110 - Ein Bulle bleibt dran - Cid Jonas Gutenrath - E-Book

110 - Ein Bulle bleibt dran E-Book

Cid Jonas Gutenrath

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Beschreibung

Mehr als 3.000 Menschen wählen in Berlin täglich die 110. Sie rufen an, weil sie bedroht werden oder überfallen worden sind; weil sie verletzt wurden oder in Gefahr schweben; weil sie den letzten Funken Hoffnung ins Leben verloren haben oder ihren Ehepartner vermissen, der seit Stunden hätte zuhause sein müssen… Cid Jonas Gutenrath hat über ein Jahrzehnt Notrufe bei der Einsatzzentrale der Berliner Polizei entgegengenommen. Die Gespräche, die er dabei geführt hat, verraten viel über Menschen in Ausnahmesituationen, über das Leben in der Großstadt – und sie vermitteln einen exklusiven Insiderblick in die tägliche Arbeit der Polizei. Nach seinem Erfolgsdebüt »110 – Ein Bulle hört zu« legt Gutenrath nun einen neuen Band vor, der vierzig Notruf-Geschichten versammelt. Es sind ergreifende, komische und unglaublich spannende Storys mit oftmals überraschenden Wendepunkten – atemberaubend erzählt, eine Achterbahn der Gefühle.

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CIDJONAS GUTENRATH

110

Ein Bulle bleibt dran

Neues aus der Notrufzentrale

ullstein extra

Besuchen Sie uns im Internet: www.ullstein-buchverlage.de

ISBN978-3-8437-0473-1

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden

eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Für Michael und Thorsten.

Ihr habt vielen geholfen, aber für Euch gab es keine Hilfe.

Prolog: Der Tag, als der Regen kam …

Lange habe ich darüber nachgedacht,ob ich Ihnen noch einmal unter die Augen trete. Darüber, ob ich es mir zutraue und, vor allem, Ihnen zumute. Warum? Weil ich mich ein bisschen schäme. Sie werden sich fragen, weshalb, und ich will zumindest den Versuch machen, mich zu erklären.

Unglaubliches ist geschehen, in vielerlei Beziehung, seit ich in einem Anflug von Naivität und Arroganz mein erstes Manuskript über die kleinen und großen Dramen der Polizeinotrufannahme dem Ullstein Verlag zugesandt habe. Wenige Tage nachdem ich den gebündelten Blätterwust mit einem handschriftlich versehenen Anschreiben in den Briefkasten geworfen hatte, bekam ich zu Hause einen Anruf, den ich wohl nie vergessen werde. Meine älteste Tochter ging zunächst ans Telefon und übergab mir Kaugummi kauend den Hörer mit den Worten: »Papa, da will dich irgendeine Frau sprechen …« Abgespannt und in Erwartung einer Mutter, die sich über das schlechte Benehmen eines meiner Kinder auf dem Schulhof beschweren wollte, meldete ich mich schnodderig und unhöflich mit den Worten: »Käpt’n Chaos, jo …«

Einen Satz ähnlicher Tragweite wie den, den ich kurz darauf von der »guten Fee« am anderen Ende der Leitung zu hören bekam, hatte ich bisher erst dreimal in meinem Leben vernommen. Nämlich als ich auf dem heißen Stuhl beim Feindiagnostiker am Kurfürstendamm zweimal eröffnet bekam: »Es wird ein Mädchen«, und einmal: »Es wird ein Junge!«

»Wir interessieren uns sehr für Ihr Manuskript«, sagte sie, was verbunden mit einigen anderen Liebenswürdigkeiten so viel heißen konnte wie: »Hurra, es wird ein Buch!«

Wer nun denkt, dass ich in meinem Inneren sofort die Kasse klingeln hörte, kennt mich nicht und hat sicher auch mein erstes Buch nicht gelesen. Nein, Leute, in meinem Inneren war viel, viel mehr Bewegung! Genau wie bei meinen Kindern dachte und denke ich immer noch, zugegeben voller Stolz: »Geh hinaus in die Welt, reiß Mauern nieder, bau Brücken, begegne, erstaune und berühre Menschen, auf dass nicht alles umsonst gewesen sein möge!« Was, nehmt ihr mir nicht ab? Scheiße, könnt ihr. Und es hat sich jetzt schon tausendfach gelohnt. Ich lerne die Menschen um mich herum, ja sogar das Land, in dem ich lebe, völlig neu kennen. Wildfremde Leute stehen mir auf einmal näher als viele, von denen ich dachte, dass ich sie gut kenne. Ich teile seitdem die Menschen in zwei Kategorien ein: in die, die mich nach Auflagen und Umsatzzahlen fragen, und die, die versuchen, mir durch die Augen in meine Seele zu blicken. Und wisst ihr was? Von der zweiten Sorte gibt es viel, viel mehr! Wow!

In ganz Deutschland war ich inzwischen unterwegs, und da standen sie plötzlich alle vor mir: die alte Dame, die schweigend und lächelnd einfach nur meine Hand nahm, um sie minutenlang nicht wieder loszulassen; die behinderte junge Frau, die mich stolz einlud, sie in »ihrem« Café zu besuchen, in dem sie trotz Problemen mit der Sprache und ihren Augen, aber immer mit einem Lachen, als Bedienung arbeitet; verdammt, es waren selbst kleine Jungen da, die allein mit ihrem Papa gekommen waren, weil Mama nicht mehr mitkommen konnte. Und wenn ich morgen in den Straßen Berlins verrecken sollte: Verflucht, es hat sich gelohnt!

All diese Menschen, denen ich begegnet bin, und die unfassbar vielen Leserbriefe, die ich auf meine freche Offerte (Ich werde Euch antworten!) hin bekam, haben mich veranlasst, mich wieder mit meinem Bleistift hinzusetzen und noch einmal aufzuschreiben, was mich nicht loslässt.

Aber ich muss um Nachsicht bitten. Ich fürchte, ich krieg’s so positiv nicht noch mal hin. Es ist zu viel passiert.

Geht schon damit los, dass ich am Ende meines ersten Buches das Versprechen gab, weiter zuzuhören, und letztlich wortbrüchig wurde. Daran hab ich zu knacken.

Wie alle Menschen will auch ich immer ein Happy End und hoffe, ja vertraue darauf, dass uns irgendwas oder irgendwer schon helfen wird, wenn wir selber nicht mehr weiterwissen, und ich wäre so gern Bestandteil dieses Märchens. Als ich klein war, lag ich oft weinend in Embryohaltung im Bett und hörte zu, wie mein Vater meine Mutter verprügelte. Außerstande, sie zu beschützen, nahm ich mir dann jedes Mal vor, Elvis um Hilfe zu bitten. Der war groß, der war stark, hatte viel Geld und sogar einen Schwarzgurt in Karate, wie ich gehört hatte. Bei den Liedern, die er sang – »In the Ghetto« fand ich schon als Bengel klasse – , musste er ein guter Mensch sein, dachte ich und stellte mir vor, dass ich ihn nur anzurufen brauchte, und dann würde er schon kommen und helfen …

Gut, klappte nicht, doch rund dreißig Jahre später hatte ich selber einen Schwarzgurt, konnte zwar nicht singen, war aber bereit und oft sogar imstande zu helfen, wenn man mich anrief. Sollte nun irgendjemand glauben, dass ich mich selbst für eine Art Star oder Superhelden halte, so liegt er tragisch weit daneben. Das Gegenteil ist der Fall. Normalerweise erinnert man sich gern und gut an die schönen Begebenheiten in der Vergangenheit. Nicht bei mir. In meiner ganz aktuellen Welt ist das leider völlig anders. Selbst hundert gelungene Einsätze, Gespräche oder Aktionen wiegen nicht im mindesten auch nur ein einziges Mal auf, bei dem ich, warum auch immer, gnadenlos versagt habe. Scheißegal, ob ich nun wirklich schuld war oder nicht. Keine Angst, ich heul euch jetzt nichts vor, ich komm schon klar, das hab ich gelernt. Aber trotzdem, hey, es wird alles irgendwie immer abgedrehter. Auf beiden Seiten der Front.

Weshalb das so ist, entzieht sich meinem Verständnis und meinem Einfluss. Einzig reagieren kann, oder besser, muss ich darauf. Und das habe ich getan. Zum einen habe ich die Verantwortung und Pflicht, meinen drei Kindern zur Seite zu stehen, bis wir sie in die Erwachsenenwelt entlassen können, und zum anderen habe ich mir gesagt: »Wenn sie es dir nicht ermöglichen, gut Schach zu spielen, dann gehst du selber wieder mit aufs Feld.« So kommt es, dass ich heute mit meinen siebenundvierzig Lenzen erneut trainiere, mit der Ramme die Tür aufzuknacken, um den Frauenprügler oder was auch immer dahinter flachzumachen. Tatkräftig unterstützt von einem vierbeinigen Kollegen an meiner Seite, der in puncto Mut und Entschlossenheit weit über mir steht. Aber dazu später einmal mehr.

Genaugenommen kann ich nicht einmal sagen, ob es nun die gefühlte Zunahme an düsteren, negativen Gesprächen in der Notrufannahmezentrale war oder die Entscheidung meiner Firma, uns dort ein wirklich merkwürdiges Dienstzeitmodell aufzudrücken, was mich schließlich zum Stellungswechsel bewegte. Ein »Modell«, das subjektiv zur Folge hatte, dass jedes Engagement und sämtliche Prinzipien, für die ich jahrelang eingestanden hatte, mit Füßen getreten wurden, ganz abgesehen davon, dass meine Familie darunter litt. Wahrscheinlich war es von beidem ein wenig. Fakt ist, lieber Leser, ich bin wortbrüchig geworden, shame on me. Die Tatsache, dass so viele Menschen Interesse und Anteilnahme zeigten am vordergründig unspektakulären Schicksal eines kleinen Jungen oder einer alten Frau beispielsweise, hat mich zutiefst berührt und mir gezeigt, dass es den täglichen Spagat am Telefon wert war. Kurz bevor beim Spagat jedoch die Sehnen reißen, stellt sich ein heißes, schneidendes Gefühl ein. Wenn man dann nicht reagiert, ist man im schlimmsten Fall danach ein Krüppel, und das galt es zu vermeiden. Ganz konkret heißt das, dass ich, unter anderem aufgrund der geschilderten Personalpolitik, subjektiv der Menge an stummen Hilfeschreien auf meinem Monitor nicht mehr gerecht werden konnte und dieser Umstand für mich persönlich einer Katastrophe gleichkam. Dies in Verbindung mit einem gefühlten Anschwellen von Notrufgesprächen, die ich nicht zu drehen, positiv zu beenden oder auch nur zu begreifen vermochte, ließ mich an jenem kalten, regnerischen Morgen, als es hieß: »Nun stellen wir tatsächlich auf das neue System um«, die Entscheidung treffen: Nein!

Nun, Mut kann bedeuten, auch einmal nein zu sagen, hörte ich einst einen jungen, aber weisen Mann sagen, und dieses Nein kommt keineswegs immer einer Kapitulation gleich. So bitte ich euch, liebe Leute, auch nicht wirklich um Entschuldigung, sondern eigentlich nur um euer Verständnis dafür, dass zurzeit in Berlin nicht mehr zu hören ist, wenn man die 110 wählt: »Notruf der Polizei, Gutenrath, wie kann ich helfen?«

Viele tausend Mal habe ich diesen Satz gesagt und ihn immer ehrlich gemeint, um anschließend oft vor Konzentration die Augen zu schließen. So manche Träne ist mir auf die Computertastatur getropft, ob nun vor Lachen oder warum auch immer. Eine tiefe Verbundenheit fühle ich zu diesem Saal, in dem ich so viele Weichen gestellt und Schicksale beeinflusst habe, dass mir der Abschied schwerfiel, so herzlich er auch war.

Die Stimmen der Vergangenheit kreisen nun wie Geister im Nebel durch meinen Kopf, wenn ich nachts in der dunklen Küche sitze, weil ich nicht schlafen kann. Dann nehme ich mir meist ein Bier und fange an zu rechnen und aufzuwiegen – zwei Greise gegen ein Kind, ein Auge gegen eine Hand, eine verbrannte Familie gegen einen geretteten Säugling … – und komme doch immer zum selben unbefriedigenden Ergebnis, bevor der Schlaf mich dann irgendwann gnädig übermannt. Mein Leben ist jetzt gefährlicher geworden und trotzdem irgendwie einfacher. Nicht zuletzt weil ich einen neuen Freund gefunden habe, der mir bedingungslos vertraut und jede einzelne Stunde des Tages, die der liebe Gott werden lässt, in meiner Nähe ist. Ein gutes, beruhigendes Gefühl. Letzte Woche sollten wir auf Anforderung des Landeskriminalamtes als Vorhut gemeinsam in eine Wohnung hinein, in der ein Bösewicht mit einer Pistole vermutet wurde. Selbst dabei fühlte ich mich sicherer und vor allem besser als zuletzt beim Betreten der Einsatzleitzentrale. Meine Frau trägt tapfer und liebevoll diese meine Entscheidung, ja hat sie sogar forciert. Ein weiterer Grund mehr, warum ich diese mutige Frau liebe und verehre. Apropos meine Frau: Sie hat mit mir geschimpft, als ich ihr erzählt habe, welchen Tenor mein zweites Buch haben wird. »Du kannst den Leuten diesen ganzen Scheiß nicht zumuten, außerdem will das niemand lesen und schon gar nicht kaufen«, hat sie gesagt, und: »Wenn man ein Buch zuklappt, will man sich gut fühlen und nicht beschissen!«

Recht wird sie haben, meine Wikingerin, wie immer. Und trotzdem, so ganz beipflichten mag ich ihr nicht. Ihr habt so viel Mitgefühl und positive Resonanz gezeigt nach der Veröffentlichung meines ersten Buches, das ja schließlich auch nicht immer nur lustig war, dass ich glaube, ja fast sicher bin, dass ihr mehr verdient habt und auch aushalten könnt als einen schöngefärbten Groschenroman. Weil ich aber selbstverständlich machen muss, was meine Frau sagt, und weil ich mir meiner Verantwortung bewusst bin, werde ich versuchen, Lichtblicke mit einzubauen und auch ein versöhnliches Ende zu finden. Wird nicht einfach. Aber wie sagte gestern meine große und schon unfassbar erwachsene Tochter, zwar in einem ganz anderen Zusammenhang, aber mit klarem, festem Blick zu mir: »Papa, was einfach ist, das ist nichts wert!«

So lade ich euch also ein zu einer finalen Reise durch die Notrufe meiner Erinnerung und hoffe, dass wir sie gemeinsam schadlos überstehen. Nehmt euch eine Decke oder etwas Warmes zu trinken und seht zu, dass ihr nicht ganz alleine seid. Legt euch die Katze auf den Schoß oder holt den Hund herein. Am besten wäre es, wenn ein lieber Mensch in eurer Nähe ist, mit dem ihr euch austauschen könnt. Denn das hilft …

Bon voyage!

Letzte Grüße

»Ich schaff’s nich, Jonas, stimmt’s?«

Schlimme Frage, was? Noch schlimmer aber ist die Frage, was man auf diese Frage antworten soll. Die Wahrheit? Oder immer Linie halten im Stile von »Die Hoffnung stirbt zuletzt«, egal, wie schlecht es auch stehen mag? Nie hat jemand versucht, mir beizubringen, was man in solchen Fällen antwortet. Man konnte nicht und man will nicht. Man kann zu viel falsch machen. Um die wirklich wichtigen Antworten drücken sich die Menschen gern. Alle. Ich auch.

Verantwortung hat viele Gesichter. Was, wenn man ihm oder ihr die letzte Chance nimmt, etwas Wichtiges zu sagen. Andererseits kann man sich selten sicher sein, dass eine »konstruktive Lüge« nicht den letzten Lebenswillen mobilisiert, der nötig ist, um es vielleicht doch zu packen.

Des Rätsels Lösung, meine persönliche zumindest, ist gar nicht so kompliziert. Im Bürokratendeutsch: einzelfallabhängig. Wenn ich mir sicher bin, dass es nichts mehr wird, was selten genug vorkommt, weil ich ein krankhafter Optimist bin, versuche ich den Menschen, den ich über die Brücke bringen soll, einzuschätzen. Was lässt ihn friedlicher gehen oder nimmt ihm eventuell sogar Schmerzen, welcher Art auch immer: Hoffnung bis zur letzten Sekunde oder das gute Gefühl, etwas erledigt zu haben? Das schließt in meinem »Servicepaket« ein schönes Bild von dem Licht am Ende des Tunnels genauso ein wie das Übermitteln letzter Grüße. Sie würden staunen, was man mir im Laufe der Jahre so alles anvertraut und meinem Gewissen aufgebürdet hat. Ausgerechnet mir! Es macht mich stolz und traurig zugleich. Man hat mir Geheimnisse anvertraut, und, bei meiner Seele, es werden Geheimnisse bleiben. Deswegen bitte ich um Verständnis, wenn wir uns gleich einem letzten Wunsch zuwenden, der nicht spektakulär oder auch nur wirklich ungewöhnlich anmutet. Dies ist einfach nur der Tatsache geschuldet, dass dieser Fall, wie eigentlich alle in meinen Büchern, stellvertretend für viele andere Fälle steht, deren Protagonisten ich aber keinesfalls zu nahe treten oder gar weh tun möchte.

Ich hatte als Taucher und junger Mann im Kieler Hafenbecken einmal eine Schatulle gefunden mit alten, aber akribisch verpackten Liebesbriefen, die zu meinem Erstaunen die Zeit unter Wasser sehr gut überstanden hatten. Genau diese Tatsache nahm ich zum Anlass, damals Amors späten Erfüllungsgehilfen zu spielen. Dass dies vielleicht ein Fehler war, weil jemand nach langem Kampf mit sich selbst diese Liebe für immer dem Wasser anvertrauen wollte, dieser Gedanke kam mir erst viel später.

Als Polizist hatte ich Jahrzehnte danach einmal mit etwas Ähnlichem zu tun. Jemand verriet mir das Versteck eines Bündels unversendeter Liebesbriefe und erteilte mir den Auftrag, diese »zuzustellen«. Über die Jahre hinweg nicht unbedingt weiser, aber zumindest erfahrener geworden, machte ich mir dieses Mal viel mehr Gedanken. Wer weiß, welche Herzen dadurch vielleicht brechen, war eine der vielen Erwägungen, die mir durch den Kopf gingen. Liebe ist wie Wasser, sie sucht sich immer ihren Weg, redete ich mir am Ende ein. Sie braucht mich nicht. Also ließ ich die Finger davon. Aber vielleicht war das auch wieder falsch.

»Es fühlt sich an, als würde ein Elefant auf meiner Brust stehen. Ich kann nich mehr, ich schaff’s nich …«

»Halt durch, Karl-Heinz, der Notarzt ist gleich da. Du hast einen Herzanfall. Den haben viele überstanden! Du wirst eine kleine Narbe in deinem Herzen haben und in Zukunft ein bisschen kürzertreten. Das ist alles. Halt durch!!«

»Ahhhhhh …«

»Karl-Heinz?!«

»Jonas … du musst … du musst etwas für mich machen … wichtig …«

»Hör auf mit dem Scheiß! Deinen letzten Wunsch kannst du dir für den Tag aufheben, an dem du stirbst. Du wirst jetzt nicht sterben!!«

»Sei still … hör mir zu …«

»Karl-Heinz!«

»Du sollst mir zuhören, verdammt …«

Von diesem Moment an war ich still. Weil er diesen Satz in einer Art und Weise gesagt hatte, die nichts anderes mehr zuließ. Und weil jeder von uns in Würde sterben möchte, werde ich ihn jetzt auch nicht mehr wörtlich zitieren.

Zwei Dinge trug er mir auf.

Er hatte Tage zuvor zu seiner Frau gesagt, dass es der größte Fehler seines Lebens gewesen sei, sie zu heiraten. Dass dieser Satz sein größter Fehler war, der ihm furchtbar leidtat, sollte ich sie wissen lassen.

Und dass er nicht verbrannt werden wollte.

Karl-Heinz wurde nicht eingeäschert.

Und an seinem Grab stehen immer noch regelmäßig frische Blumen.

Woher ich das denn wissen will, fragen Sie sich?

Ganz einfach, ich weiß, wo er liegt.

Borderline

Wollen Sie wissen, warum ichglaube, dass es den lieben Gott gibt? Ganz einfach: Weil ich weiß, dass es den Teufel gibt. Er steht nachts häufig hinter einem Pfeiler in meinem dunklen Wohnzimmer, schaut hervor und freut sich, weil er mich Alkohol trinken sieht. Er denkt, ich gehe kaputt. Aber ich gehe nicht kaputt! Ich höre dann in einer Endlosschleife »Halleluja« von Jeff Buckley und habe den Hund neben mir sitzen. Also traut er sich nicht an mich heran. Und jedes Mal, wenn ich aufspringe, um ihm meine Faust in die feige Fresse zu knallen, ist er weg, bevor ich den Pfeiler erreicht habe.

Ich gehe nicht kaputt. Ganz bestimmt nicht!

Eigentlich habe ich gar kein Problem mit seinen Besuchen. Denn wenn er bei mir ist, kann er ja nirgendwo anders sein. Hoffe ich zumindest. Im Januar 2009 war er bei Samantha.

Als Samantha stellt sie sich mir vor, möchte aber lieber Sam genannt werden. Sam klingt wie ein robuster, unverletzlicher Holzfäller, und so wäre sie wohl auch gerne. Ist sie aber nicht. Sie ist eine fragile junge Frau, und ihr ganzer Körper ist übersät mit Narben. Sam ist Borderliner. Das sagt sie mir auch ganz offen. Das Was ist also nicht mein Problem, aber das Warum und das Wo machen mir zu schaffen. Ohnehin bin ich, man lese und staune, fast ein Bescheidwisser in Sachen Borderline. Ganz einfach deshalb, weil ich schon mit vielen Menschen an der 110 gesprochen habe, die dieses Problem haben. Schlimme Gespräche zum Teil. So schlimm, dass ich vielleicht versuche, in diesem Buch das eine oder andere davon noch loszuwerden. Zunächst einmal, für all die, die nicht wissen, worum es geht (woher soll ein normaler Mensch das auch wissen): Borderliner sind Leute, die das Bedürfnis haben, sich selbst zu verletzen beziehungsweise sich selbst mindestens Schmerz zuzufügen. Klingt unfassbar, was?! Ist es auch. Für mich auf jeden Fall. Auch wenn man nicht unbedingt von einer Volkskrankheit sprechen kann, so habe ich doch so oft mit diesen gequälten Seelen zu tun gehabt, dass ich mich entgegen meiner Gewohnheit und Faulheit künstlich schlaugemacht habe. Auf niedrigem Level habe ich sogar ein paar brauchbare Ratschläge parat. Eiswürfel lutschen, Gummibänder schnippen, Tabasco trinken, geregelter Tagesablauf, nicht alleine leben und so weiter. Leider alles halt nur auf niedrigem Level. Meist handelt es sich um verkorkste junge Frauen. Will heißen, um Mädchen, in denen nach Vergewaltigung, Misshandlung oder irgendeinem anderen teilweise jahrelangen Martyrium etwas kaputtgegangen ist. Manchmal ist es aber auch »bloß« fehlende Zuwendung, also der verzweifelte und selbstzerstörerische Schrei nach Liebe, der kranke Blüten treibt. So kannte ich beispielsweise einige junge Frauen und selbst Prostituierte, die versuchten, über Sex ihr Bedürfnis nach »Gewolltsein« zu stillen. Leicht vorzustellen, wie sehr und brutal so ein Mensch ausgenutzt werden kann.

»Was weißt du über Borderliner, Süßer«, fragt sie in einer ruhigen, entspannten, ja fast zärtlichen Art. Ich muss lächeln, weil sie mich Süßer nennt, und behaupte: »Viel.«

»Soso, na, da bin ich ja mal gespannt. Ich liege in der Wanne, es ist schön warm, ich habe mir Kerzen angezündet … und die Pulsadern aufgeschnitten«, zählt sie in unveränderter Tonlage auf.

»Längs oder quer?«, frage ich lakonisch, und man möge mir das verzeihen. Die meisten ihrer »Art«, mit denen ich sprach, wollten Aufmerksamkeit, ein wenig Zuwendung oder vielleicht sogar Trost, fügten sich aber selten lebensbedrohliche Verletzungen zu und wussten auf perverse Weise, was sie taten. Deshalb meine vermeintliche Abgeklärtheit. Die meisten, aber eben leider nicht alle.

»Längsss«, sagt sie mit langgezogenem s, und mir wird schlagartig klar, in was für einem Gespräch ich mich befinde.

»Darf ich dich Sammy nennen?«, bitte ich sie, weil das weicher klingt und ich mir erhoffe, ihr dadurch näherzukommen, denn ich brauche jetzt Informationen.

»Du darfst mich nennen, wie du willst, Süßer, du bist der letzte Mann in meinem Leben«, flüstert sie fast, und ich kriege tatsächlich eine Gänsehaut, warum auch immer.

»Sammy, wo bist du?«, versuche ich plump mein Glück, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass ich mir diese Frage eigentlich hätte sparen können. So veranlasse ich fast gleichzeitig mit ihrer Antwort – »In der Wanne, habe ich dir doch gesagt« – eine Handyortung, weil ich glaube, dass sie mir auch nichts anderes geben wird, was mir hilft, sie zu finden.

»Sagst du mir deinen Nachnamen?« Ich spule trotzdem das Standardprogramm ab, allein schon, weil ich dazu verpflichtet bin. Der Name könnte mich über eine entsprechende Anfrage, eine Meldeadresse vorausgesetzt, zu ihrem Standort führen.

»Lost«, sagt sie, und ich glaube ihr keine Sekunde.

»Du bist nicht verloren«, gehe ich auf die deutsche Übersetzung dieses Wortes ein und stelle eine weitere kühle und technische Frage: »Wie viele Zentimeter?«

»Was meinst du?«, haucht sie.

»Wie groß sind die Schnitte?«, formuliere ich klarer und bekomme von ihr ebenso klar zurück:

»Was meinst du wohl? Groß genug, mein Schatz.«

Sie gönnt mir gar nichts. Hätte ich Informationen über genaue Art, Tiefe und Länge der Schnitte, könnte ich ein Zeitfenster erstellen. Aber sie weiß das. Sie will das nicht. Und es ist auch gar nicht mehr nötig. Das Leben rinnt aus ihrem Körper. Ich sitze da, machtlos und hilflos, und frage mich, warum.

»Wenn du einschlafen willst, Sammy, wozu rufst du mich dann an?«, frage ich sie, und mir fällt auf, dass ich vorwurfsvoll klinge.

»Weil ich dabei nicht alleine sein will. Und weil ich will, dass du dich um meine Katze kümmerst«, antwortet sie mir ruhig. Selten habe ich auf diese Frage so eindeutige, ja fast nachvollziehbare Antworten bekommen. Und selten war mir so klar, dass ich nichts mehr würde ändern können. Trotzdem lässt meine Natur nicht zu, dass ich aufgebe, bevor ich wirklich verloren habe. Zwei naive Ideen habe ich. Doch irgendetwas sagt mir, dass ich ihr und mir eigentlich jeden weiteren Versuch ersparen sollte.

»Deine Katze kommt ins Tierheim und wird eingeschläfert, wenn du jetzt stirbst«, behaupte ich. Doch sie schmunzelt nur laut und flüstert: »Mmmm, nein, das machen die nicht, und das lässt du auch nicht zu, das hör ich an deiner Stimme, Süßer.«

»Ich hasse Katzen, und außerdem lege ich gleich auf«, drohe ich ihr und weiß doch, dass sie mich viel besser versteht, als mir im Moment lieb ist.

»Tust du nicht. Komm, lass uns nicht streiten, ich hab nicht mehr viel Zeit. Sag mir was Liebes«, beendet sie souverän meine Lügen.

Es stimmt, die Zeit geht uns aus. Einen einzigen Versuch gestatten mir das große rote Stundenglas, meine Kraft und Phantasie noch. Mehr nicht. »Wenn ich dir sage, dass ich dich jahrelang nicht mehr vergessen werde und du mich immer wieder in meinen Albträumen anrufst und aufs Neue verblutest, verrätst du mir dann, wo du jetzt bist? Bitte!« Das ist alles, was ich noch zu bieten habe.

Sie antwortet nicht, macht eine kleine Pause und bettelt dann beim Ausatmen um den einen Satz, um den sie wohl ihr ganzes Leben lang gebettelt hat.

»Komm, sag: ›Ich liebe dich, Samantha!‹ Bitte, Süßer«, fleht sie mich an. Und ich tue ihr den Gefallen.

»Ich hab dich lieb, meine Kleine«, höre ich mich sagen, dann folgt ein »Blub«, und ich beiße mir in meine Unterlippe.

Als wir Sammy endlich fanden, war sie schon lange verblutet. Es gab keinen Abschiedsbrief, nur eine schnurrende Katze und ein vergilbtes Familienfoto mit einem glücklichen kleinen Mädchen darauf, das stolz seinen Vater anlächelt.

Zeugnistag

»Papa verhaut mich bestimmt, wenner mein Zeugnis sieht«, sagt sie, und bevor ich noch richtig nachdenke, frage ich reflexartig:

»Verhaut Papa dich öfter?«

»Nein, aber er ist sicher wütend auf mich, wenn er sieht, was ich nach Hause bringe.«

»Was bringst du denn nach Hause, was ihn so aufregt?«, will ich wissen, und als sie kurz und trocken »Eine Drei in Mathe und eine Vier in Deutsch« sagt, muss ich lachen.

»W-w-warum lachst du, d-das ist nicht lustig!«, stottert sie da irritiert, ja fast ein wenig empört.

»Verzeih mir. Ich musste nur gerade an meine Zeugnisse und schlechten Zensuren denken und finde im Vergleich dazu dein Problem gar nicht so schlimm«, versuche ich mich bei ihr zu entschuldigen.

»Ach so«, flüstert sie da, aber ich spüre, dass ihre Gedanken ganz woanders sind. »Auweia, der is’ ganz sicher stinkesauer«, denkt sie laut.

»Wie heißt du, meine Kleine«, versuche ich sie erst einmal abzulenken.

»Melek«, antwortet sie widerwillig, und ich merke, dass sie sich auch dabei nicht recht wohl fühlt.

Melek. Ich lasse mir den Namen auf der Zunge zergehen, und mir fällt ein: »Bedeutet das nicht Engel?«

»Sprichst du etwa Türkisch«, freut sie sich da, und ich mag den Klang ihrer Stimme. Er ist eigentlich ein wenig zu tief für so ein kleines Mädchen, aber ganz klar und deutlich.

»Nein, ich hatte nur schon ganz viel mit türkischen Leuten zu tun«, enttäusche ich sie und mache ihr dann das Kompliment: »Das ist aber ein schöner Name.«

»Ja toll, hat Papa mir gegeben. Ich bin aber kein Engel, ich bin ein Nichtsnutz«, sprudelt es aus ihr heraus.

»Niemand ist ein Nichtsnutz«, halte ich dagegen, »und du schon gar nicht.«

»Ach, egal. Ich mag den Namen trotzdem nicht. Außerdem nennen mich sowieso alle Momo!«

»Momo? Wieso das denn?«, will ich wissen, und langsam taut sie auf.

»Na, weil ich eine Schildkröte habe und auch so ein bisschen aussehe wie die echte Momo!«

Ich erinnere mich an die Zeichentrickserie im Fernsehen, und vor meinem geistigen Auge steht ein kleines Mädchen mit wildem schwarzem Wuschelkopf, und so ähnlich hatte ich sie mir dem Klang ihrer Stimme nach sogar vorgestellt. »Was kann ich denn nun für dich tun, kleine Momo?« Ich werde langsam ungeduldig, denn ich merke, dass ein Kollege neben mir, der »Notruf« ganz anders definiert als ich, spitze Ohren bekommt. Während Momo etwas vor sich hin grummelt und offensichtlich an einer überzeugenden Formulierung für ihr Anliegen arbeitet, gehe ich kurz mit dem Fuß von der Mikrophontaste und sage: »Ach, dein Hamster hat Karies? Selbstverständlich hilft dir die Polizei bei diesem schwerwiegenden Problem!«, und der Typ neben mir wirft mir einen bösen Blick zu. Gedanklich verlasse ich Momo für eine Sekunde und grübele darüber nach, wie mein Nachbar wohl mit den vielen kleinen Scheißern umgeht, die jedes Jahr um die gleiche Zeit bei uns in den Leitungen Schlange stehen, wenn die Giftblätter verteilt werden. Viel mehr als Vorhaltungen, schätze ich zumindest, wird es von ihm wohl nicht geben. Find ich kacke! Nicht nur, weil ich selbst in der Schule nicht gerade geglänzt habe und deswegen mitfühlen kann, sondern weil von Scham bis konkreter Angst vor Gewalt in den kleinen Menschen so einiges rumort. Das sind Notfälle. Ob nun selbstverschuldet oder nicht, ist erst mal wurscht, und der bloße Hinweis darauf wenig hilfreich. Nicht alle Eltern reagieren so lieb und entspannt wie die in dem wundervollen Lied von Reinhard Mey, das exakt denselben Namen trägt: »Zeugnistag« (unbedingt anhören, pädagogisch daneben und wertvoll!). Da mein Nachbar plötzlich totales Interesse an meiner Gesprächsführung entwickelt und ich das Gefühl nicht loswerde, dass mein Chef in Kürze erfährt, was ich hier für einen Mist mache, denke ich mir: Na, jetzt erst recht, und frage Momo:

»Was hast du denn für eine Schildkröte?« Es wird die Kleine erst einmal ein bisschen ablenken und beruhigen, denke ich. Außerdem interessiert’s mich wirklich. Sie blüht förmlich auf und sagt in einem ganz anderen Ton, so, als würde sie einen Star ankündigen:

»Eine Griechische Landschildkröte!«

»Wow! Und lass mich raten, ihr Name ist Kassiopeia, richtig?!«

»Woher weißt du das?«, stammelt sie daraufhin entgeistert.

»Na ja, ich hab Momo auch geguckt. Und so heißt doch wohl ihre Schildkröte, oder?«

»Stimmt! Du kennst dich aber gut aus«, schwärmt sie da, und ich habe mindestens einen Fuß bei ihr in der Tür. Und die berechtigte Hoffnung, dass sie mir vielleicht auch unangenehme Fragen beantwortet. Also stelle ich gleich mal eine:

»Wie kommst du drauf, dass Papa dich verhaut, wenn du nach Hause kommst?«

»Na ja, weil er oft so rumbrüllt, und meine Brüder hat er wegen so was auch schon mal verhauen, glaube ich.«

»Verstehe. Aber die kleine Melek wird er bestimmt nicht verhauen«, versuche ich ihr die Angst zu nehmen.

»Doch doch doch doch doch«, platzt es da aus ihr heraus, »er sagt immer: Wir sind hier fremd, und wir müssen uns doppelt anstrengen als wie die Deutschen. Ich krieg bestimmt Haue!«

Puh, denke ich, da sind ja gleich wieder mal zwei Haufen am dampfen. Super. Migrationspädagogikschildkrötenfachmann soll ich sein. Fühle mich überfordert.

»Ich bin so dumm«, klagt sie mitten in meinem Gedankengang.

»Bist du gar nicht«, halte ich trotzig dagegen und überlege, wie wir das kleine, verkümmerte Selbstbewusstsein ein wenig stärken können.

»Doch!«, schiebt sie genauso trotzig nach, und ich leg mich kurz ins Zeug:

»Ach was! Die Menschen sind alle verschieden. Jeder ist in irgendwas gut. Erzähl mir doch mal was über deine Schildkröte.«

»Also«, holt sie aus, als wäre sie in einer Prüfung, »Griechische Landschildkröten werden sehr alt und brauchen immer viel Kalk im Futter, damit sie keinen weichen Panzer kriegen, und wenn man sie am Popo krabbelt, dann wackeln sie mit dem Kopf«, führt sie aus, und ich muss schon wieder lachen. Da ich aber will, dass sie sich ernst genommen fühlt, reiß ich mich sofort zusammen und bescheinige ihr bierernst:

»Na, siehst du, ich hab’s geahnt! Du kennst dich total gut mit Schildkröten aus! Du hast bloß das Pech, dass das kein Schulfach ist. Aber vielleicht wirst du ja mal Tierärztin?«

»Meinst du?«, giggelt sie da, fast wieder happy.

»Na klar, warum nicht?«, lege ich nach. »Du hast in Deutsch vielleicht eine Vier, aber in Schildkröte gebe ich dir eine Eins. Wenn man das zusammenzählt und durch zwei teilt, hast du in beiden Fächern schon fast wieder eine Zwei«, rechne ich ihr vor, und Sie merken, lieber Leser, ich bin in Mathe auch keine Leuchte.

»In Schildkröte?«, fragt sie skeptisch. »So ’n Quatsch!«

»Wieso? Wenn du tatsächlich mal Tierärztin werden willst, is’ Schildkröte viel wichtiger als Deutsch!«, behaupte ich und schließe dann den Kreis: »Und genau das sagst du auch gleich zu Papa. Dass du nämlich mal Tierärztin werden willst und dass du viel mehr über Schildkröten weißt als er. Und dass dir das mit der Vier in Deutsch total leidtut und es nie wieder vorkommt, natürlich. Okay?!«

»Ich geh da nich’ hoch«, kommt es da von ihr wie aus der Pistole geschossen, und ich sehe förmlich, wie sie ihren schwarzen Wuschelkopf hin und her schüttelt. Au Backe! Mein Nachbar hat bestimmt die Stoppuhr laufen, und ich komm hier nich’ zu Potte, weil das Problem vielleicht doch tiefer sitzt, als ich dachte.

»Is’ Mama auch zu Hause?«, frage ich Momo, obwohl ich mir eigentlich von der Antwort nicht allzu viel verspreche. Und so fällt sie auch wie befürchtet aus:

»Ja, aber die kann nix machen.«

»Verstehe«, sage ich und reite nicht weiter auf dem Thema rum. Denn ich glaube nicht, dass das Mäuschen und ich mal eben auf die Schnelle und abschließend tradierte türkische Geschlechterrollen aus den Angeln heben werden. So schön es auch wäre. Da aber auch in dieser Beziehung Klein Melek vielleicht ein winziger Hoffnungsschimmer am Horizont ist, gilt es, sich noch mal anzustrengen. »Pass auf, Momo, wir zwei gehen da jetzt zusammen hoch«, hole ich aus, doch sie unterbricht mich sofort:

»Wir zwei?«

»Ja, wir zwei. Du und ich im Handy an deinem Ohr.«

»Ach so«, sagt sie, und ich merke, der Gedanke behagt ihr nicht. Also quatsch ich noch einmal kurz drum herum, bevor sie sich irgendwas Schlimmes ausmalt.

»Ist das eigentlich dein Handy?«

»Ja. Is’ das alte von meinem Bruder. Damit Papa immer weiß, wo ich bin.«

»Verstehe. Okay, also du, ich und das alte Handy von deinem Bruder gehen da jetzt rauf, und dann gibst du mir Papa ganz einfach mal ans Telefon, und dann schau’n wir mal. Okay?«

»Ich weiß nich’. Das ist keine gute Idee.«

»Doch, vertrau mir. Ich mach das schon. Irgendwann musst du ja doch nach oben, und da ist es doch besser, wenn ich mitkomme, oder?«

»Da hast du recht.«

»Na, siehste. Los, in welchem Stockwerk wohnt ihr?«

»Vier.«

»Okay. Nimm mal nicht den Fahrstuhl.«

»Wiesoo?«

»Weil es sein kann, dass wir im Fahrstuhl die Handyverbindung verlieren, und das wollen wir ja nicht. Außerdem macht es sich vielleicht ganz gut, wenn du ein bisschen außer Atem bist, wenn du gleich vor Papa stehst.«

»Aha.«

»Gut, sind wir unterwegs?«

»Ja.«

»Prima. Ich hatte übrigens auch mal eine Schildkröte, als ich klein war.«

»Ehrlich?«

»Ja!«

»Was für eine?«

»Eine Amerikanische Schnappschildkröte!«

»Echt?«

»Echt!«

»Ui!«

»Ja, ui. Das kannst du laut sagen. Sah aus wie ’n Dinosaurier. Starker Typ, sag ich dir!«

»Ich bin da.«

»Prima. Klingel.«

»Ich kann nich’. Ich hab Angst.«

»Ach was. Na komm.«

»Ich hab so ’ne Angst! Der verhaut mich ganz bestimmt!«

»Macht er nich’! Ich red mit ihm, vertrau mir. Ich kann so was ganz prima. Wirklich. Wir kriegen das schon hin, versprochen.«

»Versprochen?«

»Versprochen!«

DING-DONG.

»Wenn er aufmacht, sagst du ganz lieb: ›Hallo, Papa, da möchte jemand mit dir sprechen‹, und drückst ihm sofort das Telefon in die Hand, okay?!«

»Okay!«

DING … »Hallo, Papa, da möchte jemand mit dir sprechen …« DONG.

»Yldiz, gute Abend, wer da?«

»Guten Abend, Herr Yldiz. Nicht erschrecken, die Berliner Polizei. Gutenrath ist mein Name.«

»Bollisei?!«

»Ja, Polizei, aber nicht erschrecken, es ist alles in Ordnung. Ich habe gerade mit Melek telefoniert …«

»Mit Melek?!«

»Ja, mit Melek, und ich war erstaunt, was für ein intelligentes und aufgewecktes Mädchen sie ist. Ich habe zum Beispiel gerade etwas von ihr über Schildkröten gelernt. Sie können wirklich stolz sein auf Ihre Tochter!«

»Melek, hast du gemacht Papa stolz, sagt Bollisei! Melek?«

»Ja, sehr stolz sogar. Ich denke, Melek ist ein ganz tolles Mädchen. Und die kriegt bestimmt mal einen ganz tollen Beruf. Tierarzt vielleicht sogar oder so etwas.«

»Ahhh? Melek?«

»Könnt ich mir vorstellen. Aber ganz kurz mal etwas anderes: Melek wird Ihnen gleich ihr Zeugnis zeigen, das gar nicht mal so schlecht ist, wie ich finde. Ich glaube, meine Kinder haben kein so gutes Zeugnis. Aber Melek meint, dass ihr Papa vielleicht nicht zufrieden ist. Deshalb hat sie mich nämlich angerufen. Weil sie ein bisschen Angst hat. Aber ich habe zu ihr gesagt: Du brauchst keine Angst zu haben. Papa hat dich lieb, sonst hätte er dich nicht Engel genannt. Und außerdem brauchen kleine Mädchen niemals Angst vor ihrem Papa zu haben, habe ich zu ihr gesagt. Das stimmt doch, Herr Yldiz, oder?«

»Melek is’ meine Engel, keine Angst vor Papa nix, nein!«

»Sehen Sie, das wusste ich doch. Und was Zensuren angeht, möchte ich Ihnen noch Folgendes sagen: Ich bin Polizeioffizier, und in meinem letzten Schulzeugnis hatte ich in Mathematik eine Fünf. Damit will ich sagen, dass Zensuren wichtig sind, aber es gibt viel Wichtigeres. Zum Beispiel Persönlichkeit. Und das ist Ihre Tochter. Eine wunderbare kleine Persönlichkeit! So, jetzt muss ich weiterarbeiten, aber es war mir eine Freude, mit Melek zu telefonieren. Und mit Ihnen auch.«

»Anne, Offizier sagt, Melek wunderbare Persönlichkeit!«

»Ja, genau. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Herr Yldiz. Auf Wiederhören, und darf ich noch einmal kurz mit Melek sprechen?«

»Eine schöne Abend, Herr Offizier, auf Wiederhören! Meelek …«

»Jaa?«

»So, Momo, ich denke, alles ist gut. Papa ist in guter Stimmung, schätze ich. Zeig ihm jetzt demnächst das Zeugnis und dann ab auf dein Zimmer. Und nimm dein Handy mit. Falls irgendwas schiefgeht, rufst du mich wieder an. Es kann sein, dass dann ein anderer Polizist rangeht, aber das ist egal. Du sagst deutlich deine Adresse, deinen Namen und dass Papa dich schlimm verhaut, dann sind wir ganz schnell bei dir. Aber ich glaube nicht, dass der Papa so ist. Alles okay?!«

»Alles okay!«

»Prima. So, und jetzt sprichst du mir nach, was ich sage, und dann legst du auf, kriegst du das hin?«

»Ja!«

»Danke, es war mir auch eine Freude, mit Ihnen zu telefonieren, Herr Polizist.«

Sie wiederholt den Satz glasklar, flüstert dann ganz leise »Daaanke«, und mein 110-Nachbar wird an meinem Chef abprallen, daran glaube ich fest!

Einbruch gegenwärtig

»Bitte kommen Sie schnell, ichglaube, da ist jemand im Haus«, flüstert sie zittrig, und es schwingt Panik mit.

Eigentlich läuft es fast immer nach demselben Muster. Weil der Ausgang aber jedes Mal offen ist, schlimmer noch, zum Teil in meiner Hand liegt, kostet es Nerven. Mein Hauptaugenmerk liegt dabei gar nicht mal, wie man vermuten könnte, auf der Ergreifung des Täters oder der Minimierung des Sachschadens beziehungsweise anderem materiellem Krempel. Nein. Ich versuche mir vorzustellen und vor allem zu vereiteln, dass Täter und Opfer aufeinandertreffen. Denn dabei kann es Schäden geben, die mit Geld nicht mehr zu beheben sind.

»Mein Gott, ich höre Schritte! Ich hab so eine Angst, was mach ich denn jetzt?«, flüstert sie weiter und wird immer leiser.

»Genau das, was ich Ihnen sage, dann schaffen wir das schon zusammen. Verlassen Sie sich auf mich«, versuche ich ruhig auf sie einzuwirken. Klappt aber nicht. Klappt überhaupt nicht! Sie ist drauf und dran auszuflippen. Ihre Atmung wird unregelmäßig, und ich hab Schiss, dass sie mir abklappt. Deshalb frage ich sofort und schnörkellos Adresse und Namen ab, bevor es vielleicht zu spät ist. Aus welchem Grund auch immer. Sie bringt es raus. Allerdings so flach, dass ich mir beim Zuhören die Mickymäuse auf die Ohren pressen muss und die Augen zusammenkneife. Ich feuere los, was die Kapazitäten hergeben. Funkwagen, was Ziviles, eine ganze Gruppenstreife, die das Haus notfalls vielleicht sogar umstellen könnte, und dann noch einen Krankenwagen. Nicht nur, weil ich denke, sie könnte vielleicht einen Herzkasper kriegen, sondern weil ich irgendwie ein flaues Gefühl in der Magengegend habe. Gar nicht gut. Normalerweise mache ich mir kurz Gedanken, ob und wie ich das ganze Buffet auffahren lasse. Diesmal nicht.