365 Schicksalstage - Johannes Sachslehner - E-Book

365 Schicksalstage E-Book

Johannes Sachslehner

3,7

Beschreibung

Historisches Erinnern schweißt zusammen, schafft Identität, ist Voraussetzung für die Deutung der Gegenwart – das gilt auch für Österreich, ein Land, das erst seit wenigen Jahrzehnten von der Mehrheit seiner Bürger als Nation empfunden wird. Lebendige Erinnerung an vergangenes Geschehen legitimiert gegenwärtiges Handeln und bestimmt den Blick in die Zukunft. In seinem Gedächtnis-Kalender Österreichs blickt Johannes Sachslehner Tag für Tag, vom 1. Jänner bis zum 31. Dezember, auf jene Ereignisse zurück, die den rot-weiß-roten Nationalmythos Inhalt und Kontur verliehen haben, die „Fixpunkte der nationalen Memoria“ (Aleida Assmann). Es ist ein Blick auf „Heldentaten“ ebenso wie auf Verbrechen, auf helle und auf dunkle Tage, auf Tage, die man zu feiern gewohnt ist, und auf Tage, die man am liebsten für immer vergessen möchte. Johannes Sachslehner stimmt kein patriotisches Heldenlied an, er sondiert kritisch, nennt auch Ereignisse, die verdrängt und vergessen sind und nicht mehr erinnert werden möchten. Der erste Gedächtnis-Kalender Österreichs, ein Buch zum Schmökern und Nachlesen – und Nachdenken für alle, die über der Hektik des Heute das Gestern nicht vergessen wollen, zugleich eine faszinierende Tour de force durch die österreichische Geschichte.

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365 Schicksalstage

Johanes Sachslehner

365 Schicksalstage

Ereignisse, die Österreich bewegten

Redaktionelle Mitarbeit: Laura Sachslehner

Ein herzliches Danke für die tatkräftige Unterstützung an Thomas Fric und Nina Fric-Sachslehner.

Bild Seite 8: Das Denkmal von Gerald Brandstötter für die hingerichteten Waldenser am „Ketzerfriedhof“ in Steyr.

ISBN 9783990401705

© 2013 by Pichler Verlag

in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG

Wien – Graz – Klagenfurt

Alle Rechte vorbehalten

Bücher aus der Verlagsgruppe Styria gibt es in

jeder Buchhandlung oder im Online-Shop.

Buch- und Umschlaggestaltung: Bruno Wegscheider

Produktion: Franz Hanns, Alfred Hoffmann

Reproduktion und Bildbearbeitung: Pixelstorm, Wien

1.digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Einleitung

Januar

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

August

September

Oktober

November

Dezember

Ausgewählte Literatur

Bildnachweis

Die Wirklichkeit der Ereignisse ist nicht rekonstruierbar. Die unermüdliche Suche nach Erkenntnis geht weiter, und mag sie noch so aufwändig sein, damit nicht alles verloren und vergessen wird.

Raul Hilberg, Die Quellen des Holocaust

Lebendige Erinnerung und nationales Gedenken

Historisches Erinnern schweißt zusammen, schafft Identität, ist Voraussetzung für die Deutung der Gegenwart – das gilt auch für Österreich, ein Land, das erst seit wenigen Jahrzehnten von der Mehrheit seiner Bürger als Nation empfunden wird. Lebendige Erinnerung an vergangenes Geschehen legitimiert gegenwärtiges Handeln und bestimmt den Blick in die Zukunft. Das vorliegende Buch blickt Tag für Tag, vom 1. Januar bis zum 31. Dezember, auf jene Ereignisse zurück, die dem rot-weiß-roten Nationalmythos Inhalt und Kontur verliehen haben, es versammelt die „Fixpunkte der nationalen Memoria“ (Aleida Assmann). Es ist ein Blick auf Heldentaten ebenso wie auf Verbrechen, auf helle und auf dunkle Tage, auf Tage, die man zu feiern gewohnt ist, und auf Tage, die man am liebsten für immer vergessen möchte.

Es ist kein patriotisches Heldenlied, sondern eine kritische Sondierung, es werden auch Ereignisse genannt, die verdrängt und vergessen sind und nicht mehr erinnert werden möchten. Neben den „Feiertagen“ wie dem 1. November, dem Tag der Erstnennung Österreichs in der Ostarrîchi-Urkunde, dem 12. September, dem Tag des Sieges über die Osmanen vor Wien, oder dem 15. Mai, dem Tag des Staatsvertrags, stehen Erinnerungstage, die sich mit „negativer Vergangenheit“ auseinandersetzen, mit den dunklen Tagen österreichischer Geschichte: Da ist etwa der 7. April, der Gedenktag des Massakers am Präbichl, da sind der 1. Februar, der Tag der Hinrichtung der Matrosen von Cattaro, oder der 25. Juli, der Tag der Ermordung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, und der 15. März, der Tag von Hitlers Auftritt am Heldenplatz. Da sind Tage, die an Katastrophen erinnern, wie der 3. Juli, der Tag des Gemetzels von Königgrätz, oder auch Tage, die einst als Feiertage gegolten haben und heute ganz normale Tage sind wie Kaisers Geburtstag, der 18. August. Und der Kalender benennt die Meilensteine auf dem Weg zur Demokratie, vom Ausbruch der Revolution am 13. März 1848 bis zur Proklamation über die „Wiedererrichtung der selbständigen demokratischen Republik Österreich“ am 29. April 1945.

Ein Blick auf „Heldentaten“ ebenso wie auf Verbrechen, ein Blick auf Tage, deren Geschehen sich eingeschrieben hat in den Mythenschatz Österreichs – Schuld und Scham, Triumph und Jubel sind mit diesen Tagen verbunden.

Was vergessen ist, kann nicht mehr erzählt werden. Nur an das, was ich weiß, kann ich mich erinnern. Dieser erste Gedächtnis-Kalender Österreichs möchte dazu Hilfestellung und Anregung bieten. Zum Weiterlesen und Weiterforschen. Er möchte kein Erinnerungs-Diktat verhängen, sondern ein Angebot unterbreiten, manchmal auch provozieren. Ich würde mich freuen über eine lebendige Diskussion.

Johannes Sachslehner

Januar

Der EU-Beitritt

Es ist der erste Tag einer neuen Epoche und er fällt passenderweise auf einen Sonntag. Ein 1. Januar, der sich wie immer anfühlt: Die Wiener Philharmoniker brillieren unter der Leitung von Zubin Mehta bei ihrem traditionellen Neujahrskonzert, Andreas Goldberger wird beim Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen hinter dem Finnen Janne Ahonen Zweiter und befindet sich auf dem Weg zu seinem zweiten Tourneesieg. Einige ärgern sich wohl auch darüber, dass nun in Österreich keine Pumpguns mehr verkauft werden dürfen, ja, und vielen ist es noch gar nicht so richtig bewusst: Österreich hat, 50 Jahre nach Kriegsende, Abschied von seinem Inseldasein genommen, hat auf den wachsenden Druck des Globalisierungsprozesses reagiert und sich einer größeren Gemeinschaft anvertraut.

Feierstimmung zum Jahreswechsel 1994/​95:Österreich ist EU-Mitglied.

Die letzte Entscheidung dazu ist am 1. November 1994 gefallen: 78 Prozent der anwesenden Abgeordneten stimmen im Nationalrat dem EU-Beitrittsvertrag zu. In Anwesenheit von Kommissionspräsident Jacques Delors spricht Peter Kostelka, der Klubobmann der SPÖ, von einem „Meilenstein in der Geschichte Österreichs“, und Andreas Khol, Klubobmann der ÖVP, von einem „freudigen Ja“, das die ÖVP zu Europa gebe, jetzt komme es darauf an, „Europa in den nächsten zehn Jahren eine Seele zu geben“. Der „europäische Geist“, so schließt Khol in dieser denkwürdigen Sitzung, sei „die Zukunft“. Sehr kritisch äußert sich dagegen FPÖ-Obmann Jörg Haider (1950 – 2008): Der Beitritt zur EU würde einen Verlust von Bürgerrechten und Demokratie bedeuten, er erwarte sich negative Auswirkungen auf Landwirtschaft und Industrie, auch für das Preisniveau und den Arbeitsmarkt habe der EU-Beitritt keine positiven Effekte. Johannes Voggenhuber von den Grünen, der gegen den Beitritt gewesen ist, klagt über „gravierenden Reformbedarf“ in der EU und Heide Schmidt, die Klubobfrau des Liberalen Forums, warnt schließlich davor, die EU zu einer „westlichen Wohlstandsburg“ werden zu lassen. Vieles gehört jetzt der Vergangenheit an, ohne dass man es sofort spürt: die altgewohnte Geld- und Währungspolitik etwa, der mit der Einführung des Euro am 1. Januar 1999 auch der Schilling, die liebgewordene Währung der Republik, zum Opfer fällt. Und vieles sollte der Vergangenheit angehören, tut es aber nicht: etwa das engstirnige Mir-san-mir-Denken und der „Autarkie-Mythos“ (Oliver Rathkolb), der es zulässt, dass über einen EU-Austritt spekuliert wird.

Die Abschaffung der Folter

Den Stein ins Rollen bringt ein so verstockt als gefährlicher Böswicht namens Franz Sachs, der 1773 vor dem Stadt- und Land-Gericht Wien steht. Da Franz Sachs bereits in seiner Zelle großspurig angekündigt hat, dass er auch unter der Folter nichts aussagen werde, wird die sogenannte „Intercalar Tortur“ angeordnet: Die in der „Wiener Praxis“ üblichen drei Grade der Folter – Daumenschrauben, „Schnürung“ und „trockener Aufzug mit Gewichtsanhängung“ – kommen an drei aufeinanderfolgenden Tagen zur Anwendung; der Gefolterte hat dabei keine Möglichkeit, sich von den Qualen der vorausgehenden Folter zu erholen. Der Böswicht hat Glück: „Folterarzt“, der den Criminal-Inquisiten vor der peinlichen Frage (= Tortur) zu untersuchen hat, ist der angesehene Chirurg Ferdinand Leber (1727 – 1808), und dieser spricht sich nun in einem Gutachten gegen die „Intercalar Tortur“ aus. Unterstützung findet er in der medizinischen Fakultät der Universität Wien, die grundsätzlich diese verschärfte Foltermethode ablehnt – Maria Theresia verbietet daraufhin am 16. November 1773 die „Intercalar Tortur“, gleichzeitig lässt sie prüfen, ob die Folter nicht „gänzlich aufzuheben oder auf besondere species delicti zu beschränken wäre“.

In der „Wiener Praxis“ der erste Grad der Folter: der Daumenstock.

Während sich etwa der Oberst-Landrichter Freiherr von Hahn für eine Beibehaltung der Folter ausspricht, tritt Maria Theresias Berater Joseph von Sonnenfels mit einer eigenen Schrift (Über die Abschaffung der Tortur, 1775) entschieden für deren Abschaffung ein, sei sie doch nur ein Mittel, „an welchem alles ungewiss ist, als der Schmerz, die Lähmung, die Entehrung, die Verzweiflung, welcher der unglückliche Untersuchte preisgegeben wird“. Maria Theresia schließt sich den klaren Sonnenfels’schen Argumenten an, ja, sie geht sogar noch weiter als ihr Berater, indem sie die Aufhebung der Folter ohne Einschränkungen verfügt. In der allerhöchsten Entschließung dieses Januartages dekretiert sie den entscheidenden Satz:

Die peinliche Frage seye nach dem in mehreren Staaten schon Vorgegangenen Beyspiel, ohne einigen Vorbehalt allgemein aufzuheben; sämtliche Gerichtsbehörden in den Erblanden seien zur Nachachtung dieses Erlasses zu verständigen. Zu bedenken gibt die Monarchin weiters, ob nicht auch die Todesstrafe zumindest zum größten Theile aufzuheben sei, da man ja aus der Arbeit der Delinquenten noch einigen Nutzen ziehen könne.

Das Habsburgerreich ist nach Preußen der zweite europäische Staat, der die Folter abschafft. Eine „große That einer erlauchten Frau“, so der Linzer Kommunalpolitiker Franz Melichar (1835 – 1881) in einem Vortrag zum Jubiläum 1876.

Die Rumfordschen Suppenanstalten

Benjamin Thompson, Reichsgraf von Rumford (1753 – 1814), ist nicht nur ein bedeutender Experimentalphysiker, der den Boden für den Ersten Hauptsatz der Thermodynamik bereitet hat, sondern auch ein unermüdlicher Tüftler, dessen Erfindergeist auch vor kulinarischen „Problemstellungen“ keineswegs Halt macht. Von seinem Arbeitgeber, dem bayerischen Kurfürsten Karl Theodor, mit der Reorganisation der bayerischen Armee beauftragt, erfindet der Mann aus Massachusetts nicht nur wärmedämmende Unterwäsche für Karl Theodors Soldaten, sondern auch den Energie sparenden Rumfordherd und schließlich die Rumfordsuppe, ein Eintopfgericht, das 1795 erstmals an die Streiter des Kurfürsten ausgegeben wird. Schließlich sorgt die kräftige Suppe auch im Militärischen Arbeitshaus in der Münchener Au bei Bettlern und Arbeitslosen für Furore und von hier aus tritt sie ihren Siegeszug in der Armenfürsorge Europas an. „Sie verlangt“, so schreibt Benjamin Thompson, „freylich ein langes und starkes Kochen; aber wenn dies gehörig geschieht, so verdickt sie eine große Maße Waßer und bereitet es, wie ich vermuthe, zur Zersetzung vor. Sie giebt also einer Suppe, von der sie einen Bestandtheil ausmacht, einen Reichthum an nährenden Stoff, den nichts anderes zu geben im Stande ist.“ Die wichtigsten Zutaten neben Wasser: Rollgerste (Graupen), getrocknete gelbe Erbsen, Salz und Bier- oder Weinessig, wobei diese beliebig mit anderem Gemüse oder auch Fleisch oder Speck sowie diversen Kräutern und Gewürzen ergänzt werden können; häufig wird auch ein Teil der Rollgerste durch Kartoffeln ersetzt.

Erstmals billige Suppen für die Armen von Wien.

Während in Bayern und Teilen Preußens die Rumfordsuppe bereits während der Kriege gegen Napoleon an die Armen ausgeschenkt wird, hält sie in Wien erst im Revolutionsjahr 1848 Einzug: Die wachsende Armut in den Vorstädten Wiens macht die Errichtung von „Rumfordschen Suppenanstalten“ auch in der habsburgischen Residenz notwendig. Auf der Landstraße, in Mariahilf und auf dem Schottengrund wird nun die Suppe Thompsons an die Armen von Wien verteilt; allmählich findet seine „Kraft-Suppe“ aber auch den Weg in den bürgerlichen Haushalt, wie unter anderem etwa Katharina Pratos Kochbuchklassiker von 1881 beweist.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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