Vertraute Fremde - Richard Zelenka - E-Book

Vertraute Fremde E-Book

Richard Zelenka

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Beschreibung

Es ist eine ziemlich wundersame Geschichte, die in diesem Büchlein erzählt wird. Und die geht so: Ein reicher Modeunternehmer mit großem Herz schenkt einem kleinen Dorf im Norden Lettlands ein modernes Krankenhaus. Was für eine Sensation! Das muss groß in der Zeitung stehen. Dafür soll der zuständige Lokalredakteur sorgen. Mit gemischten Gefühlen tritt Richard Zelenka die Dienstreise ins Ungewisse an. Sie führt ihn bis an den Rand der Zivilisation. Fremd und vertraut - wie passt das zusammen? Diese Begriffe schließen sich scheinbar aus. Und doch: Fremdes wird vertraut, wenn man bereit ist, sich auf Neues und Ungewohntes einzulassen. Die Annäherung ist zuweilen ein langer und zäher Prozess. Die Mühe lohnt sich. Meistens. Wenn's gelingt, wird das Leben reicher. Der Titel dieses Büchleins "Vertraute Fremde" ist Programm. Er beschreibt das ganz persönliche und subjektive Herantasten des Autors an Lettland, das kleine baltische Land im Norden Europas: "Mein Lettland". Aus dem Abenteuer wird eine Passion. Immer wieder reist Richard Zelenka ins Baltikum. Er trifft viele Menschen dort und berichtet über ihre Mentalität, ihr Denken und ihren Humor, der so anders ist als unser. Allmählich werden aus Fremden Freunde, im Idealfall sogar beste Freunde. Lustige und skurrile Geschichten aus dem lettischen Alltag werden dem Leser in diesem Büchlein erzählt. Nebenbei erfährt er einiges aus der lettischen Geschichte, Kultur und Politik.

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„Ein Freund, ein guter Freund,

das ist das Beste, was es gibt auf der Welt.

Ein Freund bleibt immer Freund,

auch wenn die ganze Welt zusammenfällt.“

Text eines Liedes von Robert Gilbert aus dem Film

„Die Drei von der Tankstelle“

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Das spendable Schneiderlein

Wenn der Sandfloh zuschlägt

Deutsche Fahne verkehrt herum

Reinheit und Blut

Das lettische Allheilmittel

Diktat unter schattigen Bäumen

Ein Mann mit vielen Talenten

Hörerlebnis am Echofelsen

Von Mäusen und Bären

Begegnung mit dem Storch

Abenteuer auf der Salaca

„Programm, Programm“

Lange Liste der Hilfsprojekte

Menschen wie Tiere angekettet

Gesang, Tanz und Bier

Der gebogene Tennisschläger

Das verschwundene Hotel

Präsidiale Begegnungen

Weltoffen und flexibel

Vom Bürgermeister zum Bootskapitän

Ein Flussräuber wird gegrillt

Die Bestie hinter dem Zaun

Erich, der Unersetzliche

Steile Karrieren

Das grosse Besäufnis

Eine Flusspartie mit Hindernissen

Eine Höhle mit Geschichte

Blick in Lettlands Vergangenheit

„Mit den Augen der Anderen“

Ein Land wie eine Schatzkiste

Tempel der Literatur

Paris des Ostens

Über Stock und über Steine

Von Pilzen und Knoblauchbroten

Ein idyllischer Ort des Grauens

Angst vor dem Kreml-Diktator

Verhasste Sprache als Brücke

VORWORT

Fremd und vertraut – wie passt das zusammen? Diese Begriffe schließen sich scheinbar aus. Und doch: Fremdes wird vertraut, wenn man bereit ist, sich auf Neues und Ungewohntes einzulassen. Die Annäherung ist zuweilen ein langer und zäher Prozess. Die Mühe lohnt sich. Meistens.

Wenn's gelingt, wird das Leben reicher. Der Titel dieses Büchleins „Vertraute Fremde“ ist Programm. Er beschreibt das ganz persönliche und subjektive Herantasten an Lettland, das kleine baltische Land im Norden Europas. Daher der Untertitel „Mein Lettland“.

Letten sind anders. Ihre Mentalität, ihr Denken und ihr Humor sind anders. Mit Sarkasmus und Ironie kommt man in Lettland nicht weit. Das sollte man wissen, will man sich peinliche Situationen oder strafende Blicke ersparen.

Es braucht seine Zeit, diese Lektion zu lernen. Wenn dies gelingt, werden aus Fremden Freunde, im Idealfall vielleicht sogar die besten Freunde.

Alles, was auf den folgenden Seiten steht, hat sich so abgespielt. So oder so ähnlich. Oder ganz anders. Die künstlerische Freiheit ist eine feine Sache. Man kann die Wahrheit nach eigenem Gusto formen, Realität und Fiktion ungeniert vermischen.

Keine Sorge, die Geschichten in diesem Büchlein sind nicht komplett erfunden. Aber das, was wirklich geschah, wurde hier und da ein bisschen aufgepeppt, um die Erzählstruktur und Dramaturgie geschmeidiger zu machen. Die Schauplätze sind authentisch, ebenso wie die Angaben zur Geschichte, Politik und Kultur Lettlands, soweit sie mir verfügbar waren.

Ein Kapitel für sich sind die Menschen, die in „Vertraute Fremde“ zu Wort kommen. Einige der handelnden Personen sind erfunden. Andere wiederum gibt es tatsächlich, sie agieren aber in so skurrilen und surrealen Geschichten, dass es mir angeraten erschien, ihre Namen zu ändern. Denn niemand soll in diesem Buch der Lächerlichkeit preisgegeben oder an den Pranger gestellt werden.

Die meisten Protagonisten existieren wirklich. Viele von ihnen haben in über 30 Jahren mit Herzblut am Gelingen der lettischdeutschen Freundschaft mitgewirkt. Dafür gebührt ihnen ein großer Dank.

Dieses Buch enthält einige meiner Bilder, die im Rahmen einer Wanderausstellung in den Kulturhäusern der Region Valmiera zu sehen waren.

DAS SPENDABLE SCHNEIDERLEIN

Es klingt wie eine schöne Geschichte aus dem Reich der Sagen und Märchen. Ein guter Prinz schenkt den Menschen in einem armen Dorf am Rande der Welt die ewige Gesundheit. Und doch: Die Geschichte ist wahr. Wenigstens zum Teil. Ewige Gesundheit wird wohl für immer ein Traum des Menschen bleiben. Aber viele Leiden und Gebrechen können geheilt werden. Wohl dem, der ein Krankenhaus in seiner Nähe weiß.

Der gute Prinz aus dem Märchen heißt Bruno. Genauer: Bruno Kleine. Er ist ein erfolgreicher Modeunternehmer aus dem ostwestfälischen Harsewinkel. Bruno ist ein gewiefter Geschäftsmann und ein knallharter Kommunalpolitiker. Aber die harte Schale trügt. Bruno hat ein großes Herz. Sein Motto: „Wenn es mir gutgeht, soll es auch anderen gutgehen.“ Mit seinem Geld hilft er da, wo die Not am größten ist. Lettlands Gesundheitssystem ist in einem desolaten Zustand. Ein Fall für Bruno Kleine.

„Das Wunder von Mazsalaca“ nimmt seinen Lauf. Dort, wo sich sonst Fuchs und Hase gute Nacht sagen, lässt Kleine ein modernes Hospital mit 40 Betten bauen und komplett einrichten. Dafür greift er tief in die private Schatulle. Über 700.000 Mark werden in das medizinische Zentrum in der 3.000-Seelen-Gemeinde unweit der estnischen Grenze investiert. Mit Glanz und Gloria wird das Krankenhaus eingeweiht.

Festakt: Hildegard und Bruno Kleine haben aus ihrem Privatvermögen ein Krankenhaus in Mazsalaca spendiert. Dafür sind die Letten unendlich dankbar.

Es ist ein heißer Tag im Juni 2000. Die Sonne brennt unbarmherzig vom Himmel. Das Thermometer zeigt 30 Grad im Schatten. Es ist ein großer Tag für Mazsalaca, vielleicht der größte in der Geschichte des Städtchens, das für seine Storchenkolonien bekannt ist. Es sollen die größten in Europa sein.

Das ganze Dorf ist auf den Beinen. So ein Ereignis will sich niemand entgehen lassen. Das Städtchen im Gütersloher Partnerkreis Valmiera rückt für einen Tag in den Fokus der großen Öffentlichkeit.

Die Dankbarkeit der Letten ist riesig. Zum Festakt haben sich sogar die Honoratioren aus dem fernen Riga auf den Weg in die Provinz gemacht. Auch die Delegation aus dem deutschen ostwestfälischen Partnerkreis hat sich unter die Festgäste gemischt. Die Übergabe des Krankenhauses ist ein Markstein in der Geschichte der deutsch-lettischen Freundschaft.

Der Ehrenplatz inmitten des Trubels gebührt Hildegard und Bruno Kleine. Sie sitzen vor dem Eingang des Krankenhauses auf einer mit Rosen geschmückten Holzbank. Sie sitzen dort geduldig und schwitzen in der prallen Sonne.

Alles soll sich heute um das großherzige Ehepaar aus dem ostwestfälischen Harsewinkel drehen. Das medizinische Zentrum ist für die kleine baltische Republik fast wie ein Geschenk des Himmels. Aus eigener Kraft hätten sich die Letten niemals ein derart modernes und gut ausgestattetes Hospital leisten können.

Die Einweihung erinnert an einen Staatsakt. Die lettische und die deutsche Fahne flattern im lauen Sommerwind, eine Kapelle stimmt die Hymnen beider Nationen an. Es wird getanzt und gesungen, Kinder und Jugendliche in traditionellen bunten Landestrachten präsentieren auf der Wiese vor dem Krankenhaus den Gästen Folklore ihrer Heimat.

Und es werden Reden gehalten. Viele und lange Reden. Die Letten lieben es, Reden zu halten, ebenso wie sie Trinksprüche lieben. Wer mit den Letten feiern will, der muss trinkfest sein. Immer wieder wird mit dem vollen Glas angestoßen. Jeder ist einmal an der Reihe, einen passenden Spruch aufzusagen.

Dabei muss man nicht einmal besonders originell sein. Wünsche wie „Auf die deutsch-lettische Freundschaft“, „Hoch lebe die deutsch-lettische Partnerschaft“ oder „Möge unsere Verbindung ewig halten“ sorgen auf beiden Seiten für glückliche Gesichter. Fällt einem einmal wirklich nichts Besseres ein, dann sagt man einfach: „Auf die Gesundheit.“ Das passt immer und überall. Aber das nur am Rande.

Die Huldigungen an die edlen Spender wollen kein Ende nehmen. Kein Wunder, der Anlass ist so einmalig, dass jeder seinen Senf dazugeben muss. Ein Laudator nach dem anderen schreitet zum Podium, ergreift das Mikrofon und schildert wortreich die Geschichte des Krankenhauses in Mazsalaca, die Bedeutung des Projektes für das Gesundheitswesen im gesamten Bezirk und lobt die unendliche Güte von Hildegard und Bruno Kleine.

Es ist mein erster Besuch in Lettland. Der Grund ist klar: Bruno Kleine lebt in Harsewinkel. Das ist mein Beritt. Dort arbeite ich als Lokalredakteur seit vielen Jahren für die NW. Die Krankenhauseinweihung ist eine große Sache. Wir müssen dabei sein. Ich melde mich für die Fahrt an.

Es ist alles aufregend und neu. Wir sind am frühen Morgen in Gütersloh aufgebrochen und sitzen nun im Bus, der uns zum Flughafen in Düsseldorf bringen wird. Es ist eine große Gruppe in diesem Jahr. Viele unbekannte Gesichter um mich herum. Einige der Mitreisenden kenne ich aus den Medien: Politiker, Spitzenbeamte, Unternehmer, darunter auch Hildegard und Bruno Kleine.

Sie alle gehen vertraut, ja fast kumpelhaft miteinander um. Für einige ist die Delegationsreise jährliche Routine. Ein wenig deplatziert fühle ich mich schon in dieser illustren Gesellschaft. Ich, der Zeitungsfritze, der Schreiberling von der Lokalpresse, muss sich noch im Zirkel der Wichtigen und Erfolgreichen zurechtfinden.

Schräg gegenüber sitzt mir der Landrat. Auch er ist erstmals in Richtung Lettland unterwegs. Ein sympathischer Mensch, ist mein erster Eindruck. Sven-Georg Adenauer, der jüngste Enkel des Altkanzlers Konrad Adenauer, hat die Neue Westfälische in der Hand. Das macht ihn noch sympathischer. Er ist vertieft in einen Artikel über die gestrige Kreistagssitzung.

„Gut geschrieben“, murmelt er vor sich hin, „den Nagel auf den Kopf getroffen.“ Adenauer wendet sich zu mir: „Sind Sie nicht von der NW?“, fragt er.

Ich nicke und freue mich, dass Adenauer der Bericht meines Kollegen Ulli gefällt. Wir kommen ins Gespräch. Mein erster Eindruck bestätigt sich. Der Landrat ist ein umgänglicher Zeitgenosse. Wir unterhalten uns über dies und das, bald auch über Privates - und stellen fest, dass wir den gleichen Humor haben. Meine trübe Stimmung hellt sich auf. Es wird mir klar, dass wir beide viel Spaß miteinander auf dieser Fahrt haben werden – und auf den nächsten 20.

Das Flugzeug, in das wir einsteigen, ist eine alte Propellermaschine. Auf mich macht der Flieger einen klapprigen Eindruck, aber vielleicht täusche ich mich. Baltic Air ist damit auf dieser Strecke in Richtung Riga unterwegs. Ich atme auf, als ich merke, dass der Platz neben mir frei ist. Es war eine kurze Nacht. Ich bin müde. Jetzt ein paar Stündchen ruhen, bevor der Stress weitergeht. Ich strecke die Beine aus, und schnell breitet sich ein wohliges Gefühl aus. Als mir die Augen schon zufallen, höre ich eine laute Stimme: „Kann ich mich für ein paar Minuten zu Ihnen setzten?“

Manfred S. (Namen geändert) steht vor mir. Aus der Zeitung weiß ich einiges über ihn. Er war ein Spitzenmann in der Kreisverwaltung und arbeitet jetzt als Manager für ein namhaftes Unternehmen. S. beugt sich vor und blickt mir ins Gesicht. Ich ziehe meine Beine zurück. „Bitte schön“, sage ich und deute auf den Ledersitz neben mir.

„Ich könnte Ihnen so einiges erzählen über die Partnerschaft, denn ich bin von Anfang an dabei“, legt er los.

Ich zücke Block und Schreiber. Das könnte spannend werden, vielleicht bekomme ich jetzt sogar wertvolle Insiderinformationen für meine Exklusivstorys aus dem Baltikum. S. macht es sich neben mir bequem. Er schlägt seine langen Beine übereinander und beginnt zu reden – und will gar nicht mehr aufhören. Der Monolog dauert geschlagene zwei Stunden.

Ich bemühe mich, so viel wie möglich aufzuschreiben. Es ist ein schwieriges Unterfangen. Der Kugelschreiber rutscht mit fast aus der Hand. Es rüttelt und schüttelt, über der Ostsee gibt es heftige Turbulenzen. Das bringt S. nicht aus dem Konzept. Sein Ego ist riesig. Die meisten seiner Sätze beginnen mit „Ich“. „Ich habe damals dafür gesorgt…“, „Ich habe die Kontakte zu X geknüpft…“, „Damals war ich dafür verantwortlich…“ – so und so ähnlich geht es ohne Unterbrechung weiter. Ich bekomme langsam das Gefühl, dass die Partnerschaft das alleinige Verdienst von S. ist. Der Mitreisende von der benachbarten Sitzreihe guckt mich mitleidig an. Ich nehme an, er hat so seine Erfahrungen mit S.

„Bitte schnallen Sie sich an und richten Sie die Lehne Ihres Sitzes auf“ - diese Durchsage bringt endlich die Erlösung. Wir befinden uns im Anflug auf Riga. Wohl oder übel muss S. zu seinem Platz zurück.

„Den Rest erzähle ich Ihnen später“, droht er an und verschwindet. Das war mir eine Lehre. Es gelingt mir in den nächsten Tagen, ihm aus dem Weg zu gehen.

Im Hotel setze ich mich erschöpft aufs Bett. Vor dem gemeinsamen Abendessen habe ich eine kleine Pause. Ich nehme den Block aus meiner Tasche. Und studiere die Aufzeichnungen aus dem Flugzeug. Fast den ganzen Block habe ich vollgeschrieben. Die Turbulenzen haben ihre Spuren hinterlassen. Meine Schrift erinnert an eine Kardiokurve nach einem schweren Herzanfall. Entziffern kann ich kaum etwas. Entschlossen werfe ich das Notizbuch in den Abfalleimer. Gut, dass ich ein zweites dabeihabe. Es wird sicher schönere und wichtigere Geschichten für mich geben.

Dazu gehört auch die Einweihung des Kleine-Hospitals. Es ist ein Pflichttermin – egal, wie weit der Weg sein mag.

Mazsalaca, alleine diesen Ortsnamen auszusprechen, fällt mir anfangs schwer. Ich bin nicht der Einzige. Manche haben auch zehn Jahre später noch so ihre Probleme damit. Für mich ist es anfangs ein Dorf am Rande der Zivilisation. Aber egal, es ist eine Dienstreise. Es gibt Schlimmeres. Der Verlag bezahlt alles. Die Tage in Lettland sind nicht langweilig. Manfred S. sorgt für Abwechslung.

WENN DER SANDFLOH ZUSCHLÄGT

S. liebt es, im Mittelpunkt zu stehen. Einige Tage später bietet sich ihm dafür eine günstige Gelegenheit. Letten und Deutsche machen gemeinsam ein Picknick in schöner Natur an einem idyllischen Flüsschen. Wir sitzen um ein Lagerfeuer herum, trinken Bier und essen Spieße vom Grill. Dazu spielt Clemens auf seiner Mundharmonika alte deutsche Volksweisen. Einige stimmen in die bekannten Melodien ein. Die Harmonie ist perfekt. Für S. ist es eine gute Chance, sich in seiner ganzen Schönheit zu präsentieren.

„Ich gehe ich bisschen baden. Das weiche Wasser ist gut für meine Haut“, verkündet S. und beginnt, sich in einiger Entfernung auszuziehen. Bald steht er splitternackt da. Mit energischen Schritten stelzt er mit seinen langen Beinen in das kristallklare Bachwasser.

„Aaah, ist das herrlich“, ruft er und legt sich auf eine Kiesbank mitten im Flussbett.

Dort verharrt er die nächste Viertelstunde. Man hört ihn nur ein wenig planschen. Endlich erhebt sich S. wieder. Er reibt sich noch mit dem Sand von der Uferböschung ab und legt sich ins Gras neben dem Fluss.

Am Lagerfeuer kommt Unruhe auf. Die Letten tuscheln, grinsen und schlagen sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Warum? Der Auftritt von S. war sicher leicht daneben, aber lustig fand ich ihn eigentlich nicht.

„Warum lachen die?“, frage ich Silvana, die neben mir sitzt.

Silvana spricht perfekt Lettisch. Sie ist zweisprachig aufgewachsen. Eigentlich ist sie die Kulturbeauftragte der Partnerschaft, aber sie ist auch die beste Dolmetscherin, wenn es einmal um die schweren und komplizierten Themen geht. Auch Silvana kann sich kaum halten vor Lachen.

„Die Letten erzählen, dass dieser Fluss von Sandflöhen verseucht ist. Kein Einheimischer würde darin baden.“

Das macht das Ganze spannend. S. räkelt sich im weichen Gras, er scheint sich pudelwohl zu fühlen. Vielleicht war das ein Spaß mit den Sandflöhen, geht mir durch den Kopf. Die Gespräche sind verstummt. Alles starrt in Richtung des Nackten.

Doch dann: S. kratzt sich erst an den Füßen, dann an den Armen und schließlich an ganzen Oberkörper.

„Was ist das für einen Mist?“, sagt er unwirsch und richtet sich langsam auf.

Jetzt können wir es sehen. Sein Körper ist mit Pusteln und roten Flecken übersät. Die können nicht von dem weichen Flusswasser stammen. Der Sandfloh hat zugeschlagen. Später recherchiere ich im Lexikon und erfahre einiges Interessantes über den lästigen Parasiten. Dort steht aber auch, dass der Sandfloh eigentlich in tropischen Gewässern sein Unwesen treibt.

Kann es sein, dass Silvana diesmal mit ihrer Übersetzung daneben lag? Oder wurde S. gar von dem noch unerforschten und besonders aggressiven baltischen Mördersandfloh angegriffen? Wir werden es wohl nie erfahren. S. erholt sich schnell von der Attacke. In einem Fluss wurde er nicht mehr gesehen.

DEUTSCHE FAHNE VERKEHRT HERUM

Der Festakt am Hospital zieht sich in die Länge. Mein Notizbuch wird immer voller. Zunächst glaube ich, dass alles, was da vorne so erzählt wird, wichtig ist und unsere Leser brennend interessieren würde. Doch mit der Zeit erlahmt mein Eifer. Ich lege den Kugelschreiber aus der Hand. Irgendwie wiederholt sich alles, überlege ich und gucke mir lieber das bunte Treiben auf dem Rasen an. Die Kinder der Tanzgruppe tun mir leid, die in der prallen Sonne im Takt der Musik hüpfen und springen müssen.

Noch mehr bedauere ich die armen Spender. Mit einem tapferen Lächeln sitzen Hildegard und Bruno Kleine auf ihrer Bank, doch man merkt langsam, dass ihnen die Hitze arg zusetzt. Ihre Gesichter werden zunehmend röter, der Schweiß rinnt ihnen von der Stirn. Niemand hat ein Einsehen mit den Hauptakteuren des Nachmittags. Der nächste Redner, ein wichtiger Mensch aus dem Gesundheitsministerium, betritt bedeutungsvoll die Bühne. In seiner Hand erkenne ich einen Stapel Papiere. Oh Herr, das kann noch dauern, überlege ich. Nach ihm ist die Dolmetscherin dran, die alles Wort für Wort ins Deutsche übersetzen wird. Es nimmt einfach kein Ende.

Gut, dass ich ein schattiges Plätzchen gefunden habe inmitten der Menschenmassen, die sich hier versammelt haben. Neben mir steht der Gütersloher Landrat.

Zu Beginn des Festakts hat er ein paar Worte an den Gastgeber gerichtet und seinen Dank an die Familie Kleine ausgesprochen. Erfreulich kurz war sein Beitrag, da sollten sich andere ein Beispiel daran nehmen. Ich blicke ein wenig gelangweilt in die Runde und sehe, wie Sven-Georg Adenauer nach oben blickt und hinter vorgehaltener Hand lacht. Niemand soll es merken.

„Was ist hier so lustig?“, frage ich ihn leise. Er zeigt nur mit dem Finger zum Dach des Krankenhauses. Ich gucke angestrengt in die Richtung, kann aber nichts Besonderes entdecken.

„Die Fahne“, flüstert Adenauer und stößt mich leicht mit der Schulter an. Und tatsächlich. Da stimmt etwas nicht. Ich überlege – und finde endlich die Lösung. Die Letten haben in ihrem Übereifer die deutsche Fahne verkehrt herum am Mast angebracht. Statt Schwarz, Rot, Gold flattert nun das Flaggentuch in Gold, Rot, Schwarz im lettischen Sommerwind.

Auch ich finde diesen kleinen Fauxpas, der niemanden stört und kaum einem aufgefallen sein dürfte, urkomisch. Wir haben den gleichen Humor. Das verbindet uns. Bei den Delegationsreisen in den nächsten Jahren sind wir beide immer dabei. Und wir haben immer etwas zu lachen.

REINHEIT UND BLUT

Das Fahnen-Malheur von Mazsalaca könnte mit der lettischen Flagge nicht passieren. Denn diese ist nur zweifarbig (Rot und Weiß) und streng symmetrisch aufgeteilt, es spielt also keine Rolle, wie herum die Fahne gehisst wird.

Um die lettische Nationalfahne rankt sich übrigens eine interessante Geschichte. Sie ist eine der ältesten Flaggen der Welt. Bereits im 13. Jahrhundert wurde sie verwendet, als lettische Stämme gegen estnische Stämme in den Krieg gezogen sind. Offiziell angenommen wurde die Flagge in ihrer heutigen Form erstmals 1918 und dann wieder am 27. Februar 1990.

Was war dazwischen? Die Nationalflagge ist ein Spiegelbild der wechselvollen lettischen Geschichte. Denn zeitweilig wurde das Land von anderen Flaggen repräsentiert. Während des lettischen Unabhängigkeitskrieges 1918 riefen die Kommunisten kurzzeitig eine unabhängige Lettische Sozialistische Sowjetrepublik aus. Sie verwendeten eine rote Flagge mit goldenen Initialen. 1920 konnten jedoch lettische Truppen mit deutscher Hilfe die Kommunisten besiegen. In der Folge wurde bereits ab 1923 wieder die alte Flagge verwendet.

1940 wurden die baltischen Staaten von der Sowjetunion annektiert. Lettland erhielt 1953 eine Sowjetflagge mit einem weißblauen Wellenmuster, die große Ähnlichkeit mit der Flagge der Estnischen Sowjetrepublik hatte. Die Vorderseite der Flagge zeigte ein Hammer-und-Sichel-Symbol und einen roten Stern. Die alte Flagge Lettlands wurde nur noch symbolisch von den Letten im Exil weiter genutzt.

Mit Erlangung der Unabhängigkeit wurden schließlich die sowjetischen Gesetze, die die Flagge Lettlands für illegal erklärt hatten, außer Kraft gesetzt. Am 27. Februar 1990 beschloss das lettische Parlament, dass die historische Nationalflagge künftig wieder offiziell die baltische Republik mit etwa zwei Millionen Einwohnern repräsentieren soll.

Der erste Ministerpräsident Lettlands, Karlis Ulmanis, beschrieb die Bedeutung der beiden Flaggenfarben der Republik Lettland folgendermaßen: „Weiß steht als Symbol für die Reinheit und die Gerechtigkeit, Rot für das vergossene Blut, welches der Preis war für das Erlangen der Unabhängigkeit.“

Die spezielle karminrote Farbe ist übrigens sehr ungewöhnlich und einzigartig. Sie wird offiziell als „Lettischrot“ bezeichnet. Ihren Ursprung soll sie von Beeren haben, die die lettischen Vorfahren sammelten.

DAS LETTISCHE ALLHEILMITTEL

Geschlagene zwei Stunden dauert der Festakt in Mazsalaca. Erst langsam lösen sich die Menschenmassen auf. Endlich sind auch die Krankenhausstifter Hildegard und Bruno Kleine erlöst. Sie sind sichtlich erschöpft. Gut, dass nun ein Imbiss im Schatten auf die Gäste wartet - mit kleinen Häppchen, Bier und Balzam, dem berühmten lettischen Kräuterschnaps, dem eine wundersame Wirkung zugeschrieben wird.

Balzam-Batterie: Der hochprozentige Kräuterschnaps ist in Lettland ein Nationalgetränk, das bei keiner Feier fehlen darf.

Manche schwören darauf: Ein kleines Stamperl, und schon lösen sich die kleinen Zipperlein und Wehwehchen wie von Zauberhand auf. Das lettische Nationalgetränk wurde 1752 von Apotheker Abraham Kunze als Arzneimittel in Riga entwickelt. Bei einem Besuch in Riga soll die erkrankte Zarin Katharina die Große dank dieser Spirituose genesen sein. Welche Zutaten der legendäre Likör mit 45 Prozent Alkoholgehalt enthält, ist geheim. 24 sollen es sein, darunter Birkenknospen, Eichenrinde, Minze, Baldrian, Wermut, Himbeeren, Honig, Pfeffer und Ingwer.

Er wird in Eichenfässern gelagert und pur, in Cocktails oder Heißgetränken genossen. Angeboten wird neuerdings auch der sogenannte „Frauenbalzam“ mit etwas weniger Alkohol, hergestellt aus Johannisbeeren oder Kirschen.

„Woraus das Zeug ist, das ist mir ganz egal. Hauptsache, es macht schwindlig“, wie es so schön ein Delegationsteilnehmer bei einer feucht-fröhlichen Feier formuliert.

DIKTAT UNTER SCHATTIGEN BÄUMEN

Mit Balzam & Co. muss mich noch gedulden. Denn mein Bericht über die Einweihungsfeierlichkeiten soll aktuell am nächsten Tag im Blatt stehen. So haben wir es in der Redaktion vereinbart. Gleich neben dem Krankenhaus befindet sich ein Wäldchen. Ich setze mich am Rande einer Lichtung unter schattige Bäume und hole meine neue Errungenschaft aus der Tasche: ein Handy. Es ist ein ziemlich unhandliches und schweres Gerät der Marke Siemens, aber es funktioniert auch hier in der lettischen Provinz einwandfrei

Bis jetzt war es für mich mehr ein Spielzeug; wegen der hohen Telefonkosten habe ich es kaum benutzt. Jetzt schlägt aber die große Stunde der modernen Kommunikationstechnik. Was das kostet, ist egal, für die Rechnung wird der Verlag geradestehen. Ich schaue auf die Notizen und diktiere meiner Kollegin in der Harsewinkeler Redaktion den Text für die morgige Ausgabe. Sie hat schon ungeduldig auf meinen Anruf gewartet. Es klappt vorzüglich. Nur ein Name wird bei der Übermittlung verunstaltet: Aus dem Partnerschaftskoordinator Schwolow wird „Schwoloch“. Es gibt Schlimmeres im Leben. Er wird’s uns verzeihen.

In einer halben Stunde bin ich mit meinem Diktat durch. Jetzt kommen die angenehmen Dinge des Lebens. Hoffentlich hat die Delegation noch etwas übrig gelassen für den hungrigen und