheinlich eine fette Segelyacht an der Ostsee. Während er überlegte, ob er nicht einfach auflegen sollte, rutschte ihm ein langgezogenes «Ja» heraus.
«Ich wohne Pappelallee 4», rief sie. «Das können Sie gar nicht verfehlen. Sie leben im Kellenhusener Wald, nicht wahr? Wie weit ist das? In einer halben Stunde, so gegen vier? Das können Sie locker schaffen. Ich freue mich.» Sie legte auf.
Er starrte den Hörer an. Die hatte ihn falsch verstanden. Er hatte doch überhaupt nicht zugesagt. Was sollte er in einem Edel-Restaurant? Er stellte es sich konkret vor: schleimige Kellner, schummriges Kerzenlicht, sie spielte mit der Stoffserviette und säuselte dabei: «Sie sind mein Retter, Tom, ohne Sie säße ich nicht hier.»
«Bitte, gern geschehen.»
«Sie sagen so wenig.»
«Was soll ich sagen?»
«Na ja, Sie hatten bestimmt etwas anderes vor an dem Tag, oder?»
«Stimmt.»
«Weswegen haben Sie eigentlich vor dem Eisloch gesessen?»
«Ist doch egal.»
Sie lachte kurz auf. «Wissen Sie, was ich gedacht habe?»
«Was denn?»
Sie nahm einen Schluck Wein und kicherte erneut. «Dass Sie sich umbringen wollten.»
«Echt?»
Auf solche Dialoge konnte er gut und gerne verzichten.
Zwanzig Minuten später fuhr er mit seinem klapprigen Jeep durch den Wald in Richtung Landesstraße. Warum, wusste er selbst nicht.
Was für ein seltsamer Typ. Annkathrin legte das Telefon beiseite und lümmelte sich auf ihre Couch. Ihr bandagiertes rechtes Bein lagerte auf einem großen Kissen. Wahrscheinlich war es ein Fehler gewesen, ihn einzuladen. Es würde wohl einer dieser gruseligen Abende werden. Trotzdem, sie war ihm etwas schuldig. Ohne ihn wäre sie jetzt … Sie schüttelte sich, als sie an den Unfall zurückdachte.
Von draußen schien das Nachmittagslicht durch die breiten Fenster auf den Holzfußboden. An der Wand über dem Kamin hingen großformatige Fotos von der Insel Föhr, auf der sie aufgewachsen war. Ihre drei Schwestern lebten immer noch dort, auf dem Hof ihrer Eltern. Die Fotos hatte Johanna gemacht, die Älteste. Sie beobachtete, wie die Holzscheite im Kamin vor sich hin glühten. Sie gaben eine bullige Wärme ab, obwohl das Feuer langsam ausging. Es lohnte nicht, etwas nachzulegen, wenn sie gleich wegwollte.
Sobald sie das Knie beugte, tat es immer noch höllisch weh. Jetzt, in der häuslichen Wärme, kam ihr der Unfall fast vor wie ein Film. Sie hatte auf dem Eis gelegen und nach einem Hubschrauber geschrien, bis der Typ, dieser Tom, ihr ruhig erklärte, dass der im Schneesturm nicht würde landen können. Tom zog sie hoch, und es fühlte sich an, als würde er ihr mit seiner Axt ins Knie hauen. Sie kämpfte mit der Ohnmacht. Verzweifelt schlang sie ihre Arme um seine Schultern, er fasste sie unter den Knien und trug sie übers Eis – wie ein Bräutigam seine Braut. Dabei keuchte er vor Anstrengung. Ein Hauch von seinem Schweißgeruch stieg ihr in die Nase, aber das war nicht unangenehm, im Gegenteil. Er duftete nach Wärme und Leben.
Der Mann hatte sie ins Unterholz geschleppt, wo sein alter Militärjeep parkte, und sie dort vorsichtig auf den Rücksitz gelegt. Es war alles viel zu eng, und der blöde Sitz ließ sich nicht verstellen. Außerdem gab es im Wagen keine Heizung, war das zu glauben? Auf der Fahrt über den unebenen Feldweg wurde jeder Buckel mit einem stechenden Schmerz in ihrem Knie quittiert. Sie hätte sich gerne zusammengerissen, aber es tat so weh, dass sie laut aufschreien musste.
Nach einer unendlich langen Zeit rasten die Häuser der Kleinstadt Eutin an ihr vorbei. Alles begann sich vor ihren Augen zu drehen. Schließlich hielt Tom vor der grell erleuchteten Notaufnahme des Krankenhauses. Wie aus dem Nichts baute sich ein hünenhafter Pfleger in weißer Kleidung vor ihr auf. Den Dialog hatte sie wörtlich behalten, sie würde ihn nie vergessen.
«Wie heißen Sie?», fragte der Mann.
«Annkathrin Gehrke.»
«Welche Krankenkasse?»
«Mein Knie!», schrie sie.
«Wir müssen erst die Krankenkasse wissen.»
«Ich bin am rechten Knie verletzt.»
«Krankenkasse?»
«Techniker.»
«Haben Sie Ihre Versichertenkarte dabei?»
«Ich habe Schmerzen!», brüllte sie. Dann bekam sie einen Schwächeanfall und sackte zur Seite. Eine Frau, ebenfalls in Weiß, kam dazu. Annkathrin konnte sie nur undeutlich erkennen.
«Ich bin Dr. Wild», erklärte die Ärztin.
«Ja.»
«Wenn ich bitte Ihre Versichertenkarte sehen dürfte?»
Ihr Retter vom See war inzwischen verschwunden. «Wie heißt du?», hatte sie ihm noch hinterhergerufen. Aber sie war vom vielen Schreien so heiser, dass nur ein Krächzen herauskam.
«Den kenne ich, das ist Tom Winter», erklärte der Pfleger. «Wohnt im Wald von Kellenhusen.» Er schob sie in die grell beleuchtete Notaufnahme. Zum Glück bekam sie dort eine Schmerzspritze, die innerhalb von Sekunden wirkte und sie sehr schläfrig machte. Ein größeres Glück konnte es in diesem Moment nicht geben.
Es würde wohl dauern, bis sie diesen Film aus dem Kopf bekam. Leider hatten die Ärzte im Krankenhaus noch etwas Auffälliges in ihrem Blut entdeckt und hätten sie am liebsten gleich dabehalten. Doch sie hatte abgelehnt. Erst einmal wollte sie ein paar ruhige Tage zu Hause verbringen. Morgen würde sie dann noch mal hinfahren.
Draußen brach die Dämmerung herein, bald würde die Sonne untergehen. Sie sah Toms Jeep von der Landesstraße auf die schnurgerade Pappelallee abbiegen. Die Allee führte direkt auf das zweistöckige weiße Herrenhaus zu, das von einem großen Park umgeben war. Das war das Gutshotel, in dem sie arbeitete. Hundert Meter davon entfernt wohnte sie, im ehemaligen Gesindehaus. Es besaß drei große Räume sowie einen riesigen Wintergarten nach Südwesten. Für sie als Single war das ein echter Luxus, so großzügig hatte sie noch nie gewohnt.
Es klingelte. Sie schnappte sich ihre Gehhilfen und humpelte zur Tür. Vorsorglich hatte sie sich im Flur eine Daunendecke bereitgelegt. Anders würde sie den bescheuerten Jeep ohne Heizung nicht überleben. Sie öffnete. Tom Winter stand vor ihr und starrte sie an. Sie hätte ihn kaum wiedererkannt: Er hatte sich den Bart abgenommen, was ihm gut stand. Jetzt noch ein kleines Lächeln ins Gesicht, und du wärst ein echter Hingucker, dachte sie. Aber deine alte Holzfällerjacke tut nichts für dich, zitierte sie im Stillen einen bekannten Modedesigner. Dann ermahnte sie sich: Du bist nicht seine Stilberaterin, Annkathrin!
«Hallo», murmelte er.
Sollte sie ihn umarmen? Immerhin war er ihr Lebensretter. Aber zum Knuddeln war er nicht der Typ. Sie bat ihn ins Wohnzimmer und folgte ihm.
«Hier wohnen Sie also», sagte er und schaute sich befremdet um.
«Wir können uns gerne duzen. Ich bin Annkathrin.»
«Tom.»
«Vielen Dank noch mal für alles, Tom.»
«Hmm.»
Er schaute sich weiter um. «Schick, und der Golfplatz ist gleich um die Ecke, sehr praktisch.»
Hörte sie da leichten Spott heraus?
«Ich arbeite auf dem Gut», erklärte sie. Gut Behnskow war eins der schönsten Wellness-Hotels weit und breit, mit Schwimmbad, verschiedenen Saunen und einem Fitnessbereich. Es bot Massagen, Anwendungen von Kopf bis Fuß – und vor allem die tiefe Ruhe, die dieses jahrhundertealte Gemäuer ausstrahlte. «Wenn du mal in die Sauna willst, jederzeit.»
«Das ist wohl nicht ganz meine Preisklasse.»
«Überleg mal, was gibst du für die Reparatur deines Autos aus?», fragte Annkathrin. «Du solltest dir doch genauso viel wert sein wie ein neuer Außenspiegel, oder?» Das war ihr üblicher Werbetext am Telefon, wenn sich Leute über die angeblich zu hohen Preise mokierten. «Für dich ist es natürlich umsonst», fügte sie hinzu.
«Ah ja, und das kannst du mir einfach so anbieten?»
Sie zuckte mit den Achseln. «Ich bin die stellvertretende Geschäftsführerin.»
Und das war sie gerne. Damit sich die Gäste entspannen konnten, musste im Hotel alles reibungslos laufen. Dafür sorgte sie, so gut sie konnte. Ihr Lohn waren glückliche Menschen, die das Haus nach ein paar Tagen Urlaub begeistert verließen. Das war nicht seine Welt, auch okay.
Er nahm ein gerahmtes Foto von der Kommode neben der Couch: sie mit Anfang zwanzig, braun gebrannt, lachend am Strand von Kreta.
«Bist du das?», fragte er erstaunt.
«Ja, das war letzte Woche im Urlaub», scherzte sie. Sie musste das Bild unbedingt entfernen. Sie sah viel zu gut darauf aus, damit konnte sie heute nicht mehr mithalten.
«Sie wohnen nicht weit weg?», fragte sie, um das Thema zu wechseln. Der Pfleger im Krankenhaus hatte gesagt, dass Tom mitten im Wald lebte.
«Hmm.»
«Entschuldigung, wir wollten uns ja duzen.»
«Hmm.»
Sagte der auch mal was anderes als «Hmm»? Seltsamerweise wirkte er dabei nicht unfreundlich, seine grünen Augen musterten sie aufmerksam.
«Lass uns essen gehen», schlug sie vor.
Aber worüber sollten sie reden, wenn er nichts sagte? Es versprach ein Abend zu werden, der alles von ihr forderte.
Draußen knirschte der Schnee unter ihren Schuhen, die Temperatur lag weit unter null. Sie humpelte auf ihren Stützen zu seinem Jeep, er trug ihre Daunendecke. Im Auto breitete sie sie über ihrem Schoß aus, und so tuckerten sie die Pappelallee entlang zur Landesstraße. Die schmalen, hohen Bäume huschten vorbei wie Läufer, die ihnen entgegenkamen.
«Wieso ist im Wagen eigentlich keine Heizung?»
«Die kann im Ernstfall nur kaputtgehen. Hier ist bloß das Allernotwendigste eingebaut.»
«Zählen Bremsen dazu?»
Er verstand nicht, dass das ein Witz sein sollte, sondern schaute sie nur verständnislos an. «Schon.»
Annkathrin räusperte sich. «Ich wollte dich noch was fragen …» Sie stockte. «Du hattest nicht zufällig vor, dich am See umzubringen, oder?»
«Meine Sache», antwortete er schroff.
Es war auch egal. Er hatte sie gerettet und war selbst auch am Leben.
«Ich habe eine kleine Bitte», sagte sie. «Können wir vor dem Restaurant noch kurz was erledigen? Ich darf ja zurzeit nicht fahren. Es dauert auch nicht lange, versprochen.» Vielleicht ließe sich das ja einrichten. Es war ihr sehr wichtig, und wenn sie schon mal unterwegs waren …
«Hmm.»
Sie lächelte. «‹Hmm-ja› oder ‹Hmm-weiß-nicht›?»
«Okay.»
Sie lotste ihn über schmale, verschneite Nebenstraßen in ein kleines Dorf in der Nähe von Neustadt. Tom war offenbar kein Mensch für Smalltalk, also hielt sie die Klappe. Nur wenn sie ihm den Weg zeigen musste, sprach sie.
«Und jetzt?», fragte er, als sie das Ortsschild des Dorfes passierten.
«Zur Kirche – da ist sie schon!»