Zwischen den Zeilen - Richard Zelenka - E-Book

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Richard Zelenka

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Beschreibung

Noch in den 80er Jahren gehörte das Geklapper mechanischer Schreibmaschinen zum Alltag in den Zeitungsredaktionen. Seitdem vollzog sich im Journalismus ein rasanter Wandel. Der Autor dieses Buches, Richard Zelenka, war über 35 Jahre hautnah dabei. In diesem Buch erzählt er spannende, heitere und tragische Geschichten aus dem Leben eines Lokalreporters. Für das Buchprojekt konnte er zwei kompetente Mitstreiter und erfahrene Lokaljournalisten als Koautoren gewinnen: Dirk Bodderas und Meinolf Praest. Wer lange im Journalistenjob war, der kann viel erzählen. Es sind Geschichten zum Lachen und solche zum Weinen. Denn es sind auch tragische menschliche Schicksale, schwere Unfälle und verheerende Brände, die den Lokalreporter auf Trab halten. Der Autor berichtet über die Tücken der Technik im Redaktionsalltag, über seine Begegnungen mit interessanten und merkwürdigen Zeitgenossen und thematisiert den Alltag eines Journalisten im Wandel der Zeiten. Strenge Vorgesetzte und schrullige Kollegen haben Richard Zelenka auf seinem langen beruflichen Weg begleitet; sie werden von ihm mit Augenzwinkern und Nachsicht porträtiert. Auch das schwere Los der "freien" Mitarbeiter und die Folgen der Digitalisierung für die Printmedien werden in diesem Buch nicht ausgespart. Fesselnd wird erzählt, wie schwer es für einen Zeitungsredakteur ist, die Gunst des Lesers zu gewinnen und ihn Tag für Tag mit spannenden und interessanten Geschichten bei der Stange zu halten.

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„Journalisten sind Leute, die ein Leben lang darüber nachdenken, welchen Beruf sie eigentlich verfehlt haben.“

Mark Twain

Inhaltsverzeichnis

Print am Abgrund

Der Ernst des Lebens

Wie man was macht

Blaulicht und Rotlicht

Frei und unfrei

Pappnasen und Sprechblasen

VORWORT

Noch in den 80er Jahren gehörte das Geklapper mechanischer Schreibmaschinen zum Alltag in den Zeitungsredaktionen. Seitdem vollzog sich im Journalismus ein rasanter Wandel. Der Autor dieses Buches, Richard Zelenka, war über 35 Jahre hautnah dabei. In diesem Buch erzählt er spannende, heitere und tragische Geschichten aus dem Leben eines Lokalreporters.

Für das Buchprojekt konnte er zwei kompetente Mitstreiter und erfahrene Lokaljournalisten als Koautoren gewinnen: Dirk Bodderas und Meinolf Praest. Beide haben Richard Zelenka über viele Jahre als Kollegen und Freunde begleitet. Meinolf stand Jahrzehnte in den Diensten der Neuen Westfälischen, Dirk hingegen war für das Westfalen-Blatt tätig.

Meinolf berichtet in seinem Gastbeitrag ausführlich über ein grausames Verbrechen, das sich in der Neujahrsnacht 2009 im ansonsten so friedlich-beschaulichen Harsewinkel zugetragen hat. Aus Eifersucht wurde eine junge Frau von ihrem kurdischen Freund brutal umgebracht. Die entsetzliche Tat sorgte weltweit für Schlagzeilen.

Dirk steuert drei Kapitel bei. Er schildert, wie er unversehens zur Zielscheibe eines treffsicheren Zirkus-Messerwerfers wurde und warum ein vermeintlicher Atomtransporter nach einem Unfall auf der Autobahn für Chaos sorgte. Bei einem Pressetermin gilt es für den Lokalreporter, viele Klippen, Fallen und Fettnäpfchen zu umschiffen. Auch darüber gibt Dirk launig Auskunft.

Autorenteam: Meinolf Praest, Richard Zelenka und Dirk Bodderas (von links) berichten unter dem Titel „Zwischen den Zeilen“ vom Alltag eines Lokalreportes.

Wenn einmal in der Hektik des Redaktionsalltags eine Diskette mit wichtigen Texten statt im Laufwerk im Lüftungsschlitz des Computers landet, dann ist Improvisationstalent gefragt. Keine Sorge: Der handwerklich begabte Kollege hat immer das passende Werkzeug dabei. Er schraubt schnell das Gehäuse auf, und schon geht die Produktion der nächsten Ausgabe weiter. Was zunächst ärgerlich ist, sorgt noch Jahre später für Heiterkeit im Kollegenkreis.

Wer lange im Journalistenjob war, der kann viele solche Anekdoten erzählen. Es sind Geschichten zum Lachen und solche zum Weinen. Denn es sind auch tragische menschliche Schicksale, schwere Unfälle und verheerende Brände, die den Lokalreporter auf Trab halten.

Die meisten Geschichten in diesem Buch sind eine Mischung aus Wirklichkeit und Fiktion. Wie bereits in „Vertraute Fremde – mein Lettland“ (2022 erschienen) wurde auch in „Zwischen den Zeilen“ die Handlung hier und da ein bisschen aufgepeppt, um die Erzählstruktur und Dramaturgie geschmeidiger zu machen.

Wer weiß schon, was vor 40 Jahren wirklich geschah, was, Wort für Wort, miteinander geredet wurde? So entstammen die meisten Zitate der Erinnerung des Autors. Sie könnten so oder so ähnlich stattgefunden haben.

Einige der handelnden Personen sind frei erfunden. Andere wiederum gibt es tatsächlich, sie agieren aber zuweilen in so skurrilen und surrealen Geschichten, dass es angeraten erschien, ihre Namen zu ändern. Denn niemand soll dem Spott preisgegeben werden. Die meisten Protagonisten in „Zwischen den Zeilen” existieren wirklich, und sie werden auch mit ihren richtigen Namen genannt.

Der Autor hat über drei Jahrzehnte in diversen Redaktionen in Ostwestfalen-Lippe gearbeitet. Seine Erfahrungen und Erlebnisse stehen im Mittelpunkt von „Zwischen den Zeilen“. Er berichtet über die Tücken der Technik im Redaktionsalltag, über seine Begegnungen mit interessanten und merkwürdigen Zeitgenossen und thematisiert den Alltag eines Journalisten im Wandel der Zeiten.

Strenge Vorgesetzte und schrullige Kollegen haben Richard Zelenka auf seinem langen beruflichen Weg begleitet; sie werden von ihm mit Augenzwinkern und Nachsicht porträtiert. Auch das schwere Los der „freien“ Mitarbeiter und die Folgen der Digitalisierung für die Printmedien werden in diesem Buch thematisiert.

Fesselnd wird erzählt, wie schwer es für einen Zeitungsredakteur ist, die Gunst des Lesers zu gewinnen und ihn Tag für Tag mit spannenden und interessanten Geschichten bei der Stange zu halten.

Print am Abgrund

DIE LETZTEN ZUCKUNGEN

Die Zeitungen stehen am Abgrund“ - diese Schlagzeile würde kaum einen überraschen. Den Printmedien geht es schlecht - von Jahr zu Jahr geht es abwärts, die Auflagen sinken, gleichzeitig gehen die Erlöse aus dem Anzeigengeschäft zurück. Die Bilanzen sehen mies aus. Die meisten Zeitungen stecken in der Zwickmühle. Es trifft die Kleinen ebenso wie die Großen. So musste auch der Platzhirsch kräftig Federn lassen.

Im vergangenen Jahrzehnt hat „Bild“, die auflagenstärkste Zeitung in Deutschland, stark an Einfluss verloren, publizistisch wie wirtschaftlich. Das Boulevard-Megafon rutscht immer tiefer in die Krise. Die Auflage fiel von 3,1 Millionen im Jahr 2010 auf gut eine Million heute, das digitale Geschäft kann die Erosion nicht wettmachen. Den Schwund an Reichweite versuchen die Blattmacher seither durch Lautstärke auszugleichen.

Weil die Gewinnmargen immer kleiner werden und einige Printmedien sogar vor dem Bankrott stehen, dringen die Verleger in Deutschland auf eine rasche staatliche Förderung von Pressehäusern. „Wenn jetzt noch lange gewartet wird, dann haben wir in Deutschland eine andere, ärmere Presselandschaft, weil viele redaktionelle Angebote es nicht schaffen werden“, befürchtet der Hauptgeschäftsführer des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ), Stephan Scherzer.

Vielfalt in Gefahr: Die meisten Zeitungen haben mit sinkender Auflage und Einbrüchen im Anzeigengeschäft zu kämpfen. Die Krise ist zum Teil hausgemacht.

Print scheint also in den letzten Zuckungen zu liegen - und Online kränkelt. Das Netzgeschäft läuft noch miserabel. Die Bezahlschranken, die mittlerweile alle Printmedien eingeführt haben, zünden nicht richtig.

In dieser verzwickten Lage etabliert sich ein weiterer mächtiger Konkurrent auf dem Onlinemarkt: Ausgerechnet die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten sind seit Jahren dabei, ihre aus Rundfunkbeiträgen finanzierten Online-Angebote auszubauen. Das sorgt für Verdruss bei den Zeitungsverlegern. Sie fühlen sich wirtschaftlich bedroht. Deshalb sind der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) bei der EU-Kommission vorstellig geworden.

Die Verleger haben Bedenken formuliert, wonach die Online-Aktivitäten der Öffentlich-Rechtlichen nicht klar genug definiert seien und ein Aufsichts- und Kontrolldefizit seitens der Rundfunkräte bestehe. Im Ergebnis verstoße das gegen den sogenannten Beihilfekompromiss mit der EU von 2007, bei den Beschränkungen für die Telemedienangebote der öffentlichrechtlichen Sender festgeschrieben wurden.

Ob all dies fruchtet? Fakt ist, dass bisher nur wenige Printmedien mit ihren Online-Angeboten Geld machen. Ein großer Fehler der Verlage war es, Texte gratis ins Netz zu stellen. Daran haben sich die Leser gewöhnt. Kaum einer ist bereit, für Online-News zu bezahlen. Die Zeitungen haben sich selbst kannibalisiert. Und sie haben es freiwillig getan, nach dem Motto: Lieber sich selbst auffressen, als von anderen gefressen zu werden.

Eine Zeitung war einst die Lizenz zum Gelddrucken. Firmen und Marken rannten den Anzeigenabteilungen die Schalter ein, die Zeitungen schwollen durch die Werbung zu holzscheitdicken Ausgaben an.

Das Geld sprudelte nur so in die Kassen der Verlage. Das war seit jeher die Grundlage für guten und kostspieligen Journalismus, den man sich leisten konnte. Aufwendig erstellte Inhalte waren und sind der Schatz der Verlage – doch sie wurden nicht gehütet wie ein Schatz, sondern verschenkt.

Hinzu kommt: 80 bis 90 Prozent des Anzeigenaufkommens haben sich im Laufe der Zeit zu Facebook, YouTube & Co. verlagert. Den Rest, der jedes Jahr kleiner wird, teilen konventionelle Magazine und Zeitungen und ihre digitalen Kanäle unter sich auf. Die verhängnisvolle Spirale dreht sich immer schneller.

„Only bad news are good news“ ist ein uralter Spruch der Zeitungsmacher. Will sagen: Nur schlechte Nachrichten verkaufen sich gut. Mit guten Nachrichten ist kaum jemand hinter dem Ofen hervorzulocken. Mord, Unfälle, Brände, Terror und Krieg - diese Themen beherrschen die Schlagzeilen und ziehen die Leser magisch an, glaubte man lange. Diese Regel gilt längst nicht mehr. Die Verlage sind selbst in die negativen Schlagzeilen gerückt.

Dabei haben sich die Zeitungsstrategen in den Chefetagen der Verlagshäuser selbst in diese missliche Lage manövriert. Sie haben die Zeichen der Zeit zu spät erkannt. Die Macht des Internets wurde zu lange unterschätzt, ja belächelt. Seit 20 Jahren ist das Internet auf dem Vormarsch zum neuen Leitmedium.

Noch streiten sich Experten, wie schnell sich die Umwälzung vollzieht. Es gibt die These, dass sich die beiden Quellen nicht unbedingt gegenseitig „auffressen“. Leute, die viel und gerne im Internet auf der Suche nach News surfen, seien auch bereit, Geld für ein Printprodukt auszugeben, heißt es. Das ist Pfeifen im Wald. Oder frei nach Pippi Langstrumpf: Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.

Trotz der seit Jahren anhaltenden Krise geben sich die Strategen in den Chefetagen der Verlagshäuser immer noch zuversichtlich. So feiert die NW an prominenter Stelle Anfang August 2023 unter der Überschrift „NW und HK erreichen Meilensteine im Digitalen“ ihre Online-Offensive.

Die Online-Angebote der Neuen Westfälischen, zu der auch das Haller Kreisblatt gehört, vereinten zum Start in den August erstmals mehr als 10.000 Abonnenten. Zudem nutzten mehr als 25.000 Menschen das E-Paper der NW – entweder als eigenständiges Abonnement oder ergänzend zur gedruckten Zeitung, heißt es dort fast euphorisch.

„Der Erfolg im nicht immer einfachen Geschäft des digitalen Journalismus ist das Ergebnis von großem Engagement in Redaktion und Verlag“, betont NW-Chefredakteur Thomas Seim. Die aktuellen Zahlen im Printgeschäft verschweigt er geflissentlich – wohlwissend, dass das Mehr an Online-Kunden bei Weiten nicht den Niedergang der gedruckten Zeitung ausgleichen kann.

Die beiden größten regionalen Tageszeitungen haben bereits die Reißleine gezogen, um die Folgen der Erosion im Printbereich abzumildern. Bereits vor zwei Jahren reagierte die Geschäftsführung der NW-Gruppe die „veränderten Nutzungsgewohnheiten in der Medienwelt“. Das Druckhaus von Küster + Pressedruck (k + p) stellte den Betrieb ein.

Das Druckzentrum des Westfalen-Blattes in Bielefeld-Sennestadt wurde Ende Juli 2023 geschlossen. Der Druck der beiden Zeitungen wurde an Fremdunternehmen vergeben – auch das hilft, Kosten zu sparen.

Print ist und bleibt ein Auslaufmodell, genauso wie etwa das Festnetztelefon oder der CD-Player. Wer junge Leute in der Familie hat, der wird‘s bestätigen: Die Tageszeitung aus Papier braucht kein Mensch aus der jungen Generation. Und das ist keine Frage des Bildungsniveaus. News holt man sich schnell aus dem Netz, und das meistens gratis. So ist das heutzutage. Die Verlagswelt hat lange tatenlos zugesehen. Sie wurde von den digitalen Veränderungen in ihren Grundfesten erschüttert. Und das Beben hält an.

Der Abschied auf Raten begann vor 15 Jahren. Fast unbemerkt, er kam schleichend. Nach vielen fetten Jahren, in denen eine Tageszeitung quasi zur Grundausstattung einer Familie gehörte und die Abozahlen beständig nach oben kletterten, kommt der Knick.

Zunächst ist niemand beunruhigt. Das wird sich schon geben, machen wir uns Mut. Aber die Talfahrt hält an. Und sie wird immer bedrohlicher. Man kann es nicht mehr leugnen: Die Leser laufen uns in Scharen davon.

Jeden Monat bekommen wir die Auflagenzahlen zugemailt, die von der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) regelmäßig ermittelt werden – und jedes Mal macht sich die große Depression breit. Verdammt nochmal, wieder drei Prozent weniger. Der Blick gilt den anderen Redaktionen. Auch in Verl geht die Auflage zurück, aber da sind es nur zwei Prozent minus. Woran liegt das? Was machen die besser als wir? Es gibt keine schlüssigen Antworten.

Schon im nächsten Quartal sieht es wieder anders aus. Diesmal ist der Aderlass bei den Kollegen größer als bei uns. Das beruhigt. Aber nur vorübergehend. Denn die Kurve zeigt beständig nach unten. So geht es über Jahre. Die Auflage geht kontinuierlich in den Keller - egal, was wir dagegen unternehmen. Irgendwann interessieren uns die Zahlen nicht mehr. Der Trend ist nicht aufzuhalten. In zehn Jahren ist uns ein Drittel der Leser weggelaufen.

Warum eine Zeitung abonnieren, wenn es im Internet alles gratis gibt? Das ist die entscheidende Frage, die Anfang der 2000-er Jahre die gesamte Zeitungsbranche in Deutschland bewegt. Der Kreis Gütersloh ist keine Insel der Glückseligen.

Alle drei Zeitungen, die in der Region um die Lesergunst buhlen, sind von dem Schwund betroffen. Die Auflage der Neuen Westfälischen ist in den vergangenen zehn Jahren um durchschnittlich 2,4 Prozent pro Jahr gesunken. Knapp 190.000 Exemplare werden aktuell jeden Tag verkauft. Der Anteil der Abonnements liegt bei 87,2 Prozent.

Noch schlimmer trifft es das Westfalen-Blatt, das im gleichen Verbreitungsgebiet erscheint. Die in Bielefeld ansässige Tageszeitung verlor seit 1998 etwa 30,5 Prozent ihrer Leser. Die verkaufte Auflage wird mit 98.000 Exemplaren beziffert.

Besser macht es die Glocke, die in Oelde gedruckt wird und in Teilen des Kreises Gütersloh mit der NW und dem WB konkurriert. Die regionale Tageszeitung, deren Layout von manchem als altbacken belächelt wird, setzt traditionell voll aufs Lokale.

Aus jedem noch so kleinen Kaff wird umfangreich berichtet. Das honorieren die Leser. In einigen Orten ist die Glocke der unangefochtene Platzhirsch. Aber auch das ist kein Grund zum Jubilieren. Denn die Glocke-Auflage sank seit 1998 um 24,8 Prozent auf aktuell knapp 48.000 Exemplare. Auch das ist ein dickes Minus, doch im Vergleich zur Konkurrenz steht die Glocke noch relativ gut da.

Wer soll das bezahlen, wenn die Schere zwischen Aufwand und Erlös immer weiter auseinanderklafft? Ein Geschäftsmodell, mit dem kein Geld zu verdienen ist, funktioniert auf Dauer nicht, so viel ist klar. Also wird in den Verlagshäusern der Rotstift angesetzt. Rigoros wird dort gespart, wo und wie es irgendwie geht. Fast alle Vergünstigungen für Redakteure wie Menüschecks oder Beteiligung an den privaten Telefonkosten werden nach und nach ersatzlos gestrichen. Auch bei den Betriebsrenten wird durchgegriffen.

Die Kontingente und Honorare der Freien werden zusammengestrichen, Kooperationen mit anderen Verlagshäusern forciert und, wenn’s anders nicht geht, sind auch Kündigungen kein Tabuthema mehr.

DIE DUMMEN REDAKTEURE

Das Auflagebeben weckt eines Tages auch die Chefredaktion aus ihrem Tiefschlaf. Die faulen und dummen Redakteure sind schuld. Sie müssen auf Kurs gebracht werden, lautet das Motto.

Die Blattkritik wird eingeführt. Der Chef und sein Vize erklären uns fortan täglich, was wir alles so verbocken und wie eine gute Zeitung gemacht wird. Die Lokalseiten im gesamten Verbreitungsgebiet werden nach vermeintlichen journalistischen Sünden und Fehlgriffen durchforstet. Wir werden mit E-Mails bombardiert. Die Kapitäne auf der Brücke glauben zu wissen, wie man das sinkende Schiff vor dem Untergang bewahrt.

Dabei wird das Übel an der Wurzel gepackt. Schuld an dem Auflagedesaster sind die Überschriften. Das ist doch klar. Warum haben wir das bloß nicht früher erkannt? Das Wörtchen „keine“ ist negativ besetzt und muss deshalb sofort aus unserem Wortschatz und vor allem aus der Zeitung verschwinden. Wir wringen unser Gehirn aus, aber es ist nicht immer ganz einfach, Schlagzeilen zu finden, die bei den Rezensenten in der Chefetage keinen (schon wieder das böse Wörtchen) Wutanfall auslösen.

Es passiert immer wieder: Ich kontrolliere kurz vor Feierabend meine Seite auf Fehler und Ungereimtheiten - und da fährt mir der Schrecken in die Glieder. „Kein Geld für die Schützen“ steht da tatsächlich über einem Zweispalter. Was für ein Fauxpas! Und was für ein Glück, dass ich es rechtzeitig gemerkt habe. Schnell lasse ich mir eine neue Schlagzeile einfallen: „Schützen gehen leer aus“, heißt nun die Botschaft. Zugegeben: Die neue Überschrift ist sogar besser als die ursprüngliche.

Absolut tabu ist das Fragezeichen in einer Überschrift. „Wir stellen keine Fragen. Unsere Aufgabe ist es, Fragen zu beantworten“, lautet die Begründung in bösen Mails, wenn jemand von uns wieder einmal gegen diese Regel verstoßen hat.

Wer glaubt, auf alle Fragen die passenden Antworten zu haben, der überschätzt sich maßlos. Niemand ist allwissend. Auch ein Lokaljournalist nicht. Gerade der nicht. Halbwissen ist unser Handwerkszeug. Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz. Schreibe nur das, was du absolut sicher weißt. Alles andere lasse weg.

Oft ist alles in der Schwebe, ungeklärt, unsicher. Es ist legitim und manchmal sogar angebracht, drängende Fragen als Zeitungsüberschrift zu formulieren. Ob es denen da oben gefällt - oder eben nicht.

Es gibt immer wieder Vorlieben bei der Zeitungsgestaltung. Sie kommen und gehen wieder. Ein besonders Schlauer in der Führungsetage hat sich einfallen lassen, dass es ganz schick aussehen könnte, allen Menschen, deren Porträtbilder in der Zeitung stehen, den Kopf direkt über dem Haaransatz abzuschneiden. Die Folge ist: All die wichtigen Leute sehen aus, als hätte sie Apachen-Häuptling Winnetou gerade mit einem stumpfen Messer skalpiert - ein grausamer Anblick.

Angie fragt mich, warum die Leute bei uns so verunstaltet werden. Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die sind mit menschlichem Verstand nicht zu ergründen.

Humoreske Züge nimmt die Debatte um die Zeilenzahl von Meldungen an. Die Herren aus dem Elfenbeinturm des Verlagshauses fordern bei den sogenannten Schlagzeilen, das sind kleine Meldungen mit Textdurchsatz über zwei Spalten, eine maximale Höhe von zehn Zeilen. Unter dem Strich sind es also 20 Zeilen. Schon geringfügige Überschreitungen von elf oder zwölf Zeilen Höhe bringen die Chefs auf die Palme. Wer dagegen verstößt, der wird öffentlich abgestraft.

„Wenn das noch einmal passiert, wird es Konsequenzen geben“, steht dann in der Blattkritik. Das klingt nach einer Abmahnung. Unsinn. Es passiert nichts.

Morgen und in den nächsten Tagen stehen wieder Schlagzeilen von elf und mehr Zeilen Höhe in der Zeitung. Das Spiel fängt von vorne an. Es gibt Kollegen, die machen sich einen Spaß daraus, die Chefkritiker zu provozieren. Sie amüsieren sich dann über die wütenden Reaktionen.

Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, sich vorzustellen, dass der Chefredakteur und sein Vize jeden Morgen die Lokalausgaben nach Sprach- und Layoutsünden durchforsten und dabei, vielleicht sogar mit einer Lupe in der Hand, die Zeilen einer Meldung zählen.

„Wie fandest du die heutige Blattkritik?“, will ich nach einem Meeting von einem Kollegen wissen.

Der grinst mich an und sagt: „Ist doch alles nur eine Schikane. Den Mist lese ich schon lange nicht mehr.“ Gute Einstellung.

So will ich das in Zukunft auch handhaben, nehme ich mir vor.

So wie der Spuk angefangen hat, ist er auch zu Ende. Die täglichen Kritiken bleiben plötzlich aus. Sind die Chefs aus eigener Einsicht zu der Erkenntnis gekommen, dass das alles nur Kokolores ist, der für die Qualität der Zeitung nichts bringt und unnötig für böses Blut in den Redaktionen sorgt? Oder war es ein externer Berater, der diesen Nonsens stoppte? Fragen sind ja eigentlich verboten, aber in diesem Fall berechtigt.

Not macht bekanntlich erfinderisch. Wenn es um das nackte Überleben geht, dann gelten Grundsätze und Regeln, die gestern noch unantastbar waren, heute nicht mehr.

AUS KONKURRENTEN WERDEN PARTNER

Man reibt sich die Augen, denn es passieren unglaubliche Dinge. Aus erbitterten Konkurrenten werden plötzlich Partner. Die Krise schweißt zusammen. Die Erosion der alten Strukturen beginnt beim Vertrieb. Schon seit Jahren sind die Zeitungsboten in doppelter Mission im Kreis unterwegs - sie beliefern sowohl die Kunden des WB als auch der NW mit frischem Lesestoff.

Davon profitieren beide Seiten. Das spart Geld und Personalressourcen. Dann der nächste Schritt der Kooperation: Das WB übernimmt eins zu eins den Lokalsport der NW. Es steckt ein System dahinter: In auflagestarken Gebieten liefert der Platzhirsch den Lokalsport. Im Kreis Gütersloh ist es eben die NW, in Paderborn oder Höxter, wo das Westfalen-Blatt traditionell die meisten Leser hat, ist es umgekehrt. Alles ist in Bewegung.

Carl-Wilhelm Busse (Vorbild und Idol: Franz Josef Strauß), der erzkonservative Verleger, Herausgeber und Chefredakteur des Westfalen-Blattes, würde sich im Grab umdrehen, könnte er sehen, wie aus erbitterten Rivalen, die einst mit allen Mitteln um jeden Kunden kämpften, plötzlich Partner und Verbündete werden.

„Es ist eine Schande, was aus meiner Zeitung und dem Lokaljournalismus in der Region geworden ist“, würde er den Niedergang auf Raten vermutlich kommentieren. Aber das ist nur eine Mutmaßung, denn Busse starb schon 2001.

Das letzte Tabu fällt, als das WB die eigene Produktion der Lokalausgaben im Kreis komplett einstellt und die Zentralredaktion in Gütersloh schließt. Von nun an erscheint die grüne Zeitung mit Lokalberichten von Glocke-Mitarbeitern. Es ist eine Mogelpackung: bunt zusammengeschusterte Seiten, Lokalsport von der NW, Lokales von der Glocke.

Die Leserschaft wird mit keinem Sterbenswörtchen über die Änderungen informiert. Am Tag vor dem Erscheinen der letzten Ausgabe gibt es Tränen in der WB-Redaktion. Es ist ein Abschied für immer. Die Mitarbeiter werden zum Teil freigesetzt, erhalten eine Abfindung oder werden in andere Bereiche versetzt. Einige verdienen fortan ihren Lebensunterhalt bei den ehemaligen Konkurrenzblättern.

Redaktionsschließungen, Entlassungen, Kollaboration mit dem Feind - das klingt grausam, aber es ist ein logischer Schritt gerade in Gebieten, in denen die Auflage schwächelt. Trotzdem hätte sich so etwas vor 20 Jahren noch niemand vorstellen können. Zwar fragte man sich schon damals, wie das Geschäftsmodell des WB zum Beispiel in einer Stadt wie Harsewinkel mit 25.000 Einwohnern funktioniert. Ein Redakteur, der täglich eine Seite für gerade 400 Abonnenten produziert, ist ein Kostenfaktor, der die Bilanzen in Schieflage bringen kann. Lohnt sich so etwas überhaupt?

„Du könntest doch jeden Morgen eure Leser anrufen und ihnen erzählen, was so alles im Ort los ist. Das wäre schneller und billiger“, lautet in den 80er Jahren ein geflügeltes Wort.

Der WB-Kollege lächelt gequält. Solche Frotzeleien ist er gewohnt.

Laufen die Geschäfte schlecht, sucht man sich neue Betätigungsfelder und Einnahmequellen. Der Verlag wird zum Gemischtwarenhändler. Die Zeitung verkauft Bücher, Wein und Schmuck, veranstaltet Reisen und versucht sich zeitweilig auch als Postzusteller.

Und jetzt auch noch das: Unter dem Begriff „Premiumschutz“ bietet die NW neuerdings, natürlich gegen saftigen Obolus, Hausmeister- und Handwerkerdienste sowie Gesundheitsvorsorge an. Auch das soll ein wenig Geld in die klammen Kassen spülen.

Eine lustige Vorstellung, dass der Redakteur in Zukunft in der Mittagespause mit einem Werkzeugkoffer zum werten Leser ausrücken muss, um seine Waschmaschine zu reparieren oder den Rasen zu mähen. Aber vermutlich wird er den Freien diese Dienste aufs Auge drücken - wie immer, wenn es um knifflige Aufgaben geht.

Auch redaktionell bemüht man sich, den Zeitgeist zu treffen und dem Erzfeind Internet die Stirn zu bieten. Leichte Kost, ein bisschen Boulevard, ein Hauch Promiklatsch, eine Prise Esoterik - dieser Mix dominiert zunehmend überregional und lokal die Seiten. Für Brieftaubenzüchter, Familiennachrichten und Kultur ist immer weniger Platz in unserer Zeitung.

DEVISE „ONLINE FIRST“

„Online first“ lautet die Devise der Neuen Westfälischen. Alles soll sich mehr und mehr dem Internetgeschäft unterordnen. Andere machen es vor: In den USA ist bereits die erste große Zeitung komplett ins Netz abgewandert: Der „Christian Science Monitor“ aus Boston ist nur noch online zu lesen. Und auch hierzulande sprießt ein zartes Hoffnungspflänzchen. Denn es gibt Verlage, so den Spiegel, die online profitabel sind. Doch für die meisten Printmedien geht das Geschäft bislang nicht auf. Im Netz wird rund 20-mal weniger Umsatz gemacht als mit den gedruckten Medien.

Die Misserfolge im Netz gehen an die Substanz und die Nerven. Man lügt sich einen in die Tasche. Die Gier nach Klicks erfasst die Verlagshäuser. Die Rechnung ist simpel: je höher die Klickzahlen, desto größer die Werbeeinnahmen. Skurrile Katzen- und Hundevideos dominieren den Internetauftritt. Man weiß: So etwas gucken sich die Leute immer wieder an.

Die wirklich wichtigen Informationen werden in einem Post oft so geschickt versteckt, dass der User möglichst oft klicken muss, um an die Kernbotschaft zu gelangen. Die Leute werden für dumm verkauft – doch so dumm sind sie nicht. Sie durchschauen schnell die Masche. Sie wenden sich ab und besorgen sich die Infos da, wo es einfacher, billiger und transparenter ist. Quellen gibt es im Web im Überfluss. Der Schuss geht nach hinten los.

Die erhoffte Wende bringt die Onlineoffensive nicht. Als alles nicht so recht fruchtet, bricht der blinde Aktionismus aus. Mit anderen Worten: Man tut etwas, was nicht notwendig ist und die Lage nicht verbessert. Man tut es aber trotzdem, um überhaupt etwas zu tun. Manchmal erreicht man sogar das Gegenteil. Man rennt weiter ins Verderben hinein.

BLINDER AKTIONISMUS

Aktionismus wird zum Alltagsgeschäft, auch im Lokalen. Eine Revolution steht uns ins Haus. Sie kündigt sich ganz harmlos an. Der langjährige Lokalchef beordert uns eines morgens zu einem dringenden Meeting. Das Treffen am Nachmittag ist kurz, die Botschaft verstörend. Jörg informiert uns, dass er sofort seinen Posten räumen muss. So funktioniert das System. Schuld sind immer die anderen, wenn’s mal nicht läuft. Jörg ist ein Sündenbock und ein Bauernopfer. Er wechselt in eine andere Redaktion.

Claus soll es richten. Er wird die Redaktionsleitung so lange kommissarisch übernehmen, bis der richtige Mann gefunden ist. Claus hat eine Führungsposition in der Chefetage. Wie er diesen Posten ergattert hat, ist den meisten schleierhaft.

Der Kollege M. kennt Claus von früher, von der Zeit, als beide noch Volontäre waren. M. lässt kein gutes Haar an Claus: „Er ist einer, der alles besser weiß und nix besser kann“, erzählt er von seinen Erfahrungen. Und fügt hinzu: „Ein faules Stück. Der hat sich nie um die Arbeit gerissen.“ Na prima, auf so einen haben wir gewartet.

Auch ich habe so meine Erfahrungen mit Claus. Hinter der freundlichen Fassade und seiner kumpelhaften Art steckt ein falscher Fünfziger. Man darf sich von ihm und seinen Schmeicheleien nicht einwickeln lassen. Er ist ein typischer Besserwisser, im Deutschen gibt es dafür ein weniger freundliches Wort: Klugscheißer. Und ein Blender. Und ein Dummschwätzer, der sich gerne selbst reden hört.

Wer diese drei Eigenschaften auf sich vereinigen kann, der kann es weit bringen in diesem Land. Das kann man von Claus zwar nicht behaupten, dafür sind seine Machtbefugnisse bei einer Tageszeitung im wirtschaftlichen Sinkflug zu gering. Trotzdem kann er viel Unheil anrichten.

Parlamente und Vorstandsetagen sind voll von solchen Typen. Jung, dynamisch - und überflüssig. Wenn’s mal schiefläuft, egal und tschüss – dann gibt’s den goldenen Handschlag zum Abschied. Die dicke Abfindung einstecken und beim Nächsten anheuern. Das ist die Strategie dieser modernen Raubritter.

Der Aufstieg und Fall des ehemaligen Starmanagers Thomas Middelhoff ist ein Lehrstück für diese Stehaufmännchen-Mentalität. Middelhoff alias „Big T“ war Chef des Medienriesen Bertelsmann, später Vorstandsvorsitzender des Karstadt-Mutterkonzerns Arcandor. Er verkehrte mit weltberühmten Wirtschaftsgrößen wie Bill Gates und Steve Jobs.

Middelhoff lebte im Luxus mit millionenteurer Villa und Yacht. Auf dem Zenit seiner Karriere passierte der Absturz: erst die Verurteilung zu drei Jahren Haft wegen Steuerhinterziehung und Veruntreuung, dann der Verlust seines Vermögens durch eine Privatinsolvenz, die Scheidung nach 45 Ehejahren und eine schwere Immunkrankheit. Middelhoff präsentiert sich heute als geläutert und schreibt Bücher über seine Eskapaden. Und wieder fliegen ihm die Herzen zu. Als wäre nichts geschehen.

Sogar unser alter Lokalchef Lothar, ansonsten ein kritischer Zeitgeist, ließ sich von dem Strahlemann blenden. Als er einmal gefragt wird, welcher Mensch ihn in seinem beruflichen Leben am meisten beeindruckt habe, antwortet Lothar, es seien der Besuch in Middelhoffs Privathaus und das persönliche Gespräch mit dem Manager gewesen. Ein paar Jahre später würde Lothar vermutlich ein anderes Highlight nennen.

Auch in der Politik gibt es viele Beispiele für diese Spezies. Andreas „Andy“ Scheuer gehört in diese Gattung. Der bayerische Strahlemann verbrannte viele Millionen an Steuergeldern bei der Mautaffäre, wurde dafür aber nicht zur Verantwortung gezogen. Im Gegenteil: Er behielt bis zum Regierungswechsel 2021 sein Amt als Verkehrsminister.

CLAUS HAT EINE VISION

Claus hat einen Schlachtplan. Und er hat eine Wunderwaffe. Die heißt Regiodesk. Der Gedanke ist genial: Die Arbeit wird geteilt. Die Zeit der Spezialisten bricht an. Das Gestalten der Seiten übernimmt ein Team von Profis. Die anderen haben endlich Zeit, zu recherchieren und schöne Geschichten zu schreiben. Aus dem Redakteur wird der Reporter. Das ist das Prinzip eines Desks, der schon bei den meisten Zeitungen praktiziert wird. In vielen Fällen mit Erfolg.

Claus hat eine Vision: Das Konzept soll auf das Lokale im Kreis Gütersloh übertragen werden. Im Regiodesk sollen alle Fäden zusammenlaufen, so ähnlich wie bei einer Leitstelle der Polizei. Hört sich wirklich gut an. Hat aber einen Haken. Die spezifischen örtlichen Strukturen mit den drei Außenredaktionen sowie die durch das Redaktionssystem vorgegebene Produktionsweise und die dünne personelle Ausstattung machen den Regiodesk zu einem Wagnis. Claus sollte es wissen, aber er tut es offenbar nicht. Beschlossen ist beschlossen. Der Regiodesk wird kommen, koste es, was es wolle.

„Alles wird anders“, verkündet Claus bei seinem Dienstantritt. Der Satz „Das haben wir schon immer so gemacht“ sei ab sofort tabu. „Es brechen neue Zeiten an“, sagt er mit entschlossener Miene. Wie das Wunder von Gütersloh gelingen soll, erzählt er uns im Konferenzraum. Genau dort soll auch das Herz des Regiodesks schlagen. Die ganze Truppe wurde zusammengetrommelt. Wir lauschen andächtig und mit bösen Vorahnungen Claus‘ Ausführungen.

Auf einem Ständer hat er einen großen Bogen Papier aufgespannt, um seine Strategie anschaulich zu machen. Claus nimmt einen Filzer in die Hand, holt aus und malt mit Schwung vier Kreise auf den Bogen: drei kleine und einen etwas größeren.

„So sieht es heute aus. Vier Redaktionen, und jede werkelt für sich allein.“ Jetzt wird uns klar, was die vier Kreise zu bedeuten haben. Der größere steht für die Kreisredaktion, die kleineren für die Außenredaktionen in Verl, Rheda-Wiedenbrück und Harsewinkel. Intern werden sie auch als „Satelliten“ bezeichnet, vermutlich weil die wie ein Sputnik um die Erde kreisen, manchmal auch taumeln.

Wir staunen. Doch Claus‘ Kreativität ist noch längst nicht ausgeschöpft. Er holt zum finalen Masterplan aus. Ein riesiger Kreis füllt nun das Papier. Die vier Kreise sind von allen Seiten eingeschlossen.

„Das ist die Zukunft. Wir sind eine Einheit, eine große Familie“, verkündet er mit feierlicher Stimme.

Er blickt in die Runde, als würde er Beifall erwarten. Der bleibt aus. Wir sind sprachlos. Welch eine grandiose Idee.

„Der spinnt doch. Er hat doch keinen blassen Schimmer, wie das hier funktioniert“, sagt einer der Kollegen, als wir mit gemischten Gefühlen den Konferenzraum verlassen.

Claus ist kein Mann, der lange fackelt. Der Konferenzraum wird in aller Schnelle für das neue Zeitalter aufgerüstet. Ein paar zusätzliche Rechner installiert, einige Telefone angeschlossen, und schon kann es losgehen. Doch halt. Noch fehlt das Personal. Claus stellt Dienstpläne auf. Es sollen immer genug Leute da sein, die als Ansprechpartner für die Kollegen in den Satelliten bereitstehen.

Auf dem Papier klappt es. Doch in der Praxis kommt die Ernüchterung. In seinem Eifer hat Claus nicht berücksichtigt, dass die Redakteure auch mal krank werden oder ihren verdienten Urlaub machen. Wir reiben uns die Augen, dass auch freie Mitarbeiter, die überhaupt nichts mit der Produktion am Hut haben, plötzlich in den Regiodesk-Dienstplänen auftauchen. Da hat Claus kurzerhand mal ein bisschen rumgepfuscht, und schon sieht das Ergebnis wieder positiv aus. Wir haben genug Leute für das große Experiment, lautet seine Botschaft.

Das ist natürlich reine Theorie. Statt sechs sitzen plötzlich nur noch zwei Redakteure am Desk. Sie sind für das ganze Verbreitungsgebiet verantwortlich. Ihre Aufgabe ist es, alle Seiten durchzuplanen, die E-Maileingänge zu bearbeiten und Termine zu verteilen. Ein Riesenpensum, das kaum zu schaffen ist. Einiges bleibt liegen. Zuschriften unserer Leser werden kurzerhand mit Anschreiben und Abschiedsformel einfach ins System gestellt. E-Mails werden nicht gelesen, bearbeitet und eingeordnet.

Das hat fatale Folgen. So manche große Geschichte, die Stadtgespräch ist, geht uns flöten. Die Konkurrenz lacht sich einen ins Fäustchen. Die Leute am Desk sind bald genervt und haben keine Lust mehr.

„Wenn ich gewusst hätte, was mich hier erwartet, hätte ich mich nicht überreden lassen“, klagt eine Kollegin, die man mit falschen Versprechungen nach Gütersloh gelockt hat.

Die miese Stimmung in der Redaktion hat auch damit zu tun, dass Claus keine Ahnung hat, wie die Strukturen unserer Zeitung funktionieren. Woher sollte er auch? Er war noch nie in der Verlegenheit, eine Seite mit unserem Redaktionssystem zu produzieren. Seine journalistischen Aktivitäten beschränken sich auf das gelegentliche Schreiben eines Kommentars im überregionalen Teil der Zeitung. Würde er sich für die Arbeit seiner Redakteure interessieren, dann wüsste er, dass Schreiben und Layout zwei Prozesse sind, die sich ergänzen und kaum zu trennen sind.

Ein konkretes Beispiel: Nehmen wir mal an, wir sind zur Eröffnung eines Kindergartens eingeladen. Es ist ein wichtiges Thema für die Stadt. Also plane ich meinen Bericht als Aufmacher ein. Er soll vierspaltig werden. Ganz oben soll ein großes Foto stehen, das lachende Kinder zeigt - ein Symbol, dass sich die Kleinen über ihr neues Haus freuen. Darunter kommt der Textblock mit zwei weiteren Fotos. Ich fotografiere die Promis, als sie gemeinsam das Band zur Eröffnung durchschneiden. Auf dem dritten Foto sind das Kita-Team und der Architekt zu sehen. Dazu gibt‘s noch einen Kasten mit kurzen Infos über die Kindergartensituation in der Stadt. Fertig.

Der vierspaltige Block steht nun auf der Seite und muss nur noch mit Inhalten gefüllt werden. Daneben platziere ich einen zweispaltigen Text aus der gestrigen Ausschusssitzung. Ich habe 80 Zeilen über ein neues Baugebiet geschrieben. Die thematische Mischung ist perfekt. Eine Spalte ist komplett für Meldungen reserviert: ein Service, den unsere Leser schätzen. Denn schließlich wollen sie wissen, was so alles in ihrer Stadt los ist. Die Seite sieht schon ziemlich gut aus. Die noch verbleibenden Lücken werden mit Texten und Bildern gefüllt, die Birthe und Erwin, unsere ständigen freien Mitarbeiter, abgeliefert haben.

Jetzt aber ab zum Termin, die Zeit wird langsam knapp. In zwei Stunden bin ich wieder da. Ich muss auf Zeile schreiben, damit alles passt. Es ist wie ein Puzzle. Teil für Teil, bis die Seite dicht ist. So machen es alle Kollegen. So hat es sich seit Jahren bewährt. Alle wissen, wie es funktioniert - nur Claus nicht so ganz.

Er ist nicht alleine. Auch andere ahnen nicht, wie es draußen an der Front aussieht. Der Besuch in der Chefetage im Bielefelder Pressehaus wird zu einer Reise in eine andere Welt. Spontan fällt mir dazu das Klischee vom „Elfenbeinturm“ ein: Wartezimmer mit Ledersofa und leiser Musik, moderne Kunst an den Wänden, gedämmte Türen. Man lässt mich warten, bis ich endlich vorgelassen werde. So muss es zu Zeiten des Sonnenkönigs am französischen Hof gewesen sein, fällt mir spontan dazu ein.

Übrigens: In den 25 Jahren als Redakteur in Harsewinkel hat es keiner der Chefredakteure (es waren mehrere) geschafft, sich persönlich ein Bild von der Situation vor Ort zu machen. Es sind keine 30 Kilometer. Das spricht Bände.

ALEX SOLL ES RICHTEN

Claus ist von seiner Vision nicht abzubringen. Erneut lädt er die ganze Mannschaft zum Meeting ein. Er teilt uns mit, wer das Kommando übernehmen wird: Alex. Den Namen haben wir noch nie gehört. Wir recherchieren im Internet. Die Kommentare seiner Ex-Kollegen sind alles andere als schmeichelhaft. Sie sind froh, dass er geht. Das verheißt nichts Gutes. Aber wir sind uns einig: Der Neue soll eine Chance haben.

Dann ist Alex da. Er stellt sich der Redaktion vor. Ein schlanker junger Mann mit großer Brille und schmalem Gesicht, auf den ersten Blick nicht unsympathisch.

„Ich bevorzuge flache Führungsstrukturen“, sagt er. Wir werden hellhörig.

Auch Claus bekennt sich wortreich zu diesem Prinzip; wenn es aber darauf ankommt, führt er sich wie ein kleiner Diktator auf.

Alex ist gerade 30 Jahre alt und will noch die Welt aus den Angeln heben. Er hat ein Faible für die Stasi. Das System „Horch und Greif“ ist seine Spezialität. Und er hat bereits einiges zu diesem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte geschrieben. Die Stasi wird für Alex in seiner Zeit in Gütersloh ein großes Hobby bleiben. Er recherchiert mit Hingabe und großem Aufwand, welche großen Unternehmen im Kreis in den Stasi-Terror verwickelt waren.

Alex hat auch ein Buch über die legendäre Titanic geschrieben. Der Passagierdampfer ist bekanntlich nach der Kollision mit einem Eisberg untergegangen. Die Stasi auch, allerdings ohne Eisberg. Wir stehen kurz davor. Willkommen an Bord. Wie die Titanic sind auch wir auf Kollisionskurs. Unser Eisberg ist das Internet. Es reißt gewaltige Löcher in unsere Auflagenzahlen. Die Löcher werden immer größer. Die gedruckte Zeitung bekommt Schlagseite.

Alex soll uns in sicheres Fahrwasser führen. Der junge Wilde aus der Fremde hat ein Instrument an Bord, das die Navigation erleichtern soll. Das Zauberwort heißt „Lesewert“, ein Verfahren, mit dem die Vorlieben der Leser exakt und einfach bestimmt werden können. So jedenfalls lautet das Versprechen der Erfinder. Mit „Lesewert“ wird gutes Geld verdient. Denn viele Zeitungen sind bereit, die Ursachen für den Auflagenschwund zu erforschen.

Das Prinzip ist einfach: Ausgewählte Abonnenten bekommen einen elektronischen Stift. Immer, wenn sie mit dem Lesen eines Artikels fertig sind, markieren sie mit dem Stift die Zeile, an der sie aufgehört haben, den Text zu lesen. Für jeden Artikel entsteht der sogenannte Lesewert. Er verrät den Redakteuren, welche Beiträge und Themen in der Zeitung besonders viele Leser interessiert haben.

„Lesewert“ sei ähnlich wie die Einschaltquote beim Fernsehen, heißt es. Das hat Folgen. Was die Leute nicht mögen, wird einfach aus dem Blatt gekickt. Vereins- und Familiennachrichten, Kultur/Feuilleton, Wirtschaft, Teile der Politik und der Lokalsport sind plötzlich Störfaktoren. Weg damit!

Eine Einschaltquote für die Zeitung? Der Blick in das Fernsehprogramm an einem beliebigen Wochentag macht deutlich, was das Schielen auf die Zuschauergunst so alles angerichtet hat. Das gilt nicht nur für die Privaten. Auch die Öffentlich-Rechtlichen knicken vor dem Massengeschmack ein. Es grenzt schon an Volksverdummung, was dem Zuschauer so alles für sein Geld zugemutet wird. Mit der Einschaltquote in die Falle: Was im TV bereits bittere Realität ist, droht auch dem Print. Es gibt einen alten Spruch, der zugegebenermaßen etwas vulgär ist, den Kern der Sache aber trifft: Milliarden Fliegen können nicht irren - Leute esst mehr Scheiße.

Die Quotenhörigkeit lässt zum Glück langsam die Alarmglocken der Politiker und Programmmacher schrillen. Vor einem Qualitätsverlust in den Programmen der öffentlichrechtlichen Sender warnt unter anderem auch der Vorsitzende des Kulturrats NRW, Gerhart Baum. Quotendenken sei „die falsche Strategie“. Das stellvertretende Mitglied des WDR-Rundfunkrats sieht Tendenzen, Hörer und Zuschauer durch Qualitätsminderung zu binden.

„Es kommt nicht allein darauf an, was die Adressaten des Programms hören wollen, sondern auch darauf, was sie wissen und erfahren sollten.“ Der öffentliche Rundfunk befinde sich in einer Umbruchphase: „Sie ist bestimmt durch die Herausforderungen der Digitalisierung, durch die neue Konkurrenz privater Anbieter, durch einen Sparzwang und nicht zuletzt durch die politische Diskussion über Existenzberechtigung in der bisherigen Form“, erklärte Baum.

Auch in den Reihen der Künstler blicken viele skeptisch auf die Quotenhörigkeit. So sagte erst kürzlich Wolfgang Niedecken, Musiker, Autor und Frontmann der legendären Kölner Mundartband BAP, in einem Zeitungsinterview:

„Ich wünsche mir aber, dass das Radioformat mal überdacht wird. Mit dem, was BAP zum Beispiel an politischen Themen aufgreift, hat man überhaupt keine Chance mehr, ins Programm zu kommen. Und es nervt mich zu Tode, dass sich alles an Einschaltquoten orientiert. Kurz vor oder nach Mitternacht laufen wichtige Sendungen im Fernsehen. Vorher wird auch auf den öffentlich-rechtlichen Sendern teilweise eine unfassbare Grütze gezeigt. Es fällt mir manchmal schon ziemlich schwer, mich bis zu den Tagesthemen wachzuhalten.“

Dabei kann das Fernsehen ein tolles Medium sein. Sorgfältig recherchierte Dokumentationen und Reportagen, fesselnde Filme und Lehrstücke zur Geschichte und Politik werden fast schamhaft im Nachtprogramm versteckt.

Die entscheidende Frage ist nicht: Was wollen die Menschen in ihrer Heimatzeitung lesen? Sondern: Was vermissen die Menschen in ihrer Zeitung? Eine Kleinstadt ist wie ein lebender Organismus. Das Gemeinwesen besteht aus Synapsen und Nervensträngen, die ein riesiges und eng verknüpftes Netzwerk bilden. Selbst kleine Eingriffe und Störungen können ein gewaltiges Beben auslösen, ähnlich dem Flügelschlag eines Schmetterlings, der das Weltklima verändern kann.

Da ruft Otto, den ich schon viele Jahre kenne, in der Redaktion an.

„Wir haben am Freitag unsere Generalversammlung. Der Erwin, der kommt doch vorbei und macht ein Foto vom Vorstand“, lädt er uns ein.

Otto ist Vorsitzender des örtlichen Kaninchenzuchtvereins. Ich erkläre ihm, dass wir keine Versammlungen mehr besuchen,

„Anweisung der Chefredaktion. Wird zu wenig gelesen. Das wurde wissenschaftlich untersucht“, kläre ich ihn auf. Ich kann und will nicht lügen. Otto ist enttäuscht und sauer.

Das Unheil nimmt seinen Lauf. Denn Otto ist ein stadtbekannter Mann. Er ist Mitglied in mehreren Vereinen, außerdem engagiert er sich in der Kommunalpolitik. Seit über 30 Jahren ist er Bezieher unserer Zeitung. Jetzt ist er maßlos verärgert und lässt seinem Frust freien Lauf.

Immer und überall. Und Otto kommt herum. In der Familie, bei den Vereinen, in der politischen Sitzung. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht in der Stadt, dass die Lokalzeitung mit Vereinen nichts mehr am Hut hat. Ähnlich läuft das bei der Kultur oder im Lokalsport. Das Image unserer Zeitung bekommt eine Schlagseite. „Lesewert“ mag als Orientierung nützlich sein. Es ist aber ein mechanisches Verfahren, das Emotion ignoriert.

Auch ich lese in der Zeitung nur das, was mich interessiert. Dass aber auf der Seite neben meiner Lieblingslektüre auch ein Bericht über die Versammlung der Kaninchenzüchter oder eine Rezension über das geistliche Konzert in der Kirche stehen, nehme ich durchaus zur Kenntnis. Wäre es nicht da, würde ich es vermissen. Erst die gute Mischung macht eine Tageszeitung komplett. Wie tickt eine Stadt? Wie denken die Menschen, die hier leben und arbeiten? Mit einem elektronischen Stift alleine wird man es jedenfalls nicht erfahren.

RELEVANT IST WICHTIG

Inzwischen wurde aufgerüstet. Dafür hat der Verlag viel Geld ausgegeben. Einen hohen fünfstelligen Betrag soll das Ganze gekostet haben. Im Newsroom wurden mehrere Großbildschirme installiert, die in Echtzeit vernetzt sind mit den Satelliten, den Außenredaktionen. Das macht die totale Überwachung möglich.

Das Wörtchen „relevant“ hat einen ganz besonderen Stellenwert in Alex‘ Vokabular. Ab sofort sollen nur noch relevante Themen in der Zeitung stehen. Alex hält uns einen Vortrag darüber, was relevant ist. Geschichten aus dem Schulbereich gehörten dazu, erklärt er, ebenso wie Themen rund um eine große Straße, die mitten durch die Stadt führt.

„Weil viele Menschen davon betroffen sind“, lautet eine Begründung. Das leuchtet ein. Aber haben wir es nicht immer so gehandhabt?

Relevant ist immer gut. Warum aber relevant wichtiger ist als wichtig, das bleibt Alex‘ Geheimnis. Vielleicht weil‘s professioneller klingt. Wir bekommen von ihm eine Nachhilfestunde in Sachen Relevanz. Alle Redakteure aus dem Kreis sitzen erwartungsvoll um den runden Tisch. Der Lokalchef hat einen Papierstapel mitgebracht. Nun verteilt er einzelne Blätter an die Redakteure. Das erinnert mich so ein bisschen an die Schulzeit.

Wie Sechstklässler müssen wir vorgefertigte Formulare ausfüllen und beschreiben, was wir so alles relevant in unserem Beritt finden. Ich blicke in die Runde. Geschätzt 200 Jahre Berufserfahrung sitzen hier am Tisch. Wir notieren einige Punkte in die Kästchen, doch dann wird es uns zu bunt. Einem Kollegen platzt schließlich der Kragen.

„Wir sind doch keine Schulbuben. So kannst du uns nicht behandeln“, wirft er ein. Das ist ein Signal. Unzufriedenheit und Frust brechen sich Bahn. Das Treffen wird zu einem lautstarken Streit. Alex‘ relevante Kästchen sind plötzlich ganz irrelevant. Es gärt.

Alle Welt soll wissen, wer jetzt als Lokalchef das Sagen hat. Die Honoratioren aus Stadt und Kreis sind zu einem Empfang geladen. Alex wird im Foyer des Theaters offiziell vorgestellt. Es gibt Schnittchen, Sekt und Selters. Auch die Verlagsführung ist da.

„Der neue Lokalchef wird Türen öffnen, die bisher verschlossen waren“, verkündet der Chefredakteur vollmundig.

Die Gäste gucken skeptisch. Ausgerechnet dieser Jüngling soll die Zeitung aus der Krise führen?, lese ich in ihren zweifelnden Blicken. Sie sollten recht behalten. Alex‘ Tage als Chef sind schon gezählt, bevor er so richtig an den ersten verschlossenen Türen rütteln konnte. Er hat bald einen neuen Job bei einer anderen Zeitung, natürlich in führender Position. Alex hat neue Opfer gefunden.

Der Widerstand gegen Alex formiert sich unaufhaltsam. Die Ersten gehen bald von Bord. Manfred, der als Fotograf seit fast 30 Jahren das Gesicht unserer Zeitung prägt, gerät mit Alex in einen heftigen Streit, als es um die Auswahl von Bildern für eine Reportage geht. Alex will – wie immer - das letzte Wort haben und setzt sich über Manfreds Vorschläge hinweg. Der Fotograf zieht die Konsequenzen.

„Mit einem Kind streite ich mich nicht“, soll er gesagt haben. Manfred packt sofort seine Siebensachen zusammen und verlässt wortlos die Redaktion. Er wird sie nie wieder betreten – ein herber Verlust für unsere Zeitung. Der Graben wird immer tiefer, das Klima wird rauer.

Alex zieht die Zügel immer mehr an. Das ist seine Antwort auf die interne Kritik. Er liebt es, die Kollegen an der Front kurz vor Feierabend aufzuscheuchen.

Die sogenannte Stehkonferenz um halb sechs ist die geeignete Plattform für seine Schikanen. Das ist völlig unnötig, denn Zeit zum Eingreifen gibt es genug. Die Bildschirmgalerie an der Wand macht für jedermann sichtbar, was die Kollegen im Laufe des Tages so alles auf den Seiten treiben. Ein Blick genügt.

Alex und seine Getreuen lieben aber den großen Auftritt. Dankbare Objekte der Kritik sind die Überschriften. Dazu kann fast jeder seinen Senf geben. Der blinde Aktionismus ist wieder da: Die Überschriften werden ohne Rücksprache mit dem Verfasser geändert.

Plötzlich stehen am nächsten Tag absurde Aussagen in der Zeitung, nur weil sich niemand die Mühe gemacht hat, den ganzen Text zu lesen. Das ist ärgerlich. Ausbaden muss es der Redakteur vor Ort. An solchen Tagen glaube ich, dass die Leute mich anstarren, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen oder ein bisschen dämlich.

Eines Tages läuft das Fass über. Ich habe eine Geschichte über eine neue Kindergruppe geschrieben und mit mehreren schönen Bildern verziert. Kinder und Hunde gehen immer, heißt ein alter Journalistenspruch. Ich bin gerade dabei, den Rechner auszuschalten, da schellt das Telefon. Es ist kurz vor 18 Uhr. Am anderen Ende der Leitung ist Alex.

„Deine Kindergeschichte ist nicht relevant genug. Du musst dir einen neuen Aufmacher einfallen lassen.“

Mir platzt der Kragen. Wir geraten in heftigen Streit. Das habe ich nicht nötig auf meine alten Tage. In mir reift der Entschluss: Es reicht. Zeit zu gehen.

Es wartet ein neues, unbekanntes Land: der Ruhestand.

Der Ernst des Lebens

KLEINES RÄDCHEN IM GETRIEBE

Der Ernst des Lebens beginnt am 1. Oktober 1982. Es ist ein Freitag. Der Herbstwind pfeift durch die Straßen der ostwestfälischen Kleinstadt Bünde, die letzten Blätter werden von den Bäumen geblasen. Eine triste Stimmung liegt in der Luft. Mein Gemütszustand entspricht dem Wetter. Es ist mein erster Tag als Journalist. Über 14.000 weitere werden noch folgen.

Das kann ich aber noch nicht ahnen. Der Ruhestand ist noch so realistisch wie der Gedanke, dass ich bald zum Mond fliegen werde. Ich betrete die Redaktion mit angeschlossener Geschäftsstelle, die sich mitten in der Fußgängerzone befindet, mit gemischten Gefühlen. Bin ich für diesen Job überhaupt geeignet? Noch nie in meinem Leben habe ich eine einzige Zeile für die Zeitung geschrieben.

Meine Bedenken werden bald zerstreut. Freundlich werde ich empfangen von den zwei Redakteuren, die das Gesicht des Westfalen-Blattes in Bünde seit Jahren prägen. Rüdiger ist ein ausgeglichener junger Mann, den kaum etwas aus der Ruhe bringen kann.

Heike ist quirlig, sie zieht sich gerne auffällig an. Superkurze Röcke, enge weiße Blusen, die ihren weiblichen Körper betonen, rote Stiefel, wasserstoffblondes Haar, das ist ihr Ding. Heike ist eine auffällige junge Frau, der die Männerherzen zufliegen. Sie soll eine Liaison haben mit Gunter Gabriel. Der Country- und Schlagersänger wuchs in Bünde auf. Ob etwas Wahres dran ist an den Gerüchten, werde ich nie erfahren. Für die aparte Kollegin ist es kein Thema, ich frage vorsichtshalber auch nicht danach.