42 große Wörter -  - E-Book

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Beschreibung

Die Antwort auf die Frage nach Gott, dem Menschen und dem ganzen Rest

42 große Leitwörter erschließen die Botschaft der Bibel in ihrer Gestalt und Lebensrelevanz.

Wer die Bibel liest, verliert sich leicht in der Fülle der Bilder, Vorstellungen und literarischen Formen. Doch es gibt einige Große Wörter, die immer wiederkehren: Leiden, Segen, Schalom, Weisheit ... Sie helfen, den zentralen Themen der Bibel auf die Spur zu kommen.

42 Essays nehmen je ein Stichwort auf, entfalten die Bedeutung des Themas und legen eine Deutungsspur durch die gesamte Bibel. Die Leitworte verbinden sich so zu einem Wegenetz durch das Basisbuch unserer Kultur.

Nach und nach setzt sich die biblische Weltkarte zusammen – mit vielen überraschenden Perspektiven auf Gott und Menschheit, auf das Leben zwischen Geburt und Tod und darüber hinaus.

  • Die Bibel auf den Punkt gebracht - in 42 zentralen Leitwörtern
  • Durchblicke statt unverbundenes Faktenwissen
  • Griffig und verständlich

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Seitenzahl: 527

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»Wer die Bibel aufschlägt, stößt auf Wörter.

Die Wörter sind uns so freundlich wie feindlich.

Sie öffnen und schließen, retten und töten,

heilen und kränken, verletzen und trösten.«

Felicitas Hoppe

42 große Wörter erschließen die Botschaft der Bibel – 42 Essays nehmen je eines dieser Wörter auf und entfalten seine Bedeutung im Horizont der gesamten Bibel.

Die Leitworte verbinden sich zu einem Wegenetz durch das Basisbuch unserer Kultur.

Eine ungewöhnliche Einladung, die Bibel zu entdecken.

Herausgeberinnen und Herausgeber

Dr. Egbert Ballhorn

Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments an der Technischen Universität Dortmund, Vorsitzender des Katholischen Bibelwerks e.V.

Dr. Georg Steins

Professor für Biblische Theologie / Exegese des Alten Testaments an der Universität Osnabrück

Dr. Regina Wildgruber

Bibelwissenschaftlerin, Bischöfliche Beauftragte für Weltkirche im Bistum Osnabrück

Dr. Uta Zwingenberger

Diözesanbeauftragte für Biblische Bildung im Bistum Osnabrück und Leiterin des Bibelforums in Haus Ohrbeck

42 große Wörter

Schlüssel zur Botschaft der Bibel

Herausgegeben von Egbert Ballhorn, Georg Steins, Regina Wildgruber und Uta Zwingenberger

Mit einem Geleitwort von Felicitas Hoppe

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber.

Copyright © 2024 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-29200-3V001

www.gtvh.de

Inhalt

Zuvor

Auf der Suche nach Namen

Felicitas Hoppe

leidenschaftlich

einzig

Liebesbekenntnis

Ilse Müllner

Barmherzigkeit

Herzenssache Gottes

Paul Deselaers

Zorn

Gottes rettende Gerechtigkeit

Johannes Schnocks

klagen und loben

Mit langem Atem

Egbert Ballhorn

leiden

Nagelprobe des Glaubens

Wilfried Eisele

Sünde

Verstrickt und verantwortlich

Kerstin Schiffner

Segen und Fluch

Wirksame Worte

Matthias Millard

ansprechend

Name

In Rufweite

Ursula Silber

sprechen

Gott als Stimme

Elisabeth Pernkopf

schreiben

Staub, Steine, Herz

Egbert Ballhorn

Tora

Fundamental und auslegungsbedürftig

Johannes Taschner

Weisheit

Die Lesbarkeit der Welt

Klaus Kiesow

mit Hand und Fuß

Körper

Zerbrechliches heiliges Zuhause

Katrin Brockmöller

Atem

Luft lässt leben, der Geist macht neu

Beat Weber

Mensch

Handle with care

Ulrike Sals und Georg Steins

essen

Sag mir, mit wem du isst, und ich sage dir, wer du bist

Andreas Leinhäupl

rein und unrein

An die Grenzen gehen

Hildegard Scherer

arm und reich

Gottesglaube im Praxistest

Ulrich Dahmen

Haus

Die liebe Verwandtschaft

Andreas Michel

Nächster

Hautnah

Olaf Rölver

gehen

Ein Lebensprogramm

Gerhard Hotze

Zwölf

Eine Zahl voller Erinnerungen und Zukunft

Hans-Georg Gradl

in Raum und Zeit

Wüste

Durchgangsraum mit Veränderungspotenzial

Uta Zwingenberger

Wasser

Flut-Licht

Egbert Ballhorn

Land

Ein Flecken voller Verheißung

Till Magnus Steiner

Jerusalem

Mittelpunkt der Welt

Andrea Pichlmeier

Tempel

Das Paradies im Himmel und auf Erden

Michael Konkel

Opfer

Biblische Beziehungsgeschichten

Gunther Fleischer

Sabbat

Erst einmal aufatmen

Michael Tilly

Pessach

Gut hinüberkommen

Annette M. Boeckler

Ende und Anfang

Das A und O der Bibel

Egbert Ballhorn

verwandelt

Finsternis und Licht

Kein Grau?

Georg Steins

Tod und Leben

Kreative Spannungen

Regina Wildgruber

retten

Andere Lieder singen

Bettina Eltrop

Messias

Wann kommt er? Und warum überhaupt?

Thomas Hieke

Macht

Gegen Gewalt

Klara Butting

Wunder

Zwischen Tod und Leben

Georg Steins

erwählen

Paradoxe Logik

Eva-Martina Kindl

Schalom

Heil, Hoffnung und Handlungsauftrag

Thomas Nauerth

Vision

Himmelseinfälle

Reinhold Zwick

Herrlichkeit

Göttlicher Glamour

Christian Schramm

Amen

Antwort, Auftakt, Ankommen

Georg Steins

Geschichtliche Hintergründe der biblischen Literatur

Uta Zwingenberger

Ausgewählte Literatur zum Alten und Neuen Testament

Herausgeberinnen und Herausgeber

Autorinnen und Autoren

Abkürzungen der biblischen Bücher

Weitere Abkürzungen

Zuvor

Die Bibel ist ein Gewebe, ein weit fallendes, großes, farbenfrohes Stück Stoff.

Dieser Stoff ist aus Wörtern gewebt. Manche kehren immer wieder und durchziehen das gesamte Buch. Es sind Wörter der menschlichen Lebenserfahrung, der biblischen Bildsprache oder wichtiger theologischer Themen. Die Fäden kreuzen sich, es entstehen Muster, im Gewebe werden Bilder sichtbar; Zusammenhänge zwischen den Motiven und Metaphern, den Hauptfiguren und den großen Themen der Bibel zeichnen sich ab. So entsteht ein Bild der biblischen Botschaft über Gott und die Welt und über den Menschen und sein Leben zwischen Geburt und Tod.

Es lohnt sich, diese großen Wörter der Bibel wahrzunehmen, ihre oft weit gespannten und metaphorischen Bedeutungen zu entdecken und so die »Sprache« der Bibel zu lernen. Dazu haben wir aus ihrem reichen Schatz einen Grundwortschatz ausgewählt: 42 große Wörter.

Jedem dieser Wörter ist ein Essay gewidmet, der einem gleichbleibenden Schema folgt: Der Einstieg vermittelt einen ersten Eindruck von der biblischen Besonderheit des Wortgebrauchs. Ausgehend von einzelnen markanten Bibelstellen wird danach die Bedeutung des Wortes entfaltet. Ein weiterer Hauptabschnitt verfolgt Linien durch das Alte und Neue Testament, um das Wort in seine gesamtbiblischen Zusammenhänge zu stellen. Durch Auswahl und Zuspitzung treten die wichtigsten Aspekte der großen Wörter hervor. Mit Schlaglichtern auf die Rezeption des Begriffs und einer pointierten Zusammenfassung schließt jeder Beitrag.

Die Auswahl der Wörter ist begrenzt und gewiss subjektiv gefärbt; manche Leserinnen und Leser werden wichtige Begriffe vermissen. Und warum sind es 42 große Wörter? Die Frage liegt nahe; es hätten auch mehr Leitwörter sein können, doch schon in der Konzentration liegt eine Hilfe zum Verstehen.

Die Zahl 42 spielt in der Bibel eine bemerkenswerte Rolle: Im 33. Kapitel des alttestamentlichen Buches Numeri, des Vierten Buches Mose, werden 42 Stationen aufgezählt, von denen die Israeliten aufbrechen, um aus der ägyptischen Unfreiheit in das von Gott verheißene Land zu gelangen. Das Neue Testament beginnt im ersten Kapitel des Matthäusevangeliums mit einem Stammbaum Jesu, der 42 Generationen vom Erzvater Abraham bis zu Jesus von Nazaret zählt. Die Zahl 42 bietet auch hier keine historisch exakten Informationen, sondern spielt mit dem Zahlenwert 14, den die Buchstaben des Namens »David« im Hebräischen haben. Jesus wird auf diese Weise in die Tradition des Königs David gestellt. – Und der einen oder dem anderen mag bei der Zahl 42 die Antwort des Supercomputers Deep Thought aus dem 1979 erschienenen Kultroman »Per Anhalter durch die Galaxis« von Douglas Adams einfallen: Nach nicht weniger als siebeneinhalb Millionen Jahren Rechenzeit antwortet der Computer auf die Frage nach dem Sinn des Lebens: »zweiundvierzig«. Auch wenn wir die ironisch-augenzwinkernde Zurückweisung der Sinnfrage nicht mitvollziehen möchten, erscheinen uns die biblischen Vorkommen der Zahl als Wink, dem wir folgen: Über 42 Stationen führt der Weg zu einem geschenkten Neuanfang – oder zu einem besseren Verständnis des Buches der Bücher.

Wer die zwei-eine Bibel des Alten und Neuen Testaments zur Hand nimmt, sollte nicht vergessen, dass der erste und größere Teil zuerst und für immer die Heilige Schrift des Judentums ist. Seit der Antike wird der Gottesname in der jüdischen Tradition mit ehrfurchtsvollen Ersatznamen gelesen, meist mit »HERR«, aber auch mit anderen Umschreibungen wie »der Name« oder »der Ewige«. Um gemeinsam mit dem Judentum das Bewusstsein für die Andersartigkeit und Größe Gottes wachzuhalten, haben wir für dieses Buch an allen Stellen, an denen im hebräischen Original der Gottesname begegnet, die Umschreibung »der Lebendige« gewählt, sofern die Autorinnen oder Autoren nicht eigene Wege gehen.

Wenn nicht anders vermerkt, wurden die Bibeltexte von den Autorinnen und Autoren übersetzt. Für die hebräischen und griechischen Ausdrücke verwenden wir eine vereinfachte Umschrift.

Ein Buchprojekt wie dieses ist auf die Zusammenarbeit und Unterstützung vieler angewiesen. Unser Dank als Herausgeberinnen und Herausgeber gilt: Diedrich Steen, dem Programmleiter im Gütersloher Verlagshaus, der die Idee für dieses Buch begeistert aufgegriffen und die Umsetzung mit großem Interesse gefördert hat, und seiner Assistentin Gudrun Krieger sowie der Herstellungsleiterin Beate Nottbrock für die gute Buchgestaltung; Elena Lahrmann, die sich umsichtig und unermüdlich um die Korrekturen gekümmert hat; Katharina Blischke, die die Korrekturarbeiten unterstützt hat; schließlich der Büchnerpreisträgerin Felicitas Hoppe für den Eröffnungsessay und nicht zuletzt allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und die Bereitschaft, sich die Projektidee zu eigen zu machen.

Auf einer Reise in ein Land mit fremder Sprache lässt bereits die Kenntnis eines kleinen Grundwortschatzes Land und Leute vertrauter erscheinen. Mit den hier ausgewählten 42 großen Wörtern werden solche Erfahrungen auch in der weiten Welt der Bibel möglich.

Auf der Suche nach Namen

Felicitas Hoppe

Wer die Bibel aufschlägt, stößt auf Wörter, die sich beim Lesen und Hören in Worte verwandeln, denen wir nicht gewachsen sind. Obwohl sie uns alle bekannt vorkommen, überfordert uns ihre Bedeutung täglich aufs Neue; denn sobald wir sie selbst in den Mund nehmen möchten, werden sie widerständig und groß, mitunter gefährlich. Wer weiß wirklich (tatsächlich), wovon er spricht, wenn er Segen gegen Fluch, Barmherzigkeit gegen Zorn und Gerechtigkeit gegen Rache und Eifersucht aufruft?

Sobald es ums Große und Ganze geht, sind wir mit Wörtern schnell bei der Hand. Doch in die Waagschale des eigenen Daseins geworfen, bekommt jedes Wort ein anderes, neues Gewicht. Als König David im siebenundfünfzigsten Psalm um Barmherzigkeit fleht, ruft er: »Ich muss mich mitten unter Löwen lagern, die gierig auf Menschen sind. Ihre Zähne sind Spieße und Pfeile, ein scharfes Schwert ihre Zunge.«

Die Wörter sind uns so freundlich wie feindlich: Hunger und Nahrung, Angel und Fisch, Wüste und Manna, untergehendes Schiff und rettendes Beiboot. Sie öffnen und schließen, retten und töten, heilen und kränken, verletzen und trösten; sie können Auswege aufzeigen und Fronten verhärten, sie bewirken Gutes und Schlechtes, alles und nichts und lassen uns nicht selten ratlos zurück.

Denn obwohl wir sie ständig in Anwendung bringen, sind wir mit ihrer Geschichte wenig vertraut und fischen im Alltag nicht selten im Trüben, weil er mit Worten und Wörtern einen eher fahrlässigen Umgang pflegt. Aber was ist mit diesen Wörtern eigentlich wirklich gemeint, und wie verwandeln wir sie in lebendige menschliche Rede und in die Rede von der Gegenwart Gottes?

Am Anfang, so wird uns gesagt, war das Wort. Aber wer sagt das? Wer spricht? Ist es ein Gott, oder ist es ein Mensch? Oder ist es der Mensch gewordene Gott, der hier von Mensch zu Mensch seine Stimme erhebt? Denn erst mit dem Menschen kam das Wort in die Welt und mit dem Menschen die Rede vom Menschen und Gott. Und die Rede von beider Verletzbarkeit; von der Not, sich so gültig wie göttlich zum Ausdruck zu bringen, in einer Sprache, von der wir bis heute nichts wissen.

Sicher ist nur, dass Sicherheit im Wort nicht zu haben ist. Selbst dann nicht, wenn es von Gott kommen sollte. Denn das Wort ist beständig im Streit mit sich selbst, genauer: im Streit zwischen dem Sender und seinem Empfänger, deren Auslegungen niemals zur Deckung kommen. So pendelt es zwischen Loben und Klagen, zwischen Dummheit und Weisheit, zwischen Hand, Fuß und Kopf, zwischen Anfang und Ende. Zwischen Untergang, Herrlichkeit und der Hoffnung auf ein bündiges AMEN!

Allerdings erweist sich der Bund nicht als bündig, sondern als wankelmütig; wobei Wankelmut nicht nur Beliebigkeit meint, sondern auch Mut zum fruchtbaren Zweifel, ein Votum für die Vieldeutigkeit. Die aber hält sich bekanntlich schwer aus. Hand aufs Herz: Wir würden es lieber einfacher haben zwischen all diesen unübersetzbaren Wörtern, die gern behaupten, das Original zu sein, uns in Wahrheit aber bloß darauf verweisen, dass es das Original gar nicht gibt, weil es zwischen Mensch und Gott nun mal keine praktikable sprachliche Einrichtung gibt.

Was auch immer er sagt, falls dieser Gott wirklich spricht – er bleibt uns ein Rätsel. Und die Wörter und Worte bleiben es auch; und damit nichts als der Versuch einer Annäherung, wie sie das vorliegende Buch vorschlägt, das eine Schneise zu schlagen versucht zwischen dem, was wirklich gesagt werden kann und dem, was das Gesagte tatsächlich bedeutet. Mit Hand und Fuß, in Raum und Zeit, auf der Suche nach Namen, die unsere Anliegen kurzfristig auf den Punkt bringen könnten. Gelänge das, so wär‘s fast ein WUNDER.

Wunder: Ein Wort, das mir, nicht weniger als die Barmherzigkeit, ganz besonders am Herzen liegt, weil es einen Raum öffnet, von dem sich nichts sagen lässt. Was im Wunder geschieht, ist nicht nachvollziehbar, doch es sehnt sich danach, durch Sprache in Erfahrung verwandelt zu werden; mit anderen Worten, in eine Erzählung, die das Wunder nicht nur zugänglich, sondern fühlbar erfahrbar macht. Jede Zuneigung durch Barmherzigkeit ist die Erzählung von einem Wunder des Augenblicks, in dem eine klare Entscheidung fällt: jenes AMEN, das weiter oben in Zweifel stand.

Bleiben wir, bevor es ans Lesen geht, für einen kurzen Moment bei jener Verwandlung durch die Kraft der Erzählung stehen, die so märchenhaft wie göttlich zugleich ist und am besten beschreibt, worum es hier geht, weil einzig die Sprache das Leben in Handeln verwandelt: Der Fluch wird zum Segen, die unterlassene Rache zur Gnade, der Tod zum Leben. Und das Skandalon zur Erlösung.

Die Ersten werden die Letzen sein, doch das letzte Wort ist darüber noch nicht gesprochen – nicht einmal gedacht, und, entgegen den vorliegenden Tatsachen, auch noch nicht geschrieben.

leidenschaftlich

einzig

Liebesbekenntnis

Ilse Müllner

Nur Du

Für mich gibt es nur Dich allein, Du bist für mich einzigartig: Dieses Liebesbekenntnis gibt dem geliebten Menschen einen besonderen Platz in der Welt. Natürlich wissen wir alle, dass es auch andere Männer, andere Frauen gibt, vielleicht sogar welche, die reicher, schöner, klüger, charmanter sind als der:die Geliebte. Die Einzigkeit des geliebten Menschen ist nicht objektivierbar, nicht begrifflich zu fassen, sondern sie ist Empfindung und Ausdruck der Liebe. Die Wahrnehmung der Einzigkeit in der Liebeserklärung ist nicht das Ergebnis eines Bewerbungsverfahrens, sondern eine Art und Weise, die Größe und Tiefe der eigenen Gefühle zu beschreiben.

In der biblischen Theologie wird Einzigkeit oftmals mit Gott verbunden. Das monotheistische Bekenntnis zum Einen Gott gehört zu den tragenden Säulen der drei Religionen Judentum, Christentum und Islam. In der Bibel selbst ist dieser Glaube nicht von Anfang an gegeben und daher nicht selbstverständlich, sondern wird erst im Lauf der Geschichte der biblischen Religion immer klarer profiliert. Außerdem ist das Bekenntnis zur Einzigkeit der biblischen Gottheit nicht Ergebnis eines philosophischen Reflexionsprozesses, sondern Ausdruck einer Beziehungserfahrung, die Israel in seinem Grundbekenntnis formuliert: Der Gott Israels ist es, der sein Volk aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt und in das Land der Freiheit gebracht hat. Keine andere Gottheit im polytheistischen Universum des Alten Orient hat diese Beziehungsgeschichte mit dem Volk Israel. Deshalb ist Gott, der:die Lebendige, für Israel einzig.

Gottesliebe, die aufs Ganze geht

Da gibt es »sechzig Königinnen, achtzig Konkubinen und junge Frauen ohne Zahl« (Hld 6,8). Und doch:

»Sie aber ist eine! Meine Taube, meine Vollkommene!

Eine ist sie für ihre Mutter.

Lauter ist sie für die, die sie geboren hat.

Töchter sehen sie

und preisen sie glücklich

Königinnen und Konkubinen jubeln über sie.« (Hld 6,9)

Für den Geliebten des Hohelieds ist seine Freundin einzigartig. Und auch wenn eine Mutter mehrere Kinder geboren hat, so ist doch jedes einzelne einzigartig und wird auf je eigene Weise geliebt. So kann der Geliebte von der Vollkommenheit seiner Geliebten sprechen und diese Wahrnehmung mit dem Status vergleichen, den jedes Kind bei seiner Mutter hat.

»Mein Geliebter ist mein und ich bin sein!« (Hld 2,16)

In Begriffen der erotischen Liebe wird im Hohelied der Liebe die Zugehörigkeit eines Mannes zu einer Frau, einer Frau zu einem Mann formuliert. Die Beschreibung dieser Liebesbeziehung geht über die sonst in der Bibel herrschenden patriarchalen Über- und Unterordnungsverhältnisse hinaus. In dieser wechselseitigen Verbundenheit sind die beiden einander einzig und beschreiben diese Besonderheit des:r jeweils Anderen in wunderbaren Bildern, die den:die Geliebte:n über alle anderen Menschen hinausheben.

Einzigkeit ist also zunächst ein Begriff der Liebessprache, ein Beziehungswort. Im biblischen Denken wird damit ganz zentral das Gottesverhältnis Israels beschrieben. Im wichtigsten Gebet des Judentums, dem Schema Jisrael (»Höre Israel!«), heißt es:

»Höre Israel, der Lebendige, unser Gott, der Lebendige ist einzig.

Du wirst den Lebendigen, deinen Gott, lieben:

mit deinem ganzen Herzen,

mit deinem ganzen Leben

und mit deiner ganzen Kraft.

Und diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen sein.« (Dtn 6,4-6)

Die Ausschließlichkeit der Gottesbeziehung wird sprachlich sehr fein ausgedrückt. Bereits auf den ersten Blick fällt die Häufung von Possessivpronomina auf, jenen kleinen sprachlichen Markierungen, die eine Zughörigkeit anzeigen: Der Gott Israels wird als »unser« und »dein« Gott bezeichnet, was betont, wie sehr dieses Verhältnis Beziehung ist. Dem stehen auf der Seite der angesprochenen Menschen Dimensionen des Mensch-Seins gegenüber: dein Herz, dein Leben, deine Kraft.

Das Herz steht im Hebräischen nicht so sehr wie in unserem Kulturkreis für das Gefühl, sondern eher für den Verstand und für die auch ethische Willensentscheidung. Die Liebe zu Gott – so das Schema Jisrael – ist auch eine Entscheidung der Willenskraft, nicht spontane Emotion. Das Herz wird im letzten zitierten Vers ein zweites Mal erwähnt, wenn es darum geht, dass die verpflichtenden Worte der Tora, der Weisung Gottes, zu befolgen sind. Diese Worte werden im Idealfall nicht mehr ausschließlich im äußeren Handeln umgesetzt, sondern sind im Inneren des Menschen, an der Wurzel der Willensentscheidung, im Herzen verankert und entfalten von dort ihre Kraft. Ein ähnliches Bild findet sich im Buch der Sprichwörter. Jene Gebote, die in das Herz eingeschrieben werden, sind wahrhaft verinnerlicht (Spr 3,3; 7,3).

Der Begriff »Leben« meint zunächst wörtlich »Kehle« (hebräisch: naefaesch). Der Ort, an dem der Atem in den Körper herein- und wieder hinausfließt, gilt in der biblischen Vorstellung vom Menschen als Sitz von Begehren und Leidenschaft und steht für das gesamte Leben, die ganze Person. In der Formulierung »mit deinem ganzen Herzen, mit deinem ganzen Leben« kommen Willensentscheidung und Leidenschaft zusammen. Mit »Herz, Leben und Kraft« ist der ganze Mensch im Blick. Dass die Gottesliebe hier aufs Ganze geht, wird auch daran deutlich, dass der Begriff »alle / ganz« drei Mal vorkommt und bei allen drei genannten Dimensionen des Mensch-Seins betont voransteht.

Daran schließt sich eine Verpflichtung auf Gottes ethische Weisung an. Aus der Bindung an den Lebendigen, den Gott Israels, erwächst die Verpflichtung, aber auch die Kraft, die Tora zu befolgen. Die Formulierung »diese Worte« verweist zurück auf das erste Kapitel des Buches Deuteronomium: »Dies sind die Worte« – so beginnt das Fünfte Buch Mose, und »Worte« (hebräisch: devarim) hat in der jüdischen Tradition dem Buch seinen Namen gegeben. Wenn das Schema Jisrael von »diesen Worten« (Dtn 6,6) spricht, dann ist damit einerseits das ganze Buch Deuteronomium selbst gemeint; andererseits sind »alle diese Worte« etwas, worauf die hörende Gemeinschaft – Israel – verpflichtet wird und was diese dann tun soll (Dtn 1,18).

Diese Verbindung zwischen dem Glauben an den einzigen Gott, an den Lebendigen, der Israel aus dem Sklavenhaus Ägypten befreit hat, und den ethischen Regeln Israels wird auch im Dekalog, den Zehn Geboten, deutlich. Die Überschrift (Ex 20,2; Dtn 5,6) verweist auf die Exoduserfahrung, die Rettung Israels aus Ägypten. Auf dieser Basis sind alle Gebote zu hören und zu befolgen. Der Glaube Israels ist ethischer Monotheismus, weil er die Bindung an den Einen Gott mit dem Befolgen von bestimmten sozialen Geboten und Gesetzen verbindet.

Mit der Formulierung »mit deinem ganzen Herzen, mit deinem ganzen Leben und mit deiner ganzen Kraft« wird festgehalten: Das ganze Sinnen und Trachten des Menschen richtet sich auf die Einzigkeit Gottes. Die Einzigkeit und Einheit dieses Gottes liegt – ebenso wie die Einzigartigkeit des:der Geliebten in der Liebessprache des Hohelieds – in der Beziehung begründet. Auf der Basis des besonderen Gottesverhältnisses Israels formuliert das Buch Deuteronomium die Einzigkeit des Gottes Israels.

Rettung zählt

Das besondere Verhältnis, in dem das Volk Israel zu seinem Gott steht, liegt in der gemeinsamen Geschichte begründet. Es ist diese Gottheit, die das Volk aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt und in das Land gebracht hat, das der Lebendige bereits Abraham verheißen hatte. Das Volk Israel entsteht eigentlich erst durch dieses göttliche Befreiungshandeln. Volk, Gott und Land werden in der Exoduserzählung miteinander unauflöslich verbunden. Auf dieser Basis kann Mose gemeinsam mit den Israelit:innen im sogenannten Schilfmeerlied singen: »Wer ist wie du unter den Göttern, Lebendiger?!« (Ex 15,11). Diese Formulierung würden wir nicht von der biblischen Religion erwarten. Gemeinhin gehen wir davon aus, dass die Bibel von Anfang bis Ende monotheistisch denkt, dass also die Menschen der Bibel an einen Gott glauben und die Existenz anderer Gottheiten ablehnen. Doch dieser »explizite Monotheismus« hat sich in den Jahrhunderten, in denen die Texte der Hebräischen Bibel entstanden sind, erst langsam entwickelt. Die Formulierung »unter den Göttern« zeigt deutlich, dass nicht geleugnet wird, dass andere Gottheiten existieren. Erst ab dem Babylonischen Exil entwickelt sich zunehmend ein Bewusstsein, dass die Besonderheit des Gottes Israels auch seine Alleinexistenz mit sich bringt. Ein Text im Jesajabuch aus dieser Epoche zeugt beispielhaft davon: »Ich bin der Lebendige, und sonst gibt es keinen außer mir« (Jes 45,5). Hier verdichtet sich die Erfahrung der Einzigkeit Gottes für Israel zur Leugnung der Existenz anderer Gottheiten.

Der Grundgedanke aber bleibt derselbe, und er ist tief verwurzelt in der geschichtlichen Erfahrung Israels und im Beziehungsdenken der biblischen Theologie: Es ist der Gott Israels und keine andere Gottheit, der das Volk Israel aus der ägyptischen Sklaverei befreit hat. Das Schilfmeerlied beschreibt das in klaren Worten als extrem machtvolles Handeln (Ex 15). Gott besiegt das eigentlich übermächtige Heer des ägyptischen Pharao, und er tut das sogar so, dass die Fluten und Meerestiefen auf ihn hören und ihm gehorchen. Im altorientalischen Denken stehen die Urfluten für das Chaos, das in der ursprünglichen Schöpfung und immer wieder aufs Neue gebändigt werden muss – durch die Taten des Pharao und durch das Handeln der mächtigen Gottheiten. Israel setzt nun seinen Gott an diese Stelle des im Alten Orient bekannten »Chaoskämpfers«. Eigentlich ist es der lebendige Gott Israels, der diese Fähigkeiten hat! Daraus entwickelt sich langsam die Anfrage an die anderen Gottheiten, ob sie wirklich etwas bewirken können auf dieser Welt. Nicht mehr nur die unvergleichliche Besonderheit des Gottes Israels gilt es zum Ausdruck zu bringen – man nennt das Monolatrie, also die Verehrung einer Gottheit, wenn auch angenommen wird, dass andere Gottheiten existieren. Den Gott Israels zeichnet vor den anderen Gottheiten aus, dass er wirkmächtig ist, dass sein Handeln als machtvoll erfahren wird. Die logische Folge dieser Bindung an den lebendigen, wirkmächtigen Gott ist die Anfrage, ob denn andere Gottheiten überhaupt existieren. Denn wenn die Göttlichkeit einer Gottheit an ihre Wirkmächtigkeit gebunden ist, dann steht in Frage, ob eine Gottheit, deren Handeln nicht als solches erfahrbar ist, überhaupt noch göttlich ist.

Besonders deutlich wird das in den biblischen Texten an der Frage der Götterbilder diskutiert.

»Wie eine Vogelscheuche im Gurkenfeld sind sie,

sie können nicht sprechen und müssen getragen werden, denn sie können nicht gehen.

Fürchtet euch nicht vor ihnen, denn sie können weder Böses noch Gutes bewirken.

Niemand ist dir gleich, Lebendiger, groß bist du!

Groß ist dein Name in Macht.

Wer sollte dich nicht fürchten, du König der Nationen?

Ja, dir gebührt dies!

Denn unter all den Weisen der Nationen und in allen Königreichen ist dir niemand gleich.

Jene aber sind allesamt dumm und töricht.

Wenn nichtige Gottheiten unterweisen, bleibt es unverständliches Holz.

Gehämmertes Silber aus Tarschisch und Gold aus Ofir,

die Arbeit einer Handwerkerin und eines Goldschmieds sind sie.

Violetter und roter Purpur ist ihr Gewand.

Sie sind allesamt nur die Arbeit von Künstlerinnen und Künstlern.

Gott aber ist wahrhaft Gott, Gottheit des Lebens und König für immer.

Vor Gottes Groll erbebt die Erde.

Die Nationen halten dem Drohen Gottes nicht stand.« (Jer 10,5-10)

Die Polemik gegen die Statuen und Bildnisse von Gottheiten unterstreicht, dass diese Götterbilder selbst von Menschen hergestellt sind, dass an ihnen gehandelt wird und nicht umgekehrt sie diejenigen sind, die aktiv in das Weltgeschehen eingreifen: »Sie können weder Böses noch Gutes bewirken.« Ob eine Gottheit also überhaupt göttlich ist, wird danach beurteilt, ob und wie handlungsfähig sie ist. Gottes Gott-Sein entscheidet sich daran, dass er handelt, dass er durch sein Eingreifen Israel befreit und Gerechtigkeit herstellt. Gegenüber dem Gott Israels sind alle anderen Gottheiten nichtig, »Vogelscheuchen im Gurkenfeld«.

Die Bindung an den Einen Gott aufgrund der erfahrenen Befreiung und das Bekenntnis zu diesem Gott führen zum Gedanken der Ausschließlichkeit. Dieser Schritt liegt auch deshalb nahe, weil in der biblischen und weiteren altorientalischen Gedankenwelt soziales Rettungshandeln immer auch eine weltumfassende Dimension hat. Während wir in der christlichen Theologie gewohnt sind, Schöpfung und Erlösung als unterschiedliche theologische Themen zu betrachten, sieht der Alte Orient zwischen diesen Feldern einen engen Zusammenhang. Schlüsselbegriff dieser Verbindung ist die Gerechtigkeit. Sie ist zunächst sozial gedacht, hat aber größere Tragweite: Ungerechtes Handeln führt zu einer Bedrohung der Weltordnung, nicht nur im sozialen Sinn. Auch die Natur ist beeinträchtigt, wenn Menschen nicht Gerechtigkeit üben. Umgekehrt führt die Sorge um Gerechtigkeit zur Stabilität auch der natürlichen Vorgänge. Dieser biblische Gedanke klingt ungewohnt für die, die Natur und Kultur trennen. In der Gegenwart erleben wir – nicht selten schmerzlich – neu, dass sich die natürliche Lebenswelt und die soziale und politische Sphäre nicht trennen lassen. Der biblische Bezug auf den Einen Gott gewinnt dabei an Plausibilität.

Monotheismus im Alltag

Monotheismus hat praktische Konsequenzen. Ein sprechendes Beispiel findet sich im Ersten Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth in einer Passage, in der gegen das Essen von Götzenopferfleisch Stellung bezogen wird: Festmähler waren in der Antike im Kontext von Kulten verortet, so dass sich für die frühen christlichen Gemeinden die Frage stellte, inwieweit ihre Mitglieder an solchen Festen teilnehmen konnten, ohne dadurch den ideologischen Rahmen zu übernehmen. Paulus argumentiert ganz auf der Linie des jüdischen Monotheismus und er zieht dazu in Wortwahl und theologischer Ausrichtung das Schema Jisrael aus dem Buch Deuteronomium heran.

»Es mag ja welche geben, die Gottheiten genannt werden im Himmel und auf der Erde, wie es eben viele Gottheiten und viele Herren gibt. Doch unser ist ein Gott, der Vater, aus dem alles ist – und wir sind auf ihn hin – und ein Herr: Jesus Christus, durch den alles ist – und wir sind durch ihn.« (1 Kor 8,5-6)

Ein Gott und ein Herr – das monotheistische Bekenntnis zum Gott Israels bildet die Basis für eine Christologie im Wortsinn: eine Lehre vom Messias. In diesem paulinischen Bekenntnis kann Jesus als der Messias (griechisch: christos) erwiesen und in einen inneren Zusammenhang mit dem Gott Israels gestellt werden. Im Kontext der Festmähler mit Götzenopferfleisch geht es auch hier wieder um eine Abgrenzung gegenüber anderen Gottheiten oder Götzen und auch gegenüber anderen Mächten – da nutzt Paulus die Mehrdeutigkeit des Begriffs »Herr«, der sowohl menschliche Herrschaft bezeichnen kann als auch eine Umschreibung des Gottesnamens JHWH darstellt. Ebenso wie im Schema Jisrael gibt es auch in diesem Bekenntnis zur Einheit des Gottes, der Vater ist, und zum Messias Jesus als dem einen Herrn einen ethischen Impuls. Hier liegt er darin, dass die Bindung an den Einen Gott und seinen Messias die Freiheit eröffnet, sich von anderen Gottheiten und von anderen menschlichen Herren abzugrenzen und sich damit aus den gesellschaftlichen Verhältnissen von Über- und Unterordnung zu befreien.

Liebe – Bindung – Freiheit

Das Bekenntnis zum Einen Gott ist eine Reaktion auf das Handeln des Lebendigen und darin Ausdruck einer liebenden Beziehung. Die Liebe Gottes zu Israel äußert sich zuallererst im Befreiungshandeln, indem der Lebendige das Volk aus dem Sklavenhaus Ägypten befreit. Dieses Exodusereignis ist die Grundlage für eine Ausschließlichkeitsbeziehung zwischen dem Gott Israels und dem Volk Israel; alle weiteren Rettungs- und Befreiungserfahrungen bauen darauf auf. Vom Einen Gott kommt aber auch die Tora als Grundlage des Zusammenlebens in Israel. Das Bekenntnis zum Einen Gott geht damit immer mit der Bindung an eine biblisch grundgelegte Ethik einher. Die Ausschließlichkeitsbeziehung, die Israel zu seinem Gott und die die Kirche zum Gott Israels und seinem Messias Jesus eingeht, gründet auf der wechselseitigen Liebe zwischen Gott und Mensch und macht die Menschen frei von den Bindungen an Götzen und andere lebensfeindliche Herren. Einzig die Erfahrung von Befreiung wird biblisch zum Prüfstein echten Gottglaubens.

Barmherzigkeit

Herzenssache Gottes

Paul Deselaers

Fremdworte

»Seine Grundsätze soll man für die wenigen Augenblicke in seinem Leben aufsparen, in denen es auf Grundsätze ankommt, für das meiste genügt ein wenig Barmherzigkeit.« Dieses Wort von Albert Camus wird häufig zitiert. Oft wird es im Sinne von Laissez-faire verstanden. Camus selbst jedoch hatte die Leidenschaft im Blick, das Gegebene an Möglichkeiten einfallsreich auszuschöpfen, nicht zum Bösen beizutragen, vielmehr den Mitmenschen für das Miteinanderleben wiederzugewinnen. Das Zitat reicht in die Mitte des 20. Jahrhunderts zurück. Es verdeutlicht zugleich, dass »Barmherzigkeit« und »Erbarmen« in der heutigen Lebenswelt Fremdworte geworden sind. Sie wirken altmodisch, überzogen von unzeitgemäßen Vorstellungen, lösen Abwehrreflexe aus. In den Medien kommen sie nicht mehr vor. Wohl wird von ihrem Gegenteil gesprochen, von »erbarmungslosen Verhältnissen«, von »gnadenlosen Gräueltaten«. Man wirbt mitunter dafür, dass »Gnade vor Recht« ergehe. Gibt es neue Worte, die zwar die biblisch-kirchliche Herkunft abstreifen, doch sich der gemeinten Sache annähern? Üblich geworden sind heute Empathie, Sensibilität, Aufmerksamkeit, Zuwendung, Mitgefühl, sich kümmern, Hilfsbereitschaft, Solidarität, Compassion. In der Liturgie, im abgeschlossenen Sprachraum der Gottesdienstfeier, sind die alten Worte Barmherzigkeit und Erbarmen lebendig. Da können sie wie Oasen sein, die aufatmen lassen und erwärmen. Ist das Verschwinden der alten Worte aus der Sprachgewohnheit auch ein Hinweis auf eine grundlegend veränderte Sicht der Lebenswirklichkeit?

Das Drama der Barmherzigkeit Gottes

Eine Fülle von Bildern und Erzählungen führt im Alten Testament das Verhältnis von Gott, dem Lebendigen, und Welt sowie von Gott und Israel als dramatische Beziehung vor Augen. Die Barmherzigkeit kennzeichnet dieses göttliche Beziehungshandeln wesentlich. Nicht nur mit einem Wort, sondern mit mehreren sinnverwandten Begriffen wie Gnade, Huld, Treue, Güte, Liebe, Gerechtigkeit bezeichnet Barmherzigkeit (rachamim, hergeleitet vom hebräischen Wort für »Mutterschoß«) die Zuwendung und liebende Sorge Gottes für sein Volk Israel und die Menschen. Dieser Begriff trägt emotionale Momente in die Gott-Israel-Beziehung ein und beschreibt das Innerste Gottes sowie den Grundzug seiner Beziehung zu Israel. Das Wort ist im Alten Testament niemals vom Menschen gegenüber Gott ausgesagt, vielmehr geht die Richtung immer von Gott zu Israel.

Welche Wucht die Barmherzigkeit hat, erschließt sich bei ihrem ersten Vorkommen mit Gott als Subjekt im Buch Exodus, Kapitel 34. Hier wird das Drama seiner Barmherzigkeit vor dem Hintergrund der beiden großen Gottesoffenbarungen im Buch Exodus (Ex 3 – 4; Ex 32 – 34) aufgerollt. Sie erscheinen wie zwei Brennpunkte einer Ellipse, die in einem dynamischen Spannungsverhältnis stehen. Eine ähnliche Dynamik prägt die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk. Wenn Mose wie auch Israel sie ernstnehmen und versuchen wollen, die Momente zu entdecken, in denen sie mit ihrem Gott leben, sind sie auf diese beiden Brennpunkte angewiesen.

Im ersten Brennpunkt (Ex 3 – 4) zeigt sich der Lebendige in der Dornbuschszene, wie er von sich aus zu Mose in Beziehung tritt und sich bildhaft offenbart als Gott, der herabsteigt, der Leiden sieht und aushält, sowie als Gott, der rettet, indem er »sein« Volk aus Ägypten herausführt und ihm ein Lebens-Land zu eigen gibt. Mose bekommt den Auftrag, das für Gott und mit seiner Hilfe zu tun – eine schier unlösbare Aufgabe! Wie soll er sich zudem bei den Israeliten legitimieren? Auch wenn er sich auf den Lebendigen, den Gott ihrer Väter berufen wird, ahnt er die Frage des Volkes voraus: Sie heißt nicht: »Wie heißt er?«, sondern: »Was ist sein Name? Was kann ich ihnen sagen?« (Ex 3,13). Es geht um die Bedeutung dieses schon bekannten Namens. Die geheimnisvolle Antwort: »Ich werde sein, der ich sein werde« enthält schon die Zusicherung von Begegnung und begleitender Nähe für die Fragenden. Sie ist auch für die Zukunft die Gewähr von Hilfe und Rettung (Ex 3,13-15). Diese Zusage erfüllt sich im Durchzug durch das Meer. Nach dieser Befreiung bringt der Lebendige das Volk »zu sich«. Es soll als sein eigenes Volk »wahrhaftig auf seine Stimme hören und seinen Bund bewahren« (Ex 19,4-5). In der Folge wird dem Volk durch Mose die Tora Gottes anvertraut. Durch sie soll Israel lernen, im Alltag die Gottesnähe zu leben. Grundlage ist die geschenkte Befreiung für alle – wie auch das Volk selbst befreit wurde (Ex 20,2). Gottes Zuwendung will die Freiheit für alle Menschen.

Der zweite Brennpunkt (Ex 32 – 34) führt in die Abgründe der ersten grundlegenden Krise dieser Beziehung zwischen dem Lebendigen und Israel. Denn das Volk gerät in die größtmögliche Schuld, indem es die Unverfügbarkeit und Ausschließlichkeit Gottes nicht aushält, sich selbst in einem Metalltier, einem »Goldenen Kalb«, seinen eigenen Gott schafft und so dem Gegenüber-Gott die tiefste Kränkung zufügt. Damit verleugnet es seinen Befreier, pervertiert das Bundeswort, wendet sich von ihm ab, kehrt ihm den Rücken. Dabei soll Israel seinen Gott doch in allem suchen und ihn nicht in die eigenen Ziele einplanen. Sein geheimnisvoller Name »Ich werde sein, der ich sein werde« ist die bleibende Herausforderung. Keine Grammatik kann diese Umschreibung erklären, sie ist ein nicht auslotbares »Programm«. Nur durch die Risse der Sprache hindurch schimmert das Geheimnis der Beziehung, die der Lebendige mit Mose und seinem Volk eingeht. Vor dem Goldenen Kalb wird deutlich: Israel genügt es nicht, dass der Gott Israels seinen Namen umfassend auslegt, nämlich wie, wann, wozu und wem er sich als befreiender und rettender Gott in Erfahrung bringen will. Das Volk will Gottes habhaft werden durch den Namen. Darin zerstört es jedoch seinen eigenen Existenzgrund, und darin liegt der Bundesbruch. Kann diese Beziehung gerettet werden und wenn, wie?

In einem dramatischen Ringen zwischen Gott und Mose geht es genau darum. Lässt sich die Zusage des Lebendigen aus der Dornbuschszene trotz seines Zorns noch einlösen? Mose hält in dieser schwierigen Lage vor Gott stand, er zieht die Israeliten zur Verantwortung und interveniert bei Gott zugunsten des Volkes, bindet sogar sein eigenes Schicksal an ihres. Weil er selbst schließlich »Gnade gefunden hat in den Augen des Lebendigen« (Ex 33,17), tritt er in mehreren Verhandlungsgängen als Anwalt der Abtrünnigen auf und erbittet die erneute Anerkennung als »sein Volk«. Am Ende steht die Erneuerung des Bundes durch den Lebendigen mit einer feierlichen Formel, die sein Handeln auf neue Weise auslegt:

»Der Lebendige ist der Lebendige,

ein Gott barmherzig und gnädig,

langsam zum Zorn

und reich an Huld und Treue.« (Ex 34,6)

Das ist der Kern: Der Lebendige zeigt in dieser »Gnadenrede«, dass sein Wort für immer gilt. Er hat sich so tief in die Beziehung zu seinem Volk begeben, dass er dessen Schuld auf sich nimmt. Im Ringen mit Mose hebt er sein erstes Urteil auf. Doch er legt eine neue Spur der Verwandlung, indem er »Gnade vor Recht« ergehen lässt. Seine Barmherzigkeit leuchtet erst auf dem Hintergrund dieser langen Vorgeschichte auf und bekommt ihr Profil: ein Maximum an ungeschuldeter Zuwendung, seine zuverlässige Verbundenheit und sein langer Atem als »Hof« der Barmherzigkeit. Von sich aus überwindet er, was das Volk Israel Trennendes zwischen ihm und sich aufgeschichtet hat. Auch jetzt holt er sein Volk heraus aus der selbst verursachten Verknechtung an das nur Eigene. Er wirkt eine Befreiung im Innersten, wie sie nur Vergebung schaffen kann, eine Chance auf neues Leben in gerechten Verhältnissen. Gottes Freiheit bewirkt, dass Israel sich selbst gegeben wird, um der Fülle des Lebens näher zu kommen. Gottes Barmherzigkeit ermöglicht und rettet den Bund zwischen Gott und Israel; sie ist die Bedingung für einen schöpferischen Neuanfang; sie ist der Wendepunkt in der Geschichte Israels.

»Barmherzigkeit gefällt mir«

Wo immer in der Bibel des Alten und Neuen Testaments von Barmherzigkeit gesprochen wird, geht es um existentiell bedrohliche und gefährliche Situationen. Barmherzigkeit hat nichts mit Verharmlosung oder Gleichgültigkeit zu tun. Sie bleibt auf der Suche nach dem Anderen und seinem Aufgerichtet-Werden in lebenssichernde Verhältnisse. Wie ein roter Faden zieht sich der Kern der göttlichen Namensauslegung aus Exodus 34 durch alle biblischen Schriften des Alten Testaments: In einem großen Bußgebet in Nehemia 9 verpflichtet sich Israel neu auf die Weisung Gottes und erinnert seine großen Verfehlungen, immer in der Hoffnung auf Gottes großes Erbarmen. Pate gestanden hat die Gnadenrede aus Exodus 34 auch in Psalm 86, Psalm 103 oder Psalm 145,8-9 sowie in Sprichwörter 28,13 und Weisheit 15,1. Bei den Propheten ist die Rede von Gottes Barmherzigkeit im Angesicht der Katastrophe des Babylonischen Exils verortet, so in Jesaja 55, Jeremia 12 und immer wieder im Buch der Klagelieder. Das Zwölfprophetenbuch mit den kurzen prophetischen Büchern von Hosea bis Maleachi kreist wie in einem dramatischen Geschehen mit unterschiedlicher thematischer Akzentuierung um die Frage der Barmherzigkeit Gottes. Dem Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes soll sein Volk in jeder Situation nachspüren, im Vertrauen, dass der Lebendige an seinem Schicksal aktiv Anteil nimmt, wie es mit vielen sprachlichen Bildern verknüpft wird. Und die Lebenspraxis Israels soll davon bestimmt werden: »Denn Barmherzigkeit gefällt mir und nicht Schlachtopfer« (Hos 6,6).

Im Buch Tobit wird Gott in allen Gebeten für sein Erbarmen gerühmt. Im Hintergrund steht auch hier die Geschichte Israels: dass Gott sein Volk immer neu aus der Entfremdung zu sich zurückgeholt und ihm das bereits verwirkte Leben neu geschenkt hat. Deshalb ist Tobit in der Situation der Diaspora gewiss, dass »sich Gott ihrer wieder erbarmen« wird (Tob 14,5). Um die unerwartet geschenkte Gottesnähe im Alltag leben zu können, wird die Barmherzigkeit zum Inbegriff der Lebensweisung, der Tora. Sie umgreift viele Einzelhandlungen wie etwa das Begraben der Toten, die Unterstützung der Bedürftigen, das Almosengeben, die korrekte Bezahlung eines Lohnarbeiters, in allem die spontane, kreative Umsetzung der Lebensweisung Gottes. Barmherzigkeit verschränkt, literarisch kunstvoll gestaltet, die göttliche und menschliche Welt. In seinen Testamenten hält Tobit fest: »Denn Barmherzigkeit rettet aus dem Tod« (Tob 4,10) und: »Mein Sohn, bewahre die Tora und die Gebote, sei immer barmherzig und gerecht, dann wird es dir gut ergehen.« Und: »Versteht jetzt also, was Barmherzigkeit tut« (Tob 14,9.11). Gottesliebe und Nächstenliebe lassen sich nicht mehr trennen.

Das Neue Testament knüpft an das Alte Testament an. Die Barmherzigkeit wird zum Schlüsselbegriff für das Verständnis des Christentums. Sie umfasst Vergebung und entschiedene Hilfe und ist auf die Liebe gegründet. Das Hauptwort »sich erbarmen« (griechisch: splangchnizomai) bildet, etymologisch gesehen, die Grundlage für die Lehnübersetzung des deutschen Wortes »Barmherzigkeit«. In den Evangelien ist es weithin für das Tun Jesu reserviert. Vor allem Lukas als der Evangelist der Barmherzigkeit betont einen markanten Zusammenhang. Dreimal zeigt er wortgleich den Zusammenhang von »sehen« und »sich erbarmen«: als Jesus die Witwe von Nain sieht (Lk 7,13), als der Samariter den Zerschlagenen sieht (Lk 10,33) und als der Vater seinen Sohn schon von weitem kommen sieht (Lk 15,20). Demnach ist das Sich-Erbarmen zuallererst eine Sache des Sehens und Hinsehens. Gefühl und Tat kommen zusammen. Dieses Sehen kommt aus dem Mitgefühl, wenn die Not des anderen zu Herzen geht. Dann ist auch die Gefahr gebannt, legalistisch herablassend zu handeln oder gleichgültig zu werden. Das Sich-Erbarmen, das aus Sympathie erwächst, kann auch dem Hochmut entgehen, sich als »besser« einzuschätzen. Gelingt das, ist die Barmherzigkeit Basis für eine Kultur des Lebens. Nicht nur das: Diese drei lukanischen Perikopen sind Ostergeschichten. Denn immer »(er)steht« jemand aufgrund der unterschiedlichen Gesten des barmherzigen Handelns »auf«. Barmherzigkeit erweist sich als eine Konkretisierung der Osterhoffnung und schließt als Wort und Tat Lebensräume auf, die neu betreten werden wollen. Entsprechend bündelt Lukas die Intention Jesu: »Werdet barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist« (Lk 6,36). Zieht man diese Linie weiter aus, wird – wie bei Paulus – deutlich, dass diese Barmherzigkeit Gottes in Jesus Mensch geworden ist (Tit 2,11).

Werke der Barmherzigkeit

Zugespitzt lässt sich sagen: In der Barmherzigkeit verdichtet sich – in aller Gebrochenheit des gelebten Lebens – die jüdisch-christliche Gotteserfahrung. Sie bleibt eine andauernde Herausforderung, zumal sie lange Zeit von anderen Themen überlagert und vernachlässigt wurde. Seit Papst Johannes XXIII. (1881-1963) ist die Barmherzigkeit Gottes und der Menschen wieder zum grundlegenden Motiv der Kirche geworden. Die Päpste nach ihm bis heute haben damit einen neuen Ton angeschlagen und darum gerungen, dass die Menschen, die ihren Fuß in die Spur Jesu gesetzt haben, begreifen lernen: Christen können durch leibliche und geistige Werke der Barmherzigkeit für andere zum Segen werden.

Manche Aspekte der Barmherzigkeit sind in großer Klarheit auf andere Weise freigelegt worden. So hat Emmanuel Levinas (1906-1995) als Grundgedanken seiner Philosophie entwickelt: Einem menschlichen Angesicht zu begegnen, die Würde eines Menschen in seiner Einmaligkeit wahrzunehmen, das ist die Geburtsstunde der Ethik. Denn: »Der Beobachter sieht nichts«, bemerkt der Dichter Johannes Bobrowski. Er sieht alles nur von außen.

Der berühmte Maler Vincent van Gogh (1853-1890) hat in seinem Bild »Der barmherzige Samariter« herausgearbeitet, dass der Verletzte dem Samariter nicht nahesteht. Der Blick des Opfers und der seines Helfers begegnen sich nicht. Dem Samariter steht die Anstrengung ins Gesicht geschrieben, die nötig ist, um den Verletzten aufs Pferd zu hieven. Der Verletzte umgekehrt erweckt den Eindruck, als wolle er seinen Helfer so gut es eben geht auf Abstand halten. Die Barmherzigkeit des Samariters hat nichts mit persönlicher Verbundenheit zu tun. Aus seinem Sehen und mitfühlenden Herzen schöpft er die Kraft, sich zu überwinden und den Fremden allen Umständen zum Trotz so zu behandeln, als wäre er ein Nächster im wörtlichen Sinn, mit dem ihn viel mehr verbindet als trennt.

Im Rückgriff auf den »Parzival« von Wolfram von Eschenbach schreibt die französische Philosophin und Mystikerin Simone Weil (1909-1943): »In der frühen Gralssage heißt es von dem Gral, einem wunderbaren Stein, der durch die Kraft der konsekrierten Hostie jeden Hunger sättigt, dass er dem zu eigen gehört, der an den Hüter, einen von der schmerzlichsten Verwundung zu drei Vierteln gelähmten König, als erster die Frage stellt: Welches Leiden quält dich? … Die Fülle der Nächstenliebe besteht einfach in der Fähigkeit, den Nächsten fragen zu können: ›Welches Leiden quält dich?‹. Sie besteht in dem Bewusstsein, dass der Unglückliche existiert, nicht als Einzelteil einer Serie, nicht als ein Exemplar der sozialen Kategorie, welche die Aufschrift ›die Unglücklichen‹ trägt, sondern als Mensch, der völlig unseresgleichen ist …«

Im Roman »Den Himmel finden« von Erri de Luca spricht ein namenloser Erzähler, der gewohnt ist, alles von sich selbst her zu denken. Er beschreibt einen inneren Antrieb zur Barmherzigkeit im Angesicht einer lebensgroßen Statue des gekreuzigten Jesus und sagt: »Diese Barmherzigkeit verdankt sich keiner Bitte. Sie ist nicht die Nächstenliebe eines Almosens, das in eine ausgestreckte Hand gelegt wird. … Die sieben Werke (der Barmherzigkeit) tut man, ohne dass man eine Bitte braucht.« Angesichts der Überflutung mit Bildern, vielfach grell und in schnellem Wechsel, denen wir in der visuellen Kultur heute ausgesetzt sind, wird das bewusste Sehen und Hinsehen zur Herausforderung.

Miteinander überleben

Barmherzigkeit »hat« man nicht. Sie schimmert vielleicht in aller Gebrochenheit durch ein Leben hindurch. Diese Einsicht hat Martin Buber in einer chassidischen Erzählung so zusammengefasst: »Vor seinem Tode sprach Rabbi Hirsch von Rymanow Mal um Mal die Worte aus dem Gesange des Mose vor sich hin: ›Ein Gott der Treue ist er und darum geschieht kein Unheil‹ (Dtn 32,4). Dann sagte er: ›Das ist die Quintessenz der heiligen Tora, zu wissen, dass er ein Gott der Treue ist und dass darum kein Unheil geschieht‹. Ihr mögt fragen: ›Wenn dem so ist, wozu dann die ganze Tora? Es würde doch genügen, Gott hätte am Sinai den einen Vers gesagt!‹ Die Antwort ist: Kein Mensch kann dies Eine erfassen, ehe er die ganze Tora gelernt und geübt hat.«

Das Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes kann der Mensch nicht begreifen. Es gibt darin so viel mehr Fragen als Gewissheiten. Die Beispiele und Erzählungen der Heiligen Schrift können dieses aus der Mode gekommene Wort und seine Bedeutung in ihrer Tiefe wiederbeleben. An der Barmherzigkeit der Menschen hängt ihr Überleben miteinander.

Zorn

Gottes rettende Gerechtigkeit

Johannes Schnocks

dies irae – der Tag des Zorns

Im Buch der Offenbarung des Johannes begegnen uns Bilder vom Ende der Welt. Im sechsten Kapitel ist davon die Rede, dass sich der Himmel auflöst. Die Erdbewohner reagieren entsetzt:

»Und die Könige der Erde und die Großen und die Befehlshaber und die Reichen und die Starken und alle Sklaven und Freien versteckten sich in den Höhlen und in den Felsen der Berge und sie sagten zu den Bergen und den Felsen: ›Fallt auf uns und versteckt uns vor dem Gesicht des auf dem Thron Sitzenden und vor dem Zorn des Lammes. Denn es ist gekommen der große Tag ihres Zorns. Und wer kann bestehen?‹« (Offb 6,15-17)

Das Weltende als »Tag des Zorns«, als dies irae, wie ihn die Sequenz der Totenmesse ausmalt, ist eine Vorstellung, die das Christentum jahrhundertelang kulturell geprägt hat. Die Portale mittelalterlicher Kirchen stellen uns das heute immer noch eindrucksvoll und oft erschreckend vor Augen. Müssen wir in ständiger Angst vor dem eigenen Tod und vor dem Weltende leben, weil wir dann mit einem zornigen Gott konfrontiert werden, vor dem niemand bestehen kann? Müssen wir auch schon zu Lebzeiten immer Angst vor dem Zorn Gottes in Gestalt von Unglück, Krankheit und Verlust haben, wenn wir Fehler machen? Hat diese »Schwarze Pädagogik« die Menschen nicht viel zu lange abhängig gehalten von den Geboten der Kirche, deren Befolgung die Auswirkungen des Zorns begrenzen sollten?

Oder ist es genau andersherum? Reden wir viel zu wenig vom Zorn Gottes? Missachten wir am Ende das biblische Zeugnis, wenn wir denken, dass man vom »unbewegten Beweger« und »Urgrund allen Seins« Stimmungsschwankungen gar nicht denken darf? Und schon gar nicht so negative Affekte wie Zorn! Aber ist es richtig, wenn wir uns einen einseitig sanften Gott vorstellen, den eigentlich niemand mehr ernst nehmen kann? Was ist mit all den dunklen Seiten unserer Existenz, und was machen wir mit den entsprechenden Bibeltexten, in denen es um Zorn, Eifer, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes geht?

Flammende Gerechtigkeit

Einige Kapitel weiter in der Johannesoffenbarung sprechen die 24 Ältesten Gott an:

»Wir danken dir, Herr, Gott, Allmächtiger, der Seiende und der war,

dass du deine große Macht genommen und König geworden bist.

Und gezürnt haben die Völker,

und es ist gekommen dein Zorn

und der Zeitpunkt, dass die Toten gerichtet werden,

und um den Lohn zu geben deinen Knechten, den Propheten,

und den Heiligen und denen, die deinen Namen fürchten,

– die Kleinen und die Großen –

und um zu zerstören, die die Erde zerstören.« (Offb 11,17-18)

Deutlicher als in Kapitel 6 ist das Zorneshandeln Gottes Teil eines Gerichts, bei dem es auch um Lohn und Rettung geht. Gott wird hier ausdrücklich dafür gedankt, dass er als König mit aller Macht durchgreift. So hat bereits der Kirchenvater Laktanz im 4. Jahrhundert in seiner Schrift »Über den Zorn Gottes« das Zorneshandeln als eine notwendige Rolle der Herrschaft Gottes zugeordnet. Damit ist der Zorn ein Element der politischen Theologie, wie dies unter anderem Jan Assmann in seinem Buch »Herrschaft und Heil« für altorientalische Kulturen gezeigt hat. Der ägyptische Pharao etwa reagiert auf die Ambivalenz der Welt mit Sanftmut oder mit Zorn – und zwar nicht, weil er launisch ist, sondern als Verwirklichung seines Amtes. Mit beiden Handlungsrollen stellt er jeweils der Situation angemessen die Gerechtigkeit (wieder) her und bewahrt so die Schöpfung vor dem Rückfall ins Chaos. Er benötigt etwa seinen »Zorn«, um die Schwachen aus der Hand des Stärkeren zu retten. Entsprechend ist ein Herrschaftssymbol des ägyptischen Königtums die Uräusschlange, die für die »zornflammende Gerechtigkeit« steht.

Zorn ist also in das Konzept von Gerechtigkeit eingebunden. Über Gerechtigkeit kann man sowohl im Blick auf den Menschen als auch umfassender nachdenken. Das, was Menschen untereinander verbindet und ihre Gemeinschaft ermöglicht, ist die Gerechtigkeit, mit der sie einander behandeln. Denkt man dabei etwa an den Umgang in einer Familie, so ist klar, dass Gerechtigkeit kein Gegensatz zu Großzügigkeit, Mitleid und Verzeihen sein kann, sondern diese unbedingt einschließen muss.

Im umfassenderen Sinn aber hat Gerechtigkeit in den antiken Kulturen auch immer einen Bezug zur Weltordnung. Wenn die Gewalttäter die Oberhand behalten und wenn sich Rechtschaffenheit nicht mehr lohnt, also die Gerechtigkeit gestört ist, gerät die Welt aus den Fugen. Wie kann das verhindert werden? Zunächst sind rechtschaffene Menschen damals wie heute oft bei ihren Mitmenschen beliebt. Gerechtigkeit »lohnt« sich also sozial. Zudem wird in der Antike, also lange vor der Etablierung eines Rechtsstaats, von den Repräsentanten der Gesellschaft – Familienoberhäupter, Ortsvorsteher, Richter, Könige – erwartet, dass sie sich stark machen für die Schwachen, denen im Notfall nur die Möglichkeit bleibt, gegen erfahrenes Unrecht von Stärkeren mit lautem Geschrei zu protestieren. Hier haben Erbarmen und Zorn als politische Handlungsrollen ihren Platz. Sie sind also kein Gegensatz zur Gerechtigkeit, sondern deren Realisierung. In letzter Konsequenz sind aber die Götter die Garanten für die gerechte Weltordnung – und hier macht der Gott Israels keine Ausnahme. Der bestimmende Gedanke ist dabei nicht der einer zuteilenden, jeden Fehler aufrechnenden Gerechtigkeit, sondern vielmehr der einer »rettenden Gerechtigkeit« (Bernd Janowski).

Diese Überlegungen erklären, warum in der Bibel zwischen göttlicher Gerechtigkeit, Zorn und Barmherzigkeit kein Widerspruch, wohl aber eine Spannung besteht. Exodus 34 buchstabiert diese Spannung aus:

»Der Lebendige, der Lebendige, ein Gott – barmherzig und gnädig,

langsam zum Zorn und groß an Huld und Treue,

der Huld bewahrt für Tausende,

aufhebt Schuld, Frevel und Sünde,

aber gewiss wird er nicht ungestraft lassen,

indem er sich kümmert um die Schuld der Väter bei den Söhnen

und bei den Söhnen der Söhne,

bei der dritten und vierten (Generation).« (Ex 34,6-7)

Was hier einigermaßen wörtlich mit »langsam zum Zorn« wiedergegeben wird, findet sich in vielen Übersetzungen als »langmütig« oder »geduldig«, was zwar sachlich passt, den Zorn aber unsichtbar macht. Aber auch in diesem Text, der die Gnade Gottes so hymnisch besingt, begegnet der Zorn als Handlungsoption – wenn auch »abgebremst«. Vers 7 ist bestimmt von der großen Asymmetrie von Vergebung und Schuldverfolgung. Aber auch hier wird die Spannung nicht aufgelöst. Gott »kümmert sich« um die Schuld. Der Text erklärt nicht, was das genau heißt, hält aber zwei Dinge fest: Auch in seiner Huld ist Gott nicht harmlos. Dennoch entspricht die göttliche Gerechtigkeit nicht dem dies irae mit seinem Buch, nach dem die Welt gerichtet wird. Es geht nicht um ein buchhalterisches Aufrechnen von Sünden und Verdiensten, sondern letztlich um eine Rettung, die sich menschlichem Kalkulieren entzieht. Diese Erkenntnis ändert nicht zuletzt den Stil des religiösen Denkens.

Zorn und Gericht

Etwa drei Viertel der Stellen, die im Alten Testament von Zorn sprechen, beziehen sich auf den Zorn Gottes. Die Belege für die Rede von menschlichem Zorn sind meistens wenig überraschend: Menschen werden zornig, wenn Empörendes geschieht, wenn ihnen oder nahestehenden Menschen Unrecht getan wird oder wenn sie das so empfinden. Der Zorn richtet sich gegen andere Menschen, sehr selten auch gegen Gott. Weisheitliche Texte warnen vor den Folgen des Zorns und empfehlen Mäßigung.

Der Zorn Gottes hat demgegenüber in den Texten nicht nur größeres Gewicht, sondern auch eine andere Funktion. Er ist ein Konzept, das – wie schon im Alten Orient – helfen soll, über Leid und Unglück nachzudenken.

Besonders intensiv begegnet die Rede vom Zorn Gottes in den Anfangsversen des Zweiten Klagelieds, worin die Traumata der Zerstörung Jerusalems und des Tempels 587 v. Chr. poetisch verarbeitet werden. Es beginnt mit einer Deutung des erlittenen Leids als Auswirkung des Gotteszorns:

»Ach, mit seinem Zorn umwölkt der Herr die Tochter Zion!

Er hat vom Himmel auf die Erde geworfen die Pracht Israels

und hat nicht gedacht des Schemels seiner Füße am Tag seines Zorns.

Vernichtet hat der Herr schonungslos alle Weiden Jakobs,

niedergerissen hat er in seinem Grimm die befestigten Städte der Tochter Juda,

auf den Boden gebracht, entweiht hat er das Königreich und seine Fürsten.

Abgehauen hat er in Zornesglut jedes Horn Israels,

zurückgezogen hat er seine rechte Hand angesichts des Feindes

und er entbrannte gegen Jakob wie das Feuer einer Flamme, die ringsum verzehrt.« (Klgl 2,1-3)

Die Zerstörung Jerusalems mit seinem Umland und seinen Institutionen bis hin zum Tempel und das damit verbundene furchtbare Leid werden hier als das Ergebnis des Zorneshandelns Gottes gedeutet. Dabei erscheint der Zorn wie ein Vorzeichen, das alle positiven und heilvollen Aspekte Gottes seinem Volk gegenüber aufhebt oder in ihr Gegenteil verkehrt. Die Verse enthalten keine Begründung für den Zorn, sondern er hat hier zunächst den Charakter eines Widerfahrnisses, ganz so wie ein Unwetter den Himmel verdunkelt und schwere Schäden verursachen kann. So etwas wie eine Begründung wird erst in Klagelieder 2,14 angedeutet, wo davon die Rede ist, dass die Propheten falsche Visionen und Orakel übermittelt hätten, statt die Schuld Jerusalems aufzudecken. Dieses Ungleichgewicht in der gerechten Ordnung der Stadt hat dazu geführt, dass Gottes Zuwendung und sein Schutz vor den Feinden in vernichtende Feindschaft umgeschlagen ist. Es ist bemerkenswert, dass das Gebet, mit dem das Zweite Klagelied endet, weder ein Sündenbekenntnis noch die Bereitschaft zur Umkehr erkennen lässt. Die Ursache der Katastrophe, die Schuld Jerusalems, wird also gar nicht bearbeitet. Vielmehr bekommt Gott schonungslos vor Augen gestellt, zu welchem Übermaß an Grauen und Leid sein Zorneshandeln geführt hat: Hungernde Eltern essen ihre Kinder, Priester und Propheten werden im Heiligtum getötet, Jung und Alt werden mit dem Schwert erschlagen. Das Lied endet nicht in Hoffnung und Gotteslob, sondern mit diesen Kriegsschrecken – Tabubrüchen schlimmster Art –, die Gott anklagend vor Augen gestellt werden.

Was bedeutet ein solcher Text für die Vorstellung des Gotteszorns? Das Zweite Klagelied ist ein erschütterndes Zeugnis des Ringens Israels um die Beziehung zu seinem Gott angesichts der Katastrophe der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier 587 v. Chr., einem Zusammenbruch »so groß wie das Meer« (Klgl 2,13). Die Vorstellung, dass Gott im Zorn selbst das Unheil heraufgeführt hat, ist zwar ungeheuerlich, sie ermöglicht aber, an diesem Gott festzuhalten, der in der Geschichte wirkt und an seinem Volk und seiner Stadt Jerusalem interessiert ist. Die Alternativen wären, dass man entweder die Machtlosigkeit des Gottes Israels gegenüber den Göttern der Babylonier oder seine dauerhafte Hinwendung zu einem anderen Volk annehmen müsste. Er wäre dann nicht mehr der Gott Israels. Insofern ist die furchtbare Anklage am Ende des Klagelieds auch Ausdruck des unerschütterlichen, fast schon trotzigen Festhaltens Israels an seinem Gott und des Vertrauens auf seine Gerechtigkeit – ja, darauf, dass er selbst noch in seinem Zorn der Garant einer letztlich gerechten Weltordnung ist. Darum bekommt er hier vor Augen gestellt, dass die Katastrophe in einem Maß eskaliert ist, die eben diese Weltordnung zerstört. Und das kann Gott aller notwendigen Strafe zum Trotz nicht wollen!

Die Rede vom Gotteszorn im Zweiten Klagelied ist damit eingebettet in die Frage nach dem Gottsein Gottes. Die Vorstellung vom Zorn eröffnet hier einen Denkraum, um eigentlich Undenkbares zu denken: dass Gott sich gegen sein eigenes Volk gewandt hat. Gleichzeitig wird so ebenfalls denkbar, dass die Zeit des Zorns begrenzt ist, dass sie ein Ende hat und darauf eine Zeit der Barmherzigkeit Gottes folgt. Obwohl das Klagelied ohne explizite Hoffnung oder gar eine Wende zum Gotteslob endet, ergibt sich diese Perspektive aus der Konzeption: Die Not ist entstanden, weil Gott mit seinem Zorn die von Israel verletzte Ordnung wiederherstellen wollte. Er hat aber dadurch eine Dynamik des Leids in Gang gesetzt, durch die alle Ordnung unterzugehen droht. Also müsste Gott nun im nächsten Schritt mit seinem Erbarmen über die Notleidenden reagieren, um die Ordnung wieder aufzurichten.

In Texten wie dem Zweiten Klagelied ist das Zorneshandeln Gottes also letztlich Widerfahrnis. Es enthält immer auch etwas Rätselhaftes, Unkalkulierbares. Besonders deutlich wird das in Psalm 90, der die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens vor Gott bedenkt. Wer nur darauf blickt, dass die menschliche Lebenszeit verrinnt und mit der Vernichtung endet, muss allein das schon als göttliches Strafhandeln begreifen. So heißt es im Psalm 90: »Denn wir schwanden dahin in deinem Zorn.« Das Leben ist nur »Mühe und Unheil«, eine einzige Strafe, weil Gott auch die verborgenen, also unbewussten Sünden in das Licht seines Angesichts stellt. Die zentralen Verse des Psalms bitten Gott selbst in unerwarteter Weise um Hilfe und setzen dazu noch einmal beim Gotteszorn an:

»Wer erkennt die Stärke deines Zorns

und entsprechend der Ehrfurcht vor dir deine Wut?

Lehre uns, unsere Tage zu zählen,

damit wir ein weises Herz erlangen.« (Ps 90,11-12)

Es ist also gerade die Erkenntnis, dass der Gotteszorn gänzlich unkalkulierbar ist, die zu einer weisen Wertschätzung jedes einzelnen Lebenstages hinführt! Die anschließenden Verse erbitten entsprechend die Wende zu einem frohen und erfüllten Leben.

Wie bereits in den zu Beginn zitierten Stellen aus der Offenbarung redet das Neue Testament vom Zorn Gottes fast ausschließlich in endzeitlichen Zusammenhängen. Im Römerbrief etwa begegnet der Zorn Gottes nicht als Deutung von Not und Leid in der Geschichte, sondern als Gerichtszorn am Ende der Welt, aus dem nur der Glaube an Christus retten kann. Der Zorn steht dabei für den ewigen Tod: »Aber Gott beweist seine Liebe zu uns damit, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. Vielmehr also, da wir nun gerecht gemacht sind in seinem Blut, werden wir durch ihn gerettet werden aus dem Zorn« (Röm 5,8-9). Der Glaube an die Rettung in Christus und daran, dass alle Übeltäter dem Zorngericht Gottes verfallen sind, führt für Paulus zu einer großen Gelassenheit der Christen, die daher auch ihren Feinden Gutes tun können: »Rächt euch nicht selbst, Geliebte, sondern lasst Raum für den Zorn. Es steht nämlich geschrieben: Mein ist die Rache, ich werde vergelten, spricht der Herr« (Röm 12,19).

Am Schluss: Gottes rettende Gerechtigkeit

Die christliche Rezeption der biblischen Rede vom Zorn ist durch die im Neuen Testament verbreitete Engführung auf den Zorn Gottes als eschatologisches Gericht dominiert. Sie schlägt sich in Texten, Liedern und Gebeten wie dem dies irae und in vielen Kunstwerken nieder, die über menschliches Sterben und den »Jüngsten Tag« nachdenken. Hier hat die Vorstellung eines zornigen Gottes auch zu Sackgassen im Verständnis und einer angsterfüllten Religiosität geführt. Demgegenüber ist die Einordnung des Zorns in die breiteren biblischen Vorstellungen von Gerechtigkeit für unser Gottesbild und für die Art und Weise, wie wir unser Christentum leben, von großer Bedeutung. Wenn die Gerechtigkeit Gottes zunächst und vor allem eine rettende Gerechtigkeit und nicht ein zuteilendes, buchhalterisches Aufrechnen von kleinlichen Fehlern ist, dann verliert der Zorn einiges von seinem Schrecken und wird zur wehrhaften Seite des göttlichen Rettungshandelns, das sich gegen alles wirklich Böse und Unmenschliche wendet. Die biblische Rede von Zorn und Barmherzigkeit – das zeigen uns nicht zuletzt viele Psalmen – kann uns helfen, mit unseren guten und schlechten Erfahrungen so umzugehen, dass wir Gott gegenüber nicht sprachlos werden.

klagen und loben

Mit langem Atem

Egbert Ballhorn

Äußerungen

Was uns in unserem Inneren bewegt, braucht eine Sprache. Die Bibel kennt zwei herausragende Weisen, das Widerfahrene aufzunehmen und zu verarbeiten, indem es nach außen getragen, hörbar, ja, laut wird: klagen und loben. Israels Glaube und der Glaube der frühen Christengemeinden »leben« in diesen beiden Sprachformen.

Konfliktgespräche im Vertrauen

»Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben!« (Joh 11,21)

Das sagt Marta zu Jesus, der zu spät gekommen ist: Ihr Bruder Lazarus ist bereits tot. Martas Worte sind eine Urform der Klage: Trauer, Anklage, Unverständnis und Vertrauen in einem. Klage richtet sich biblisch immer an Gott – oder wie hier an Jesus. Klage greift eine Spannung auf, Erfahrungen, die nicht zusammengehen wollen: Das am eigenen Leib und im eigenen Leben erfahrene Unglück oder Unrecht passt einfach nicht zu Gott. Wenn Gott wirklich Beziehung zum Menschen will, wie kann er dann ertragen, dass der Tod Macht hat? »In deiner Nähe wäre es nicht geschehen!« Klage reagiert auf die bedrängende Gottferne, auf Gottes Passivität; sie ist ein »Konfliktgespräch mit Gott« (Ottmar Fuchs). Aber sie ragt schon ein wenig über die Not hinaus; sie beklagt Lebensverlust und ist zugleich Zeichen von Lebendigkeit und Hunger nach Leben, Suche nach Gottes Nähe in der Ferne.

»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34)

Es ist ein außergewöhnliches, unerwartetes Wort. Hier spricht jemand, dem Gott abhandengekommen, für den Gott »weg« ist. Aber zugleich wird seine Abwesenheit dem Abwesenden ins Gesicht geklagt. »Warum hast du mich verlassen?« Gott war einmal da. Die Frage lässt die Möglichkeit offen, ersehnt sie geradezu, dass Gott sich dem Sprecher wieder zuwenden könnte. Dabei ist die Beziehung noch nicht am Ende: Für den Sprecher ist selbst der abwesende Gott immer noch »mein Gott«. Die Frage setzt voraus, dass sich Gott von diesem Menschen entfernt hat, nicht umgekehrt. Der Mensch, der sie ausspricht, ist sich keiner Schuld bewusst. Gott hat völlig unerwartet und unverständlich und – so will es scheinen – sinnlos gehandelt.

Das zitierte Schriftwort ist zweimal überliefert: Mit ihm beginnt Psalm 22, und zugleich sind es nach dem Markusevangelium die letzten Worte des gekreuzigten Jesus von Nazaret, bevor er mit einem Schrei stirbt. Im christlichen Bewusstsein sind diese Worte so sehr mit Jesus verbunden, dass viele gar nicht wissen, dass es sich um ein Schriftzitat handelt. Doch gerade als Zitat erhalten die Worte ihr Gewicht, denn sie stellen g