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Dieses Buch lädt ein zu Entdeckungen in einer anderen Welt. Österreichs idyllische Landschaft, so seine Botschaft, zeigt sich verblüffend doppelbödig, ist nicht immer das, was sie zu sein vorgibt. Vielfach wissen heute nur mehr wenige Menschen von der Existenz dieser verborgenen Orte, einst standen sie jedoch im Mittelpunkt des Kriegsalltags. Im Grauen des Bombenkrieges wurden sie zur letzten Zuflucht für viele, andere mussten miterleben und miterleiden, wie hier der Terror des NS-Regimes knapp vor Kriegsende einen letzten wahnwitzigen Höhepunkt erreichte. Im Schutz riesiger Stollenanlagen konzentrierten sich verzweifelte Bemühungen zum Bau der vielfach beschworenen „Wunderwaffen“. KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter aus ganz Europa, hilflos den Schlägen und Tritten der Kapos und SS-Wachen ausgesetzt, bauten Motoren und Gewehre und montierten Hightech-Waffen. Für Tausende wurden die Stollen, die heute von der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) verwaltet werden, zur letzten Station eines langen Leidensweges in den Fängen des SS-Terrornetzes, zu „verfluchten Orten“. Robert Bouchal und Johannes Sachslehner dokumentieren anhand exemplarischer Beispiele in Wort und Bild dieses bewegende Kapitel Zeitgeschichte, das lange Zeit verdrängt und totgeschwiegen wurde. Sie sprechen mit Zeitzeugen und präsentieren überraschende Funde aus den Stollen, die das dramatische Geschehen von einst eindringlich vor Augen führen.
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Seitenzahl: 279
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Robert Bouchal Johannes Sachslehner
Unterirdisches Österreich
Vergessene Stollen · Geheime Projekte
Die „Lehnersche Röhre“ im Zugangsbereich von „Bergkristall“.
Cover
Titel
Titelbild
Bilder zum Buch
VORWORT
I. KAPITEL:DAS UNTERIRDISCHE ERBE
Ein kriminalistisches Lehrstück
Wir haben etwas, was wir nicht wollen
Die BIG, ein Mann und 290 Stollen
Kein Spielraum für Interpretationen
Das Millionengrab
Karl Lehner erhält Verstärkung
Explosive Entdeckungen am Petersberg
Ein „Pingenfall“ in Villach
Die aktuelle Aufgabe heißt befunden und betreuen
II. KAPITEL:DIE GROSSE FLUCHT VOR DEN BOMBERN
Der SS-Rüstungsmanager: Hans Kammler
DAS UNTERIRDISCHE AMPHITHEATER
Geheimprojekt „Zement“ in Ebensee
Eine Rakete für das Reich
Die Teufelsfabrik: das Geheimobjekt „Schlier“ in Redl-Zipf
Aus „Kalk“ wird „Zement“
Bohren, Sprengen, Bohren, Sprengen
Schnecken statt Muscheln
Neue Pläne für „Zement“
Sterben wie die Ratten
Es gab weder Gnade noch Rettung
Ein Erinnerungsort: die Stollenlandschaft Ebensee heute
CODENAME „B8 BERGKRISTALL“
Das Stollenlabyrinth in St. Georgen an der Gusen
Es ist, als wenn ein Engel schiebt
Die Geschäfte der DEST und der Beginn von „Bergkristall“
Gusen II: The killing went on constantly
Karl Fiebinger, der Stollenbauer
Moder, Schweiß und Tod – der Alltag in den Stollen
In der Haft der SS: die Fiebinger-Baracke
Die ME 262 im Einsatz
Die Befreiung
Nutzen, Bewahren und Erinnern: „Bergkristall“ von 1945 bis heute
Die Sicherungsmaßnahmen
Souverän gelöst
Viel Lärm um letzte Sicherungsmaßnahmen
Atom-Gerücht und „Schatten-Gusen“
Das „Kunst- und Nutzungsprojekt“
Begegnung mit „Bergkristall“
UNTER WASSER Das Stollensystem Langenstein
Eine „Wasserbefahrung“
DECKNAME „KIESEL“
Der Grillstollen in Hallein
ÖSTERREICHISCHE STÄDTE IM LUFTKRIEG
„Luftnot“ in Linz
Von einem Pferd , das fast versunken wäre
Beten in Bunker
III. KAPITEL:HOTSPOTS VERSUS LOST PLACES: DIE STOLLEN HEUTE
IM STEIRISCHEN BERG DER DATEN
Vom Rüstungsprojekt „Syenit“ zu „ earthDATAsafe “
WELCOME TO HELL
In der Klagenfurter Stollenwelt
DAS FLEDERMAUSKABARETT
Ein Lokalaugenschein in Wimpassing
Die Fledermäuse sind noch nicht ausgestorben
ENDZEITSTIMMUNG IN DER KREMSER UNTERWELT
ALS WÄRE DER KRIEG HIER GERADE ERST ZU ENDE GEGANGEN
EPILOG
QUELLEN UND LITERATUR
BILDNACHWEIS
NACHWORT DER AUTOREN
DANKSAGUNG
Weitere Bücher
Impressum
Durch Sprengung zerstörter Stollenabschnitt in St.Georgen an der Gusen.
Stollenanlage A in Ebensee: faszinierende Sinterröhrchen.
Im Grillstollen in Hallein.
Im Sommerauerstollen, Hallein.
Dieses Buch lädt ein zu Entdeckungen in einer anderen Welt. Österreichs idyllische Landschaft, so seine Botschaft, zeigt sich verblüffend doppelbödig, ist nicht immer nur das, was sie zu sein vorgibt. Unter pittoresken Wohnsiedlungen, Äckern, Wäldern und Wiesen existieren verborgene, unterirdische Orte, die einst im Mittelpunkt des Kriegsalltags standen. Im Grauen des Bombenkrieges wurden sie zur letzten Zuflucht für viele; andere mussten miterleben und miterleiden, wie hier der Terror des NS-Regimes knapp vor Kriegsende einen letzten wahnwitzigen Höhepunkt erreichte. Im Schutze riesiger Gangsysteme konzentrierten sich verzweifelte Bemühungen zum Bau der vielfach beschworenen „Wunderwaffen“, mit deren Hilfe Adolf Hitler einen längst verlorenen Krieg doch noch gewinnen zu können glaubte. In taghell erleuchteten unterirdischen Hallen schufteten die „Sklaven“ des Dritten Reiches: KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter aus ganz Europa bauten Motoren, Gewehre und montierten Hightech-Waffen wie den ersten Düsenjäger der Luftfahrtgeschichte, den legendären „Strahljäger“ Me 262.
Lange Zeit blieb die Existenz dieser Stollenanlagen nahezu unbemerkt. Die Republik Österreich fühlte sich nicht zuständig. Erst ein Gerichtsurteil stellte das Eigentum der öffentlichen Hand an diesen unterirdischen Bauwerken fest. Nach Gründung der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) in ihrer heutigen Form zur Jahrtausendwende wurden sie dem noch jungen Unternehmen übereignet, das mit diesem Erbe eine große Herausforderung übernahm. Alleine die Sicherung der teilweise gesprengten und verfallenen Stollen hat bis heute mehr als 35Millionen Euro verschlungen. Es wurden keine Mühen gescheut, um dieses Vermächtnis einer dunklen Zeit aufzuarbeiten. Nach über zehn Jahren sind nunmehr alle akut drohenden Gefahren für Menschen beseitigt. Sich auf den Erfolgen der vergangenen Jahre auszuruhen wäre aber trügerisch, denn absolute Sicherheit kann es aufgrund der Bewegungen im Gebirge niemals geben. Nach wie vor befinden sich mehr als 150Stollen im Eigentum der BIG; alleine die laufende Instandhaltung dieser Bauwerke ist sehr aufwendig. Jährliche „Befahrungen“ geben Aufschluss über ihren Zustand, den Befunden entsprechend werden weitere Arbeiten durchgeführt. Letztendlich ist die kontinuierliche Sicherung der Stollen eine Aufgabe im Dienste aller.
Exklusiv für dieses Buch, vor allem um diese unterirdische Welt auch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hat uns die BIG dankenswerterweise die Tore zu diesen Stollenanlagen geöffnet; es wurde uns so möglich, an Hand exemplarischer Beispiele in Wort und Bild dieses bewegende Kapitel Zeitgeschichte, das lange Zeit verdrängt und totgeschwiegen wurde, zu dokumentieren. Wir besuchen die Schauplätze und schildern dunkle Anderswelten, in denen einst Angst und Verzweiflung regierten, aber auch die Hoffnung auf ein Überleben. Wir sprechen mit Zeitzeugen und präsentieren überraschende Funde aus den Stollen, die in ihrer Unmittelbarkeit das dramatische Geschehen von einst eindringlich vor Augen führen. Und wir stellen uns schließlich auch der Frage der Nachnutzung der Stollen und ihrer Bedeutung heute: von neu geschaffenen Lebensräumen für Fledermäuse bis zur Gestaltung als Museums-, Gedächtnis- und Erinnerungsort.
Chaos im unterirdischen Labyrinth von St.Georgen an der Gusen.
Die Stollenanlagen der NS-Zeit sind außergewöhnliche Objekte. „Nutzlose Immobilien“, die keine Rendite bringen, ja, Geld verschlingen, „kostenintensive Löcher“. Unsichtbare Räume unter den Straßen der Städte, dunkle Röhren, einst kompromisslos vorgetrieben in den Fels der Berge und die Sande der Hügel. Nicht sichtbar, aber doch gegenwärtig, lost places der Nazi-Diktatur, eng verwoben mit der Landschaft, vielfach nur wenigen Eingeweihten bekannt. Architektur der Angst bar jeder Annehmlichkeit und des Gefühls von Geborgenheit, reduziert auf ihre Schutz- und Versteckfunktion, unterirdische Landschaften, die uns von der Zeit des „totalen Krieges“ erzählen, von einer Welt, die kaum mehr bewohnbar war, in der es notwendig wurde, sich zu verkriechen, um zu leben, in der das Abnormale zur Normalität wurde.
Was der französische Philosoph Paul Virilio in seiner Bunkerarchäologie für die gigantischen Bunkerbauten des „Westwalls“ konstatierte, gilt auch für die Stollen: Sie künden von „der großen Verschmelzung des Militärischen und des Zivilen“, die für die Endphase des Zweiten Weltkrieges so typisch wurde; sie sind „Spiegelbild der Kriegsindustrie“ und unsrer eigenen „Todesmacht“ und Destruktivität. Die „Kriegsmaschine“, sagt Paul Virilio“ mit Bezug auf die Bunkerbauten, ist der „Archetyp der industriellen Maschinen“, nirgendwo sonst manifestiere sich der „prometheische Wille so machtvoll wie hier“ – eine Feststellung, die auch für die NS-Stollenanlagen gilt: Sie sind geblieben als stumme Zeugnisse ungeheurer Versuche, unter den Bedingungen des Krieges Gegenwelten zu schaffen, in denen die natürlichen Bedingungen des Lebens in gewisser Weise überschritten werden: Hier gibt es weder Tag noch Nacht und hier hat das „unheilvolle Zauberspiel“ der Bombardements seine Macht verloren. Neben der Hoffnung existieren hier aber auch nackte Brutalität, Terror und Tod. Die SS-Leute wissen es und nützen dies mit kaltem Zynismus: Allein das Wort „Stollen“ löst bei vielen KZ-Häftlingen Angst und Schrecken aus; der Stollen wird zum Synonym für die Hölle schlechthin.
Ja, wer durch diese dunklen unterirdischen Gänge streift, gedacht einst als „Überlebensmaschinen“ (Paul Virilio) und letzte Rückzugsorte für wahnwitzige Rüstungsanstrengungen, wer innehält in der modrigfeuchten Stille, erhält tatsächlich so manche Antwort, mag etwas erspüren von der Verlorenheit und der Verzweiflung, die jene Menschen erfüllte, die hier Zuflucht vor den Bomben suchten, die hier unter den Peitschen und Tritten der Kapos für die „Wunderwaffen“ der Nazis schufteten.
Es ist wohl kein Zufall, dass die österreichische Gesellschaft lange Zeit die Begegnung mit diesen Orten scheute und selbst die Republik absolut nichts mit ihnen zu tun haben wollte – man ging dem Blick in den Spiegel, von dem Paul Virilio spricht, aus dem Weg, weil er schmerzhaft gewesen wäre. Er hätte sich nicht vertragen mit der Lüge, auf der man den neuen Staat erbaute: Der Blick auf die Stollen erinnert daran, dass Österreich keinesfalls hilfloses „Opfer“ des NS-Regimes war, sondern dessen Anhänger die Herrschaft des „Führers“ herbeisehnten und herbeibombten, die Aufnahme ins „Tausendjährige Reich“ begeistert feierten und im Gefolge der neuen Herren zu skrupellosen Mördern und Henkern wurden. Die NS-Stollenanlagen sind zu Mahnmalen dieser unbequemen Wahrheit geworden. Als Relikte des Dritten Reiches zeugen sie in Stein und Beton vom tödlichen Zynismus, mit dem die NS-Führung ihre pervertierte Ideologie bis in den Untergang verfolgte. Es waren Schicksalsorte für Zehntausende von Menschen, getränkt von Schweiß, Blut und Tränen, und sind heute zweifellos Orte der Erinnerung geworden, Plätze, die dazu beitragen können, dass sich aus dem beinahe instinktiven Impuls vieler Österreicherinnen und Österreicher zum „Nicht-Wissen“ (Wolfgang Sofsky) über die Nazi-Vergangenheit doch die Bereitschaft zum „Wissen“ herauskristallisiert. Denn das Wissen um jene ungeheuren Verbrechen ist eine Voraussetzung dafür, dass wir sie in Zukunft vermeiden können. So mag so manch Unsichtbares zu Sichtbarem werden, so manch Dunkles in das helle Licht des Nachforschens und Nacherzählens treten.
Stein und Beton zeugen vom tödlichen Zynismus des NS-Regimes: der Grillstollen in Hallein.
Beginnen wir unsere Reise im Jahre 1945, der angeblichen „Stunde null“: Mit der Befreiung des Landes durch alliierte Truppen endet die Arbeit an den Stollen, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge ziehen ab, unterirdische Montagestrecken werden von Amerikanern und Russen demontiert, Luftschutzräume nicht mehr genutzt. Unmittelbar nach Kriegsende zeigt die wiedererstandene Republik noch ein gewisses Interesse an den zahlreichen NS-Stollenanlagen. Noch ist die Erinnerung an das Grauen der Bombennächte frisch und an den ungeheuren Einsatz, mit dem die Nazis bis zum Untergang an diesen Flucht- und Gegenwelten arbeiten ließen. Und es geht immerhin um „Vermögenssicherung“ und um die Frage des „Deutschen Eigentums“. So sieht sich der Bund als Verwalter der Stollen, der im Rahmen von Mietverträgen Rechtstitel für Nutzungen durch Private vergibt, etwa für die Lagerung bestimmter Güter oder das Züchten von Champignons. Dringend notwendige erste Sicherungsmaßnahmen werden daher aus Bundesmitteln finanziert; die Aufwendungen sind zum Teil beträchtlich, so dokumentiert ein Schreiben des Tiroler Landesbauamtes an die Bundesgebäudeverwaltung vom 7.Juli 1948, dass allein die Kosten für „Baumaßnahmen an Luftschutzstollen und Stolleneinbrüchen“ im Raum Innsbruck für den Zeitraum Mai 1945 bis Ende Juni 1948584.000Schilling betragen haben.
Stand noch lange nach Kriegsende offen: der Bahnstolleneingang Nr.5 zu „Bergkristall“.
Aufnahme um 1970, Archiv Heimatverein St.Georgen an der Gusen.
Das ändert sich 1948 grundsätzlich, ja, es erfolgt geradezu ein Paradigmenwechsel in der Behandlung der Stollenfrage: Nun stellt sich die Bundesverwaltung auf den Standpunkt, dass sie für den Zustand der Stollen keinerlei Verantwortung trage, da auch keine Rechtsnachfolge vorliege. Die spitzfindige Begründung: Bei den Stollenbauten habe es sich um „hoheitliche Eingriffe“ des Dritten Reiches gehandelt, mit dem Untergang dieses Staates seien auch die entsprechenden Rechtstitel erloschen. Und für jene Luftschutzbauten, die von Gemeinden oder Betrieben errichtet worden seien, käme eine Rechtsnachfolge sowieso nicht in Frage.
Die neue Formel lautet: Der Bund ist nicht Eigentümer der Stollen, er trägt daher keine Verantwortung für sie und kann daher auch keine Kosten für Sanierung und Sicherung übernehmen. Eine Stellungnahme des Bundesministeriums für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung vom 5.Jänner 1949, erhalten im Tiroler Landesarchiv (ATLR IX d 3591–13), lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Die Kosten der Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Stollen treffen den Eigentümer. Weder das ho. Bundesministerium noch irgendeine andere österreichische Stelle ist verpflichtet, für Luftschutzstollen Aufwendungen zu machen. Mittel sind nicht vorgesehen.“ Mit dieser Antwort wird die Bitte eines Oberliegers um Sicherung eines unter seinem Grund befindlichen Stollens einfach vom Tisch gefegt.
Bleibt die Frage: Wer ist tatsächlich Eigentümer und wer muss daher zahlen?
Die Gemeinden? Die Kommunen weisen die Argumentation des Bundes mit leichter Hand zurück: Sie hätten nur die Bauführung im Auftrag des Dritten Reiches geleitet, Bauherr sei daher der NS-Staat gewesen, von einer Rechtsnachfolge könne keine Rede sein. Private Liegenschaftseigentümer? Auch sie gehen meist davon aus, dass sie für den Zustand des Stollens auf ihrem Grundstück keine Verantwortung zu tragen hätten. Bei etwaigen Problemen, wie z.B. Stolleneinbrüchen, versuchen sie diese an den Bund oder die Gemeinde zu delegieren. Das Argument: Das Grundstück sei zwar ihr Eigentum, nicht aber der Stollen darunter.
Betrachten wir dazu den Punkt „Rechtsnachfolge“ genauer: Unumstritten ist, dass das Dritte Reich der Bauherr der öffentlichen Luftschutzanlagen, aber auch der für Rüstungsbetriebe vorgesehenen Stollenanlagen war. Die Entscheidung über den Bau eines Luftschutzstollens wurde vom jeweils zuständigen „Luftgaukommando“ gefällt; das Dritte Reich finanzierte die Errichtung des Stollens und wurde zu seinem Eigentümer. Die Gemeinden sorgten vielfach für die Abwicklung: Das zuständige Bauamt projektierte die Anlage, schloss Verträge mit den Baufirmen ab und überwachte die Durchführung der Arbeiten – bezahlt wurden die Rechnungen der Firmen jedoch vom Reich, und zwar über die „Polizeikasse“, das heißt, der zuständige Polizeipräsident – er war zugleich der „Luftschutzleiter“ eines „Luftschutzortes“ – prüfte die eingehenden Forderungen und sorgte aus dem Etat der „Kriegsausgabemittel“ für die Überweisungen. Kommunale Dienststellen waren tatsächlich nur ausführende Organe. Kurios ist ein Fall aus Innsbruck: Beim Bau des Stipplerstollens (Höttinger Au– Schererschlössl, T002), einer Anlage, die immerhin 1.250Menschen Schutz bieten sollte, speiste man die ausführende Baufirma mit einem bloßen Versprechen ab: „Bezahlung erfolgt nach dem Endsieg!“
Eine wichtige gesetzliche Grundlage für die Errichtung von Luftschutzanlagen bildete das sogenannte „Reichsleistungsgesetz“ aus dem Jahre 1939, das es im §10 erlaubte, dass „Grundstücke und Gebäude betreten oder sonst benutzt werden“, falls es die Bekämpfung eines „Notstandes“ verlangte. Der Grundeigentümer musste also dulden, dass auf seinem Grundstück gearbeitet wurde, dass Geräte, Vorrichtungen und Anlagen angebracht oder Aushub- und Baumaterial gelagert wurden. All dies bedeutete jedoch nicht Enteignung, die nach einer Sonderregelung des Luftschutzgesetzes nur in besonderen Fällen notwendig wurde. Leistungen dieser Art – die Inanspruchnahme eines oder mehrerer fremder Grundstücke – konnten von allen staatlichen Stellen, aber auch von der Wehrmacht und der SS verlangt werden. Das Reichsleistungsgesetz definierte also eine Art von staatlichem „Nutzungsrecht“ für private Liegenschaften.
Stollen sind nun, wie jedoch erstmals der Oberste Gerichtshof in einer Erkenntnis vom 22.März 1993, der sogenannten „ersten Grillstollenentscheidung“, ausspricht, zweifellos „Bauwerke“: Sie werden unter dem Einsatz von Arbeit und unter Verwendung von Materialien hergestellt. Das Gesetz, in diesem Fall das ABGB, §435, definiert sie aber als ganz besondere Bauwerke: Es seien sogenannte „Superädifikate“, also „Bauwerke, die auf fremdem Grund in der Absicht aufgeführt sind, dass sie nicht stets darauf bleiben sollen“, ob nun ober- oder unterirdisch, tut dabei nichts zur Sache. Die Beschränkung des Grundnutzungsrechtes, so die Meinung der Juristen, sei mit dem Ende der „Luftkriegsgefährdung“ gegeben, damit liege eindeutig der „mangelnde Belassungswille“ vor. Das gelte sowohl für Stollenanlagen zum Schutz der Öffentlichkeit als auch für unterirdische Komplexe, die im Hinblick auf Rüstungsprojekte errichtet worden seien.
Mit 8.Mai 1945 traten nun gemäß Kundmachung der Provisorischen Staatsregierung (StGBl 1945/52) alle Gesetze und Verordnungen des Dritten Reiches zum Luftschutz außer Kraft. Für die Stollenanlagen bedeutete dies, dass sie nun ihrem Charakter nach nicht mehr Luftschutzstollen waren, sondern Bauwerke, die an diesem 8.Mai 1945 zum Finanzvermögen des Dritten Reiches zählten; die „Nutzungskategorie“ Luftschutz existierte ja nicht mehr. Noch aber war Österreich völkerrechtlich kein freies Land und besaß daher auch kein Eigentumsrecht an den Stollen: Für die alliierten Siegermächte waren die unterirdischen Anlagen Teil der „Deutschen Vermögenswerte“ bzw. „Deutsches Eigentum“, das grundsätzlich, wie im Zweiten Kontrollabkommen vom 28.Juni 1946 festgelegt, von der jeweiligen Besatzungsmacht für sich beansprucht werden konnte. Erst der Österreichische Staatsvertrag, unterzeichnet am 15.Mai 1955, brachte dann die entscheidende Änderung: Im Artikel 22, Absatz 6 und Absatz 1, verzichteten die Alliierten auf das „Deutsche Eigentum“ in Österreich und übertrugen die diesbezüglichen Vermögensrechte auf die Republik Österreich, präziser gesagt auf den Bund, da die Republik als völkerrechtliches Subjekt keine Privatrechtssubjektivität besitzt.
Folge dieses Übergangs war, dass nun die Sorgfaltspflicht beim Bund lag, er haftete gemäß §1319ABGB für etwaige Schäden, verursacht z.B. durch den Einsturz eines Stollens (die sogenannte Gebäudehalterhaftung). Der betreffende Passus des Schadenersatzrechtes: „Wird durch Einsturz oder Ablösung von Teilen eines Gebäudes oder eines anderen auf einem Grundstück aufgeführten Werkes jemand verletzt oder sonst ein Schaden verursacht, so ist der Besitzer des Gebäudes oder Werkes zum Ersatze verpflichtet, wenn die Ereignung die Folge der mangelhaften Beschaffenheit des Werkes ist und er nicht beweist, dass er alle zur Abwendung der Gefahr erforderliche Sorgfalt angewendet habe.“ Die Beweislast liegt also beim Besitzer – er muss beweisen, dass die gebotene Sorgfaltspflicht nicht verletzt worden ist. Im Falle der Stollenanlagen kann dieser Beweis nur in folgende zwei Richtungen gehen: Die Gefahr war nicht abzusehen oder sie wäre auch durch zumutbare Maßnahmen der Gefahrenabwehr nicht zu verhindern gewesen.
Tatsächlich war es so, dass sich der Bund auch nach 1955 über Jahrzehnte hinweg nicht um die Stollen kümmerte, konnte doch niemand ahnen, dass sie der Oberste Gerichtshof knapp vier Jahrzehnte später als ehemaliges „Deutsches Eigentum“ qualifizieren würde. Den ersten Anstoß für eine völlig neue Regelung des „Stollenproblems“ gab eine für den Bund richtungweisende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 24.November 1997 zur Rechtslage beim sogenannten „Grill-Stollen“ in Hallein, der 1944 im Auftrag und auf Rechnung der Organisation Todt von der Eugen Grill Werke GmbH errichtet worden war. Nach Kriegsende wurde das Stollensystem zunächst von den Alliierten genutzt und in weiterer Folge auf Grund sicherheitspolizeilicher Anordnung von der Gemeinde Hallein zugemauert. Ein privater Kläger, unter dessen Grundstück sich das Stollensystem befindet, hatte im „ersten Grillstollenprozess“ die Gemeinde Hallein noch auf Feststellung seines Eigentums am Stollen geklagt. Nachdem ihm jedoch der Oberste Gerichtshof im Rahmen der „ersten Grillstollenentscheidung“ 1993 beschieden hatte, dass weder die Gemeinde Hallein noch er, sondern in Wahrheit der Bund Eigentümer des Stollens ist, hatte er nun die Republik auf „Wiederherstellung des Zustandes der Liegenschaft vor Errichtung des Grill-Stollens“ geklagt; der OGH stellte ausdrücklich fest, dass dieser Stollenbau als „sonderrechtsfähiges unterirdisches Bauwerk zu qualifizieren“ sei, „an welchem das Deutsche Reich durch die Bauführung originär Eigentum erworben hat, das im Wege der Einzelrechtsnachfolge (Art. 22 des Staatsvertrages von Wien und §3 des 1.Staatsvertragsdurchführungsgesetzes) auf die Republik übergegangen ist, ohne dass hiezu die bei derivativem Eigentumserwerb erforderliche Urkundenhinterlegung notwendig gewesen wäre“ (OGH 24.11.1997, 6Ob 2164/96w). Pikanterie am Rande: Der OGH spricht weiter aus, dass „das hier zu Zwecken des Luftschutzes eines Rüstungsindustriebetriebes während des Krieges begründete Benützungsrecht der Liegenschaft des Klägers mit der Beendigung des Krieges als erloschen anzusehen“ ist. Damit ist der Bund zwar Eigentümer der Stollen und hat die Haftung dafür, gleichzeitig aber kein Benützungsrecht an den Stollen mehr (zumindest solange er sich nicht mit dem Grundeigentümer neu darüber einigt…)
Die Schlagzeile der „Tiroler Tageszeitung“ bringt es auf den Punkt: Die Stollen aus der Kriegszeit sind Eigentum der Republik.
Gab den Anstoß für die wegweisende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs: der Grillstollen in Hallein.
Im Bild die Reste der Installationen.
Ein Urteil also, das in der Bundesgebäudeverwaltung und dem Wirtschaftsministerium erstmals die Alarmglocken schrillen ließ.
Der zweite Anstoß ließ prompt nicht lange auf sich warten – er erfolgte 1998 durch die Stadt Innsbruck. Da durch einsturzgefährdete Luftschutzstollen bereits unmittelbare Gefahr drohte und auch hier umstritten war, wer für die Sicherungsarbeiten aufkommen müsse, gab sie beim Innsbrucker Juristen Konrad Arnold ein Rechtsgutachten in Auftrag, das dieser am 1 . Juni 1999 gemeinsam mit Vizebürgermeister Norbert Wimmer und Baupolizei-Chef Theodor Greiner, dem Koordinator der Stollenuntersuchungen in der Tiroler Hauptstadt, der Öffentlichkeit präsentierte. Arnolds exakte, 140Seiten umfassende Ausführungen, von Wimmer aufgrund der aufwändigen Faktensuche als „kriminalistisches Lehrstück“ gewürdigt, beseitigten alle Zweifel: Die Innsbrucker Stollen waren am 8.Mai 1945 „Deutsches Eigentum“ gewesen; die Eigentümerschaft der Republik war unbestreitbar. Am nächsten Tag titelte die Tiroler Tageszeitung: „Luftschutzstollen gehören dem Bund“, und verwies darauf, dass diese Erkenntnis keinen Tag zu früh komme, auf der Hungerburg sei soeben wieder ein Stollen eingestürzt, insgesamt
Aufgrund des Drucks aus Innsbruck musste der Bund nun handeln, und zwar schnell, drohten doch weitere Sicherungs- und Haftungsprobleme. In der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage bestätigte Bundeskanzler Viktor Klima, dass die Innsbrucker Stollen im „Eigentum des Bundes stehende Bauten“ seien; eine rasche bundesweite Lösung im Rahmen der angestrebten strukturellen Maßnahmen zur Neuorganisierung der Bau- und Liegenschaftsverwaltung des Bundes wurde gesucht. „Wir haben etwas, was wir nicht wollen“, hieß es – doch wem geben? Das Bundeskanzleramt spielte den Ball ans Wirtschaftsministerium weiter und für die zuständigen Beamten am Wiener Stubenring kam eigentlich nur ein Weg in Frage: Auch die Stollenanlagen mussten in das geplante „Bundesimmobiliengesetz“ des Jahres 2000 integriert werden. Dieses sah den Verkauf beinahe aller bis zu diesem Zeitpunkt im Wirtschaftsministerium verwalteten Immobilien an die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) vor. Doch für eine geordnete Weitergabe der unterirdischen NS-Bauten fehlten zuverlässige Unterlagen – hektische Aktivitäten waren die Folge; eine eigene Stollen-Arbeitsgruppe wurde gegründet. Zur wichtigen Arbeitsgrundlage wurde eine Liste aus dem Jahre 1959, die 560Luftschutzobjekte aus dem Zweiten Weltkrieg verzeichnete, darunter allerdings auch oberirdische Bauten wie Deckungs- und Splittergräben oder Ein-Mann-Bunker. In fieberhafter Eile, gestützt auf die Auskünfte der einzelnen Bezirkshauptmannschaften und Gemeinden sowie auf Grundbuchsrecherchen und Nachforschungen vor Ort durch die – damals noch existierenden – regionalen Bundesgebäudeverwaltungen, galt es jetzt, die in Frage kommenden Objekte herauszufiltern; das wesentliche Kriterium: Die Rechtsüberleitung von „Deutschem Eigentum“ 1945 zum Eigentum des Bundes sollte nachvollziehbar und gewährleistet sein. Bei allen diesen „unverbücherten“ Stollenobjekten würde der „Eigentumsübergang“ laut Bundesimmobiliengesetz ausdrücklich unter der „Rechtsvermutung, dass der Bund zum Übertragungszeitpunkt Eigentümer war“, erfolgen – eine kleine Hintertür für möglicherweise anders gelagerte Einzelfälle: Sollte jemand beweisen können, dass ein Stollen sein Eigentum – z.B. durch „Ersitzung“ – wäre, müsste die BIG diesen Stollen herausgeben. Ein Befahren und Erkunden der Stollenanlagen war in dieser kurzen Zeit – die Liste musste bis zum November 2000 stehen – ausgeschlossen, auch konnte aus Zeitgründen der historische Hintergrund nicht näher erforscht werden, in manchen Fällen hatte man nicht einmal eine zutreffende Adresse. Hellhörig wurde man nur bei einem Hinweis: Gefahr im Verzug!
Doppelriegeltür in einem Linzer Luftschutzkeller.
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