1933 Der Zerfall der Demokratie - Andreas Heuer - E-Book

1933 Der Zerfall der Demokratie E-Book

Andreas Heuer

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Beschreibung

Die Geschichte bezieht sich auf das Jahr 1933. Anhand von sieben Personen – Moller van den Bruck, Hermann Heller, Carl Schmitt, Gottfried Benn, Martin Heidegger, Karl Löwith und Friedrich Meinecke – wird aus der Perspektive der Person und des jeweiligen Jahres der Bruch des Jahres 1933 in Deutschland in den Bick genommen.Die Einbindung in die persönlichen und intellektuellen Geschichten, die in realen und fiktiven Treffen, Gesprächen, Bezugnahmen der Protagonisten rekonstruiert werden, ermöglicht eine unmittelbare Teilnahme an den damaligen Auseinandersetzungen.

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Andreas Heuer

1933 Der Zerfall der Demokratie

Moeller van den Bruck. Hermann Heller. Carl Schmitt. Gottfried Benn. Martin Heidegger. Karl Löwith. Friedrich Meinecke.

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1933 Der Zerfall der Demokratie. Moeller van den Bruck-Hermann Heller-Carl Schmitt-Gottfried Benn-Martin Heidegger-Karl Löwith-Friedrich Meinecke

1918: Einblicke, Ausblicke

1923: Moeller van den Bruck: Das Dritte Reich

1931: Hermann Heller: Der Demokrat

1932: Carl Schmitt: Der Übergang

1933: Gottfried Benn: Der Fall

1934: Martin Heidegger: Philosophie statt Politik

1941: Karl Löwith: Betrachtungen aus dem Exil

1945: Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe I

Anhang

Impressum neobooks

1933 Der Zerfall der Demokratie. Moeller van den Bruck-Hermann Heller-Carl Schmitt-Gottfried Benn-Martin Heidegger-Karl Löwith-Friedrich Meinecke

Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler einer neuen Regierung ernannt. Dieser Tag markiert, so wissen wir heute, eine tiefe Zäsur in der deutschen und europäischen Geschichte. Es war der Beginn der nationalsozialistischen Diktatur, die in zwölf Jahren das Gesicht Europas radikal veränderte. Der Blick zurück ist durch den Zeitabstand und das Wissen um die Folgen geprägt. Doch wie wurden damals die politischen Veränderungen wahrgenommen? Wurde der 30. Januar 1933 als Schicksalstag empfunden? Was war die Reaktion von Intellektuellen, die sich intensiver mit diesen Entwicklungen auseinandersetzten?

In den Tagen vor dem 30. Januar 1933 war in der veröffentlichten Meinung in Deutschland kaum die Rede von einer Reichskanzlerschaft Hitlers. Es wurde über eine Regierungsbeteiligung Hitlers spekuliert, so etwa in der in Berlin erscheinenden Vossischen Zeitung, die das liberale Bürgertum repräsentierte. Am 27. März erschien eine Morgen- und eine Abendaussage. In der Morgenausgabe stand unter großen Buchstaben: „Wieder Kanzlersturz?“ „Die Reichsregierung hat gestern erklären lassen, ein in Berlin umlaufendes Gerücht, das Kabinett Schleicher sei zurückgetreten und Herr von Papen vom Reichspräsidenten zum Kanzler ernannt, entspreche nicht den Tatsachen und sei vollkommen aus der Luft gegriffen […] Hitler soll verzichten. Denn darum ist es in den Verhandlungen zwischen den Nationalsozialisten und den Deutschnationalen während der letzten Tage gegangen: ob Hitler so weit umzustimmen ist, dass er auf die Führung der Regierung verzichtet, den Anspruch fallen lässt, den er am 13. August vorigen Jahres bei den Verhandlungen über die Kabinettsbildung, dann im November und jüngst erst nach den lippeschen Wahlen geltend gemacht hat, und ob er sich jetzt einverstanden erklärt, dass zwei Mitglieder seiner Partei sich an einem Kabinett Papen beteiligen. Es ist gestern abend behauptet worden, Hitler sei bereits in Berlin und hätte unter dem Zureden von Göring das gutgeheißen, was er am 13. August so schroff abgelehnt hat: die Beteiligung an einem Kabinett Papen.“ In der Abendausgabe war zu lesen: „Papen mit Hitler? Zum Regierungssturz vereint. […] Hitler ist offenbar auch jetzt noch für den Reichspräsidenten kein möglicher Kandidat, obwohl sehr hart auf Hindenburg eingewirkt wird, um ihn zu einer anderen Auffassung zu bekehren. Im Vordergrund steht Franz von Papen, den der Reichspräsident vor zwei Monaten nur ungern hat ziehen lassen, dem noch immer sein ganzes Vertrauen gehört, den er während der letzten Wochen häufig empfangen hat, und dessen sich die Deutschnationalen und Nationalsozialisten als einflussreichen Mittlers bedient haben. In der Umgebung des Reichspräsidenten zweifelt man auch nicht daran, dass nach einem Rücktritt Schleichers, der vom Reichspräsidenten angenommen werden würde, Franz von Papen mit der Neubildung der Regierung betraut werden wird.“

Es wurde über einen Sturz der Schleicher-Regierung, eine neue Regierung unter Papen oder über eine Vertagung der Reichstagssitzung spekuliert, aber nicht darüber, dass Hitler zum Reichskanzler ernannt werden könnte. In einigen Provinzzeitungen war in der Berichterstattung vom 30. Januar noch gar nicht die Rede von Hitlers Kanzlerschaft. In den Fehrbelliner Nachrichten, einer kleinen Lokalzeitung aus der Gemeinde Fehrbellin 60 Kilometer nordwestlich von Berlin gelegen, war an diesem Tag zu lesen: „Der frühere Reichskanzler von Papen, der vom Reichspräsidenten den Auftrag erhalten hat, festzustellen, welche Möglichkeiten für eine Regierungsbildung bestehen, hat zuerst mehrfach mit den Nationalsozialisten, sowie – auf indirektem Wege – auch mit dem Zentrum Fühlung genommen. Aus der Umgebung Papens verlautet, dass das Ziel ein nicht an Parteien gebundenes, also ‚präsidiales oder autoritäres‘ Kabinett sei, das aber von den Nationalsozialisten toleriert werde. Das würde eine Wiederholung des alten Papen Kabinetts bedeuten.“

Völlig überrascht berichtete die Vossische Zeitung in ihrer Ausgabe am 30. Januar: „Der Sprung – Hindenburg hat Hitler ernannt. Was hat sich seit dem 13. August und dem 24. November geändert? Welche Garantien bestehen, dass der nationalsozialistische Führer die Macht, die ihm übertragen worden ist, nur im Rahmen der Verfassung und auf dem Boden der Verfassung ausüben wird? […] Die Hauptverantwortung trägt vor der Geschichte der Reichspräsident Hindenburg, dessen Wiederwahl den Willen des Volkes zum Ausdruck brachte, einen Sachwalter der Gesamtheit auf den entscheidenden Posten zu stellen, einen Mann der Versöhnung, des inneren Friedens, des gleichen Rechts und der gleichen Pflicht.“

Joseph Goebbels, der wenige Tage nach der Machtübertragung an Hitler am 13. März zum Minister des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda ernannt wurde, schrieb am 30. Januar in sein Tagebuch: „Es ist wie ein Traum. Die Wilhelmstraße gehört uns.“ Viktor Klemperer, Professor für Romanistik an der Technischen Hochschule Dresden, der zwei Jahre später nach Inkrafttreten des Reichsbürgergesetzes, das die deutsche Bevölkerung in Reichsbürger, Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes einerseits und andererseits in einfache Staatsangehörige, Angehörige rassefremden Volkstums einteilte, als Geltungsjude in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde, notierte Freitag abends am 10. März über den 30. Januar 1933 in sein Tagebuch: „Hitler Kanzler. Was ich zum Wahlsonntag 5.3. Terror nannte, war mildes Prélude. Jetzt wiederholt sich haargenau, nur mit anderen Vorzeichen, mit Hakenkreuz, die Sache von 1918. Wieder ist es erstaunlich, wie wehrlos alles zusammenbricht.“ Klemperer beobachtet die „wilden Verbote und Gewaltsamkeiten“ und ist erschüttert über die politischen Entwicklungen.

Für das liberale Bürgertum war die Ernennung Hitlers zum Reichspräsidenten keine Selbstverständlichkeit. Die Berliner Morgenpost war seinerzeit die größte Zeitung Deutschlands und galt als bürgerlich-liberales Blatt der NSDAP gegenüber im Allgemeinen und Adolf Hitler im Besonderen sehr kritisch eingestellt. Am 31. März kommentierte die Zeitung unter der Überschrift „Kühle Ruhe“ die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler: „[…] Das deutsche Volk ist sich bewusst, was es von dieser Tatsache zu halten hat. Es wird, soweit es im gegnerischen Lager steht, darüber nicht die Nerven verlieren. Die neuen Bundesgenossen, die nun am Ziele sind, mögen Grund haben, Siegesfeiern zu halten. Darüber werden diejenigen, die auf der anderen Seite stehen, nicht in Erregung geraten. Man könnte nur fragen, warum man der politischen Kombination, die sich jetzt unter der Führung Hitlers zusammengefunden hat, nicht schon im November die Macht übergab, warum man damals Hitlers Bedingungen für die Amtsübernahme stellte, von denen jetzt offenbar nicht mehr die Rede gewesen ist, obgleich die Dinge heute nicht anders liegen als damals.“

Für viele Deutsche aber war der 30. Januar 1933 ein Tag nationaler Hoffnung. Luise Solmitz, einer gutbürgerlichen Kaufmannsfamilie aus Hamburg abstammend, war vor ihrer Ehe als Volksschullehrerin tätig. Genug lebenserfahren, sie war 1933 44 Jahre alt, vertraute sie ihrem Tagebuch an: „Und was für ein Kabinett. Wie wir es im Juli nicht zu erträumen wagten Hitler, Hugenberg, Seldte, Papen!!! An jedem hängt ein großes Stück meiner deutschen Hoffnung. Nationalsozialistischer Schwung, deutschnationale Vernunft, der unpolitische Stahlhelm u. der von uns unvergessene Papen […] Riesiger Fackelzug von Hindenburg u. Hitler durch Nationalsozialisten und Stahlhelm, die endlich, endlich wieder miteinander gehen. Das ist ein denkwürdiger 30. Januar.“

Die Philosophin Hannah Arendt, die als Jüdin Deutschland verlassen musste und 1949 erstmals wieder nach Deutschland gekommen war, hatte als unmittelbar Betroffene 1964 in ihrem berühmten Gespräch mit Günter Gaus gesagt: “Meine Überlegung seit 45 ist folgende gewesen: „Was immer 33 geschehen ist, ist angesichts dessen, was dann kam, unerheblich.“ Eine solche Feststellung einer Betroffenen, die zugleich eine der bedeutendsten Theoretikerinnen des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts ist, kann nicht übergangen werden. Das Jahr 1933 hat, wie jede Gegenwart, eine Berechtigung, aus sich heraus verstanden zu werden. Hannah Arendt war der Überzeugung, dass das Jahr 1933 zwar einen Einschnitt markierte, aber es nicht abzusehen war, welche Katastrophen sich daraus ergeben würden.

Wie wurden die politischen Entwicklungen vor, während und nach 1933 von namhaften deutschen Intellektuellen verfolgt? Welche Einschätzungen nahmen sie vor? Was haben sie beobachtet? Sieben Persönlichkeiten werden zu Wort kommen, die aus unterschiedlichen Bereichen diese Zeit aufmerksam verfolgt haben: Moeller van den Bruck, Hermann Heller, Carl Schmitt, Gottfried Benn, Martin Heidegger, Karl Löwith und Friedrich Meinecke. Sie haben sich in Schriften, Tagebüchern und Briefen über den oder die anderen und die politischen Geschehnisse geäußert und aus der Rekonstruktion ergeben sich tiefe Einblicke in ihre zeitgeschichtlichen Deutungen. Einige haben sich in ihrer Expertise für tiefgründiger und weitdenkender als die der politischen Akteure gehalten, und einige wären gern deren Wort- und Wegführer gewesen. Andere haben die Gefahren des Faschismus frühzeitig erkannt oder im Augenblick der Gefahr für die Demokratie ihr Wort erhoben.

Demokratie muss von Tag zu Tag bekräftigt werden. Kritik gehört zum Wesenskern dieser Staatsform. Doch allzu leicht ergibt sich aus der Kritik ein Angriff auf die Fundamente liberaler Grundwerte. Populismus und Fundamentalopposition sind keine Alleinstellungsmerkmale der 1930er Jahre. Der Blick zurück verdeutlicht, dass auch Intellektuelle dem Zeitgeist verfallen können, wenn sie Alternativen für denkbar halten, die grundlegende Rechte für alle Menschen in Frage stellen.

Die Protagonisten – einzige Ausnahme ist Moeller van den Bruck - haben vorschauend, während des Jahres 1933, nach der Machtübertragung an Hitler, am Beginn der Zweiten Weltkrieges in Europa und kurz nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft über den Nationalsozialismus nachgedacht und zu den politischen Entwicklungen Stellung bezogen.

Ihre Denkwege haben sich gekreuzt, oft aus der Entfernung, im Kern ging es ihnen um die gleiche Sache: Hitler und das Jahr 1933. Während die Geschichtswissenschaft diese Vergangenheit aus der nachschauenden Betrachtung und dem jeweiligen gegenwärtigen Erfahrungshorizont befragt und analysiert, lassen uns die Protagonisten unmittelbar an den Zeitereignissen teilnehmen. Hierdurch wird eine Offenheit zurückgewonnen, die für gegenwärtige Entwicklungen aufschlussreich ist. Fragen nach dem Wert der liberalen Demokratie, der Bedeutung von Parteien, die Hinwendung zu Bewegungen und populistischen Führerpersönlichkeiten sind wieder aktuell. Der historische Kontext ist ein anderer, die Systematik der Argumente nicht.

Das Leben unserer Protagonisten hat sich bis auf Moeller van den Bruck, der bereits 1925 aus dem Leben schied, in den Krisenjahren der Weimarer Republik von 1930 – 33 und danach gekreuzt.

Moeller van den Bruck hat mit seinem 1923 veröffentlichten Bucht „Das dritte Reich“ den Namen für die Diktatur der Nationalsozialisten geliefert und in seiner Kritik an der Weimarer Demokratie wesentliche Argumente hervorgebracht, die von den Rechtskonservativen und Nationalsozialisten gegen Demokratie und Parteienstaat angeführt worden sind. Persönlich ist er den anderen Protagonisten nie begegnet.

Die intensivste persönliche Beziehung zwischen den Protagonisten gab es zwischen Martin Heidegger und Karl Löwith, einem Schüler von Martin Heidegger. Löwith hatte bei Heidegger studiert und seine Promotion bei ihm abgelegt. Sie haben sich in den 1920er Jahren häufiger privat besucht. Die anderen Protagonisten sind sich persönlich kaum begegnet. Hermann Heller und Carl Schmitt standen sich während der Verhandlungen vor dem Leipziger Reichsgerichtshof 1932 als Vertreter des Reichs (Carl Schmitt) und Preußens (Hermann Heller) gegenüber. Zu einem Treffen zwischen Martin Heidegger und Carl Schmitt ist es nur einmal anlässlich eines gemeinsamen Aufenthaltes in Berlin 1933 gekommen. Zwischen Friedrich Meinecke und den anderen Protagonisten gab es keine direkten, persönlichen Kontakte.

Ineinander verwoben sind die intellektuellen Auseinandersetzungen der Protagonisten in ihren Schriften. Hermann Heller hat sich immer wieder mit Carl Schmitt auseinandergesetzt, Karl Löwith führte nicht nur bis 1933 einen intensiven Briefaustausch mit Martin Heidegger, sondern hat nach 1933 in verschiedenen Schriften kritisch die philosophischen und politischen Positionen seines ehemaligen Lehrers begleitet. Carl Schmitt hat Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson“ in einem eigenen Artikel 1926 erläutert. Zudem gibt es in Tagebüchern und Briefen Verweise auf die jeweils angesprochenen Protagonisten. Hieraus lassen sich Rückschlüsse über die Sichtweisen der Protagonisten untereinander ziehen.

Während Moeller van den Bruck grundsätzliche Argumente der Rechtskonservativen prägt, zeichnen sich die anderen Protagonisten dadurch aus, dass sie sich vor, während und nach 1933 unmittelbar auf die politischen Ereignisse des Jahres 1933 beziehen. Ihr Denken und ihre Positionen in der politischen Auseinandersetzung werden nicht von der nachschauenden Betrachtung, sondern aus den jeweiligen unmittelbaren Zeitumständen rekonstruiert, wie sie die Protagonisten wahrgenommen haben.

Moller van den Bruck (1875 – 1925) wird in Solingen geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg engagiert er sich in rechtskonservativen Kreisen wie dem Juni-Club. Er wird zu einem Wegbereiter der Konservativen Revolution, einer Ideologie, die die Weimarer Republik, den Liberalismus und die parlamentarische Demokratie angreift und sich für einen starken Nationalismus ausspricht. Seine Ideen verbreitet er unter anderem in dem Publikationsorgan des Juni-Clubs, der Wochenzeitschrift „Das Gewissen“, in dem er zahlreiche Artikel veröffentlicht. 1923 erscheint sein Buch „Das dritte Reich“, in dem er die Weimarer Republik kritisiert und über das zukünftige Dritte Reich nachdenkt.

Hermann Heller (1891 – 1933) wird in Teschen geboren und entstammt einer alten ansässigen jüdischen Familie. Bis zu einem Tod ist Hermann Heller einer der wichtigsten deutschen Staatsrechtler, der sich seit 1919 bis zum Ende der Weimarer Republik ohne Vorbehalte hinter die demokratischen Errungenschaften der ersten deutschen Demokratie stellt. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten kehrt Heller nach einem Aufenthalt in England nicht mehr nach Deutschland zurück. Er nimmt eine Gastprofessur an der Universität Madrid an. Hermann Heller stirbt am 5. November 1933 in Madrid an den Folgen eines Herzleidens, das er sich während der Ersten Weltkrieges zugezogen hat.

Carl Schmitt (1888 – 1985) wird in Plettenberg geboren. Während der Weimarer Republik entwickelt er sich zu einem systematischen Kritiker der Weimarer Demokratie, ohne direkt für den Nationalsozialismus einzutreten. In den Jahren 1933 – 1936 unterstützt er in verschiedenen Schriften Hitler und das neue System. Nach dem Zweiten Weltkrieg zieht sich Schmitt nach einer längeren Inhaftierung in seinen Heimatort Plettenberg zurück, öffentliche Ämter darf er nicht mehr ausüben. Er veröffentlicht bis in die 1970er Jahre Schriften über das europäische Völkerrecht, die neue Kriegsführung in den Guerillakriegen und eine Vertiefung seiner Politischen Theologie. National bleibt Schmitt wegen seiner Haltung während des Dritten Reiches, mit der er sich öffentlich nicht auseinandergesetzt hat, umstritten, international gilt Schmitt unter einigen Politikwissenschaftlern, Staatsrechtlern und Soziologen als einer der bedeutendsten politischen Theoretiker des 20. Jahrhunderts.

Gottfried Benn (1886 – 1956) wird in Mansfeld geboren. Er ist praktizierender Arzt und Lyriker und gilt als einer der großen deutschen Lyriker des 20. Jahrhunderts. In den letzten Jahren der Weimarer Republik öffnet er sich rechtem Gedankengut, ohne dem Nationalsozialismus mit offenen Sympathien entgegenzutreten. 1932 wird er in die Preußische Akademie der Künste gewählt. In der Außenwahrnehmung steht Benn auf dem Höhepunkt seines bisherigen Schaffens. 1933 setzt er sich öffentlich und publizistisch für das Dritte Reich ein. Ab 1934 beginnt er seine innere Emigration. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhält Benn zahlreiche Auszeichnungen für sein schriftstellerisches Werk. Nach einem Krebsleiden, das kurz vor seinen Tod diagnostiziert wird, stirbt Benn am 7. Juli 1956 in Berlin.

Martin Heidegger (1889 – 1976) wird in Meßkirch geboren. Heidegger steigt bereits in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zu einem der einflussreichsten Philosophen unter der akademischen Jugend, auf und gilt heute, trotz seiner Verstrickungen in den Nationalsozialismus, als einer der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Anfang der 1930er Jahre lässt er erste Sympathien für Hitler erkennen, dem er Mut zum Handeln nachsagt. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten setzt sich Heidegger öffentlich für das neue Regime ein. Er erkennt in dem Machtwechsel eine Zeitenwende. Im April wird er Rektor der Freiburger Universität, am 1. Mai tritt er der NSDAP bei. In seiner Rektoratsrede „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ stellt er sich hinter die neue Regierung. Er fordert eine Neuorganisation der deutschen Universitäten nach dem Führerprinzip. 1934 tritt er von seinem Rektoratsposten zurück, behält aber seinen Lehrstuhl für Philosophie. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhält Heidegger zunächst Lehrverbot. Nach seiner offiziellen Emeritierung erhält er 1951 seine Rechte als Professor zurück. Heidegger beginnt wieder mit einer Vorlesungstätigkeit und Gastvorträgen. Bis zu seinem Tod setzt sich Heidegger politisch nicht mit seinen Verstrickungen in den Nationalsozialismus auseinander.

Karl Löwith (1897 – 1973) wird in München geboren. Er ist unter den bedeutenden deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts der Einzige, der in drei Kontinenten (Europa, Asien, USA) gelehrt hat. Als Schüler von Heidegger wird er zu einem der wichtigsten Kritiker seines Lehrers. Als eine der wichtigsten Ursachen des Nationalsozialismus deutet Löwith den Einfluss des Nihilismus, den er auf Nietzsche bezieht, ohne Nietzsche Motive zu unterstellen, die ihn in einen direkten Bezug zum Nationalsozialismus stellen könnten. Nach dem Wintersemester 1933/34 geht er als Rockefeller-Stipendiat nach Rom, wo ihm im April 1935 zuerst der Lehrauftrag in Marburg entzogen wird, bevor im Oktober die offizielle Amtsenthebung aufgrund des Reichsbürgergesetzes erfolgt. Sein Stipendium in Italien wird zwar um ein weiteres Jahr verlängert, aber er erhält keine feste Anstellung. Auf Vermittlung des japanischen Philosophen Kuki Shuzo, der in den 1920er Jahren in Marburg studiert hatte und zwischenzeitlich einer Professur an der Universität Kyōto inne hatte, wird Löwith 1936 als Professor an die japanische Kaiserliche Universität Tōhoku in das 350 nördlich von Tokio gelegene Sendai berufen. Anfang 1941 verlässt er Japan, um eine neue Stellung in den USA am Theologischen Seminar von Hartfort, Conneticut, anzutreten. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhält er 1952 einen Ruf an die Universität Heidelberg, an der bis zu seiner Emeritierung 1964 lehrt. Das Verhältnis zu seinem ehemaligen Lehrer Heidegger nimmt Löwith wieder auf, es bleibt aber distanziert. Löwith stirbt am 26. Mai 1973 in Heidelberg.

Friedrich Meinecke (1862 – 1954) wird in Salzwedel geboren. Er begründet die nach ihm benannte Ideengeschichte. Bis zu seiner Emeritierung 1932 gilt er als wichtigster Historiker seiner Zeit in Deutschland. Meinecke begründet die nach ihm benannte Ideengeschichte, die davon ausgeht, dass bestimmte Ideen prägenden Einfluss auf die Geschichte in ihrer jeweiligen Epoche haben. Sein historisches Wirken und seinen Einfluss in der Geschichtswissenschaft zeigen sich in zahlreichen Veröffentlichungen und Tätigkeiten. Seine drei Hauptwerke „Weltbürgertum und Nationalstaat“ (1908), „Die Idee der Staatsräson“ (1924) und „Die Entstehung des Historismus“ (1936) kreisen um Fragen der Entstehung des deutschen Nationalstaates, der Bedeutung des modernen Staates und dem Konflikt zwischen der Aufklärung und der modernen historischen Denkweise. Nach seiner Emeritierung 1932 zieht sich Meinecke aus allen öffentlichen Ämtern zurück. 1935 wird er aus der Redaktion der Historischen Zeitschrift ausgeschlossen. Meinecke setzt seine historischen Studien über die Entstehung des Historismus fort. In seinem umfangreichen Briefwechsel kommentiert er die Entwicklungen in Deutschland kritisch. Bis zu seiner Flucht im März 1945 lebt er in seinem Haus in Berlin-Dahlem. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt er nach Berlin zurück. Auch aufgrund seiner Haltung gegen die Nationalsozialisten 1932 und 1933 wird er 1948 zum Ehren-Rektor der im gleichen Jahr neu gegründeten Freien Universität Berlin ernannt. Er stirbt 1954 in Berlin.

1918: Einblicke, Ausblicke

Alles Wissen, alles Gelesene, Gehörte, Gesehene verflüchtigt sich, wenn es aus dem Rahmen einer imaginierten Geschichte befreit wird. Wie Schneeflocken, die frei durch die Lüfte schweben und auch auf dem Grund keinen Halt finden, sondern in ihm versickern, zerrinnen die konstruierten Geschichten, sie lösen sich auf und entbinden sich aus den vorgegebenen Setzungen einseitiger Sinnstiftungen. Die Vergangenheit hält keine Geschichte bereit, die sich so und nur so ereignet hätte. Alles Erzählen ist Auslese aus Verwebungen, in die der Erzählende wie in ein Spinnennetz eingebunden ist. Der Versuch der Befreiung ist mühsam, ohne dass jener Punkt erreicht werden könnte, an dem Alles verstehbar wird, so dass sich aus einer Geschichte die Geschichte formen würde. Erzählen ist Beschränkung. Es ist der Versuch der Entzifferung aus dem Horizont der jeweiligen Gegenwart.

Der Erste Weltkrieg war nur das äußere, sichtbare Zeichen für den Zusammenbruch des Alten, das Ende des Krieges in Deutschland nur der logische Schlusspunkt einer sich abzeichnenden Niederlage, die lange vor dem Krieg eingesetzt hatte. Der Untergang des Habsburger Reiches, Japans Festigung als neue Kolonialmacht, Chinas Übergang in eine Republik, die den ausländischen Mächten und inländischen Konflikten ausgeliefert war, Unzufriedenheit in den afrikanischen und asiatischen Kolonien, Amerikas Rückkehr in die außenpolitische Isolation – die Welt ging unruhig aus dem Krieg hervor.

In Deutschland! Das Ende der Monarchie und des Bismarck’schen Obrigkeitsstaates leiteten den Bruch mit der alten Ordnung ein. Freuds Entdeckung des Unbewussten, Bubers und Rosenzweigs Neuübertragungen des Alten Testaments, Wittgensteins Erkenntnis der Grenzen der Sprache – Neues brach unter der Kruste des Alten hervor, ohne einen Pfad zu finden, der diesem Neuen Ruhe und Entfaltung ermöglichte. Oswald Spengler, der sein Werk „Untergang des Abendlandes“ vor Kriegsbeginn abgeschlossen, aber während des Krieges nochmals redigiert hatte, sah in dem Krieg das Zeichen eines endgültigen Niedergangs der abendländischen Kultur, die unter dem Eindruck des Krieges nur in Deutschland gedacht werden konnte: Es zeigte sich, dass diese Gedanken eben jetzt und zwar in Deutschland hervortreten mussten, dass der Krieg aber selbst noch zu den Voraussetzungen gehörte, unter welchen die letzten Züge des neuen Weltbildes bestimmt werden konnten. Die deutsche Hybris, der Weltgeist als Philosophie der gesamten Welt, entblößt sich in diesen Sinnstiftungen. Die deutsche Tiefe, in der die Welt zum Gedanken kommt. Der Expressionismus mit seiner radikalen Kritik an der bürgerlichen Lebensweise hatte bereits vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges Intellektuelle fasziniert. Die Kriegserfahrungen bestärkten das Bild eines zerfallenden Bürgertums und Szenarien einer untergehenden Welt, die durch eine neue ersetzt werden sollte.

Im Gegensatz zu diesen zivilisationskritischen Tönen proklamierten nach dem Ende des Krieges Sozialdemokraten und gemäßigte Konservative die liberale Demokratie als Antwort auf Bolschewismus und Monarchie. Ein dauerhafter gemeinsamer Boden wurde nicht gefunden.Es bahnte sich ein politisches Denken in Gegensätzen an, dass in Deutschland durchaus Tradition hatte: Kant gegen Hegel, Aufklärung gegen Romantik, Westen gegen Mitte. Thomas Mann durchlitt in dem letzten Kriegsjahr stellvertretend diese Gegensätze und stellte sich in die Tradition der deutschen Kulturnation, die der westlichen Rationalität gegenübergestellt wurde: Ich bekenne mich tief überzeugt, dass das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können, aus dem einfachen Grunde, weil es die Politik selbst nicht lieben kann, und das der vielverschriene ‚Obrigkeitsstaat’ die dem deutschen Volk angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt.

Wittgenstein philosophierte in den Kriegsgräben über die Verirrungen der Sprache. Wie einst der chinesische Philosoph Konfuzius, der in ähnlich unruhigen Zeiten auf die Frage, was er tun würde, wenn ihm der Fürst von Wei das Land zur Verwaltung übertragen würde, antwortete, dass er zuerst die Sprache in Ordnung bringen würde, dachte Wittgenstein darüber nach, wie die Sprachverwirrungen beendet werden könnten: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen... Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein. Wittgenstein war überzeugt, dass die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv ist. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen gelöst zu haben. Und wenn ich mich hierin nicht irre, so besteht nun der Wert dieser Arbeit zweitens darin, dass sie zeigt, wie wenig damit getan ist, dass diese Probleme gelöst sind. Keines der Probleme war gelöst, auch nicht die politischen Probleme, die sich aus dem Ersten Weltkrieg ergaben. Doch unter den diffusen Strömen nach neuen Ufern schienen sich Liberalismus und Demokratie in der westlichen Welt durchzusetzen. Dies galt auch für Deutschland.

Wer hätte ahnen können, was sich nur 15 Jahre später in Deutschland ereignen würde. Hatte Deutschland nicht die Versöhnung von Kulturnation und Nationalstaat mit der Etablierung der Weimarer Demokratie erreicht? Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts mit den Ideen der Bildung und des Weltbürgertums verband sich im 19. Jahrhundert, so dachte der Historiker Friedrich Meinecke in seinem Werk Weltbürgertum und Nationalstaat: Studien zur Genese des Deutschen Nationalstaates mit der Idee des Nationalstaates. Deutschland als Nationalstaat, hervorgegangen aus der Idee der Kulturnation war das Land der Bildung, der Theater und Museen, die Realisierung eines Bürgertums, das Bildung mit den Tücken machtstaatlicher Politik vereint. Friedrich Meinecke antwortete im November 1918 auf die Kriegsniederlage mit liberal-konservativer Zuversicht, die auch die meisten Sozialdemokraten teilten: Alles kommt jetzt darauf an, dass wir die neue demokratische Ordnung unseres Vaterlandes anerkennen und stützen, nicht nur mit dem Vorbehalt und auf Zeit, sondern mit der Einsicht, dass sie das notwendige und unwiderrufliche Ergebnis unserer gesamten Entwicklung und Lage ist, - und auch nicht allein mit achselzuckender, fatalistischer Einsicht, die nur zu einer resignierenden und darum gebrochenen Anerkennung des Neuen führen kann, sondern gepaart mit dem Glauben und der Zuversicht, dass diese und eben diese neuen Formen es jetzt sind, die die Lebenskraft unseres Volkes erhalten können. Jahre später, 1928, setzte sich Thomas Mann selbstkritisch mit seinen Gedanken während der Kriegszeit auseinander und plädiert als Vernunftrepublikaner für die Weimarer Demokratie. Es lag nach Thomas Mann in der inneren Konsequenz der Dinge, dass zur demokratischen Staatsform stehen, an ihre Möglichkeit und Zukunft in Deutschland nur glauben kann, wer die Wandlung der deutschen Kulturidee in weltversöhnlich-demokratische Richtung für möglich und wünschenswert hält.

Doch das gebildete Bürgertum war keine Einheit, die dieser Forderung nach Versöhnung von Nationalstaat und Demokratie nachkam. In dem heute fast vergessenen Buch Hitler’s Professors aus dem Jahr 1946 zeichnet Max Weinreich den Weg der deutschen Professorenschaft auf den Weg in den Nationalsozialismus nach. Das Bekenntnis zu Hitler begann nicht erst 1933. Der aus der Slowakei stammende und in Deutschland lehrende Physiker Philipp Lenard, Nobelpreisträger für Physik 1905, und sein deutscher Kollege Johannes Stark, Nobelpreisträger für Physik 1919, bekannten sich früh zu Hitler und dem Nationalsozialismus. Es ist die Geschichte überliefert, dass sich Philipp Lenard 1922 weigerte, den Trauertag für den ermordeten Außenminister Walther Rathenau zu respektieren. Rund um das Lenardsche Institut an der Universität Heidelberg kam es zu Ausschreitungen und zur kurzzeitigen Verhaftung des Nobelreisträgers. Nach Hitlers Verurteilung wegen des gescheiterten Putschversuches 1924 bekennen sich Lenard und Stark zu Hitler. Am 8. Mai 1924 veröffentlichen sie einen Artikel in der Grossdeutschen Zeitung unter dem Titel Hitlergeist und Wissenschaft. Die "Großdeutsche Zeitung" war der erste von mehreren Versuchen der Anhänger Hitlers, nach dem Verbot des "Völkischen Beobachters" im November 1923 einen Ersatz zu schaffen. Sie erschien zwischen dem 29. Januar und dem 22. Mai 1924 als Sprachrohr der Großdeutschen Volksgemeinschaft (GVG). In dem Artikel heißt es, dass sie als anerkannte Naturwissenschaftler in Hitler denselben Geist erkennen, der ihre Forschung bestimmt. Es sei der Geist der Klarheit, Aufrichtigkeit gegenüber der Welt und innerer Einheit, der jeden Kompromiss ablehne. Diesen Geist haben sie frühzeitig in den großen Werken von Kepler, Newton gesehen und genau diesen Geist in Hitler und Ludendorf erkannt. Später verfassten Lenard und Stark die Deutsche Physik, die 1936 erschien, in der sie sich zu dieser Auffassung bekannten: „‚Deutsche Physik?‘ wird man fragen. Ich hätte auch arische Physik oder Physik der nordisch gearteten Menschen sagen können, Physik der Wirklichkeits-Ergründer, der Wahrheits-Suchenden, Physik derjenigen, die Naturforschung begründet haben. – ‚Die Wissenschaft ist und bleibt international!‘ wird man mir einwenden wollen. Dem liegt aber immer ein Irrtum zugrunde. In Wirklichkeit ist die Wissenschaft, wie alles was Menschen hervorbringen, rassisch, blutsmäßig bedingt. Die Weltanschauung wurde als neue verbindende Kraft dem Individualismus und Universalismus entgegengesetzt. Dies war das Credo der Nationalsozialisten. Alfred Rosenberg griff darauf in seinem Mythos des 20. Jahrhunderts zurück: Die individualistische Lehre, wonach das Einzelwesen für sich bestünde, durch Zusammenfügung der Einzelnen sich Völker zum Schluss „die Menschheit“ bildeten, ist heute endgültig aus der ernsthaften Betrachtung ausgeschieden. Das Merkwürdige und die im ersten Buch ausgesprochene Behauptung aber bestätigte, dass Universalismus ein Zwillingsbruder des Individualismus ist, zeigt sich darin, dass dieser Universalismus an der gleichen Krankheit leidet wie sein scheinbarer Gegner. Beide sind intellektualistisch, d.h. naturentfremdet. In der Philosophie versteigerte sich der Herausgeber der Nietzsche-Werke, Alfred Baeumler, 1943 zu der Aussage, dass der Kampf des Führers gegen Versailles der Kampf gegen den jüdischen Mythos der Demokratie sei und Rosenberg habe diesen Kampf aufgenommen und prinzipiell zu Ende geführt.

Was war davon bereits 1918 angelegt? Wie entwickelten sich diese Ideen in den Folgejahren? Und wie deuteten Intellektuelle diese Ideen vor, während und nach 1933? Erst in der Rekonstruktion des Obszönen des sich später Verwirklichenden werden wir gewahr, dass in den völkischen Versumpfungen bereits laut das Lied vom Ende des Liberalismus gesungen wurde. Deutschland als Kulturnation! Wie konnten Intellektuelle, Professoren, Ärzte, Rechtsanwälte, Schriftsteller übersehen, welche Ziele die Nationalsozialisten verfolgten? Die Gründung von offiziellen Parteiorganisationen, wissenschaftlichen Instituten und fachwissenschaftlichen Ausrichtungen bezeugten den Geist der nationalen, nationalsozialistischen und rassistischen Ideologie vor und nach 1933:

Deutsche Physik. Eine nationalsozialistisch geprägte Lehre, die bereits in den 1920er Jahren entstand und die Besonderheit einer deutschen im Gegensatz zu einer jüdischen Physik zur Forschungsgrundlage hatte.

Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung mit Sitz in Leipzig. Gegründet 1926. Ziel: Die wissenschaftliche Unterbauung der Politik vor allem hinsichtlich der Revision des Versailler Vertrags.

Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik mit Sitz in Berlin. Gegründet 1927. Ziel: Während der Zeit des Nationalsozialismus Rechtfertigung der nationalsozialistischen Rassenpolitik.

Akademie für Deutsches Recht in München. Gegründet 1933. Ziel: Die Neugestaltung des deutschen Rechtslebens.

Institut zum Studium der Judenfrage. Gegründet 1934. Ziel: Forschungsstelle gegen das Judentum.

Reichsinstitut für die Geschichte des Neuen Deutschlands mit Sitz in Berlin. Gegründet 1935: Ziel: Erforschung der deutschen Geschichte seit der Französischen Revolution unter nationalsozialistischer Perspektive.

Universitäts-Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene Frankfurt am Main. Gegründet 1935. Ziel: Erbbiologische Forschung im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie.

Reichsstelle für Raumordnung. Gegründet 1935. Ziel: Zusammenfassende, übergeordnete Planung und Ordnung des deutschen Raumes für das gesamte Reichsgebiet

Deutsche Chemie. Ziel: Ausrichtung der Wissenschaft anhand der nationalsozialistischen Ideologie.

Deutsche Mathematik. Ziel: Entwicklung einer anschaulichen deutschen Mathematik und Ablehnung der abstrakten, jüdischen Mathematik.

Forschungsabteilung zur Judenfrage, eine Zweigstelle des Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands, an der Universität München. Gegründet 1936. Ziel: Dokumentation jüdischen Lebens unter nationalsozialistischer Ideologie.

Institut zur Erforschung der Judenfrage, eine parteipolitische Einrichtung der NSDAP. Gegründet 1939. Ziel: Fundierung der antisemitischen Politik der NSDAP.

Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben. Gegründet 1939. Ziel: Die Trennung allen Jüdischen Lebens vom kirchlichen Leben in Deutschland.

Institut für Deutsche Ostarbeit mit Sitz in Krakau. Gegründet 1940. Ziel: Rechtfertigung der deutschen Eroberungen im Osten durch die Erforschung und Darstellung deutscher Leistungen in der Vergangenheit.

Westforschung. Entsteht während des Ersten Weltkrieges. Ziel, insbesondere später während der Zeit des Nationalsozialismus: Beschäftigung mit der Geschichte und der Kultur im Osten und Nordosten Frankreichs, in der Schweiz, den Niederlanden, Belgiens und Luxemburgs sowie in den westlichen Grenzgebieten des Deutschen Reiches. Später Konzeptualisierung einzelner Regionen als einheitlichem deutschem „Grenzraum“, der vor allem im Nationalsozialismus auch als deutscher „Westraum“ oder „Westland“ bezeichnet wurde.

Unzählige Wissenschaftler dienten mit ihrer Forschung dem Nationalsozialismus. Viele dieser Geschichten verlieren sich unter dem Deckmantel der einen großen Erzählung über den Nationalsozialismus und verkennen, dass erst in der Entstrickung, der Entbindung der vielen Geschichten von der großen Erzählung der Blick auf die Dramen dieser Zeit offengelegt wird.

Es gehört auch zu diesen Geschichten, dass nicht nur in Deutschland der Krieg die Gesellschaften erschütterte. In Asien und Afrika entpuppte sich die Rede von der Demokratie als imperiale Strategie der Rechtfertigung westlicher Macht. Selbst Japan als neue Führungsmacht im Genfer Völkerbund wurde bei den Friedensverhandlungen in Versailles wie ein kleiner Schüler behandelt. Dabei feierten Intellektuelle in Asien bereits 1905 den Sieg Japans gegen Russland als den Beginn einer Zeitenwende. Der chinesische Revolutionär und Mitbegründer der Kuomintang, Sun Yat-sen, erinnerte sich 1924 rückblickend: Die Menschen dachten und glaubten, die europäische Wissenschaft sei in Wissenschaft, moderner Industrie, Manufaktur und Bewaffnung progressiv und Asien könne nichts vergleichbares vorweisen. Folglich nahmen sie an, Asien könne Europa niemals widerstehen, und die europäische Unterdrückung lasse sich niemals abschütteln. Das war das Denken, das vor dreißig Jahren herrschte. Doch der Sieg Japans über Russland habe die Völker Asiens mit neuer Hoffnung erfüllt, dass Joch der europäischen Einschnürung und Herrschaft abzuschütteln und die ihnen zustehende Stellung in Asien zurückzugewinnen. Ernüchtert von der herabwürdigenden Behandlung Chinas in Versailles, die Zurückweisung aller Forderungen nach Rückgabe, der von fremden Mächten besetzten Gebiete in China empörte sich die Jugend, die am 4. Mai 1919 in Beijing gegen die Nichtbeachtung chinesischer Interessen demonstrierte. In den afrikanischen und asiatischen Kolonien entfachte ein Feuer, das auf ganz andere Art in Europa seinen Weg durch die Versprechungen der Demokratien suchte: der Nationalismus. Aber dieser Nationalismus war nicht rückwärtsgewandt, eine Regression gegenüber Demokratie und Fortschritt, sondern der Nährboden für dessen Verwirklichung.

Die Geschichte, wie wir sie uns konstruieren, gibt es so nicht, vor allem nicht in dem großen Singular. Dies ist eine westliche Hybris des 18. Jahrhunderts, in dem sich die beiden Entdeckungen des Globus und der Geschichte zu einer verhängnisvollen Symbiose verbinden: die Welt-Geschichte. Dieses Narrativ ist dem westlichen Leser so eingängig, dass es keiner Reflexion bedarf. Die Geschichte ist so, die große Abfolge der europäischen Epochen als immer schon führende in der geschichtlichen Rekonstruktion: Antike – Mittelalter – Neuzeit. Doch außerhalb des Westens war dies nie die jeweils eigene Geschichte, die sich an ganz anderen Konstruktionen orientierte.

So stehen wir vor dem Jahr 1918 als einem Gemisch aus Eigenbetrachtung und Eingeständnis einer begrenzten Sichtweise. Geschichten vollzogen und vollziehen sich überall. Jede Geschichtserzählung blendet aus, wählt, schneidet weg, verkürzt. Sie muss sich bewusst sein, nur Teile zu erzählen. Die Rekonstruktion ist Geschichte vom Ende erzählt., dieses Ende liegt am Anfang nicht im Sinne einer notwendigen Entwicklung vor ihr. Die Spuren, die wir aufsuchen, legen offen, was sich im Verborgenen vollzog, und erst in der Rekonstruktion an Bedeutung gewinnt. Geschichte ist weder Notwendigkeit noch Zufall. Aber vor allem ist sie kein Singular.

Das Jahr 1918 erleben unsere Protagonisten ganz unterschiedliche. Moeller van den Bruck ist verstört durch die Kriegserlebnisse und zieht die Schlussfolgerung, dass nur ein neuer konservativer Nationalismus Deutschland retten kann. Er sieht in der anbrechenden Demokratie ein Übel, das überwunden werden muss. Hermann Heller erkennt in der neuen Demokratie eine Chance. 1918 blickt er mit verhaltenem Optimismus in die Zukunft. Nationale Selbstbestimmung sieht er nur in einer demokratischen Ordnung, in die die Arbeiterschaft politisch und sozial eingebunden ist. Carl Schmitt steht vor dem Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere. Als Katholik ist für ihn die neue, protestantisch geprägte Republik die Abkehr von den theologischen Wurzeln der politischen Ordnung. Autorität gibt es nicht im Gesetz, sondern nur in der Hand eines politischen Führers, der mit einer entsprechenden politischen Macht ausgestattet ist. Gottfried Benn ist seit einem Jahr niedergelassener Arzt in Berlin. Er muss sich in der neuen Republik zurechtfinden, um Beruf, schriftstellerische Tätigkeit und Familie in Einklang miteinander zu bringen. Martin Heidegger steht nach seiner Abkehr von der Theologie und der Hinwendung zur Philosophie vor einer für ihn wegweisenden Entdeckung. Aus seinem tief verwurzelten Heimatgefühl entwickelt er einen Affront gegen die moderne, technische Welt und wirft ihr samt der europäischen Philosophie seit der Antike Seinsvergessenheit vor. Philosophie kann nicht aus abstrakten Prinzipien, einer reinen Vernunft, sondern nur aus den Existenzialien wie Tod, Angst, Geworfenheit, Sorge verstanden werden. Philosophieren kann er nur in aus der Heimat. Karl Löwith ist aus italienischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Er hat trotz der Gefangenschaft eine neue Lebensart und Sprache kennengelernt. Wie viele andere, junge Intellektuelle versucht er, den Krieg nicht tagespolitisch, sondern philosophisch und geistesgeschichtlich zu deuten. Max Webers Vorlesungen helfen ihm, sich nicht in Spekulationen zu verlieren. Friedrich Meinecke ist ein gestandener Professor für Geschichte. Für ihn gibt es keinen Zweifel, dass die Folgen aus dem Krieg für Deutschland nur in einer Abwendung von der Monarchie und in einer Hinwendung zur Demokratie liegen können. Das Jahr 1933 ist für sie im Jahr 1918 undenkbar und nichts deutet auf das hin, was sich 15 Jahre später in Deutschland ereignen wird.

1923: Moeller van den Bruck: Das Dritte Reich

I

Er läuft durch die Straßen Berlins. Ein nasskalter Januartag. Der Lärm der immer zahlreicheren Autos, das Hupen, die Motorengeräusche, das Gemurmel der Masse, der graue Himmel. Berlin, die Hauptstadt des Zweiten Reiches, Bismarcks Werk, erniedrigt durch das Diktat der Siegermächte. Ein Menschengewirr, das sich taumelnd dem Abgrund der Völkerverständigung hingibt und nicht wahrnimmt, dass das Nationale unter einem falsch verstandenen Patriotismus zugrunde geht. Kurz nach dem Krieg hat er das Recht der jungen Völker, der Deutschen, Amerikaner und Russen auf Selbstbestimmung erkannt und die Machtpolitik der Engländer und Franzosen gegeißelt, denen es nur um Festigung und Ausweitung ihrer internationalen Macht geht. Im Berliner Kreis setzt er sich neben Weggefährten wie Heinrich von Gleichen, Eduard Stadtler, Martin Spahn, Max Hildebert Boehm, Heinz Brauweiler, Walther Schotte für eine nationale Erneuerung ein. 1922 gibt es ein Treffen mit Hitler. Die Primitivität Hitlers irritiert ihn. Van den Bruck spürt dennoch, dass in Hitler etwas wirkt. Er ist wie ein Medium, durch das die Idee der nationalen Erneuerung direkt zu den Hörern spricht. Van den Bruck ist überzeugt, dass die nationale Bewegung zwei Seiten braucht, eine von oben, gemäß der deutschen Tradition des Ersten Reiches, die 1000 Jahre von Kaisern, Königen und Fürsten bestimmt war und eine von unten, vom deutschen Volk.

Der falsche Patriotismus, die Idee einer Menschheit, die über den Nationen steht, verhindert die einzige wahre politische Tat: die Erhebung des Nationalen und die Wiederaufrichtung Deutschlands. Die Berichte aus Italien, die in den letzten Wochen eingegangen sind, beweisen, dass das Versailler System, die gesamte Nachkriegsordnung, der Genfer Völkerbund, der liberale Universalismus nur ein kurzes Zwischenstadium ist. Mussolini hat gezeigt, dass durch politische Führung und politischen Willen der falschen Demokratie der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Es gilt, den Nationalismus in eine fruchtbare Ideologie zu kleiden, um dem deutschen Volk den Weg in die Zukunft zu weisen.

Hierum kreisen seine Gedanken. Van den Bruck arbeitet an einem neuen Werk. Die Idee liegt ihm klar vor Augen, nur um den Titel ringt er noch: „Die dritte Partei“, „Der dritte Standpunkt – aber das klingt zu neutral. Der Titel müsste den Geist der Geschichte atmen, zum Ausdruck bringen, dass sich die Idee des Nationalen der Geschichte bemächtigt, aus der Vergangenheit emporschreitet und dabei offen in die Zukunft weist.

Er geht in den Tiergarten, um Ruhe vor dem Lärm der Stadt zu haben. Er zieht sich in seine Gedanken zurück. Seit Tagen taucht immer wieder der Name Dostojewski auf. Gemeinsam mit Dmitri Mereschkowski hat er die Werke Dostojewskis editiert. Moskau als das dritte Rom. Hier gräbt sich ein Gedanke seinen Weg. Sind die Parallelen nicht offensichtlich? Deutschland hatte ein Erstes Reich, das tausend Jahre dauerte, ein Zweites Reich unter Bismarck. Und nun? Der Abstieg und Abfall! Ein Allerweltspatriotismus, ein äffisches Nachahmen des Westens. Joachim von Fiore kommt ihm in den Sinn. Dieser Abt aus dem 12. Jahrhundert hatte den großen Blick auf die Geschichte. Moeller van den Bruck ist beeindruckt von der Fähigkeit Joachim von Fiores, Geschichte in Bildern zu denken. Die Trinität als Fundament der menschlichen Zeit: die Zeit des Vaters im Alten Testament, die Zeit des Sohnes mit dem Neuen Testament und das letzte Zeitalter des Heiligen Geistes, das Dritte Reich.

Es trifft ihn unvermittelt, überwältigt ihn, ein Zittern ergreift seinen Körper: das Dritte Reich. Jeder Gedanke, der wirken soll, braucht eine Idee und eine Sprache, die diesen Gedanken in die Köpfe der Menschen tragen. Hat er in diesem Moment genau das gefunden, wonach er seit Jahren gesucht hat? Ist es das Bild, in dem sich all sein Denken und Wirken wiederfindet? Er spürt eine Erleichterung. Sein gesamtes Denken über das Nationale bekommt einen Sinn, einen politischen Sinn. Er soll von nun an das Zentrum bilden, von dem aus über Deutschland nachgedacht werden soll.

Er will auf dem schnellsten Weg nach Hause. An seinen Schreibtisch. Die Gedanken müssen geordnet und zu Papier gebracht werden. Jetzt gibt es kein Halten mehr.