1Q84. Alle Bücher in einem E-Book - Haruki Murakami - E-Book
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1Q84. Alle Bücher in einem E-Book E-Book

Haruki Murakami

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Beschreibung

Haruki Murakamis Opus Magnum – erstmals alle Bücher in einem E-Book Buch 1&2: 1984. Beim Rendezvous mit einem reichen Ölhändler zückt Aomame eine Nadel und ersticht ihn – ein Auftragsmord, um altes Unrecht zu sühnen. Tengo ist Hobby-Schriftsteller. Er soll einen Roman der exzentrischen 17-jährigen Fukaeri überarbeiten, damit sie einen Literaturpreis bekommt. Der Text ist äußerst originell, aber schlecht geschrieben – ein riskanter Auftrag. Aomame wundert sich, warum die Nachrichten ihren Mord nicht melden. Ist sie in eine Parallelwelt geraten? Um diese Sphäre vom gewöhnlichen Leben im Jahr 1984 zu unterscheiden, gibt Aomame der neuen, unheimlichen Welt den Namen 1Q84. Buch 3: Als Tengo seinen komatösen Vater im Krankenhaus besuchen will, findet er in dessen Krankenbett eine ›Puppe aus Luft‹ vor, die ein Abbild Aomames in sich birgt. Er greift nach ihrer Hand, und eine unsichtbare Verbindung entsteht. Fortan wartet Tengo darauf, der Puppe nochmals zu begegnen, doch vergebens. War das Signal nicht stark genug, um die zwischen Leben und Tod schwankende Aomame zu retten? Unterdessen setzt eine gefährliche Sekte alles daran, um den Mord an ihrem ›Leader‹ aufzuklären. Aomames Spur wird von einem so unheimlichen wie unangenehmen Agenten aufgenommen. Er ermittelt mit tödlicher Präzision, doch schließlich bringt er mehr in Erfahrung, als gut für ihn ist.

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Seitenzahl: 1908

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Über die Bücher

1Q84

Buch 1&2:

1984. Beim Rendezvous mit einem reichen Ölhändler zückt Aomame eine Nadel und ersticht ihn – ein Auftragsmord, um altes Unrecht zu sühnen. Tengo ist Hobby-Schriftsteller. Er soll einen Roman der exzentrischen 17-jährigen Fukaeri überarbeiten, damit sie einen Literaturpreis bekommt. Der Text ist äußerst originell, aber schlecht geschrieben – ein riskanter Auftrag.

Aomame wundert sich, warum die Nachrichten ihren Mord nicht melden. Ist sie in eine Parallelwelt geraten? Um diese Sphäre vom gewöhnlichen Leben im Jahr 1984 zu unterscheiden, gibt Aomame der neuen, unheimlichen Welt den Namen 1Q84.

Buch 3:

Als Tengo seinen komatösen Vater im Krankenhaus besuchen will, findet er in dessen Krankenbett eine ›Puppe aus Luft‹ vor, die ein Abbild Aomames in sich birgt. Er greift nach ihrer Hand, und eine unsichtbare Verbindung entsteht. Fortan wartet Tengo darauf, der Puppe nochmals zu begegnen, doch vergebens. War das Signal nicht stark genug, um die zwischen Leben und Tod schwankende Aomame zu retten?

Unterdessen setzt eine gefährliche Sekte alles daran, um den Mord an ihrem ›Leader‹ aufzuklären. Aomames Spur wird von einem so unheimlichen wie unangenehmen Agenten aufgenommen. Er ermittelt mit tödlicher Präzision, doch schließlich bringt er mehr in Erfahrung, als gut für ihn ist.

Über den Autor und die Übersetzerin

© Noriko Hayashi

Haruki Murakami, 1949 in Kyoto geboren, lebte längere Zeit in den USA und in Europa und ist der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Werk erscheint in deutscher Übersetzung bei DuMont. Zuletzt erschienen die Romane ›Die Stadt und ihre ungewisse Mauer‹ (2024), ›Die Ermordung des Commendatore‹ in zwei Bänden (2018), in einer Neuübersetzung ›Die Chroniken des Aufziehvogels‹ (2020), der Erzählband ›Erste Person Singular‹ (2021), ›Murakami T‹ (2022) und ›Honigkuchen‹ (2023).

Ursula Gräfe, geboren 1956, hat in Frankfurt am Main Japanologie und Anglistik studiert. Aus dem Japanischen übersetzte sie u.a. Yukio Mishima, Hiromi Kawakami und Sayaka Murata. Für DuMont überträgt sie die Werke Haruki Murakamis ins Deutsche. 2019 erhielt sie den japanischen Noma Award for the Translation of Japanese Literature.

HARUKI MURAKAMI

1Q84

Buch 1, 2 & 3

Roman

Aus dem Japanischenvon Ursula Gräfe

Vollständige E-Book-Ausgabe der auf Deutsch im DuMont Buchverlag erschienenen Werke ›1Q84 – Buch 1&2‹ (© 2010) und ›1Q84 – Buch 3‹ (© 2011)

Die japanischen Originalausgaben erschienen 2009 unter dem Titel ›1Q84Book 1&2‹ (© 2009 by Haruki Murakami) und 2010 unter dem Titel ›1Q84Book 3‹ (© 2009 by Haruki Murakami) bei Shinchosha, Tokio.

E-Book 2024

© 2024 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Ursula Gräfe

Covergestaltung der abgebildeten Einzelromane: Zero, München

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book: 978-3-7558-1034-6

www.dumont-buchverlag.de

Buch 1

April bis Juni

KAPITEL 1

Aomame

Sich nicht vom äußeren Schein täuschen lassen

Aus dem Radio des Taxis ertönte das Klassikprogramm eines UKW-Senders. Die Sinfonietta von Janáček. Nicht eben die passendste musikalische Untermalung, um mit einem Taxi im Stau festzustecken. Der Fahrer, ein Mann mittleren Alters, schien auch nicht besonders hingebungsvoll zuzuhören. Schweigend blickte er auf die Schlange der Wagen vor ihnen, wie ein alter Fischer, der am Bug seines Schiffes steht und den gefahrvollen Übergang zwischen zwei Meeresströmungen beobachtet. Die Augen sachte geschlossen und tief in die Rückbank gelehnt, lauschte Aomame der Musik.

Wie viele Menschen gab es auf der Welt, die Janáčeks Sinfonietta sofort erkannten, kaum dass sie den Anfang hörten? Vermutlich nur sehr wenige, aber aus irgendeinem Grund gehörte Aomame dazu.

Janáček hatte seine kleine Sinfonietta im Jahr 1926 komponiert. Das Thema war ursprünglich als Fanfare für ein Sportereignis gedacht gewesen. Aomame stellte sich die Tschechoslowakei im Jahr 1926 vor. Der Erste Weltkrieg war vorüber, endlich war man von der langen Herrschaft des Hauses Habsburg befreit, man saß im Kaffeehaus, trank Pilsener Bier, produzierte Maschinengewehre und genoss den flüchtigen Frieden, der in Mitteleuropa Einzug gehalten hatte. Franz Kafka hatte sich zwei Jahre zuvor unter traurigen Umständen von der Welt verabschiedet. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis Hitler auftauchen und das schöne kleine Land mit einem gierigen Biss verschlingen würde. Doch zu jener Zeit ahnte noch niemand etwas von dem bevorstehenden Grauen. Einer der wohl wichtigsten Lehrsätze, den die Geschichte für die Menschheit bereithält, lautet: »Damals wusste noch niemand, was vor uns lag.« Die Sinfonietta im Ohr und vor ihrem inneren Auge die böhmischen Wiesen, die sich im frei und unbekümmert darüberstreichenden Wind wiegten, ließ Aomame ihre Gedanken um das Wesen der Geschichte kreisen.

In Japan starb 1926 der Taisho-Tenno, und die Showa-Zeit – die »Ära des Erleuchteten Friedens«, wie die neue Regierungsdevise lautete – brach an. Eine düstere Epoche voller Leiden nahm ihren Anfang. Modernismus und Demokratie beendeten ihr kurzes Zwischenspiel, und der Faschismus breitete sich aus.

Geschichte gehörte neben Sport zu Aomames Hauptinteressen. Romane las sie so gut wie nie, aber von historischen Darstellungen konnte sie nicht genug bekommen. An der Geschichte gefiel ihr vor allem, dass alle Ereignisse mit konkreten, exakten Jahreszahlen und Schauplätzen verbunden waren. Sich historische Daten zu merken bereitete ihr keine Schwierigkeiten. Auch wenn sie die Zahlen nicht gezielt auswendig lernte, fielen sie ihr automatisch ein, wenn sie den Gesamtzusammenhang der Ereignisse verstanden hatte. In den Geschichtsklausuren der Mittel- und Oberstufe hatte Aomame so gut wie immer die meisten Punkte in der Klasse erzielt. Sooft sie jemandem begegnete, der sich historische Daten nur schwer merken konnte, wunderte sie sich. Warum konnte jemand so etwas Einfaches nicht?

Aomame – »grüne Erbse« – war tatsächlich ihr richtiger Name. Im Ort in den Bergen von Fukushima, aus dem der Großvater ihres Vaters stammte, gab es angeblich viele, die diesen Nachnamen trugen. Sie selbst war jedoch noch nie dort gewesen. Ihr Vater hatte vor ihrer Geburt mit seiner Familie gebrochen. Ebenso ihre Mutter. Daher hatte Aomame ihre Großeltern nie kennengelernt. Sie reiste fast nie, doch wenn es sich ergab, durchsuchte sie die meist in den Hotels bereitliegenden Telefonbücher nach dem Namen Aomame. Bisher hatte sie jedoch weder in größeren noch in kleineren Städten eine einzige Person entdecken können, die ebenfalls so hieß. Und jedes Mal bekam sie das Gefühl, allein auf einem weiten Ozean dahinzutreiben.

Es war ihr immer unangenehm, sich jemandem vorstellen zu müssen. Sobald sie ihren Namen nannte, musterte ihr Gegenüber sie verwundert oder verwirrt. Aomame? Ja, man schreibt es wie »grüne Erbse«: Ao-mame. Wenn sie in einer Firma beschäftigt war und eine Visitenkarte hatte, führte das häufig zu unerfreulichen Begleitumständen. Kaum hatte sie ihre Karte überreicht, warf die andere Person ihr einen Blick zu, als habe sie unerwartet einen Brief mit einer schlechten Nachricht erhalten. Manch einer kicherte sogar, wenn sie sich am Telefon meldete. Sobald ihr Name im Wartezimmer beim Arzt oder in einem Amt aufgerufen wurde, hoben die Leute die Köpfe und starrten sie an. Wie sah wohl jemand aus, der »grüne Erbse« hieß?

Manche nannten sie auch versehentlich Edamame – »grüne Sojabohne« – oder Soramame – »Saubohne«! »Äh, nein, nicht Edamame (oder Soramame) – Aomame. Aber das ist ja ganz ähnlich«, berichtigte sie dann, und ihr Gegenüber entschuldigte sich verlegen lächelnd. »Oh, das ist aber ein seltener Name.« Wie oft hatte sie diese Worte in den dreißig Jahren ihres Lebens wohl schon zu hören bekommen? Wie viele öde Witze über ihren Namen?

Wäre ich nicht mit diesem Namen auf die Welt gekommen, dachte sie oft, hätte mein Leben vielleicht einen ganz anderen Verlauf genommen. Mit einem Allerweltsnamen wie Sato, Tanaka oder Suzuki würde ich vielleicht ein entspannteres Leben führen und die Welt mit milderen Augen sehen. Wahrscheinlich.

Aomame hielt die Augen geschlossen und lauschte der Musik. Sie ließ die wunderbare Klangfülle, die das Unisono der Bläser erzeugte, auf sich wirken. Plötzlich fiel ihr etwas auf. Eigentlich war die Tonqualität für ein Autoradio zu gut. Selbst bei der geringen Lautstärke klang die Musik tief und voll, und auch die Obertöne waren sauber hörbar. Aomame öffnete die Lider und sah nach vorn, um die in das Armaturenbrett eingelassene Stereoanlage zu begutachten. Sie war tiefschwarz und schimmerte elegant und edel. Den Namen des Herstellers konnte sie nicht erkennen, aber es war unübersehbar, dass es sich um ein teures Gerät handelte, das mit zahlreichen Reglern und einer Digitalanzeige mit grünen Ziffern ausgestattet war. Offensichtlich ein erstklassiges Fabrikat. Für einen gewöhnlichen Taxifahrer mit Lizenz war die Anlage eigentlich zu anspruchsvoll.

Aomame blickte sich noch einmal im Inneren des Wagens um. Es war ihr nicht aufgefallen, da sie ihren Gedanken nachgehangen hatte, seit sie in das Taxi gestiegen war, aber bei genauerem Hinsehen wurde ihr klar, dass es sich nicht um ein gewöhnliches Taxi handelte. Die Qualität der Ausstattung war hervorragend, die Sitze außerordentlich bequem, und besonders angenehm war die Ruhe, die sie umfing. Der Wagen schien über eine Lärmdämmung zu verfügen, sodass vom Krach draußen kaum etwas ins Innere drang. Man wähnte sich in einem schallgedämpften Studio. Vielleicht war es ja ein Privattaxi. Unter den privaten Taxifahrern gab es einige, die hinsichtlich ihrer Wagen keine Kosten scheuten. Sie hielt nach einer Taxinummer Ausschau, konnte aber keine entdecken. Andererseits sah der Wagen auch nicht nach einem illegalen Taxi aus. Er besaß einen regulären Taxameter, der vorschriftsmäßig vorrückte und inzwischen einen Fahrpreis von 2150 Yen anzeigte. Dennoch gab es nirgends ein Schild mit dem Namen des Fahrers.

»Ein schöner Wagen. Sehr leise«, sagte Aomame, an den Rücken des Fahrers gewandt. »Was ist das für eine Marke?«

»Ein Toyota Crown Royal Saloon«, erwiderte der Fahrer knapp.

»Die Musik klingt gut.«

»Es ist ein ruhiger Wagen. Auch aus diesem Grund habe ich ihn gewählt. Weil Toyota, was diese Dämpfung angeht, über die weltweit führende Technik verfügt.«

Aomame nickte und ließ sich wieder in den Sitz sinken. Seine Art zu sprechen hatte etwas Anziehendes. Als lasse er immer etwas Wichtiges ungesagt. Zum Beispiel: Zwar gibt es an der Schalldämpfung von Toyota nichts auszusetzen, aber bei irgendetwas anderem gibt es Probleme, oder so. Nachdem er zu Ende gesprochen hatte, blieb ein kleines bedeutungsschweres Schweigen zurück. Leicht wie eine winzige imaginäre Wolke stand es im engen Raum des Wagens und gab Aomame ein unbestimmtes Gefühl der Unruhe.

»Wirklich ruhig«, sagte sie, um die kleine Wolke zu verscheuchen. »Auch Ihre Stereoanlage ist erstklassig.«

»Es war keine leichte Entscheidung«, sagte der Fahrer in einem Ton wie ein pensionierter Stabsoffizier, der von einer militärischen Operation in der Vergangenheit erzählt. »Aber da ich so viel Zeit im Wagen verbringe, wollte ich eine möglichst gute Tonqualität, und außerdem …«

Aomame wartete darauf, dass er fortfuhr. Aber er tat es nicht. Wieder schloss sie die Augen und überließ sich der Musik. Sie hatte keine Ahnung, was für ein Mensch Janáček gewesen war. Zumindest hatte er sich gewiss nicht träumen lassen, dass Menschen im Jahr 1984 im schallgedämpften Innenraum eines Toyota Crown Royal Saloon mitten in einem Stau auf der Tokioter Stadtautobahn seine Musik hören würden.

Aber warum habe ich das Stück sofort als die Sinfonietta von Janáček erkannt, fragte sich Aomame verwundert. Und woher weiß ich, dass er es 1926 geschrieben hat?

Sie hatte nicht einmal eine besondere Vorliebe für klassische Musik. Sie verband auch keine persönlichen Erinnerungen mit Janáček. Doch seit dem Augenblick, in dem sie den ersten Satz gehört hatte, waren ihr spontan alle möglichen Daten in den Sinn gekommen. Wie eine Schar Vögel, die einem durch ein geöffnetes Fenster ins Haus fliegt. Noch dazu löste die Musik eine höchst dramatische Empfindung in Aomame aus. Es war ein Gefühl, als werde sie irgendwie innerlich aufgezogen, als werde an ihr geschraubt oder gedreht. Es war an sich nicht schmerzhaft oder besonders unangenehm. Sie hatte nur das Gefühl, ihr ganzer Organismus würde allmählich physisch umgestülpt. Aomame konnte es nicht begreifen. War es die Sinfonietta, die dieses mysteriöse Gefühl in ihr auslöste?

»Janáček«, sagte Aomame geistesabwesend. Dann fand sie, sie hätte es lieber nicht sagen sollen.

»Was war das?«

»Janáček. Der Mann, der diese Musik komponiert hat.«

»Das wusste ich nicht.«

»Ein tschechischer Komponist«, sagte Aomame.

»Aha«, erwiderte der Chauffeur beeindruckt.

»Ist das ein Privattaxi?«, fragte Aomame, um das Thema zu wechseln.

»Ja«, sagte der Fahrer. Dann, nach einer Pause: »Ich bin selbstständig. Dies ist mein zweiter Wagen.«

»Man sitzt sehr bequem.«

»Vielen Dank. Übrigens …« Der Fahrer drehte den Kopf ein Stück in ihre Richtung. »Haben Sie es sehr eilig?«

»Ich werde in Shibuya erwartet. Deshalb bin ich an der Stadtautobahn eingestiegen.«

»Um wie viel Uhr müssen Sie dort sein?«

»17.30 Uhr«, sagte Aomame.

»Wir haben jetzt 15.45 Uhr. Sie werden es nicht pünktlich schaffen.«

»Ist der Stau so schlimm?«

»Vor uns hat es anscheinend einen schweren Unfall gegeben. Das ist kein gewöhnlicher Stau. Es geht ja schon seit einer ganzen Weile kaum vorwärts.«

Verwundert fragte sich Aomame, warum der Taxifahrer dann keinen Verkehrsfunk hörte. Auf der Stadtautobahn herrschte ein katastrophaler Stau, der Verkehr war völlig zum Erliegen gekommen. Als Taxifahrer würde er seine Informationen normalerweise über eine besondere Frequenz erhalten.

»Das wissen Sie, ohne den Verkehrsfunk zu hören?«, fragte Aomame.

»Auf den Verkehrsfunk und dergleichen ist kein Verlass«, sagte der Fahrer tonlos. »Die Hälfte der Informationen ist falsch. Die vom Straßenamt vertreten nur ihre eigenen Interessen. Ich ziehe meine Schlüsse aus dem, was ich mit eigenen Augen sehe.«

»Und Ihrer Ansicht nach wird sich dieser Stau nicht so leicht auflösen?«

»Vorläufig nicht«, sagte der Fahrer mit einem ruhigen Nicken. »Das kann ich garantieren. Wenn der Verkehr einmal auf diese Weise stockt, ist die Stadtautobahn die Hölle. Geht es bei Ihrer Verabredung um etwas Wichtiges?«

Aomame überlegte. »Ja, es ist wichtig. Ein Termin mit einem Klienten.«

»Sehr unangenehm. Es tut mir leid, aber Sie werden ihn wohl verpassen.« Bei diesen Worten wiegte der Fahrer mehrmals leicht den Kopf, als würde er seine verspannten Schultern lockern. Die Falten in seinem Nacken bewegten sich wie bei einem Urtier. Bei dem Anblick musste Aomame an den scharfen spitzen Gegenstand ganz unten in ihrer Umhängetasche denken. Ihre Handflächen wurden feucht.

»Was kann man denn da machen?«

»Eigentlich nichts. Hier auf der Stadtautobahn bleibt uns keine andere Möglichkeit, als uns bis zur nächsten Ausfahrt vorzuarbeiten. Man kann nicht wie auf einer normalen Straße einfach aussteigen und von der nächsten Haltestelle aus mit der Bahn fahren.«

»Welches ist denn die nächste Ausfahrt?«

»Ikejiri, aber wahrscheinlich brauchen wir dorthin bis Sonnenuntergang.«

Bis zum Abend? Aomame stellte sich vor, bis abends in diesem Taxi eingeschlossen zu sein. Noch immer erklang das Stück von Janáček. Die gedämpften Töne der Streicher traten nun in den Vordergrund, wie um das Aufwallen ihrer Gefühle zu besänftigen. Der Eindruck des Verdrehtwerdens dauerte an. Was das nur war?

Aomame hatte das Taxi in der Nähe von Kinuta herangewinkt, und bei Yoga waren sie auf die Stadtautobahn Nr. 3 gefahren. Zu Anfang war der Verkehr reibungslos dahingeflossen. Doch kurz vor Sangenjaya hatte er plötzlich gestockt und war bald fast ganz zum Erliegen gekommen. Auf der Spur, die stadtauswärts führte, ging es gut voran, nur stadteinwärts gab es diesen grauenhaften Stau. Um 15 Uhr nachmittags gab es auf der Nr. 3 in Richtung Stadt normalerweise keine Staus. Nur deshalb hatte Aomame den Fahrer überhaupt gebeten, die Stadtautobahn zu nehmen.

»Auf der Autobahn wird nicht nach Zeit abgerechnet«, sagte der Fahrer mit einem Blick in den Rückspiegel. »Um den Fahrpreis brauchen Sie sich also keine Sorgen zu machen. Aber wahrscheinlich ist es unangenehm für Sie, wenn Sie Ihre Verabredung verpassen?«

»Natürlich ist das unangenehm. Aber es lässt sich ja wohl nicht ändern.«

Der Blick des Fahrers streifte Aomame im Spiegel. Er trug eine leicht getönte Sonnenbrille. Wegen der Lichtverhältnisse konnte Aomame von ihrem Platz aus seinen Gesichtsausdruck nicht sehen.

»Also, es gäbe da eine Möglichkeit. Im äußersten Notfall könnten Sie von hier aus mit der Bahn nach Shibuya fahren.«

»Im Notfall?«

»Eine sozusagen inoffizielle Möglichkeit.«

Wortlos und mit zusammengekniffenen Augen wartete Aomame, dass er fortfuhr.

»Vor uns ist eine Stelle, wo ich ranfahren kann.« Der Fahrer wies mit dem Finger nach vorn. »Da bei der großen Esso-Reklametafel.«

Als Aomame scharf hinsah, bemerkte sie links von der zweiten Spur eine Haltemöglichkeit für Pannenfahrzeuge. Da es auf der Stadtautobahn keinen Seitenstreifen gab, hatte man in gewissen Abständen Notparkplätze eingerichtet. Es gab dort einen gelben Kasten mit einem Notruftelefon, von dem aus man das Straßenamt kontaktieren konnte. Im Augenblick parkte dort niemand. Auf einem Gebäudedach jenseits der Gegenspur war ein riesiges Werbeschild der Ölfirma Esso angebracht. Es zeigte einen freundlich lächelnden Tiger mit einem Tankschlauch in der Pfote.

»Es gibt dort eine Treppe, die nach unten führt. Im Fall eines Feuers oder Erdbebens können die Fahrer ihre Wagen verlassen und über sie auf ebene Erde gelangen. Normalerweise wird sie nur von den Wartungsarbeitern und so weiter benutzt. Wenn Sie die Treppe hinuntersteigen, kommen Sie in der Nähe einer Station der Tokyu-Linie heraus. Damit sind Sie ganz schnell in Shibuya.«

»Ich wusste gar nicht, dass es auf der Stadtautobahn so eine Treppe gibt«, sagte Aomame.

»Das ist im Allgemeinen wenig bekannt.«

»Aber bekommt man keine Schwierigkeiten, wenn man sie ohne zwingenden Grund benutzt?«

Der Fahrer machte eine kurze Pause. »Hm, ja, könnte sein. So genau kenne ich mich mit den Bestimmungen des Straßenamts nicht aus. Aber Sie stören ja niemanden, also würde man sicher darüber hinwegsehen, oder? Eigentlich guckt doch hier niemand so genau hin. Das Straßenamt hat zwar jede Menge Angestellte, aber es ist ja bekannt, dass nur die wenigsten von ihnen tatsächlich etwas tun.«

»Was ist das für eine Treppe?«

»So was Ähnliches wie eine Feuertreppe. Wie sie oft auf der Rückseite von älteren Gebäuden angebracht sind. Nicht besonders gefährlich. Ihre Höhe entspricht etwa der eines zweistöckigen Gebäudes, aber man kann ganz normal hinuntergehen. Am Zugang gibt es ein Gitter, aber es ist nicht hoch, und wer will, kann leicht darübersteigen.«

»Haben Sie diese Treppe denn schon einmal benutzt?«

Der Fahrer antwortete nicht. Er lächelte nur leicht in den Rückspiegel. Es war ein Lächeln, das vieles heißen konnte.

»Letztlich liegt es bei Ihnen, junge Frau«, sagte der Fahrer, während er mit den Fingern leicht zur Musik auf das Lenkrad trommelte. »Von mir aus können Sie auch gern hier sitzen bleiben und sich bei guter Musik aus einer guten Anlage entspannen. Da wir sowieso längere Zeit hier festsitzen, können wir auch gemeinsam ausharren. Aber wenn Sie einen dringenden Termin haben, gibt es nur diese eine Möglichkeit.«

Mit gerunzelter Stirn warf Aomame einen Blick auf ihre Armbanduhr. Dann schaute sie auf und musterte die Wagen um sie herum. Rechts von ihnen stand ein schwarzer, von einer dünnen Schicht aus hellem Staub bedeckter Mitsubishi Pajero. Der junge Mann auf dem Beifahrersitz hatte das Fenster heruntergekurbelt und rauchte gelangweilt eine Zigarette. Er hatte lange Haare, war sonnengebräunt und trug eine weinrote Windjacke. Der Gepäckraum war mit mehreren abgenutzten, schmutzigen Surfbrettern beladen. Davor stand ein grauer Saab 900. Die getönten Scheiben waren geschlossen, und von außen ließ sich nicht erkennen, wer darin saß. Der Wagen war so blank poliert, dass die benachbarten Fahrzeuge sich darin spiegelten.

Vor Aomames Taxi befand sich ein roter Suzuki Alto mit einer Nummer des Stadtteils Nerima. Eine junge Mutter saß am Steuer. Ihr kleines Kind langweilte sich und turnte auf dem Sitz herum. Die Mutter ermahnte es mit einem gereizten Gesichtsausdruck. Man konnte durch die Scheibe sehen, wie sie den Mund bewegte. Die gleiche Szenerie wie vor zehn Minuten. In diesen zehn Minuten war der Wagen keine zehn Meter vorangekommen.

Aomame überdachte die Lage. Im Geiste ordnete sie verschiedene Punkte nach ihrer Priorität. Es dauerte nicht lange, bis sie zu einem Entschluss kam. Auch das Stück von Janáček erreichte – wie im Einklang mit ihr – den letzten Satz.

Aomame nahm eine kleine Ray-Ban-Sonnenbrille aus ihrer Umhängetasche. Dann zog sie drei Tausend-Yen-Scheine aus ihrem Portemonnaie und reichte sie dem Fahrer.

»Ich steige hier aus«, sagte sie. »Ich darf nicht zu spät kommen.«

Der Fahrer nickte und nahm das Geld in Empfang. »Quittung?«

»Nein, danke. Und der Rest ist für Sie.«

Der Fahrer bedankte sich. »Es scheint ziemlich windig zu sein, also nehmen Sie sich in Acht. Nicht dass Sie ausrutschen.«

»Danke«, sagte Aomame.

»Also dann«, sagte der Fahrer in den Rückspiegel. »Ich möchte Ihnen noch etwas mit auf den Weg geben: Die Dinge sind meist nicht das, was sie zu sein scheinen.«

Die Dinge sind nicht, was sie zu sein scheinen, wiederholte Aomame bei sich. Sie runzelte leicht die Stirn.

»Was meinen Sie damit?«

Der Fahrer sprach sehr nachdrücklich. »Also, Sie werden jetzt etwas Ungewöhnliches tun, nicht wahr? Am helllichten Tag über eine Treppe von der Stadtautobahn hinuntersteigen. Das ist etwas, was normale Menschen nicht tun. Insbesondere Frauen nicht.«

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Aomame.

»Wenn man so etwas tut, kann es sein, dass einem der Alltag anschließend ein wenig – wie soll ich sagen – verschoben erscheint. Verglichen mit sonst. Ich habe diese Erfahrung selbst schon gemacht. Aber man darf sich nicht vom äußeren Schein täuschen lassen. Es gibt immer nur eine Realität.«

Aomame dachte über die Worte des Fahrers nach. Unterdessen endete das Stück von Janáček, und Applaus setzte ein. Wo das Konzert wohl aufgenommen worden war? Der Beifall war anhaltend und stürmisch. Dazwischen ertönten Bravorufe. Aomame stellte sich vor, wie der Dirigent sich immer wieder lächelnd vor dem stehenden Publikum verneigte. Er hob das Gesicht und die Hände, schüttelte dem Konzertmeister die Hand, wandte sich nach hinten und wies mit beiden Händen lobend auf die Orchestermitglieder, wandte sich wieder nach vorn und verbeugte sich abermals tief. Der Beifall im Radio schwoll an und ab, und sie hatte das Gefühl, einem endlosen Sandsturm auf dem Mars zu lauschen.

»Es gibt immer nur eine Realität«, wiederholte der Taxifahrer langsam, als würde er eine besonders wichtige Zeile in einem Dokument unterstreichen.

»Natürlich«, sagte Aomame. Selbstverständlich. Einen Körper, eine Zeit, einen Raum. Einstein hatte es ja bewiesen. Die Realität war ein unendlich rigoroses und unendlich einsames Ding.

Aomame zeigte auf die Stereoanlage. »Sie hat wirklich einen guten Klang.«

Der Fahrer nickte. »Wie war noch mal der Name des Komponisten?«

»Janáček.«

»Janáček«, wiederholte der Fahrer, als würde er sich ein wichtiges Passwort merken. Dann zog er an dem Hebel und öffnete die automatische hintere Tür. »Seien Sie vorsichtig. Ich hoffe, Sie schaffen es noch pünktlich zu Ihrem Termin.«

Ihre große lederne Umhängetasche in der Hand, stieg Aomame aus. Der Applaus im Radio dauerte noch immer an. Vorsichtig ging sie auf den Pannenstreifen am Rand der Schnellstraße zu, der nur zehn Meter vor ihr lag. Sooft auf der Gegenfahrbahn ein großer Lastwagen vorbeifuhr, bebte die Straße unter ihren hohen Absätzen. Eigentlich war es eher ein Schwanken. Sie fühlte sich wie an Deck eines Flugzeugträgers auf stürmischer See.

Das kleine Mädchen in dem roten Suzuki Alto steckte den Kopf aus dem Beifahrerfenster und beobachtete Aomame mit aufgerissenem Mund. Dann wandte es sich an seine Mutter. »Mama, Mama, was macht die Frau da? Wo geht die hin? Ich will auch laufen. Mama, ich will raus. Mama!«, verlangte die Kleine laut und gebieterisch. Die Mutter schüttelte nur stumm den Kopf. Dann warf sie Aomame einen vorwurfsvollen Blick zu. Aber das war die einzige Stimme, die sich in der Umgebung erhob, die einzige Reaktion, die ihr auffiel. Die anderen Fahrer stießen nur den Rauch ihrer Zigaretten aus, hoben leicht die Augenbrauen und verfolgten, als könnten sie ihren Augen nicht trauen, die Gestalt, die ohne zu zögern zwischen den Wagen und der Leitplanke entlangspazierte. Sie schienen sich ihr Urteil vorzubehalten. Auch wenn der Verkehr stand, kam es doch nicht alle Tage vor, dass jemand zu Fuß die Stadtautobahn entlangmarschierte. Man brauchte eine gewisse Zeit, um dies als realen Anblick wahrzunehmen und zu akzeptieren. Vor allem, wenn es sich bei der Person um eine junge Frau in Minirock und Stöckelschuhen handelte.

Das Kinn eingezogen, den Blick geradeaus und den Rücken gestrafft, ging Aomame mit festem Schritt vorwärts, während sie die Blicke auf ihrer Haut spürte. Ihre kastanienbraunen Schuhe von Charles Jourdan klackten trocken über den Asphalt, und eine Brise ließ den Saum ihres Mantels flattern. Der junge April wurde von einem noch kühlen und etwas stürmischen Wind begleitet. Über ihrem leichten grünen Wollkostüm von Junko Shimada trug sie einen beigefarbenen Frühjahrsmantel. Ihre lederne Umhängetasche war schwarz, ihr schulterlanges Haar gut geschnitten und gepflegt. Accessoires oder Schmuck trug sie nicht. Sie war 1,68 Meter groß, hatte kein Gramm Fett zu viel und war sehr durchtrainiert, aber das konnte man unter dem Mantel nicht erkennen.

Wenn man ihr schmales Gesicht von vorn betrachtete, fiel auf, dass ihre Ohren sich etwas voneinander unterschieden. Das linke Ohr war größer als das rechte und unregelmäßig geformt. Doch das merkte anfangs niemand, da sie ihre Ohren meist unter den Haaren verbarg. Ihre Lippen waren zu einem geraden Strich geschlossen und wiesen auf einen wenig anpassungsfähigen Charakter hin. Die schmale kleine Nase und die etwas vorstehenden Wangenknochen, die breite Stirn und auch die langen geraden Augenbrauen sprachen ebenfalls für diese Veranlagung. Insgesamt jedoch hatte Aomame ein regelmäßiges ovales Gesicht. So etwas ist zwar Geschmackssache, aber man durfte sie wohl als eine schöne Frau bezeichnen. Ein Minus war die extreme Härte in ihrem Ausdruck. Über die fest aufeinandergepressten Lippen kam nie ein Lächeln, wenn es nicht unbedingt nötig war. Ihre Augen waren wachsam und kühl, wie die eines vortrefflichen Deckmatrosen auf Wache. Aus diesem Grund machte ihr Gesicht nie einen lebhaften Eindruck auf andere. Die Aufmerksamkeit und Bewunderung, die eine Person auf sich zieht, hat in den meisten Fällen eher mit der Natürlichkeit und Anmut ihrer Mimik zu tun als mit positiven oder negativen Aspekten der unbewegten Gesichtszüge.

Die meisten Menschen vermochten Aomames Gesicht nicht richtig zu erfassen. Kaum hatte man den Blick abgewandt, konnte man schon nicht mehr beschreiben, wie sie aussah. Obwohl sie ein ausgesprochen individuelles Gesicht hatte, blieben seine charakteristischen Merkmale aus irgendeinem Grund nicht im Gedächtnis haften. In dieser Hinsicht glich sie einem Insekt mit der ausgeprägten Fähigkeit zur Mimese. Ihre Farbe und Form zu verändern, sich dem Hintergrund entsprechend zu wandeln, möglichst wenig aufzufallen, nicht so leicht wiedererkannt zu werden – genau danach trachtete Aomame. Schon seit frühester Kindheit war das ihr Schutzmechanismus.

Doch wenn irgendetwas Aomame veranlasste, ihr Gesicht zu verziehen, fand eine dramatische Veränderung in ihren kühlen Zügen statt. Ihre Gesichtsmuskeln verzerrten sich unkontrolliert in alle Richtungen. Die Unregelmäßigkeiten zwischen linker und rechter Seite traten bis zum Äußersten hervor, überall erschienen tiefe Falten, die Augen versanken plötzlich in den Höhlen, Nase und Mund waren grimmig entstellt, sie verzerrte ihre Kiefer, die aufgeworfenen Lippen entblößten große weiße Zähne. Innerhalb eines Augenblicks konnte sie sich in einen völlig anderen Menschen verwandeln, als wäre eine Schnur durchtrennt worden und eine Maske von ihr abgefallen. Wer Zeuge dieser entsetzlichen Verwandlung wurde, erschrak bis ins Mark. Es war ein tödlicher Sprung aus völliger Normalität in einen schwindelerregenden Abgrund. So hütete Aomame sich auch, diese Fratze Unbekannten zu zeigen, und beschränkte sich darauf, das Gesicht zu verzerren, wenn sie allein war oder wenn sie Männer einschüchtern wollte, die ihr dumm kamen.

Sobald Aomame den Pannenstreifen erreicht hatte, blieb sie stehen und sah sich nach der Treppe um. Sie entdeckte sie sofort. Wie der Taxifahrer gesagt hatte, war der Zutritt von einem wenig mehr als hüfthohen Eisengitter umgeben, dessen Tür verschlossen war. Es war etwas lästig, in einem Minirock darüberzusteigen, aber wenn man nichts auf die Blicke der Leute gab, bereitete es einem keine besonderen Schwierigkeiten. Ohne zu zögern, zog sie ihre hohen Schuhe aus und verstaute sie in ihrer Tasche. Wahrscheinlich würde sie sich die Strumpfhose ruinieren. Aber sie konnte sich ja irgendwo eine neue kaufen.

Die Leute beobachteten stumm, wie sie ihre Schuhe und dann den Mantel auszog. Im Hintergrund ertönte aus dem offenen Fenster eines gerade zum Stehen gekommenen schwarzen Toyota Celica die hohe Stimme von Michael Jackson. Als würde ich auf einer Bühne einen Striptease zu »Billie Jean« hinlegen, dachte sie. Macht nichts. Gucken ist erlaubt. Im Stau zu stehen muss wirklich todlangweilig sein. Aber damit hat sich’s auch schon, Leute, Schuhe und Mantel, mehr gibt’s heut nicht. Tut mir leid.

Aomame schlang sich die Tasche um, damit sie ihr nicht herunterfiel. Der nagelneue schwarze Toyota Crown Royal Saloon, in dem sie bis eben noch gesessen hatte, lag weit hinter ihr. Die Nachmittagssonne fiel auf die Windschutzscheibe, die blendend hell gleißte wie ein Spiegel. Das Gesicht des Fahrers war nicht zu erkennen. Doch er sah sie bestimmt.

Nicht vom äußeren Schein täuschen lassen. Es gibt immer nur eine Realität.

Aomame atmete tief ein und aus. Dann kletterte sie, die Melodie von »Billie Jean« im Ohr, über das Gitter. Ihr Minirock rutschte ihr fast bis zur Hüfte hoch. Und wenn schon, dachte sie. Sollen Sie ruhig glotzen. Wer mir unter den Rock guckt, hat mich noch lange nicht durchschaut. Außerdem hielt Aomame ihre schönen schlanken Beine für den weitaus vorteilhaftesten Teil ihres Körpers.

Auf der anderen Seite des Gitters angelangt, zupfte Aomame ihren Rocksaum zurecht, wischte sich den Staub von den Händen, zog den Mantel wieder an und hängte sich die Tasche über die Schulter. Mit einem Druck auf den Steg schob sie ihre Sonnenbrille in die richtige Position zurück. Die Treppe lag vor ihr. Eine grau gestrichene Eisentreppe. Eine schlichte, unpersönliche Treppe, die nur einem funktionalen Zweck diente. Sie war nicht dafür geschaffen, dass Frauen in Strümpfen und engen Miniröcken darauf herumturnten. Allerdings sollte man bedenken, dass das Kostüm von Junko Shimada auch nicht für Klettertouren entworfen war. Ein großer Lastwagen donnerte auf der Gegenfahrbahn vorbei und ließ die Treppe vibrieren. Der Wind pfiff durch die eisernen Sprossen. Doch immerhin gab es eine Treppe. Und nur sie führte auf die ebene Erde.

Aomame drehte sich ein letztes Mal um und blickte in der Haltung eines Menschen, der einen Vortrag beendet hat und nun noch auf dem Podium stehend die Fragen des Publikums erwartet, von links nach rechts und dann von rechts nach links auf die dichte Schlange der Wagen auf der Straße. Sie waren kein bisschen vorangekommen. In Ermangelung einer anderen Beschäftigung beobachteten die dort festsitzenden Leute jede einzelne ihrer Bewegungen. Was macht diese Frau eigentlich?, fragten sie sich argwöhnisch. Bewundernde, gleichgültige, neidische oder verachtende Blicke fielen auf Aomame, die über das Gitter geklettert war. Wie eine instabile Waage schwankten ihre Gefühle, ohne sich einer Seite zuneigen zu können, unruhig hin und her. Schweigen lastete auf der Umgebung. Niemand hob die Hand, um eine Frage zu stellen (selbst wenn jemand eine Frage gestellt hätte, hätte Aomame sie natürlich nicht beantwortet). Die Menschen warteten nur stumm auf eine Gelegenheit, die niemals kommen würde. Aomame zog leicht das Kinn ein, biss sich auf die Unterlippe und bedachte sie kurz mit einem abschätzigen Blick durch ihre dunkelgrüne Sonnenbrille.

Ihr könnt euch bestimmt nicht vorstellen, wer ich bin, wohin ich jetzt gehe und was ich tun werde, sagte Aomame, ohne ihre Lippen zu bewegen. Ihr sitzt dort fest und geht nirgendwohin. Könnt weder vor noch zurück. Im Gegensatz zu mir. Auf mich wartet Arbeit, die getan werden muss. Ich habe eine Mission zu erfüllen. Deshalb gehe ich – mit eurer gütigen Erlaubnis – schon mal vor.

Zum Schluss hätte Aomame den Leuten am liebsten eine Fratze geschnitten. Aber sie bezwang sich. Sie hatte keine Zeit für Spielereien. Wenn sie einmal das Gesicht verzogen hatte, würde es sie zu viel Mühe kosten, wieder zu ihrem ursprünglichen Ausdruck zurückzukehren.

Also kehrte Aomame ihren stummen Zuschauern den Rücken zu und begann, die Kälte der eisernen Sprossen an ihren Fußsohlen spürend, vorsichtig die Treppe hinunterzusteigen. Der zu Anfang April noch kühle Wind ließ ihre Haare flattern und entblößte hin und wieder ihr unregelmäßig verformtes linkes Ohr.

KAPITEL 2

Tengo

Eine etwas andere Idee

Tengos erste Erinnerung stammte aus der Zeit, als er anderthalb Jahre alt gewesen war. Seine Mutter hatte ihre Bluse ausgezogen, ein Träger ihres weißen Unterkleids war ihr von der Schulter geglitten, und ein Mann, der nicht sein Vater war, saugte an ihrer Brust. Im Kinderbett lag ein Kleinkind, das wahrscheinlich Tengo war. Er sah sich als dritte Person. Oder handelte es sich um einen Zwillingsbruder? Nein, das war unwahrscheinlich, es musste der anderthalbjährige Tengo selbst sein. Intuitiv wusste er das. Das Kind hielt die Augen geschlossen und atmete leise und regelmäßig im Schlaf. Das also war Tengos erste Erinnerung. Die etwa zehnsekündige Szene war klar und deutlich in die Wände seines Bewusstseins gemeißelt. Nichts vorher und nichts nachher. Isoliert ragte diese Erinnerung aus einer trüben Wasserfläche heraus wie der Kirchturm einer überfluteten Stadt.

Wenn es sich ergab, hatte Tengo sich bei Bekannten erkundigt, auf welches Alter ihre ersten Erinnerungen zurückgingen. Bei den meisten war es das Alter von vier oder fünf, frühestens drei Jahren. Beispiele für weiter zurückreichende Erinnerungen gab es nicht. Anscheinend musste ein Kind mindestens drei Jahre alt sein, um seine Umgebung bis zu einem gewissen Grad als logisch zusammenhängend wahrnehmen zu können. In der Phase davor war ihm die Welt ein unverständliches Chaos, zäh, formlos und undurchsichtig wie ein klebriger Brei. Alles zog gleichsam vor dem Fenster vorbei, ohne dass sich im Gehirn Erinnerungen daran festsetzten.

Natürlich konnte ein Kleinkind von anderthalb Jahren nicht beurteilen, was es bedeutete, wenn ein Mann, der nicht sein Vater war, an der Brust seiner Mutter saugte. Das war klar. Wenn Tengos Erinnerung also nicht trog, hatte sich diese Szene in seine Netzhaut eingebrannt, ohne dass er sie bewerten konnte. Wie eine Kamera ein Objekt lediglich als ein Gemisch aus Licht und Schatten auf einen Film bannt. Und mit der Entstehung des Bewusstseins war das gespeicherte, fixierte Abbild nach und nach analysiert und mit Bedeutung versehen worden. Aber konnte so etwas wirklich geschehen? Bestand überhaupt die Möglichkeit, dass das Gehirn eines Kleinkinds ein solches Bild bewahrte?

Oder handelte es sich nur um eine gefälschte Erinnerung? Eine durch eigenmächtige Täuschungsmanöver seines Bewusstseins im Nachhinein entstandene Fiktion? Tengo hatte die Möglichkeit, dass es sich bei seiner Erinnerung um eine Fälschung handelte, ausführlich geprüft. Und war zu dem Schluss gelangt, dass es unwahrscheinlich war. Für etwas Erfundenes war die Szene zu lebhaft und deutlich, verfügte über zu große Überzeugungskraft. Das Licht und die Gerüche darin, ihr Pulsschlag. Alles fühlte sich überwältigend real an. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es sich um eine Fälschung handelte. Zudem lieferte die Annahme, dass dieses Ereignis wirklich stattgefunden hatte, eine gute Erklärung für vieles andere. In logischer und emotionaler Hinsicht.

Die etwa zehn Sekunden andauernde, höchst lebendige Szene erschien ihm ohne jede Vorwarnung. Ohne Vorankündigung, ohne Aufschub. Auch kein Anklopfen. Sie überfiel Tengo aus heiterem Himmel, wenn er in der Bahn saß, Zahlen an die Tafel schrieb, beim Essen war oder sich mit jemandem unterhielt (wie zum Beispiel gerade eben). Unvermittelt schob sie sich jäh vor ihn und lähmte ihn von Kopf bis Fuß. Der Fluss der Zeit stand still. Die Luft um ihn herum wurde dünn, und er konnte nicht mehr richtig atmen. Die Beziehung zwischen ihm und den ihn umgebenden Menschen und Dingen löste sich auf. Die flüssigen Wände verschluckten ihn völlig. Doch obwohl er das Gefühl hatte, die Welt würde ins Dunkel gestürzt, schwanden ihm nicht die Sinne. Nur eine Weiche wurde umgestellt. Es war sogar eher so, dass sein Bewusstsein teilweise schärfer wurde. Es war keine Angst. Aber er konnte die Augen nicht öffnen. Seine Lider blieben fest geschlossen. Auch die umgebenden Geräusche entfernten sich. Und das vertraute Bild wurde immer wieder auf die Leinwand seines Bewusstseins projiziert. Der Schweiß rann ihm aus allen Poren. Er wusste, dass sein Hemd unter den Armen völlig durchnässt war. Er begann am ganzen Körper zu zittern. Sein Herz schlug immer schneller und lauter.

Falls jemand neben ihm saß, tat Tengo, als sei ihm schwindlig. Tatsächlich hatte sein Zustand Ähnlichkeit mit einem Schwindelanfall. Nach einer gewissen Zeit normalisierte sich alles wieder. Er zog ein Taschentuch hervor und presste es sich auf den Mund. Er hob eine Hand, um seinem Gegenüber zu signalisieren, dass er die Lage im Griff habe und man sich nicht zu beunruhigen brauche. Mal war nach dreißig Sekunden alles vorbei, mal dauerte es über eine Minute. Währenddessen spulte sich die Szene automatisch wie ein Videoband in Endlosschleife immer wieder ab. Seine Mutter löste den Träger des Unterkleids, und der fremde Mann saugte an ihrer steifen Brustwarze. Sie schloss die Augen und gab einen tiefen Seufzer von sich. Der Duft der Brust seiner Mutter umschwebte Tengo und erfüllte ihn mit Sehnsucht. Für kleine Kinder ist der Geruchssinn das schärfste Instrument. Er teilt ihnen das meiste mit. Manchmal sogar alles. Geräusche waren nicht zu hören. Die Luft wurde zäh, dickflüssig. Der einzige Laut, den er wahrnahm, waren die sachten Schläge seines eigenen Herzens.

Schau dir das an, sagten sie. Sieh nur, sagten sie. Hier bist du und kannst nirgendwo anders hin. Diese Botschaft wiederholte sich unablässig.

Diesmal dauerte der »Anfall« ziemlich lange. Tengo schloss die Augen, stopfte sich wie üblich sein Taschentuch in den Mund und biss fest zu. Wie lange, wusste er nicht. Als alles vorbei war, verspürte er nur eine völlige körperliche Erschöpfung. Er war absolut erledigt. So müde war er noch nie gewesen. Es dauerte ewig, bis er überhaupt die Lider öffnen konnte. Sein Bewusstsein strebte nach einem raschen, abrupten Erwachen, das seine Muskeln und Organe jedoch verweigerten. Es war wie bei einem Tier, das zur falschen Jahreszeit gewaltsam aus dem Winterschlaf gerissen wurde.

»He, Tengo«, rief jemand ihn von vorn an. Die Stimme klang dumpf und fern, wie aus einem tiefen Tunnel. Tengo registrierte, dass es sein Name war, den sie rief. »Was ist los? Wieder diese Sache? Alles in Ordnung?«, sagte die Stimme, diesmal ein bisschen näher.

Endlich schlug Tengo die Augen auf und konzentrierte seinen Blick auf seine rechte Hand, die die Tischkante umklammerte. Er vergewisserte sich, dass die Welt intakt war und er sich noch als derselbe auf ihr befand. Ein gewisses Taubheitsgefühl war geblieben, besonders in der rechten Hand. Es roch auch nach Schweiß. Es war ein seltsam wilder Geruch, wie man ihm vor den Käfigen mancher Tiere im Zoo begegnet. Doch er war es, der ihn verströmte.

Tengo hatte Durst. Er streckte die Hand aus und griff nach dem Glas, das vor ihm auf dem Tisch stand. Vorsichtig, um nichts zu verschütten, trank er das Wasser zur Hälfte aus. Er setzte kurz ab, schöpfte Atem und trank dann den Rest. Sein Bewusstsein kehrte allmählich dorthin zurück, wo es sein sollte, und sein Körpergefühl normalisierte sich. Er stellte das leere Glas ab und wischte sich mit dem Taschentuch über den Mund.

»Entschuldigung. Alles wieder in Ordnung«, sagte er und vergewisserte sich, dass es sich bei dem Mann, der ihm gerade gegenübersaß, wirklich um Komatsu handelte. Sie hatten sich in einem Café in der Nähe des Bahnhofs Shinjuku getroffen. Das um sie herum herrschende Stimmengewirr war jetzt auch wieder normal zu hören. Die beiden Gäste am Nebentisch argwöhnten, dass etwas passiert war, und sahen zu ihnen hinüber. Eine Kellnerin stand mit verstörter Miene in der Nähe. Möglicherweise fürchtete sie, er würde sich auf seinem Platz übergeben. Tengo schaute auf und nickte ihr lächelnd zu: Keine Sorge, alles in Ordnung.

»Hattest du einen Anfall?«, fragte Komatsu.

»Nichts Ernstes. Mir war nur ein bisschen schwindlig. Einfach nicht gut«, sagte Tengo. Seine Stimme klang noch immer nicht ganz wie seine eigene. Aber immerhin schon ähnlich.

»Wäre ziemlich blöd, wenn dir so was beim Autofahren passieren würde.« Komatsu sah Tengo in die Augen.

»Ich fahre kein Auto.«

»Umso besser. Ich habe einen Bekannten, der leidet an einer Allergie gegen Zedernpollen. Einmal bekam er im Auto einen Niesanfall und knallte gegen einen Strommast. Dein Niesen ist übrigens auch nicht von Pappe. Als ich es das erste Mal gehört habe, bin ich richtig erschrocken. Mittlerweile habe ich mich etwas daran gewöhnt.«

»Tut mir leid.«

Tengo griff nach seiner Kaffeetasse und trank den Rest mit einem Zug aus. Er schmeckte nichts. Es floss nur eine warme Flüssigkeit durch seine Kehle.

»Möchtest du noch Wasser?«, fragte Komatsu.

Tengo schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Es geht schon wieder.«

Komatsu zog ein Päckchen Marlboro aus seinem Jackett, steckte sich eine in den Mund und zündete sie mit einem Streichholz aus einer Schachtel mit dem Werbeaufdruck des Cafés an. Dann warf er einen kurzen Blick auf seine Uhr.

»Also, worüber sprachen wir gerade?«, fragte Tengo. Er musste schnellstens wieder zu sich kommen.

»Äh, ja, worüber sprachen wir?« Komatsu schaute in die Luft und dachte kurz nach. Oder tat zumindest so. Tengo wusste nicht, was von beidem. Komatsus Gesten und seine Art zu sprechen hatten immer etwas von einer Darbietung. »Ach so, ja, wir haben über dieses Mädchen gesprochen, Fukaeri heißt sie. Und über ›Die Puppe aus Luft‹.«

Tengo nickte. Fukaeri und »Die Puppe aus Luft«. Er war im Begriff gewesen, mit Komatsu darüber zu sprechen, als der »Anfall« kam und das Gespräch unterbrach. Tengo nahm eine Kopie des Manuskripts aus seiner Tasche und legte es auf den Tisch. Er ließ die Hände über den Stapel gleiten und prüfte, wie es sich anfühlte.

»Ich sagte es schon am Telefon: Das Beste an ›Die Puppe aus Luft‹ ist, dass die Autorin nicht versucht, jemanden zu imitieren. Das ist äußerst selten bei einem Erstlingswerk. Die versuchen sonst immer wie irgendetwas anderes zu sein.« Tengo sprach wohlüberlegt. »Natürlich ist ihr Stil noch ungeschliffen und die Wortwahl ungeschickt. Es fängt schon beim Titel an, sie verwechselt ›Puppe‹ mit ›Kokon‹. Wenn ich wollte, könnte ich reihenweise Fehler aufzählen. Aber trotz allem hat die Geschichte etwas sehr Anziehendes. Als Ganzes ist sie zwar phantastisch, dennoch ist die Schilderung der Einzelheiten bedrückend real. Dieses Spannungsverhältnis macht sich ausgezeichnet. Ob ihre Originalität, Folgerichtigkeit oder sprachliche Qualität ausreichen, weiß ich nicht. Wenn Sie mir sagen, das Niveau sei ungenügend, kann das durchaus sein. Der Text liest sich holprig, aber als ich damit durch war, wirkte er noch lange ruhig nach. Auch wenn ein seltsames, unbehagliches Gefühl dabei war, das schwer zu beschreiben ist.«

Komatsu sah Tengo wortlos an. Er wollte mehr hören.

»Ich konnte das Werk nicht einfach aus der Auswahl streichen, nur weil es sprachliche und stilistische Mängel hat. In den letzten Jahren habe ich berufsmäßig bergeweise eingereichte Manuskripte gelesen. Überflogen kommt der Sache wohl näher. Darunter waren vergleichsweise gut geschriebene Texte und auch völlig hoffnungslose – letztere natürlich in der Überzahl. Doch von allen Werken, die mir unter die Augen gekommen sind, hat bisher keins so auf mich gewirkt wie ›Die Puppe aus Luft‹. Es war auch das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, einen Text, nachdem ich ihn bereits gelesen hatte, im Geiste noch einmal zu lesen.«

»Aha«, sagte Komatsu. Aufrichtig interessiert zog er an seiner Zigarette. Er spitzte die Lippen. Aber Tengo kannte ihn nicht erst seit gestern und ließ sich nicht so leicht von seiner Attitüde täuschen. Dieser Mann setzte häufig ein Gesicht auf, das mit seinen wahren Gefühlen nichts zu tun hatte oder sogar ihr Gegenteil ausdrückte. Tengo wartete geduldig darauf, dass Komatsu sich äußerte.

»Ich habe es auch gelesen«, sagte Komatsu, nachdem er einen Moment hatte verstreichen lassen. »Gleich nachdem du mich angerufen hast. Also, nein, es ist doch wirklich furchtbar schlecht, oder? Die Grammatik ist katastrophal, und es gibt sogar Sätze, bei denen man nicht versteht, was sie bedeuten oder was die Autorin damit sagen will. Bevor sie einen Roman oder so was schreibt, sollte sie lieber erst mal die Grundbegriffe der Syntax lernen.«

»Aber Sie haben es zu Ende gelesen. Stimmt’s?«

Komatsu lächelte. Es war ein Lächeln aus einer Schublade, die er für gewöhnlich nicht öffnete. »Ja, stimmt. Da hast du recht. Ich habe es ganz gelesen. Hat mich selbst überrascht. Dass ich ein für den Debütpreis eingereichtes Manuskript ganz durchlese, das gibt es praktisch nie. Schlimmer noch, einige Teile habe ich sogar zweimal gelesen. Das kommt ungefähr so oft vor wie eine Syzygie. Das gebe ich zu.«

»Es hat was. Oder nicht?«

Komatsu legte seine Zigarette in den Aschenbecher und rieb sich mit dem rechten Mittelfinger einen Nasenflügel, ohne auf Tengos Frage zu antworten.

»Das Mädchen ist erst siebzehn. Sie geht auf die Oberschule. Sie hat nur noch keine Übung darin, Literatur zu lesen oder zu schreiben. Für dieses Werk bekommt sie den Debütpreis wahrscheinlich wirklich nicht. Aber es hätte das Zeug dazu, in die engere Auswahl zu kommen. So weit können Sie doch entscheiden, Herr Komatsu, oder? Daran kann sie dann anknüpfen.«

»Meinst du?«, sagte Komatsu. Er gähnte gelangweilt und trank anschließend sein Wasser in einem Zug aus. »Tengo, mein Freund, jetzt überleg doch mal. Angenommen, wir nehmen diesen Wirrwarr in die engere Auswahl. Die Damen und Herren von der Jury fallen doch auf den Hintern. Womöglich werden sie sogar sauer. Nicht mal zu Ende lesen werden sie es. In der Jury sind vier aktive Schriftsteller. Diese Leute haben eine Menge zu tun. Nach den ersten zwei Seiten schmeißen die das Ding in die Ecke. Den Aufsatz einer Erstklässlerin werden sie es nennen. Wir haben hier etwas vor uns, das nur glänzt, wenn man es poliert. Wird jemand auf mich hören, wenn ich es anpreise? Auch wenn ich die Macht hätte zu bestimmen, würde ich lieber etwas Erfolgversprechenderes nehmen.«

»Heißt das, Sie lassen es einfach fallen?«

»Das habe ich nicht gesagt.« Komatsu rieb sich den Nasenflügel. »Ich habe nur eine etwas andere Idee.«

»Eine etwas andere Idee«, sagte Tengo. Die Worte hatten einen leicht unheilvollen Klang.

»Du schlägst vor, wir sollen unsere Erwartungen auf ihr nächstes Werk richten«, sagte Komatsu. »Ich selbst würde natürlich gern warten. Für einen Redakteur ist es die größte Freude, einen jungen Autor langsam und liebevoll heranzuziehen. Welch herzerquickliche Beschäftigung ist es doch, den Blick über den klaren Nachthimmel schweifen zu lassen und einen neuen Stern zu entdecken, bevor es ein anderer tut. Leider kann ich mir, ehrlich gesagt, nur schwer vorstellen, dass von diesem Mädchen noch mehr zu erwarten sein wird. Bei aller Fehlbarkeit friste ich immerhin seit zwanzig Jahren mein Leben in dieser Branche. In der Zwischenzeit habe ich alle möglichen Autoren kommen und gehen sehen. Dabei habe ich einigermaßen gelernt, die, von denen noch was kommt, und die, von denen wahrscheinlich nichts mehr kommt, zu unterscheiden. Und dass es bei dem Mädchen kein nächstes Mal gibt, kann ich dir jetzt schon sagen. Tut mir leid. Auch kein übernächstes Mal. Und kein überübernächstes Mal. Erstens hat sie einen Stil, den man nicht mit der Zeit durch Übung verbessern kann. Da kannst du warten, bis du schwarz wirst. Man kann keinen guten Text schreiben, wenn man zwar die Absicht hat, einen guten Text zu schreiben, aber keinen blassen Schimmer, wie das geht. Wer schreiben will, muss entweder über ein angeborenes literarisches Talent verfügen oder sich abmühen, bis er wahnsinnig wird oder stirbt. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Aber auf diese Fukaeri trifft weder das eine noch das andere zu. Sie hat keine erkennbare natürliche Begabung und anscheinend auch nicht die Absicht, sich zu bemühen. Warum sie diese Geschichte geschrieben hat, weiß ich nicht, aber bestimmt nicht aus Interesse an der Schriftstellerei. Offenbar hat sie den Wunsch, eine Geschichte zu erzählen, anscheinend sogar den recht starken Willen. Das erkennt man. Das ist es auch, was dich bei aller Ungeschliffenheit anzieht und mich dazu gebracht hat, das Manuskript zu Ende zu lesen. Es ist in jedem Fall ein tolles Ding. Dennoch hat sie als Schriftstellerin keinen Fliegenschiss von einer Zukunft. Jetzt bist du wahrscheinlich enttäuscht, aber so ist es nun mal – wenn ich dir ganz offen meine Meinung sagen darf.«

Tengo dachte nach. Was Komatsu zu sagen hatte, klang vernünftig. Verlegerischen Instinkt konnte man ihm nicht absprechen.

»Aber es wäre doch nicht schlecht, ihr eine Chance zu geben, oder?«, sagte Tengo.

»Du willst sie ins kalte Wasser werfen und sehen, ob sie schwimmt oder untergeht?«

»Vereinfacht ausgedrückt.«

»Ich habe schon genug sinnlose Zerstörung angerichtet. Ich will nicht mehr zusehen, wie jemand absäuft.«

»Und wie beurteilen Sie dann meinen Fall?«

»Du bemühst dich wenigstens«, sagte Komatsu nachdrücklich. »Soweit ich sehen kann, gibt es bei dir keine Schlamperei. Du empfindest große Hochachtung vor dem Schreiben. Und warum? Weil du gern schreibst. Auch das schätze ich an dir. Die Liebe zum Schreiben ist für jemanden, der die Schriftstellerlaufbahn anstrebt, die wichtigste Eigenschaft.«

»Aber das allein genügt nicht.«

»Natürlich genügt das nicht. Man braucht ›das gewisse Etwas‹. Und das beinhaltet zumindest, dass ich nicht aufhören kann zu lesen. Bei Romanen ist das mein erstes Einschätzungskriterium. An Büchern, die ich gleich wieder aus der Hand legen kann, habe ich nicht das geringste Interesse. Das ist doch eine klare Sache. Eine ganz simple Angelegenheit.«

Einen Moment lang schwieg Tengo. Dann sagte er: »Aber das, was Fukaeri geschrieben hat, erfüllt dieses Kriterium doch. Sie konnten nicht aufhören zu lesen.«

»Ja, ja, natürlich. Die Kleine hat irgendetwas Besonderes. Was, weiß ich nicht, aber sie hat es. Das merkt man. Du merkst es, ich merke es. Es ist für jedermann deutlich erkennbar, wie der Rauch eines Lagerfeuers an einem windstillen Tag. Aber, mein lieber Tengo, was das Mädchen hat, sollte man vielleicht nicht in ihren Händen lassen.«

»Weil keine Aussicht besteht, dass sie schwimmt, wenn wir sie ins Wasser werfen.«

»Genau.«

»Also kommt sie nicht in die Auswahl?«

»O doch«, sagte Komatsu. Er verzog die Lippen und legte beide Hände nebeneinander auf den Tisch. »An dieser Stelle muss ich meine Worte mit Bedacht wählen.«

Tengo nahm seine Tasse und betrachtete den Kaffeesatz. Er stellte sie wieder ab. Komatsu sagte noch immer nichts. Also ergriff Tengo das Wort. »Jetzt kommt wohl die ›etwas andere Idee‹ ins Spiel, von der Sie gesprochen haben?«

Komatsu kniff die Augen zusammen, wie ein Lehrer, der einen guten Schüler vor sich hat, und nickte bedächtig. »Ganz genau, mein lieber Junge, du sagst es.«

Komatsu hatte etwas Undurchschaubares an sich. Niemals konnte man von seiner Miene oder Stimme auf seine Gedanken und Gefühle schließen. Er schien es selbst nicht wenig zu genießen, anderen Sand in die Augen zu streuen. Auf alle Fälle arbeitete sein Kopf sehr schnell. Er war ein Typ, der stets seiner eigenen Logik folgte und der urteilte, ohne auf die Erwartungen anderer Rücksicht zu nehmen. Er spielte sich nie unnötig auf, hatte aber eine gewaltige Menge von Büchern gelesen und verfügte über große Detailkenntnis auf den verschiedensten Gebieten. Aber er besaß nicht nur Wissen, sondern auch Scharfblick, der es ihm ermöglichte, Menschen und Werke zu durchschauen. Dazu gehörte wahrscheinlich auch eine gewisse Voreingenommenheit, doch die war für ihn ein wichtiger Aspekt der Wahrheit.

Komatsu war von Natur aus kein Mann vieler Worte, und er hasste es, überflüssige Erklärungen abgeben zu müssen, aber wenn es nötig war, vermochte er seine Meinung scharfsinnig und logisch zu vertreten. Er konnte auch ziemlich bissig werden. Dann traf er die verwundbarste Stelle seines Gegners mit einem gezielten Hieb. Er hatte starke persönliche Vorlieben, allerdings überwog die Zahl der Personen und Werke, die er nicht tolerieren konnte, die der anderen bei weitem. Naturgemäß war auch die Zahl derer, die keine Sympathie für ihn hegten, größer als die derjenigen, die ihn mochten, was seinen eigenen Wünschen jedoch durchaus entgegenkam. Wie Tengo es sah, war Komatsu gern allein, und er genoss es sogar, von anderen mit Distanz behandelt oder eindeutig abgelehnt zu werden. Komatsus Überzeugung zufolge erwuchs ein scharfer Geist nicht aus behaglichen Umständen.

Komatsu war fünfundvierzig, also sechzehn Jahre älter als Tengo. Er widmete sich mit großem Engagement der Herausgabe einer Kunst- und Literaturzeitschrift und galt in der Fachwelt als Experte. Über sein Privatleben jedoch wusste niemand etwas. Durch seinen Beruf kannte er zwar eine Menge Leute, aber über persönliche Dinge sprach er mit niemandem. Tengo hatte keine Ahnung, wo Komatsu geboren und aufgewachsen war oder wo er augenblicklich wohnte. Obwohl sie lange Gespräche führten, wurden diese Themen nie angeschnitten. Man wunderte sich, dass Komatsu bei seiner ausgeprägten Unzugänglichkeit und seiner verächtlichen Haltung gegenüber dem Literaturbetrieb so viele Manuskripte namhafter Autoren an Land zog, aber er bekam offenbar mühelos immer genau das zusammen, was gerade gebraucht wurde. Häufig war es ihm zu verdanken, dass die Zeitschrift ein gewisses Erscheinungsbild und Format besaß. Deshalb war er, wenn auch nicht gerade beliebt, so doch angesehen.

Gerüchten zufolge hatte Komatsu in den sechziger Jahren, als er an der Universität Tokio Literaturwissenschaft studierte, an den Protesten gegen den Sicherheitsvertrag zwischen den USA und Japan teilgenommen. Es hieß, er habe zu den Anführern der Studentenbewegung gehört und sei ganz in der Nähe gewesen, als Michiko Kanba auf einer Demonstration von der Polizei angegriffen und getötet wurde. Komatsu sei ebenfalls schwer verletzt worden. Wie viel davon der Wahrheit entsprach, wusste man nicht. Aber eigentlich klang es recht überzeugend. Komatsu war lang und dünn, sein Mund unverhältnismäßig groß, die Nase unverhältnismäßig klein. Er hatte schlaksige Arme und Beine, und seine Finger waren gelb vom Nikotin. Er erinnerte an einen der Revolutionäre aus einer heruntergekommenen Intelligenzija, wie sie in russischen Romanen des 19. Jahrhunderts vorkommen. Er lachte so gut wie nie, aber wenn, dann über das ganze Gesicht. Doch selbst dann sah er nie besonders fröhlich aus, sondern lediglich wie ein überalterter Zauberlehrling, der kichernd unheilvolle Weissagungen erstellte. Er war reinlich und achtete auf seine äußere Erscheinung, trug aber immer etwas Ähnliches, vermutlich, um der Welt zu zeigen, wie gering sein Interesse an Kleidung war. Seine Uniform bestand aus Tweedjacketts, weißen Oxfordhemden oder grauen Poloshirts, grauen Hosen und Wildlederschuhen. Eine Krawatte trug er nie. Man konnte förmlich vor sich sehen, wie das in Farbe, Herkunft und Größe kaum zu unterscheidende halbe Dutzend Tweedjacketts mit drei Knöpfen sorgfältig ausgebürstet bei ihm zu Hause im Schrank hing. Wahrscheinlich hatte er sie durchnummeriert, um sie auseinanderhalten zu können.

Komatsus festes, an Draht erinnerndes Haar, das ihm bis über die Ohren reichte, war an der Stirn bereits leicht ergraut und stets etwas zerzaust. Seltsamerweise hatte es immer die gleiche Länge, selbst wenn sein letzter Friseurbesuch erst eine Woche zurücklag. Tengo konnte sich nicht erklären, wie das möglich war. Bisweilen blitzten Komatsus Augen scharf auf, wie Sterne an einem winterlichen Nachthimmel. Falls er aus irgendeinem Grund einmal in Schweigen verfiel, schwieg er mit der Finalität eines Felsens auf der Rückseite des Mondes. Sein Gesicht wurde nahezu ausdruckslos, und selbst seine Körpertemperatur schien abzusinken.

Tengo hatte Komatsu fünf Jahre zuvor kennengelernt. Damals hatte er sich bei der Literaturzeitschrift, die Komatsu mitherausgab, um einen Preis für das beste Erstlingswerk beworben und war in die Endauswahl gelangt. Komatsu hatte ihn angerufen und um ein Treffen gebeten. Sie verabredeten sich in einem Café in Shinjuku (dem gleichen, in dem sie auch jetzt saßen). Für das jetzige Buch werde Tengo den Preis nicht bekommen, hatte Komatsu ihm eröffnet. (Er bekam ihn tatsächlich nicht.) Aber er persönlich habe Gefallen an Tengos Arbeit gefunden. »Ich erwarte keinen Dank, aber es kommt sehr selten vor, dass ich das zu jemandem sage«, erklärte Komatsu. (Damals wusste Tengo das noch nicht, aber es entsprach der Wahrheit.) »Wenn du also dein nächstes Buch schreibst, möchte ich, dass du es mich lesen lässt. Als Ersten, vor allen anderen.« Tengo war einverstanden.

Komatsu wollte außerdem wissen, was für ein Mensch Tengo war. Woher er kam und was er im Augenblick tat. Tengo berichtete so aufrichtig wie möglich. Er war in Ichikawa in der Präfektur Chiba geboren und aufgewachsen. Seine Mutter war kurz nach seiner Geburt erkrankt und gestorben. So hatte es ihm zumindest sein Vater erzählt. Geschwister hatte er keine. Sein Vater hatte nicht wieder geheiratet und Tengo mit Hilfe einer männlichen Hilfskraft aufgezogen. Früher hatte er für den staatlichen Sender NHK Rundfunkgebühren kassiert. Inzwischen war er an Alzheimer erkrankt und lebte in einem Sanatorium an der Südspitze der Boso-Halbinsel. Tengo hatte an der Universität Tsukuba einen Studiengang mit der sonderbaren Bezeichnung »Fachbereich 1 für Naturwissenschaft und Mathematik im Hauptfach« absolviert und schrieb jetzt Romane. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit Mathematikunterricht an einer Yobiko, einer der vielen privaten Institutionen, die in Japan die Studienanwärter auf die Aufnahmeprüfungen der Universitäten vorbereiten. Diese Schule lag im Tokioter Stadtteil Yoyogi. Nach dem Examen hatte er sich zunächst als Lehrer am Präfekturgymnasium seines Heimatorts versucht, sich dann jedoch wegen der flexibleren Arbeitszeiten und der größeren Unabhängigkeit für die Yobiko entschlossen. Er lebte allein in einer kleinen Wohnung in Koenji.

Er wisse selbst nicht, ob er wirklich Schriftsteller von Beruf werden wolle. Auch nicht, ob er wirklich Talent zum Schreiben habe. Nur dass er jeden Tag schreiben müsse, das sei ihm klar. Schreiben sei für ihn wie Atmen. Komatsu hörte ihm ruhig zu, ohne sich dazu zu äußern.

Tengo wusste nicht, warum, aber Komatsu schien eine persönliche Zuneigung zu ihm entwickelt zu haben. Äußerlich vermittelte Tengo den Eindruck eines kräftigen Bauernburschen (er war von der Mittel- bis zur Oberstufe im Judo-Team gewesen), der stets in aller Frühe aufstand. Er trug die Haare kurz, war stets gebräunt, hatte Blumenkohlohren und sah weder wie ein junger Literat noch wie ein Mathematiklehrer aus. All das schien ganz nach Komatsus Geschmack zu sein. Sobald Tengo etwas Neues geschrieben hatte, gab er es Komatsu, der es durchlas und ihm seine Meinung mitteilte. Daraufhin schrieb Tengo den Text, seinen Ratschlägen folgend, um. Und Komatsu gab ihm neue Hinweise, wie ein Trainer, der die Messlatte immer höher ansetzt. »In deinem Fall dauert es vielleicht ein bisschen«, sagte Komatsu. »Aber wir haben ja keine Eile. Sei tapfer und schreib weiter, unentwegt, jeden Tag. Heb alles Geschriebene sicherheitshalber auf. Es könnte dir vielleicht später noch von Nutzen sein.« Das würde er tun, sagte Tengo.

Komatsu vermittelte ihm auch kleinere journalistische Aufträge. Beispielsweise schrieb Tengo anonym für eine Frauenzeitschrift, die Komatsus Verlag ebenfalls herausgab. Beiträge umschreiben, einfache Besprechungen von Filmen oder Neuerscheinungen bis hin zu Horoskopen, alles ging ihm leicht von der Hand. Er erwarb sich sogar den Ruf, mit seinen Horoskopen häufig richtigzuliegen. Als er einmal vor »Erdbeben am Morgen« warnte, kam es just an diesem Morgen tatsächlich zu einem stärkeren Beben. Das zusätzliche Einkommen, das ihm diese Auftragsarbeiten einbrachten, kam ihm zupass, und zugleich waren sie eine gute Übung. Es beglückte ihn, etwas, das er geschrieben hatte, in welcher Form auch immer gedruckt und in Buchläden aufgereiht zu sehen.

Bald beteiligte man Tengo auch an der Vorauswahl der für den Debütpreis eingesandten Manuskripte. Es war zwar etwas seltsam, dass er die Manuskripte anderer Kandidaten begutachtete, während er sich selbst auch um den Preis bewarb. Aber Tengo nahm sich dieser Texte unparteiisch an, ohne sich um diese Widersprüchlichkeit zu kümmern. Dadurch, dass er bergeweise schlechte und langweilige Romane las, lernte er gründlich, was schlechte und langweilige Romane waren. Aus den etwa hundert Werken, die er jedes Mal zu lesen bekam, wählte er ungefähr zehn aus, die ihm nicht ganz unbedeutend erschienen, und reichte sie an Komatsu weiter. Jedem davon legte er ein Memo mit seinen Überlegungen bei. Fünf kamen in die Endauswahl, und eine vierköpfige Jury kürte schließlich den Preisträger.

Neben Tengo gab es noch andere Honorarkräfte, die lasen, und neben Komatsu noch eine Anzahl weiterer Redakteure, die die Vorauswahl trafen. Es wurde Objektivität erwartet, aber allzu viel Mühe musste man sich nicht machen. Denn von den zahlreichen Einsendungen gaben höchstens zwei oder drei Anlass zu gewissen Hoffnungen, und diese waren kaum zu übersehen, ganz gleich, wer sie las. Dreimal schaffte es Tengo in die Auswahl. Natürlich hatte er sich nicht selbst gewählt, sondern zwei der anderen Aushilfsleser sowie Komatsus Redaktion hatten für ihn gestimmt. Keine von Tengos Arbeiten erhielt den Preis, aber er war nicht enttäuscht. Zum einen hatte sich ihm Komatsus Bemerkung, er könne sich ruhig Zeit lassen, eingeprägt, außerdem lag ihm auch nicht sonderlich viel daran, sofort und auf der Stelle Schriftsteller zu werden.

Wenn sein Stundenplan geregelt verlief, konnte er vier Tage in der Woche zu Hause tun und lassen, was ihm gefiel. Seit sieben Jahren lehrte er nun an der gleichen Yobiko und hatte einen sehr guten Ruf bei den Schülern. Sein Unterrichtsstil war sachlich, und er besaß die Fähigkeit, jede Frage präzise zu beantworten, ohne weitschweifig zu werden. Zu Tengos eigener Überraschung besaß er Talent zum Reden. Er konnte gut erklären, hatte eine tragende Stimme, und oft gelang es ihm, mit einem Scherz die ganze Klasse zum Lachen zu bringen. Bevor er Lehrer geworden war, hatte er sich immer für einen schlechten Redner gehalten. Selbst jetzt noch war er manchmal aufgeregt und stockte, wenn er vor Leuten sprechen musste. Kam er in eine kleine Gruppe, nahm er fast ausschließlich die Rolle eines Zuhörers ein. Aber wenn er unterrichtete und vor einer anonymen Zuhörerschaft stand, wurde sein Kopf plötzlich klar, und er konnte frei und beliebig lange sprechen. Der Mensch ist ein rätselhaftes Wesen, dachte er immer wieder.