Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Endlich wurden die 3 x 13 Horrorgeschichten in einem Sammelband vereint. Tauchen Sie ein in die Psyche anderer Menschen. Erleben Sie blutige Albträume und entdecken Sie tiefgründige, verborgene Geheimnisse in den Seelen Ahnungsloser. Erleben Sie mörderische Spiele und gleiten Sie auf triefenden Blutspuren zum Showdown. Aber vergessen Sie nicht, aufkommende Ängste zu vertreiben, bevor Sie das Licht löschen und zu Bett gehen. Sammelband: Teil 1 13 Horror-Geschichten Teil 2 Und wieder 13 Horror-Geschichten Teil 3 Weitere 13 Horror-Geschichten
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 752
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Vorwort
Teil 1
Besuch
Rita
Lovechat
In den Wolken
13
Endspiel
Mutprobe
Warum
Paradies
Solstitium
Perfekt
Deja Vu
Dark Tourism
Teil 2
Karma
Bestseller
Guadeloupe
Hoia Baciu
Khakhua
Meteor
Sokushinbutsu
Areal 820
Asche
Highgate Cemetery
Metro
Nachtschicht
Sieben
Teil 3
Speed
Schlaf
Simdi
Das Dinner
Apokalypse (Now)
Amanda
Die Mutprobe
Das Geisterschiff
Die Villa
Der Zwischenfall
Flug XX-666
Rache
Party Time
Auf meinem Autorenweg wollte ich irgendwann mit dem Genre „Horror“ experimentieren. Was mir fehlte, war der Anstoß. Ein unrealistischer Vergleich über die Abschaffung des Bargeldes brachte den Stein schließlich ins Rollen.
Wenn das Bargeld abgeschafft wird und als Zahlungsmittel nur noch Kreditkarten gültig sind, ist das so, als würde ich ein Hochhaus bauen mit einem Aufzug - ohne Treppenhaus.
Unglaublicherweise kam mir dabei der Gedanke, wie man sich im 50. Stock fühlt, wenn der Aufzug länger ausfällt und es wirklich keine Treppe gibt. Daraus wurde meine erste Horror-Kurzgeschichte. Nachdem der Stein rollte, war es schwer ihn aufzuhalten. Das Schicksal einfach zu ignorieren funktioniert nicht. Ununterbrochen drängten sich real existierende Bilder oder Berichte aus dem Horrorgenre in mein Unterbewusstsein. Dann kam der Moment, an dem es aus mir herausbrach. Ich musste endlich anfangen aufzuschreiben, was in den Gehirnwindungen herumschwirrte. Die Alternative waren blutige Albträume. Mir blieb keine andere Wahl. Doch die 3 x 13 Geschichten sind nicht genug, denn das Genre hält mich zwanghaft fest – ein Ende ist nicht in Sicht.
Bevor Sie sich Sorgen machen, ich muss nicht bei Licht schlafen, wie ein gewisser Stephen King. Auch sonst geht es mir gut, denke ich - sofern ich nicht in einem Traum gefangen bin!
Apropos Traum: Meine Albträume sind vorbei, Ihre beginnen vielleicht gerade jetzt!
Eins gleich vorweg, es handelt sich nicht um ein neues Buch.
Teil 1 13 Horror-Geschichten
Teil 2 Und wieder 13 Horror-Geschichten
Teil 3 Weitere 13 Horror-Geschichten
wurden hier in einem Sammelband vereint.
Alle drei Teile in einem Buch – wozu? Eine gute Frage, die ich nicht beantworten kann. Mein Gefühl sagte mir, tue es einfach - und ich habe es getan.
Noch ein wichtiger Satz, bevor es losgeht:
Personen und Handlungen entspringen ausschließlich meiner mehr als lebhaften Fantasie. Ähnlichkeiten mit existierenden oder toten Lebewesen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
ISBN Nr: 9783752625165
„Mädels, wir werden heute Besuch bekommen.
Von wem?
Keine Ahnung.
Warum?
Hört doch auf, euch jetzt schon zu streiten. Es wird schon ein anständiger und ehrbarer Mann sein.
Hab gehört, er soll uns irgendwie helfen!
Bei was denn? Ich brauch keine Hilfe!
Ja, genau – du brauchst keine Hilfe!
Was soll das heißen? Wirfst du mir etwa vor, ich würde Hilfe benötigen - oder was?
Ruhig Mädels! Mal sehen, was er von uns will.
Vielleicht braucht er ja unsere Hilfe.
Deine Hilfe braucht doch sowieso keiner.
Wenn sich jeder an Recht und Ordnung halten würde, benötigte keiner Hilfe.
Moralapostel!
Ja, genau - und dazu stehe ich auch und werde weiterhin alle Regeln beachten. So wie es bei meinen Eltern früher war und bei deren Eltern.
Und so weiter bla, bla, bla.
Hey, woher willst du wissen, dass es ein Mann ist?
Ich vermute es.
Und ich hoffe es.
Warum?
Bis du blöd, diese Frage zu stellen? Immer noch so naiv.
Weil ich geil bin und gerne mal wieder einen Pimmel zwischen meinen Beinen hätte.
Bestimmt juckt es dort unten schon gewaltig.
Klar, schau mal: meine Nippel stehen schon auf halb acht.
Ihr seid pervers, einfach nur triebgesteuert.
Ich kann doch nichts dafür, dass du so prüde bist.
Ich bin nicht prüde!
Nein, eher total verklemmt.
Wo ist nur eure Moral geblieben, euer Anstand? Eure Erziehung hat versagt. Das musste mal gesagt werden.
Hör auf so zu reden, sonst werde ich entweder kotzen oder noch geiler, als ich jetzt schon bin.
Hast du nichts anderes in deinem Schädel?
Und schon wieder so eine unvorsichtige Frage!
Oh doch, ich habe noch andere Dinge im Kopf. Willst du sie hören?
Nein, besser nicht.
Ich sag’s dir aber trotzdem: Ich könnte ihn nackt ausziehen, ein Messer nehmen und einen tiefen Schlitz von der linken Schulter zu seiner linken Hüfte schneiden.
Hör auf, mir wird schlecht!
Mach weiter, ich will sie kotzen sehen!
Dann den nächsten sauberen Schnitt von der rechten Schulter bis zur rechten Hüfte. Danach einen letzten feinen sauberen Schnitt von Schulter zu Schulter. Und jetzt kommt‘s: Denn danach würde ich ihm die Haut mit einem Ruck abziehen, mit meinen blutigen Fingernägeln anschließend sein Herz herausreißen - und wenn es noch schlägt, genüsslich verspeisen!
Du brauchst unbedingt Hilfe!
Vielleicht kommt er ja wegen dir zu uns.
Nie im Leben! Eher wegen deinen tausend Neurosen und dem „früher war alles besser“.
Ganz unrecht hat sie ja nicht mit dem „früher“.
Ihr seid doch beide dämlich. Ihr vergesst zu leben und euren Trieben freien Lauf zu lassen.
Das kannst du von uns am allerbesten!
Oh ja, das kann sie wirklich!
Dann hört mal zu, was ich nachher mit dem Kerl anfangen werde, als Alternative zu meinem vorhergehenden Vorschlag sozusagen.
Und wenn ihr mir mithelft, könnt ihr eure abstoßend langweilige Art problemlos überwinden und euch dabei zusätzlich von euren Ängsten befreien - als Bonus sozusagen.
Ich höre!
Ich nicht!
Also: Wenn er reinkommt, werfen wir ihn gemeinsam auf den Boden. Ihr haltet ihn fest, während ich seinen Pimmel zum Stehen bringe. Dann drückt ihr ihm die Kehle zu und ich beginne, seinen Schwanz zu bearbeiten. Wir schauen dann, was zuerst passiert: tot oder Ejakulation.
Unglaublich, deine Gedanken!
Ich tippe auf beides gleichzeitig.
Ich würde mit meinen Schuldgefühlen nie mehr wieder schlafen können!
Ach was, das geht vorbei, ich spreche aus Erfahrung.
Hoffentlich hört uns keiner zu!
Warum? Hast du Angst? Ach ja, ich vergaß: Du bist ja unsere Oberhosenscheißerin.
Ich versuche wenigstens nach den Traditionen und nach meiner Erziehung zu leben, wozu ihr beide nicht in der Lage seid.
Hast du vergessen, dass dein Vater dich geschlagen hat?
Das stimmt nicht!
Stimmt doch! Und uns hast du immer etwas von Vorbereitung gesagt.
Ja, genau! Die Vorbereitung auf das harte Leben, das vor dir liegt, waren deine Worte, und dass es gut für dich ist.
Apropos hart! Ich werde schon wieder spitz wie Nachbars Lumpi.
Dann schaut euch doch mal in der Außenwelt um. Vielleicht könnt ihr dann verstehen, warum Regeln so wichtig sind!
Das war die Ausrede deiner Mutter. Stimmt‘s?
Die Schlampe hat Gras geraucht, während sie mit dir schwanger war.
Und ständig gevögelt hat sie auch, bis kurz vor deiner Geburt.
Ihre Fruchtblase ist von einem Pimmel zum Platzen gebracht worden.
Hört auf, ich will das nicht hören!
Ja, klar! Die Wahrheit willst du nicht hören! Dann lieber alles ins Unterbewusstsein verdrängen. Darin bist du ja unsere Topspezialistin!
Komm, lass sie in Ruhe! Es reicht! Sonst dreht sie uns noch durch, bevor der Besuch kommt.
Ach ja, wann kommt das Arschgesicht denn endlich? Meine Muschi wird schon wieder trocken.
Nicht schon wieder!
Vielleicht bringt er uns ja etwas zu essen mit.
Das wäre nicht schlecht. Mir liegt die letzte Mahlzeit eh schwer im Magen. Ich werde mal kurz scheißen gehen.
Sei nicht so vulgär!
Du bleibst besser hier, sonst verpasst du ihn noch.
Ok, dann lass ich aus meinem Arschloch einen anständigen knallen, und wenn er reinkommt, fällt er in Ohnmacht, dann müssen wir ihn nicht mal überwältigen.
Geht das schon wieder los!
Du weißt doch, wie sie ist: Für sie gibt es nur Sex oder den Tod.
Stimmt! – Oh, hört ihr? Ich glaube, es kommt jemand.
Seht doch, die Tür geht auf!
Geil, ein Kerl! Und er sieht auch noch ganz ansprechend aus.
Ficken! Sofort!
Zu alt für dich.
Egal, ich erledige das! Er muss fast nix machen.
Still jetzt alle! Lasst uns zuerst hören, was er von uns will.“
„Hallo Rose! Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.“
„Rose? Wer soll das denn bitte schön sein?
Irgend so eine Schlampe vielleicht.
Kennt die jemand von euch?
Nie von der Hure gehört.
Und was sollen wir mit einem Buch?
Oh, er geht schon wieder! – Warum?
So ein Mist! Ich habe noch nicht mal sehen können, wie groß sein Pimmel ist. Naja, jetzt sehe ich wenigstens seinen geilen Arsch.
Ich halte den Kerl jetzt auf. Ich will wissen, was das soll!
Wartet mal! Schaut euch den Titel des Buches an:
Das „Es“, das „Ich“ und das „Über-Ich“
Das Drei-Instanzen-Modell der Psychoanalyse Von Sigmund Freud.
Denkt das Arschloch wir sind verrückt, oder was?“
„Schwester Hilde, bitte passen Sie auf, dass Rose in der Gummizelle keine Dummheiten mit dem Buch anstellt.“
„Mach ich, Herr Doktor. Glauben Sie, es bringt etwas?“
„Bei Rose kann es nur besser werden, Schwester Hilde.
Wer ist der nächste Patient auf der Liste?“
„Nikola Tesla, Herr Doktor.“
„Ist das der, der eine Taube heiraten möchte?“
„Genau, Herr Doktor.“
„Dann wollen wir mal! Nach Ihnen, Schwester Hilde.“
ENDE
Mit einem gellenden Schrei auf den Lippen wachte Rita schweißgebadet in ihrem Bett auf. Das letzte Bild ihres Traumes noch vor Augen, lief ihr eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken. Sie schüttelte sich und kam nur langsam in die Wirklichkeit zurück. Sie zwang sich, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren, was die Panikattacke verlangsamte. Erst jetzt bemerkte sie ihren rasenden Herzschlag. Mit der langsameren Atmung beruhigte sich auch ihr Puls. Es dauerte eine Zeitlang, bis sich alle lebenswichtigen Funktionen wieder beruhigten. Nach etwa zehn Minuten traute sie sich, ihren Kopf etwas nach links zu bewegen, um auf ihren Wecker zu schauen.
„9:13 Uhr - Sonntag, 03.11.1974“, las sie laut vor. Ihre Stimme zu hören, beruhigte sie zusätzlich.
Dann fiel ihr ein, dass sie morgen 16 Jahre alt werden würde. Dieser Gedanke verdrängte den bösen Traum immer weiter in ihr Unterbewusstsein. Sie stand mit immer noch zittrigen Beinen auf und schleppte sich ins Badezimmer. Nach der Dusche ging es ihr endlich besser, und sie versuchte, ihren Tag zu planen. Dann fiel ihr ein, dass Sonntag war und mittlerweile 10 Uhr. Ihr Magen begann so laut zu knurren, dass es jeder im Haus hören musste.
Gut gelaunt lief sie am Zimmer ihrer Geschwister vorbei. Die Zimmer ihres Bruders und ihrer Schwester waren ungewöhnlicherweise leer. Als sie durch die offene Tür das Chaos im Zimmer ihrer Schwester erblickte, musste sie schmunzeln, dachte an ihr Zimmer, schüttelte den Kopf und lief die Treppe nach unten. ‚Komisch,‘ dachte sie, als sie kein Mitglied ihrer Familie im Erdgeschoß antraf. ‚Alle ausgeflogen. Gut, dass keiner da ist, dann hat auch keiner meinen Schrei gehört,‘ dachte sie und schaltete die Kaffeemaschine ein, während sie sich ein Nutella-Brot schmierte.
Genüsslich biss sie in ihr Brot und begann zu kauen. ,Komisch,‘ dachte sie. ,Schmeckt irgendwie schal heute.’ Der Hunger verdrängte den Gedanken. Sie aß ihr Bot auf und trank ihren schwarzen Kaffee. Ohne die schädliche Milch und den lebensgefährlichen Zucker darin. ‚Meine Familie wird das nie verstehen,‘ dachte sie. Dann schweiften ihre Gedanken ab. Sie überlegte, was sie nun anstellen sollte. Die Sonne schien durch das Fenster und auf die Kommode. Ihr Blick blieb an den Bildern hängen, die auf der Kommode standen. Sie runzelte die Stirn, als sie registrierte, dass dort nur Bilder von ihr standen.
,Wann hat Mama das denn gemacht?‘, dachte sie.
Dann fiel ihr der Geburtstag ein, der morgen bevorstand.
Damit waren die Bildersache und die Abwesenheit ihrer Familienmitglieder für sie geklärt und erledigt.
Sie schnappte sich ihren Schlüssel und trat aus dem Haus. Als sie die Eingangstür abgeschlossen hatte, nahm sie einen tiefen Atemzug und wunderte sich über den süßen Blumengeruch, der in der Luft lag. Frohgelaunt stand sie auf dem Gehsteig und überlegte, wohin sie nun gehen sollte.
Sie entschied sich für links und steuerte auf den Spielplatz zu, der etwa einen Kilometer vom Haus entfernt lag.
‚Dort werden die Mädels schon und auf mich warten,‘ dachte sie. Also lief sie mit einem Pfeifen auf den Lippen los. Ihr fiel auf, dass die Straßen fast leer waren. Doch dann dachte sie wieder: ‚Es ist Sonntag. Bestimmt sind alle in der Kirche oder beim Kochen.‘ Am Spielplatz angekommen, lief sie direkt auf den Holzwigwam zu, ihrem Treffpunkt - und war enttäuscht! Keine ihrer Freundinnen war anwesend. Sie setzte sich auf die Holzkonstruktion, ließ ihre Beine baumeln und schaute dem einzigen Kind auf dem riesigen Spielplatz beim Schaukeln zu.
Ihr fiel auf, dass das Kind keine Freude beim Schaukeln hatte, denn es blickte nur stumpf geradeaus und schien sie absichtlich zu ignorieren. In Gedanken vertieft, hob Rita plötzlich ihren Kopf und grinste, als ihr einfiel, was sie als nächstes tun könnte. Sie stand auf, lief in Richtung Bürgersteig und sah nicht, dass das Mädchen auf der Schaukel ihr böse nachschaute. Auf einmal blieb Rita stehen, ihre Nackenhaare stellten sich auf. Sie drehte sich blitzschnell um, doch das Mädchen war verschwunden. Nur die Schaukel wippte noch hin und her, und ihre Augen konnten sich dem Pendeln des Spielgerätes nicht entziehen. Als die Schaukel endlich stillstand, schüttelte sie sich kurz und setzte ihren Weg fort.
Ihr fiel auf, dass die wenigen Menschen, die unterwegs waren, sie offensichtlich komplett ignorierten. Wieder lief ihr ein Schauer über den Rücken. Dieses Mal dauerte es länger, ihn abzuschütteln. Mit einem unguten Gefühl lief sie etwas schneller, weiter ihrem neuen Ziel entgegen. Sie wollte zum Fußballplatz. In der Hoffnung, ihre Freundinnen dort zu finden. Wenn die Jungs am Kicken waren, schauten sie immer zu und feuerten sie an. Insgeheim hoffte sie natürlich auch, dass ihr Schwarm heute spielen würde. Der Gedanke ließ ihr Herz etwas höher schlagen.
Als sie sich dem Fußballplatz näherte, ließ sie enttäuscht ihre Schultern hängen, denn nur eine Person befand sich auf dem Platz. Langsam lief sie auf eine Sitzgruppe zu, ihrem Stammplatz sozusagen. Dabei schaute sie zu dem Jungen, der sich auf der anderen Seite des Platzes befand und mit seinem Ball spielte.
Sie wurde misstrauisch, als sie erkannte, dass nicht nur die Kleidung des Jungen ziemlich zerlumpt aussah. Sondern, dass sich auf seiner Stirn getrocknetes Blut befand. Zuerst wich sie zurück, dann gab sie sich einen Ruck und lief skeptisch auf ihn zu. Als der Junge sie bemerkte, starrte er sie zuerst ungläubig an, dann lief er einfach in die entgegengesetzte Richtung davon, ohne seinen luftleeren Ball. Rita blieb enttäuscht stehen. Gerne hätte sie ihn gefragt, was denn los sei und warum er Blut auf seiner Stirn hatte. Sie seufzte und drehte sich wieder um. Doch als sie ihren Stammplatz erblickte, kam die Gänsehaut jäh zurück! Irgendetwas stand auf ihrem Platz. Sie überlegte lange, ob sie nachschauen sollte oder nicht.
Dann wurde die Neugierde größer als ihre Angst, und sie ging mit kleinen Schritten langsam auf ihre „Fansitzreihe“ zu, wie sie sie nannten.
Fassungslos blieb sie wenige Meter vorher stehen und öffnete ungläubig ihren Mund, ohne jedoch einen Laut von sich zu geben.
Eine Blumenvase mit einer schwarzen Rose stand auf ihrem Platz. Sie konnte ihren eingeritzten Namen in der Kunststoffschale über der Rose genau erkennen. Nicht zum ersten Mal für heute schüttelte sie fassungslos den Kopf. Sie mochte solche Scherze definitiv nicht und überlegte, wer ihr diesen Streich spielen könnte.
Ihr fiel niemand ein, den sie irgendwie verärgert haben könnte. Tief in ihre Gedanken versunken, verließ sie die Sportstätte ohne neues Ziel.
,Was ist heute nur los?‘, dachte sie, und eine Träne lief über ihre leicht gerötete Wange. Auf einmal bemerkte sie, dass die Straße sich mit immer mehr Menschen füllte. Sie blieb stehen und schaute sich hilflos um, bis sie unsanft von hinten angerempelt wurde. Ohne Entschuldigung lief der Mann mit hängendem Kopf einfach weiter an ihr vorbei. Immer öfter wurde sie angestoßen - und beinahe wäre sie sogar hingefallen! Panisch verließ sie die Straße und rannte rechts in eine parkähnliche Anlage. Irgendwann blieb sie völlig außer Atem stehen und sah sich um.
,Gut! Keine Menschenseele zu sehen,‘ dachte sie. Erleichtert verlangsamte sich ihre Atmung, bis sie erkannte, wo sie sich eigentlich befand. Panik erfasste sie! Ihr ganzer Körper begann zuerst zu zittern, dann wollte er sich schnell wieder in Bewegung setzen - doch irgendetwas hielt sie auf! Gegen ihren Willen senkte sie den Kopf, blickte dabei nach unten und erkannte, dass sie vor einem frisch angelegten Grab stand. Der Erdhügel war übersät mit Blumen und Kränzen in allen Farben und Größen. Es roch nach süßen Blumen und frischer Erde.
Widerwillig zwang sie ihren Blick zu dem ebenfalls mit Blumen geschmückten Holzkreuz:
„Rita, geboren am 04.11.1958,
tragisch von uns gegangen am 02.11.1974“, las sie laut vor.
Es dauerte unendlich lange, bis ihr Verstand endlich begriff, dass es sich bei dem Erdhügel um ihr eigenes Grab handelte!
Ihre Gedanken drehten sich wie ein Tornado im Kreis, und ihr Kopf drohte zu explodieren, bis sie sah, dass das Holzkreuz sich bewegte! Unfähig, wegzulaufen oder zu schreien, starrte sie fassungslos auf den Erdhügel.
Wie in Zeitlupe kullerten zuerst größere Erdklumpen zu Boden, dann rutschten die ersten Kränze zur Seite und das Kreuz mit ihrem Namen fiel um. Ein Finger stieß aus der Erde, dann noch einer und noch einer, bis eine Hand zu sehen war. Immer noch stand Rita gebannt vor dem Grab und verfolgte, wie eine zweite Hand sich nach oben reckte. Wenig später streckten sich zwei mit Erdklumpen verdreckte Hände bis zum Ellenbogen in die Luft. Und Rita setzte sich unfassbarerweise langsam in Bewegung - auf die Hände zu! Alles in ihr sträubte sich dagegen, doch sie konnte nichts dagegen unternehmen.
Mit Entsetzen erfasste sie, dass sich die eiskalten Hände unnachgiebig um ihre Knöchel schlossen und langsam, aber mit unglaublicher Kraft, zu ziehen begannen.
Unaufhaltsam wurde sie in den Erdhügel gezogen, Zentimeter für Zentimeter. Als ihre Knie im Erdhügel versanken, löste sich Ritas Starre.
Mit einem gellenden Schrei auf den Lippen wachte Rita schweißgebadet in ihrem Bett auf. Das letzte Bild ihres Traumes noch vor Augen, lief ihr eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken.
Sie schüttelte sich und kam nur langsam in die Wirklichkeit zurück. Sie zwang sich, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren, was die Panikattacke verlangsamte. Erst jetzt bemerkte sie ihren rasenden Herzschlag. Mit der langsameren Atmung beruhigte sich auch ihr Puls. Es dauerte eine Zeitlang, bis sich alle lebenswichtigen Funktionen wieder beruhigten. Nach etwa zehn Minuten traute sie sich, ihren Kopf etwas nach links zu bewegen, um auf ihren Wecker zu schauen.
„9:13 Uhr - Sonntag, 03.11.1974“ ………………………
ENDE
Pablo saß wie jeden Abend vor dem Fernseher - allein. Als Mittvierziger sah er zwar ansehnlich aus, was er seinem kolumbianischen Vater zu verdanken hatte. Trotzdem hatte seine Frau ihn vor vier Jahren verlassen. Er wäre zu langweilig, hatte sie gesagt, die Koffer gepackt - und weg war sie! Als Finanzbeamter verdiente er nicht schlecht, musste aber nach der Scheidung umziehen. Sie hatte ihm alles genommen, nur seine Ehre durfte er behalten. Er verdrängte den unangenehmen Gedanken und widmete sich wieder den Nachrichten.
Vor einer Kneipe um die Ecke seiner Wohnung gab es eine Massenschlägerei. Pablo dachte: ,Diese Idioten! In L.A.- Watts sollte man nachts nicht auf die Straße gehen, das weiß doch jedes Kind.‘ Er schüttelte den Kopf und folgte weiter der Nachrichtensprecherin.
Ein Drogenbaron aus Guatemala sollte drei Menschen erschossen haben. Der Bericht zeigte einen Südamerikaner im feinen Zwirn, der von einem Dutzend Polizisten abgeführt wurde. „Arschloch, hoffentlich hängen sie dich,“ rief er, und steckte sich das letzte Stück Mikrowellenpizza zwischen die Zähne.
Interessiert verfolgte er den Wetterbericht und freute sich, dass ab morgen wieder die Sonne scheinen würde. Sein Wochenende-Joggingprogramm hatte sich schon bezahlt gemacht. Er war fit und schlank! Er dachte daran, ein neues Foto von sich zu machen, um es in die sozialen Netzwerke zu stellen. ,Am Besten in Joggingklamotten, leicht verschwitzt - darauf stehen die Frauen,‘ dachte er und trank einen Schluck Diät-Cola. Die folgende Gameshow schaute er sich nur wegen der Moderatorin an: Ein heißer Feger, von dem er im Internet schon Nacktfotos gefunden hatte. Bei dem Gedanken musste er breit grinsen.
Plötzlich machte es „Bim“! Pablo starrte irritiert auf die Pizza, die er vor einer Stunde aus der Mikrowelle geholt hatte, und überlegte, woher das Geräusch kommen könnte. Dann fiel es ihm schlagartig ein und er hechtete zu seinem Laptop. Mit zittrigen Fingern gab er das Kennwort ein und starrte auf den blinkenden Posteingang. Ungläubig öffnete er die Mail und las: „Hallo Gachupín, dein Profil gefällt mir. Wir haben vieles gemeinsam. Ich wäre an einem Treffen mit dir sehr interessiert. LG Valeria39.
Lovechat ist mit Ihrem Einverständnis autorisiert, die Mailadressen auszutauschen.“
Pablo vergaß die Fotos, die er in diverse Partnerbörsen hochladen wollte, und drückte aufgeregt den Button „JA“.
Er kopierte die Adresse und schrieb eine Mail an Valeria39. Es dauerte genau 60 Sekunden, bis die Antwortmail bei ihm ankam. Er hatte die Luft angehalten und mitgezählt, weil er immer noch dachte, es könnte sich um einen Fake handeln.
„Hallo, Pablo! Schöner Name! Gefällt mir, genau wie deine Nachricht. Ich bin dieses Wochenende in L.A. und wir könnten uns im Restaurant „Albright“ am Santa Monica Pier treffen. Sagen wir Samstag um 19 Uhr?“
Pablo war so überrascht, dass er nur: „Geht klar, freue mich“, antwortete.
„Wer hätte das gedacht?“ sagte er, als er den vorhin übersehenen Anhang öffnete. Das Bild einer hübschen Frau mittleren Alters lächelte ihn freundlich an. Pablo konnte sein Glück noch gar nicht fassen. Normalerweise trank er unter der Woche keinen Alkohol. Doch dieses freudige Ereignis musste gebührend gefeiert werden. Er schlappte zum Kühlschrank und öffnete einen Piccolo-Sekt, den er für alle Fälle immer parat hatte.
Die Kohlensäure kitzelte an seinem Gaumen. Pablo ließ es sich schmecken. Dann fiel ihm ein, dass es sich um ein stark frequentiertes Restaurant handelte. Also reservierte er telefonisch einen Tisch für zwei Personen.
Als das erledigt war, trank er den letzten Schluck und ging zu Bett. Über den Bildschirm flimmerten schon wieder Nachrichten. Doch für heute hatte Pablo genug.
Die folgenden zwei Tage vergingen im Flug. Pablo stand im besten Zwirn, mit einem kleinen Strauß Rosen, vor dem Eingang des Restaurants. Natürlich war er eine halbe Stunde zu früh. Doch auch diese Zeit verging schneller als gedacht, und er nahm am Tisch Platz. Als zehn Minuten um waren, ließ seine Stimmung nach, und er dachte wieder an einen Fake. Nach fünfzehn Minuten wollte er gerade aufstehen, als ihn jemand von hinten mit seinem Chatnamen ansprach. Er drehte sich um und schaute in ein strahlendes Gesicht. ,Besser als auf dem Foto,‘ dachte er und forderte Valeria auf, sich zu ihm zu setzen. Sein Herz schlug Purzelbäume! Er war wie berauscht. Sie speisten, lachten und unterhielten sich prächtig. Nachdem er gezahlt hatte, gingen sie gemeinsam am Strand spazieren.
Wie selbstverständlich legte Valeria ihren Arm auf seine Schulter und er um ihre Hüfte. Nach einem Drink in einer Bar küssten sie sich. Wenig später saßen sie in einem Taxi und fuhren in Valerias Hotel.
Es war die wildeste und aufregendste Nacht seines Lebens.
Der Sex war unvorstellbar, und er konnte sein Glück kaum fassen. Valeria kam mit zwei Wassergläsern in der Hand aus dem Badezimmer zurück.
Sie sah ihn schelmisch an und flüsterte: „Mein Tiger braucht etwas Wasser, um wieder zu Kräften zu kommen.“ Dabei reichte sie ihm das Glas. Er trank es in einem Zug leer, stellte das Glas auf den Nachttisch und wollte sich zu ihr umdrehen.
,Was ist das?‘, dachte er, als er mitten in der Bewegung in sich zusammensackte. Seine Augenlider fielen zu und er konnte sich nicht mehr bewegen. Er war wach, jedoch nicht in der Lage, irgendeinen Muskel in seinem Körper zu bewegen. Selbst die Augenlider konnte er nicht offenhalten. Dann hörte er Stimmen, fremde Stimmen, in einer ihm fremden Sprache. Er spürte die Finger nicht, die ihn betatschten.
,Habe ich einen Herzinfarkt?‘, dachte er. Plötzlich wurde er zur Seite gedreht. Dann wurde sein Penis hochgezogen, und eine Männerstimme sagte etwas, was die anderen zum Lachen brachte.
Auf einmal wurde sein rechter Arm heiß und brannte wie Feuer. ,Spanisch, sie sprechen spanisch!‘, war das Letzte, was er in dem Hotelzimmer dachte.
Pablo kam mit starken Kopfschmerzen langsam zu sich. Er starrte zur Decke und erblickte einen Ventilator, der sich mühsam drehte.
In einer Ecke saßen mehrere Fliegen auf einem Haufen, und an der Wand kletterte eine Kakerlake zur Decke. Er schwitzte, es war heiß für L.A., viel zu heiß. Mühevoll hob er seinen Kopf. Als er seine Hände benutzen wollte, um sich aufzustützen, bemerkte er die Handschellen, mit denen er an den Rahmen des Bettes gefesselt war. Jetzt erst spürte er das kalte Metall auch an seinen Füßen, und er bemerkte, dass er nackt war.
„Wo bin ich?“, flüsterte er.
Unerwarteterweise antwortete ihm die Stimme von Valeria:
„Das darf ich dir nicht sagen.“
Pablo sammelte all seine Kraft und drehte den Kopf in Richtung der Stimme. Valeria saß auf einem Stuhl neben seinem Bett, nur mit einem Bikini bekleidet, und rauchte eine Zigarette.
„Ist das so ein Sex-Spiel von dir?“, fragte er.
Valeria antwortete nur mit dem Wort: „nein.“
„Was dann? Willst du mich entführen und Lösegeld erpressen?“
Valeria schüttelte den Kopf, und ihre roten langen Haare schwangen in der Bewegung. Pablo wurde, ob er wollte oder nicht, an die Nacht der Nächte erinnert. Mühsam schluckte er den Kloß in seinem Hals hinunter und flüsterte: „Was dann?“
„Wie gesagt, darf ich dir nicht sagen“, antwortete sie und betätigte einen Schalter. Das Kopfteil seines Bettes hob sich, bis er aufrecht im Bett saß. Der Blick aus dem Fenster brachte keine neuen Erkenntnisse. Außer, dass er sich auf dem Land befand und nicht in einer Stadt. Nur Vogelgezwitscher war zu hören und wurde von Valerias Stimme unterbrochen: „Was möchtest du denn gerne essen, Pablo?“, fragte sie ihn.
Er antwortete automatisch in sarkastischem Ton: „Für die Henkersmahlzeit ein Steak mit Pommes, bitte.“
Ohne zu antworten stand Valeria auf und lief zur Küchenzeile, die sich ebenfalls in dem Raum befand. Nach 45 Minuten begann sie ihn zu füttern, doch Pablo wehrte sich. Valeria stand auf - und ehe sich Pablo versah, fuhr ihre Hand aus und klatschte auf seine rechte Wange. Verstört blickte er zu ihr auf und sah, wie sie zum nächsten Schlag ausholte. Diesen Schlag steckte er auch noch weg, dann sah er, wie das Blut aus seiner Nase schoss und bettelte um Gnade.
„Braver Junge“, sagte Valeria und fütterte ihn ohne weitere Gegenwehr. Nach dem Essen räumte sie alles in die Küchenzeile und lief unruhig hin und her.
Plötzlich vernahm er das Geräusch eines Wagens, der über einen Kiesweg fuhr, und Valeria verließ den Raum.
Pablo war alleine und fragte sich, was das Ganze sollte, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und drei Männer den Raum betraten. Sie hatten schwarze Strumpfhosen über ihre Köpfe gezogen. Pablo fing an zu schreien. Valeria stand am Herd und hatte das Gas aufgedreht, in der anderen Hand hielt sie ein Eisen über das Feuer, bis es glühte.
Die drei Männer hielten Pablo fest, als Valeria mit dem Eisen an das Bett trat. Die Männer hatten Mühe, seinen Kopf festzuhalten. Pablos Augen traten fast aus den Augenhöhlen, als er das glühende Eisen vor seiner Nase sah.
„Es tut mir leid“, flüsterte Valeria - und setzte das Eisen über seiner rechten Augenbraue an!
Pablo schrie seine Schmerzen heraus, bis seine Lungenflügel brannten wie Feuer.
Als er wieder zu sich kam, hatte er einen Verband um den Kopf, und ein Eisbeutel kühlte die Stelle. Dann fühlte er an seinem linken Ohr ebenfalls einen Verband und schaute Valeria fragend an, die wieder auf ihrem Stuhl saß und rauchte. „Frag nicht, ist besser für dich“, sagte sie.
Pablo fragte mit zusammengebissenen Zähnen: „Warum?“
Valeria stand auf, seufzte und antwortete: „des Geldes wegen“.
Dann verließ sie das Appartement.
Pablo war wieder alleine und verstand die Welt nicht mehr.
Irgendwann schlief er ein und träumte von vergangenen Zeiten, von guten Zeiten. Ein Rütteln an seinem rechten Arm weckte ihn auf. Er benötigte mehrere Minuten, um zu registrieren, wo und in welch misslicher Lage er sich befand.
Valeria stand vor ihm, mit einem Teller Nudeln in der Hand, und sagte: „Essenszeit, und bitte mach keinen Quatsch. Ich habe eine Kampfausbildung und bin in der Lage, ohne Probleme jemanden mit bloßen Händen zu töten. Hast du das verstanden, Pablo?“
Er nickte stumm, und sie atmete erleichtert auf.
Dann schloss sie die rechte Handschelle auf, sodass er selbst essen konnte. Was er auch anstandslos tat. So ging es mehrere Wochen. Mit einer speziellen Fußfessel gingen sie jeden Nachmittag um das Haus spazieren. Das kleine Anwesen lag mitten im Nichts. Pablo wurde bewusst, dass selbst, wenn er sich befreien könnte, er nicht wüsste, wohin er flüchten sollte. Ja, er wusste sogar nicht einmal in welchem Land er sich eigentlich befand.
Valeria schlief im Zimmer neben ihm und versorgte ihn, sodass es ihm an nichts fehlte. Ein kleiner Bauchansatz machte sich schon bemerkbar, und die Wunden schmerzten nicht mehr. Die Brandwunde war vernarbt, und das fehlende Ohrläppchen bemerkte er schon gar nicht mehr.
Eines Morgens stand Valeria vor ihm, mit einem Rasiermesser in der Hand.
Pablo versuchte verzweifelt, nicht auf seine linke Hand zu schauen, die Valeria nach dem Frühstück vergessen hatte zu fesseln. Sie beugte sich über ihn und rasierte ihn. Pablo wartete geduldig auf eine gute Gelegenheit.
„Warum schwitzt du denn so? Ich mach dich doch nur hübsch,“ sagte Valeria. Blitzartig schoss seine Hand nach oben und stieß Valeria vom Bett. Mit lachenden Augen sah er, wie sie sich den Kopf stieß und bewusstlos am Boden lag. Das war nun seine Chance, und er wollte sie nutzen! Doch plötzlich sah er die Blutlache auf seinem Laken.
,Das Rasiermesser!‘, schoss es ihm durch den Kopf. Er tastete nach seinem Hals. Das Blut schoss in einem nicht enden wollenden Strahl aus einer Wunde an seinem Hals. Pablo bekam Panik. Er schnappte sich eines der Kopfkissen und drückte es, so fest er konnte, auf die Wunde.
Langsam schwanden ihm die Sinne, und er überlegte, was er tun könnte. Wie durch einen Nebel griff er nach dem zweiten Kopfkissen. Mit letzter Kraft beförderte er es über die Bettkante auf Valeria zu. Dann wurde ihm schwarz vor Augen!
Als er erwachte, spürte er den Verband um seinen Hals und sah, dass das Bett frisch bezogen war. Langsam drehte er sich um und starrte in Valerias böse funkelnde Augen.
„Du Arsch! Sei froh, dass ich eine Ausbildung als Krankenschwester habe, sonst wärst du verreckt, du verdammter Idiot.“
Er stammelte: „Es tut mir leid!“ Und damit war die Konversation beendet. Am Abend sah er sein Spiegelbild im Fenster und sog überrascht die Luft ein. Sie hatte ihn fertig rasiert und auch die Haare geschnitten. Der Schnurbart, den sie stehen gelassen hatte, gefiel ihm gar nicht.
Valerias Stimme riss ihn aus seinen Gedanken: „Gefällt es dir?“ Doch Pablo hatte keine Lust auf eine Antwort und blickte stumm nach unten. Dann fiel ihm auf, dass er einen Anzug trug. Er starrte Valeria fragend an. Das Geräusch eines anfahrenden Autos holte ihn zurück. Er sah, wie Valeria das Zimmer verließ. Etwa fünf Minuten später betrat Valeria in Begleitung eines großen kräftigen Mannes das Zimmer. Der Mann hatte es nicht nötig, eine Maske zu tragen, was Pablo etwas erstaunte.
Der südländisch aussehende Mann trat auf ihn zu und begutachtete ihn genau, während er sich mit Valeria unterhielt.
Spätestens jetzt ärgerte sich Pablo, nicht die Sprache seines Vaters gelernt zu haben. Doch dafür war es nun zu spät. Jeden Quadratzentimeter seines Körpers scannte der Typ ab. Dann drehte er sich zu Valeria um und zeigte stumm auf den Verband an Pablos Hals. Valeria stammelte etwas, und ehe sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, versetzte er ihr einen Schlag mitten ins Gesicht, sodass sie zu Boden ging. Als sie sich wieder aufgerappelt hatte, schrie er sie an und hob drei Finger seiner Hand. Valeria nickte stumm, und der Typ verließ den Raum. Wenig später vernahmen sie das Geräusch eines wegfahrenden Autos. Beide atmeten erleichtert auf.
„Nette Freunde hast du“, konnte sich Pablo nicht verkneifen. Blitzschnell sprang Valeria an sein Bett, holte aus und zog ihren Arm widerwillig zurück. Sie stampfte aus dem Zimmer und kam erst wieder zurück, als es dunkel war. Sie roch nach billigem Schnaps und schlief auf dem Stuhl neben seinem Bett ein.
Nach drei Tagen nahm sie ihm den Verband ab und behandelte die Wunde mit Makeup. Sie zog ihm wieder den Anzug an, und dieses Mal wehrte sich Pablo nicht. Langsam ergab er sich seinem Schicksal und war eher gespannt darauf, was als nächstes passieren würde.
Er hörte ein Auto kommen, sah die Spritze, die Valeria in seinen Arm bohrte, dann sah und hörte er nichts mehr.
Als er aufwachte, saß er in einem Auto zwischen zwei Männern, die ihn keines Blickes würdigten. Pablo fühlte sich, als hätte er viel zu viel Alkohol getrunken und war nicht in der Lage, sich kontrolliert zu bewegen, geschweige denn, etwas zu sagen.
Nach einem Blick aus dem Fenster stellte er fest, dass es Nacht und die Straßen schlecht beleuchtet waren. Er schwitzte und bekam langsam Kopfschmerzen. Durch die Bewegung bemerkte einer der Leibwächter, dass er wach war und versetzte ihm einen kurzen Schlag.
Pablo dachte: ,Besser als Kopfschmerzen‘, ehe er im Reich der Träume landete.
Als er wieder aufwachte, befand er sich in einem schmucklosen Raum ohne Fenster. In der Ecke stand ein Eimer und an der Wand eine Pritsche.
Langsam kamen seine Lebensgeister zurück und er flüsterte: „Eine Gefängniszelle?“ Dabei dachte er an Valeria und erschrak, als sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Mit lautem Quietschen öffnete sich die Tür und ein glatzköpfiger Bär von einem Mann betrat den Raum.
Hastig wurde wieder abgeschlossen, und die Männer schauten sich gegenseitig an.
Erst jetzt fiel Pablo auf, dass sie beide dieselbe Kleidung trugen - und schlagartig bestätigte sich sein Verdacht!
Der Fremde sprach ihn an, doch Pablo machte ihm klar, dass er kein Wort verstand. Der Fremde kam auf ihn zu und zog ihm blitzartig die Hose herunter.
Dann grinste er Pablo an. Der verstand nun, was ihm bevorstand. Er wollte weglaufen, verfing sich in der Hose und ging unsanft zu Boden. Dann wurde er brutal geschnappt. Pablo biss die Zähne zusammen und begann zu weinen, was den Glatzkopf noch mehr antörnte. Nach einer Ewigkeit ließ der Bär von ihm ab, klopfte an die Tür und trat grunzend in den Flur. Pablo raffte seine Hose hoch und wankte zum Eimer, in den er sich mehrfach übergab.
Einen Tag später wurde wieder die Tür geöffnet, und man befahl ihm mit eindeutigen Gesten, sich anzuziehen. Seinen Anzug warfen sie auf die Liege und verschwanden wieder. Pablo schöpfte Hoffnung und schlüpfte in den Anzug. Etwa eine Stunde später wurde die Tür wieder geöffnet, und zwei Männer in Uniform legten ihm Handschellen an.
Pablo wurde unsanft aus der Zelle gestoßen und lief den Flur entlang. Spätestens jetzt wurde ihm bewusst, dass er sich wirklich in einem Gefängnis befand.
Was er nicht verstand, waren die Reaktionen der Gefangenen, als er an den diesmal mit Gittern versehenen Zellen vorbeiging. Obszöne Gesten und Schimpfworte wurden ihm zugerufen. Einige der Gefangenen bespuckten ihn. Er verstand einfach nicht, warum!
Dann betrat er einen Raum mit einer Glasscheibe und einem Podest, auf das er geführt wurde. Mit angsterfüllten Augen sah er, wie ihm ein Strick um den Hals gelegt wurde. Dann öffnete sich die Jalousie des Fensters. Pablo nahm alles auf einmal wahr: Den Schriftzug an der Wand, mit der Aufschrift Guatemala, Valeria neben einem Mann mit einem Schnurbart und einer Narbe über dem rechten Auge. Das fehlende linke Ohrläppchen, der Seitenscheitel und der Anzug.
„Der Drogenbaron!“, flüsterte er.
Als sich die Falltür unter seinen Füßen öffnete, sah er Valeria direkt in die Augen. Sie blickte beschämt zu Boden - und das war das Letzte, das Pablo in seinem Leben sah!
Die beiden Beamten des LAPD durchsuchten die Wohnung eines Finanzbeamten, der als vermisst gemeldet wurde. Seine Ex-Frau beschwerte sich über die ausstehenden Unterhaltszahlungen. Sie durchsuchten die Wohnung und fanden nichts, was auf einen Einbruch oder auf ein anderes Verbrechen hinwies. Einer schnappte sich den Computer und startete ihn. Das Passwort stand auf der Unterseite der Maus, die an den Laptop angeschlossen war. Einer der Beamten schüttelte den Kopf, gab das Passwort ein, lehnte sich zurück und wartete. Automatisch öffneten sich mehrere Fenster, nur Dating-Portale. Interessiert schaute sich der Beamte alles an und stieß einen ehrfurchtsvollen Pfiff aus.
„Was ist?“, fragte ihn der Kollege. Er deutete nur auf den Monitor. Der Posteingang war mit mehr als 100 Dating-Anfragen aus dem Portal „Lovechat“ gefüllt.
„Der hatte keinen Bock mehr, Unterhalt zu zahlen und ist mit einem der Mädels durchgebrannt – garantiert!“, sagte einer der Beamten.
Der andere ergänzte: „Recht hat er. Hoffentlich ist er mit der glücklicher.“
ENDE
Erich packte seine wenigen Habseligkeiten zusammen.
Wie immer zählte er zuletzt das erbettelte Kleingeld.
‚Ich muss ja richtig Scheiße aussehen heute, bei dem vielen Geld, das ich bekommen habe‘, dachte er grinsend und entblößte seine schwarzen faulen Zähne. Mühsam erhob er sich und überlegte, was er mit dem Geld anfangen könnte. Dann entschied er sich für den Gang in das Café gegenüber. Der Duft der frischen Croissants, der ihm schon den ganzen Tag um die Nase wehte, war einfach unwiderstehlich.
‚Hoffentlich lassen die mich auch rein‘, dachte er und wischte sich automatisch die Flusen aus seinem einigermaßen passablen Mantel. Er schnappte sich seinen abgegriffenen Rucksack, lief über die Straße und wäre beinahe von einem Auto erfasst worden. „He, du Penner! Pass doch auf!“, rief ihm der Fahrer hinterher. Erich schlurfte einfach weiter auf die verheißungsvolle Tür zu. ‚Früher hätte ich das Arschloch aus dem Auto gezerrt und ihm erklärt, was Sache ist‘, dachte er wehmütig an vergangene Zeiten zurück. Vorsichtig öffnete er die Tür - und sofort setzte sich eine Bedienung in Bewegung, genau auf ihn zu.
,Mist, wird wohl nix mit Kaffee und Gebäck‘, dachte er. Doch er sollte sich täuschen!
Mit einem freundlichen Lächeln forderte die Bedienung ihn auf, einzutreten.
‚Was ist denn heute los?‘ dachte Erich und folgte ihr.
„Bitte setzen Sie sich hier hin. Ich bringe Ihnen Kaffee und etwas Gebäck.“
„Danke“, stammelte Erich, und konnte sein Glück noch gar nicht fassen. Nachdem er das System verlassen hatte, war dies die erste freundliche Begebenheit. Er konnte es immer noch nicht glauben.
„Und, liefen die Geschäfte gut?“, fragte ihn die Bedienung, nachdem sie einen großen Pott heißen, schwarzen Kaffees auf den Tisch vor ihm gestellt hatte.
„Ich kann bezahlen“, antwortete er.
Das Mädchen strahlte ihn an und erwiderte: „Deshalb habe ich nicht gefragt. Das geht heute aufs Haus.“
Mit der anderen Hand zauberte sie einen Teller herbei, der mit drei frisch gebackenen Croissants gefüllt war und stellte ihn neben den Kaffee.
Erich nickte freundlich, und die Bedienung verschwand. Er musste sich dazu zwingen, nicht alles auf einmal zu verschlingen. Mittlerweile wusste er, wie wichtig es war, sich immer einen Vorrat anzulegen.
Er schaute sich um. Schnell verschwand eines der Hörnchen in seiner Manteltasche! Dann gönnte er sich den ersten Schluck heißen Kaffees seit… ja, seit wann eigentlich?
,Egal Erich, genieße den Moment‘, dachte er. Dabei biss er in das Hörnchen, nachdem er sich unsicher etwas Butter und Marmelade darauf geschmiert hatte. Beim Kauen sah er sich um und ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Natürlich hatte die nette Bedienung ihn in eine Nische gesetzt, aber das war ihm egal. Erich lehnte sich zurück. Zum ersten Mal seit langem fühlte er sich glücklich. Er wusste, dass das nicht von Dauer sein würde, denn schon zu oft hatte ihn das Leben gefickt. Dann wurde seine Aufmerksamkeit auf das Gespräch der Gäste gelenkt, die zwei Tische weiter saßen. Da sich eine Säule zwischen ihm und den Gästen befand, konnte er nur Teile des Gespräches aufnehmen. Aber was er hörte, klang vielversprechend. Er versuchte, die Bruchstücke zusammenzusetzen. Als Teilergebnis formte sich folgender Satz in seinem Gehirn:
„Wohnung über den Wolken, ab heute leer, für länger.“
Sofort spitzte er die Ohren und versuchte, so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen. Eine leere Wohnung, jetzt, wo es kalt werden würde. Genau das, was er brauchen könnte!
Der Gedanke, nicht mehr im Freien schlafen zu müssen, ließ seinen Puls höherschlagen, und seine Ohren wurden noch hellhöriger. Nach zehn Minuten verabschiedeten sich die zwei Gesprächspartner voneinander.
Einer der beiden lief zu ihm an den Tisch, und Erichs Herz rutschte in die Hose. Doch der Mann legte einen großen Schein auf den Tisch und sagte zu ihm: „Kauf dir etwas Warmes zum Anziehen, mein Freund. Bald wird es Winter.“ Erich nickte nur, und schon war die skurrile Situation auch wieder vorbei. Mit geschickten Fingern verschwand der Schein in seinem Mantel, und Erich versuchte, sich an alles, was gesprochen wurde, zu erinnern. Er traute sich nicht, einen Kugelschreiber zu verlangen, denn das Wichtigste konnte er sich merken: „Am Weidenschlag 144, 53. Stockwerk, Appartement 1“, sagte er immer wieder vor sich hin, um die Adresse ja nicht zu vergessen.
Voller Glückshormone verschlang er das zweite Croissant und lehnte sich zurück. Nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken hatte, stand er auf, schnappte seine Siebensachen, winkte der Bedienung freundlich zu und trat auf die Straße. Ein kalter Wind blies ihm um die Nase, und er machte sich auf den Weg in Richtung U-Bahn-Eingang.
Er wusste zwar nicht, in welcher Stadt er sich gerade befand, weil es ihn einfach nicht mehr interessierte. Aber er hatte einen Stadtplan gesehen. Mit fliegenden Fingern fand er die Adresse, die sich am Stadtrand befand. Dabei konnte er einen Fluch nicht unterdrücken.
„Fast drei Kilometer! Wenigstens muss ich nur zweimal die Richtung wechseln“, sagte er vor sich hin. Dann straffte er sich und lief los.
Schneller als gedacht, bog er in die Zielstraße ein. Die Laternen in der Gegend waren wahrscheinlich aus Energiespargründen abgeschaltet. Es war mittlerweile finstere Nacht. Das mehr als 150 m hohe Haus war trotz allem nicht zu übersehen.
Die letzten Stockwerke befanden sich in den Wolken. Erich grinste, als ihm klar wurde, warum der Mann „über den Wolken“ gesagt hatte. Ihm war es egal! Er hatte zwar Höhenangst, aber er musste ja nicht aus dem Fenster sehen. Und wenn er nur Wolken sehen würde, dann umso besser.
Erich öffnete seinen Mantel und entnahm ein kleines Etui.
,Was man alles lernt, wenn man auf der Straße lebt‘, dachte er und begab sich an die Haustür.
Schnell stellte sich heraus, dass er das Schloss gar nicht knacken musste, denn die Tür war nicht abgeschlossen.
Schnell schlüpfte er durch den Eingang und steuerte auf den Aufzug zu, der mit geöffneter Tür auf ihn wartete.
Er drehte sich noch einmal um und betätigte den Schalter mit der Nummer 53.
,Vorletztes Stockwerk‘, dachte er noch, als sich die Türen schlossen. Der Aufzug rumpelte anfangs etwas, dann fuhr er lautlos nach oben. Die Tür öffnete sich, und Erich wartete noch ein wenig. Ein neugieriger Nachbar könnte durch den Spion schauen, und dann war es vorbei mit dem Glück. Gerade, als sich die Aufzugtüren schließen wollten, schlüpfte Erich aus dem Aufzug und stellte sich press an die gegenüberliegende Wand. Kein Geräusch war zu hören. Als sich der Aufzug in Bewegung setzte, erschrak Erich. Doch der Schreck war schnell vorbei. In der herrschenden Dunkelheit waren die Nummern auf den Türen nur schlecht zu erkennen. Aber Erich war es mehr als recht, dass kein Licht anging. Er hatte Glück! Direkt neben ihm befand sich das gesuchte Appartement mit der 1. In weniger als zwei Sekunden schlüpfte Erich lautlos durch die Tür.
Er atmete tief durch und sah sich in der Wohnung um.
Es dauerte eine Zeitlang, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Erstaunt stellte er fest, dass sich zumindest im Flur keine Möbel befanden.
Die Einbauküche, mit einer kleinen Sitzecke, und ein Bett mit Matratze waren das einzige Mobiliar. Erich war es egal! Allein schon der Gedanke, in einem richtigen Bett schlafen zu können, reichte ihm vollends.
Ohne weiter nachzudenken, zog er seinen Mantel aus und legte sich auf die Matratze. Sofort schlief er ein und wachte erst auf, als die Sonne schon am Höchsten stand. Etwas fröstelnd trabte er immer noch schlaftrunken auf die Toilette. Nach einer ordentlichen Sitzung wischte er sich mit dem geklauten Toilettenpapier aus dem Cafe den Hintern ab und betätigte die Spülung. Als nichts geschah, drückte er noch einmal den Hebel. Dann fiel ihm ein, dass der vermeintliche Besitzer länger wegbleiben würde und deshalb wohl das Wasser abgestellt hatte. Er streckte sich und machte sich auf die Suche nach dem Haupthahn. Nach einer halben Stunde fand er ihn endlich und drehte das Ventil auf. Zufrieden lief er in die Küche, verschloss den Abfluss und drehte das Wasser auf.
Ein kurzer Schwall füllte das Becken etwa zu einem Viertel. Dann tröpfelte es nur noch, bis es gänzlich aufhörte.
,Noch ein Hahn? Darum kümmere ich mich später‘, dachte Erich und schaute sich in aller Ruhe die Wohnung im hellen Sonnenlicht an.
Das Appartement bestand aus Flur, Küche, Badezimmer, Wohnzimmer und dem benutzten WC. Erich öffnete seinen Rucksack, entnahm eine Flasche Wasser und fingerte das Croissant aus seinem Mantel, den er sich wieder angezogen hatte.
Dann setzte er sich im Wohnzimmer auf den Boden, mit Blick zum Fenster. Besonders die Balkontür erzeugte einen kleinen Schauer in seinem Nacken. Er schüttelte sich kurz, aß langsam sein Hörnchen und nahm kleine Schlucke aus der Wasserflasche. Das Gebäck blieb etwas zwischen seinen faulen Zähnen hängen. Erich leerte die Flasche, um seine Mundhöhle mit der Flüssigkeit zu reinigen. Plötzlich hob er seine Hand und betätigte den Lichtschalter über sich - und wie erwartet - tat sich nichts!
,Geizhals‘, dachte er und stand auf. Langsam lief er auf die Balkontür zu. Durch das große Fenster sah er nur hellen Sonnenschein, mehr nicht. Mit zittrigen Fingern öffnete er die Tür und atmete tief ein, bevor er den Balkon betrat.
Eine Hand am Türrahmen, tastete er sich soweit an die Brüstung, wie es in der Stellung möglich war. Mit all seinem Mut wagte er einen Blick nach unten - und sah nichts! Etwa zwanzig Meter unter ihm erstreckte sich eine dichte Wolkendecke.
Erleichtert atmete er auf, doch den Türrahmen umklammerte er immer noch. Er zog sich zurück und machte sich auf die Suche nach dem Wasserhahn.
Nach einer Stunde gab er auf.
,Scheiße, bestimmt gibt es im Keller einen Abstellhahn für Wasser, Strom und Heizung.‘
Naja, für ein paar Tage würde es ihm reichen.
Nachdem er jeden Wasserhahn in der Wohnung geöffnet und die Reste in seiner Wasserflasche aufgefangen hatte, war er mit dem Ergebnis zufrieden. Die Flasche war voll, und das Wasser im Küchenspülbecken würde ihm für heute reichen. Zufrieden legte er sich wieder ins Bett und döste vor sich hin. Als es dunkel wurde, stand er auf und ging in die Küche. Mit den Händen schöpfte er das Wasser und trank mehrere Schlucke. Dann setzte er sich an den kleinen Tisch, auf dem er seinen Rucksack entleerte.
Er schnappte sich eine Dose Katzenfutter, die er aus dem Container eines Tierheimes geklaut hatte, und öffnete mit seinem Messer geschickt die Dose. Genüsslich verschlang er das Mahl. Nach einem kräftigen Rülpser lehnte er sich zurück und überlegte, wie es in seinem Leben wohl weiter ginge.
„Bestandsaufnahme“, sagte er laut und zählte sein Hab und Gut auf: „Ein Stück Weißbrot von vorgestern, eine weitere Dose Katzenfutter und ein Energieriegel.“
Nachdem er mehrere Minuten überlegt hatte, sagte er: „OK, bis morgen reicht es.“ Dann ging er zurück ins Bett.
,Komisch, ist recht still in diesem Haus‘, dachte er und schlief wieder ein.
Der Drang zum Urinieren weckte ihn, und er pinkelte einfach in die Badewanne, sie war näher als die Toilette. Dann schlurfte er zurück und ließ sich auf die Matratze fallen.
Ein Klopfen am Fenster weckte ihn am nächsten Morgen. Erschrocken stieß er einen spitzen Schrei aus, als er den Raben auf der Fensterbank sitzen sah. Mit seinen kleinen schwarzen Knopfaugen fixierte er Erich, dann krächzte er dreimal und flog davon.
,Ein Rabe - so weit oben!‘, dachte Erich und verscheuchte das ungute Gefühl, das sich in ihm breit machen wollte.
,Ich lass mir von dem Federvieh den Jackpot hier nicht kaputt machen‘, dachte er und ging in die Küche. Wenig später befand sich der Inhalt der letzten Dose Katzenfutter und das Brot in seinem Magen, inklusive der halben Flasche Wasser.
Nach seinem Gefühl müsste es früh am Morgen sein.
Der ideale Zeitpunkt, das Haus zu verlassen. Er musste sich Lebensmittel besorgen - und vor allem Wasser.
Wenig später schnappte er sich seinen Rucksack, blieb vor der Schlafzimmertür nochmals stehen und sah sich das Bett noch einmal an. „Bis heute Abend“, flüsterte er. Dann verließ er das Appartement. Leise schloss er die Tür und ging auf Zehenspitzen zum Aufzug. Er drückte den Knopf und wartete. Doch nichts geschah! Kein Geräusch erklang, kein Licht leuchtete auf.
Erichs Magen begann zu rebellieren. Immer wenn etwas nicht stimmte, bekam er Magenschmerzen, heftige Magenschmerzen! Er schaffte es gerade noch, den Brechreiz zu unterdrücken und atmete mehrmals tief durch. Dann suchte er die Tür zum Treppenhaus.
Der Flur verlief einmal um den Aufzugsturm herum. An jedem Appartement stand eine Nummer. Verdutzt blieb er stehen und überlegte: ‚Acht Türen, mit acht Nummern.
Wo ist das verdammte Treppenhaus?‘
Panisch umrundete er den Aufzugsturm mehrmals, doch es gab keine weitere Tür. Dann widmete er sich dem Aufzug, aber auch dort starrten ihn nur kalte Betonwände an.
,Das gibt’s doch nicht, ein Hochhaus ohne Treppe!‘, schrien seine Gedanken, und seine Nerven gingen mit ihm durch. Mit den Fäusten schlug er mehrmals gegen jede der Türen. Doch nichts geschah!
Das war zu viel für ihn. Sein Magen zwang ihn dazu, sich nach vorne zu beugen. Lange schaute er stumm auf die Lache des Erbrochenen zu seinen Füßen. Nachdem er sich etwas gesammelt hatte, kramte er sein Einbruchetui hervor und schlurfte zur Tür mit der Aufschrift 2. Er benötigte kein Werkzeug, denn alle Türen waren nicht abgeschlossen - und natürlich waren alle Wohnungen leer.
Heulend setzte er sich vor die Aufzugstür und flüsterte:
„So viel zum Jackpot.“
Dann hörte er den Raben wieder. Er stand auf und lief zur offenen Tür mit der 1. Langsam folgte er dem Geräusch ins Wohnzimmer. Als er den Raben sah, blieb er wie angewurzelt stehen. Der Vogel saß auf der Balkonbrüstung und starrte ihn durch die offene Balkontür an. Erich fasste all seinen Mut zusammen und klatschte zweimal in die Hände. Doch das schien den Vogel nicht im Geringsten zu interessieren.
„Leck mich am Arsch, du Mistviech“, sagte er, drehte sich um und knallte die Wohnzimmertür einfach zu.
Müde und verzweifelt legte er sich auf die Matratze und überlegte. Seine Gedanken drehten sich immer wieder im Kreis. Ihm wollte einfach keine Lösung einfallen.
Sein Verstand weigerte sich zu glauben, dass jemand ein Haus ohne Treppenhaus bauen ließ.
Das war schlicht unmöglich – oder?
Dann meldete sich sein Magen, doch Galle brechen wollte er nicht. Daher rappelte er sich auf und durchsuchte das komplette Stockwerk systematisch.
„Kein Wasser, ein angebissenes Snickers, eine Handvoll Cornflakes, eine tote Maus und eine halbe Dose Coke mit einer Zigarettenkippe. Toll, Jackpot ade.“
Plötzlich hatte er eine Idee und sagte laut:
„Versorgungsschacht“, stand auf und durchsuchte den Flur nach einer Klappe. Erst in der Wohnung fand er, wonach er suchte. Jede Wohnung hatte einen eigenen Versorgungsschacht, der so klein war, dass noch nicht einmal eine Maus darin leben konnte. Gerade als er sich enttäuscht hinsetzen wollte, hatte er eine weitere Idee: Er ging zum Aufzug und versuchte, die Tür mit den Händen zu öffnen. Doch seine Hände waren zu schwach. Also lief er ins Appartement, nahm einen Stuhl und zertrümmerte die Sitzauflage.
Dann riss er den Griff einer Schublade ab und ging zurück zur Aufzugstür. Der Griff war konisch gefertigt, und mit Hilfe des Stuhlbeines bekam er die Tür einen Spalt auf. Beherzt griff er mit den Händen zu und zog die Tür etwas auseinander.
Das Licht war nicht ausreichend, um das gähnende schwarze Loch zu durchdringen. Erich zog eine Streichholzschachtel aus seinem Mantel und zündete eines der Schwefelhölzer mit zittrigen Fingern an. Das Licht reichte aus, um zu sehen, dass keine Steigeisen im Aufzugsschacht vorhanden waren.
„Scheiße“, krächzte er und ließ das Streichholz in den Schacht fallen. Wieder meldete sich sein Magen. Nur mit viel Mühe bekam er die Schmerzen wieder in den Griff.
Entmutigt schlurfte er zurück in die Wohnung und ließ sich auf das Bett fallen.
„Wie kann man nur so ein Haus bauen? Das ist doch unmöglich! Welche Behörde würde das abnehmen?“, flüsterte er vor sich hin, bis ihn die Erkenntnis traf.
„Du Idiot, deshalb steht es leer! Und zwar wahrscheinlich komplett - und ich Depp bin hier gefangen!“
Eine Träne nach der anderen kullerte über seine hohlen Wangen. Er dachte: ,Warum habe ich immer nur Pech im Leben? Hört das denn nie auf!‘
Alte Gedanken suchten sich einen Weg in sein Bewusstsein, doch Erich wehrte sich dagegen. Nein, darüber wollte er nicht mehr nachdenken.
Dann fragte er sich, warum der Aufzug ausgerechnet bei ihm noch funktionierte und hatte eine Idee:
„Vielleicht hat er ja nur einen Wackelkontakt auf diesem Stockwerk“, sagte er und lief zum Aufzug. Er nahm ein Streichholz und klemmte es in den Schalter, so als ob jemand draufdrücken würde. Zufrieden zog er sich wieder ins Bett zurück.
Unruhig wälzte er sich im Bett herum, bis sich plötzlich jemand räusperte und Erich vorsichtig die Augen öffnete.
Vor dem Bett stand sein Vater, ein großer stattlicher Mann mit breiten Schultern und schaute hämisch auf ihn herab:
„Na, hab ich‘s doch gewusst, du Versager! Vielleicht hilft dir ja eine Trachtprügel weiter, du Nichtsnutz“, sagte er.
Erich schloss die Augen und wimmerte: „Nein Vater, bitte nicht mehr schlagen“. Dann war es wieder still, bis sich eine Frauenstimme bemerkbar machte.
Als Erich seine Augen aufschlug, stand seine Mutter im Türrahmen. Mit erhobenem Zeigefinger sagte sie:
„Du bist nicht würdig, mein Sohn zu sein. Außer fressen und scheißen kannst du nichts. Ach, hätte ich dich doch nie geboren. Mein Leben hast du mir versaut. Ich wäre froh, dich gäbe es nicht.“ Dann lief sie zeternd davon - und es wurde wieder still. Erich hörte auf zu weinen, da sich keine Flüssigkeit mehr in seinem Tränenkanal befand. Er setzte sich aufrecht ins Bett und wurde sich bewusst, dass er gerade geträumt hatte. Wehmütig erinnerte er sich an seine schlimme Kindheit.
Mit aller Gewalt drängte er diesen und noch viel schlimmere Gedanken in sein Unterbewusstsein zurück. Er versuchte, rational zu denken, doch es gelang ihm nicht. Wieder schlief er ein und erwachte, als der nächste Tag begann. Seine Kehle war ausgetrocknet, und er überlegte, was er als nächstes tun sollte. Dann stand er auf, fischte die Kippe aus der Cola-Dose und nahm einen kleinen Schluck.
Mit kleinen Bissen aß er das letzte Stück des Schokoriegels und lief in die Küche. Er schnappte sich die leere Dose Katzenfutter und lief in den Flur.
Erstaunt stellte er fest, dass alle Türen offenstanden. Er war sich nicht sicher, ob er dafür verantwortlich war. Er atmete tief durch und lief auf die Pfütze seines gestern Erbrochenen zu. Er schluckte schwer und fingerte angewidert die wenigen festen Brocken aus der Dose. ,Leider keine Feuchtigkeit mehr‘, dachte er, und verwahrte die Dose in der Küche neben dem Rest seiner Beute. Er wischte sich die Finger an seiner Hose ab und überlegte, was er als nächstes tun könnte.
Bei dem Gedanken, auf den Balkon zu gehen und sich von Stockwerk zu Stockwerk zu hangeln, bekam er eine Gänsehaut. ,Das funktioniert nur in Filmen‘, dachte er und überlegte weiter. Am Seil den Aufzugsschacht herunterzuklettern war bei 53 Stockwerken keine Option. Er hatte nur eine Chance: Er musste auf sich aufmerksam machen - und da kam der Balkon wieder ins Spiel!
„Scheiße“, sagte er laut und lief ins Wohnzimmer. Mit festem Griff hielt er sich am Türrahmen fest und schaute über die Brüstung nach unten. Doch er sah nur Wolken, wohin das Auge reichte. Dann fasste er einen Entschluss und begann, das gesamte Mobiliar des Stockwerkes in das Wohnzimmer zu schleppen.
Schwer atmend warf er ein Teil nach dem anderen über die Brüstung. Immer darauf bedacht, dass er nicht aus Versehen zu weit nach draußen ging.
Plötzlich kam der Rabe zurück, setzte sich auf das Balkongeländer und sah ihn hämisch an.
„Was willst du wieder hier, du hässlicher Vogel?“
Der Rabe krächzte nur als Antwort.
Erich fuhr fort: „Bist wohl ein Aasfresser, hä?
Aber mich bekommst du nicht.“
Ohne Vorwarnung warf er ein Stuhlbein nach dem Raben, doch er verfehlte ihn, und der Rabe fixierte ihn wieder mit seinen schwarzen, kleinen, toten Augen.
Als Erich außer dem Bett alle Teile nach unten geworfen hatte, gab es für ihn nichts mehr zu tun.
,Hoffentlich fällt jemandem ein Teil auf den Kopf‘, dachte er und legte sich wieder etwas hoffnungsvoller ins Bett.
Als er aufwachte, strahlte die Sonne durch das Fenster, und auf der Fensterbank saß der Rabe und schaute ihn an.
Erich stand unbeeindruckt auf und lief zum Balkon, um einen Blick zu riskieren. Die Wolkendecke war an einigen Stellen etwas aufgerissen und er konnte nach unten sehen. Was er dort sah, ließ ihn wieder verzweifeln!
Das Gelände vor dem Haus war ringsum mit Müll bedeckt, und kein Gebäude, geschweige denn eine Menschenseele, war in Sicht.
„Wo bin ich nur gelandet?“, stammelte er verzweifelt.
Er erschrak fürchterlich, als der Rabe an ihm vorbeiflog, sich die tote Maus aus der Küche schnappte und wieder hinausflog.
Verzweifelt ließ Erich seine Schultern hängen und stampfte in die Küche. Schnell stellte er die Cola-Dose wieder auf, die der Rabe umgeworfen hatte. Dann leckte er die entstandene Pfütze auf. Seine Mundhöhle war geschwollen! Es bereitete ihm große Schmerzen, die Handvoll Cornflakes hinunter zu schlingen. Niedergeschlagen beugte er sich über die Spüle und schlürfte den letzten Rest Wasser bis auf den letzten Tropfen auf.
Angeekelt starrte er auf die Dose mit seinem Erbrochenen. Dann fiel ihm die Toilette wieder ein und sein Magen rebellierte. Er schaffte es, dem Brechreiz zu trotzen und schlurfte wieder ins Bett.
Nach mehreren Stunden Schlaf wachte er auf, lief ohne weitere Worte zur Toilette, schöpfte das vorhandene Wasser und trank es mit geschlossenen Augen. Danach ging er in die Küche und aß die Dose leer.
Er verdrängte den Ekel und dachte mit all seiner Kraft an schöne Dinge, bis er wieder einschlief.
Als er aufwachte, saß der Rabe am Fußende seines Bettes. Doch Erich war es egal. Er war zu schwach, um sich darüber Gedanken zu machen. Er schaute zu dem schwarzen Federvieh und sagte: „Bald schon kannst du mich haben“. Dann schloss er die Augen wieder.
Er erwachte, als sich sein Unterbewusstsein mit aller Macht in den Vordergrund drängte. Dieses Mal ließ er es einfach geschehen.
Ihm war es egal - alles war egal!
Dann trat die Erinnerung mit aller Kraft in sein Bewusstsein! Er sah sich auf dem Gehsteig stehen, mit seiner Tochter Sahra an der Hand.
,Das waren die glücklichsten Jahre meines Lebens‘, dachte er. ‚Und dann ließ ich es aus der Hand gleiten. Im wahrsten Sinne des Wortes.‘ Mit aufgerissenen Augen verfolgte er die Szene, als sich seine Tochter losriss und lachend auf die Straße zulief. Er war zu keiner Bewegung fähig und glotzte nur auf das Auto, das auf sie zukam, bis ihr kleiner Körper durch die Luft flog und ein hässlicher Aufprall zu hören war. Dann sah er sich am Boden liegen, geschüttelt von Weinkrämpfen.
Aber er wusste, dass es noch schlimmer kommen würde!
Wenig später erhängte sich der Fahrer des Wagens, und seine Frau nahm sich kurz darauf ebenfalls das Leben. Nur er, der Versager, war nicht in der Lage, es zu beenden.
Weinend raffte er seine letzte Kraft zusammen und lief zum Balkon. Seine Mutter stand hinter ihm und sagte immer wieder das verhasste Wort: „Versager, du Versager!“
„Diesmal versage ich nicht, ich springe!“ schrie er.
Seine Lungenflügel brannten wie Feuer, doch er sprang nicht! Schluchzend ging er auf wackeligen Beinen zum Bett zurück, starrte den Raben an - und plötzlich öffnete sich die Tür!
Sahra stand im Türrahmen, blickte ihn wortlos an und reichte ihm auffordernd die Hand. Er lächelte, griff danach und ging mit seiner Tochter zur Tür hinaus.
Er blickte sich nicht um, als er die Raben hörte, die über seinen toten Körper herfielen. Es war ihm egal, er war wieder bei seiner Tochter - und nur das zählte.