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„Cases-Times X“ ist eine Zeitschrift, in der unheimliche, biographische Geschichten erzählt werden, die meist nur schwer zu begreifen sind. Die hier vorliegende Story jedoch soll alles übertreffen, was die Zeitschrift bisher gedruckt hat. Der Reporter sitzt einem alten Mann gegenüber und hört sich eine weitere schwer vorstellbare Lebensgeschichte an.
Jimmy Red ist der Insasse aus Zelle 411 einer Strafanstalt. Warum er inhaftiert ist, wird schlicht nicht relevant sein für die Veröffentlichung seiner Lebensgeschichte.
Mr. Red verbrachte sein Leben in einem Geisterhaus, wo er als Anlagewart angestellt war. Doch wie er erzählt, war er nicht alleiniger Bewohner der Gruselbahn, sondern lebte dort mit dem Geist der jungen Gloria, die durch einen Unfall in dieser Anlage ihr Leben ließ. Jimmy Red schildert die Erlebnisse teils bis ins Detail und immer mehr wird dem Reporter klar, dass sich das Leben des alten Mannes wahrhaftig so abgespielt haben könnte.
Es ist die Tatsache, dass er einen Geist geliebt hat, die während der Erzählung in den Fokus rückt. Und wie es scheint, hatte Gloria ihn auch geliebt. Reds Freund und langjähriger Mitarbeiter Toni und seine Frau waren Zeitzeugen. Doch welche Auswirkungen der tägliche Kontakt mit einem Geist für Jimmy Red wirklich gehabt hatte, übertrifft jegliche Vorstellungskraft.
Dies ist die unglaubliche Geschichte von Gloria und Jimmy Red.
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Kalte Mauern bilden einen Komplex, dessen Gitter vor den Fenstern die Bedeutung des Gebäudes unmissverständlich enthüllen. Ich befinde mich auf dem Weg ins Hochsicherheitsgefängnis eines Staates, in dem die Todesstrafe zumindest nicht ausgeschlossen wird. Wie ich mir vorstellen kann, wird der Gefangene aus Zelle 411 gerade in den Verhörraum gebracht. Verhörraum. Dieses Wort will sich mir nicht positiv einprägen. Für mein Vorhaben sollte ich diesen Raum umbenennen in "Anhörraum". Ich bin Reporter der „Cases-Times X“, einer Zeitung, die sich mit außergewöhnlichen Fällen auseinandersetzt. Der Gefangene von Zelle 411 soll ein solcher Fall sein. Ich komme gut durch die Kontrolle des Gefängnisses, schließlich bin ich nur mit Stift, Papier und Diktiergerät bewaffnet. Außergewöhnliche Phänomene habe ich zuhauf gesehen und niedergeschrieben. Nichts mehr kann mich schockieren, möchte man meinen. Außerdem soll der Gefangene, Mr. Jimmy Red, schon sehr lange sitzen. Er dürfte also nicht weiter gefährlich sein. Was seine Geschichte angeht, tappe ich im Dunkeln. Wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht, den Menschen und ihren Stories unbefangen zu begegnen. Das Gefühl ist ein anderes, wenn du ein außergewöhnliches Geschehen zum ersten Mal hörst und es sogleich niederschreiben kannst. Es gibt Menschen, bei deren Lebenserzählungen sich dir die Haare vom ersten Moment an aufstellen und das Gefühl noch zwei Stunden später andauert. Bei anderen meinst du einfach im falschen Raum zu sitzen und befürchtest, eine Sackgasse betreten zu haben, weil die Geschichte keineswegs außergewöhnlich erscheint, bis dann endlich die Pointe kommt. Die Gänsehaut hält länger an und kehrt immer wieder zurück, wenn du daran denkst. Also bleibt es spannend, wenn die Akte erst nach dem Treffen gesichtet wird.
„Cases-Times X“ hat bereits Erzählungen veröffentlicht, die an Unglaublichkeit nicht zu übertreffen sind; Zumindest dachten das zu dem Zeitpunkt alle. In der Redaktion sprechen wir nicht darüber, wenn wir einen Text niederschreiben und bearbeiten, bis er ins Lektorat geht. Genau wie bei der Sichtung der Akten würde auch hier das Gefühl verloren gehen. Zeitgleich mit der Mail an die Lektoren geht die Story dann auch an die Kollegen. Staunende Gesichter gibt es bei uns im Überfluss. Das A und O aber bei uns ist: Übertreibe es nicht. Wir sind darauf bedacht, Konkurrenzkämpfe auszublenden und uns darauf zu konzentrieren, so authentische Geschichten wie möglich zu schreiben. Es sind Biographien. Biographien über Menschen, deren Leben unheimlich und besonders waren.
Ich betrete den Raum mit der großen Glasscheibe und treffe dort auf den Kommandanten der Sicherheitsleute, den Sicherheitschef der Anstalt. Sein Händedruck zwingt mich fast zu Boden. Der Mann ist zwar kleiner als ich, jedoch um einiges kräftiger. Er strahlt eine heftige Autorität aus, welche ich noch selten bei Menschen gesehen habe. Ich denke mir, dass das für diesen Job unverzichtbar ist. Nach einem kurzen Floskelaustausch beteuert er mir, dass der Direktor, der sich bezüglich Mr. Red bei „Cases-Times X“ gemeldet hat, etwas später kommen wird. Für mich kein Problem.
Mit dem Kopf deutet er auf den Mann hinter der Glasscheibe. Ich sehe bloß seinen Rücken. Er sitzt auf einem Stuhl zwischen zwei überaus kräftigen Sicherheitsleuten. Red schwankt vor und zurück, das Gesicht vermutlich in seine Hände gelegt. Der Kommandant meint, er wäre zwar sehr froh, seine Geschichte erzählen zu dürfen, doch die Auseinandersetzung damit hätte ihn in den letzten Stunden ziemlich aufgewühlt.
Es geht los. Einer der Sicherheitsleute holt mich aus dem Kommandozimmer und führt mich in den „Anhörraum“ auf der anderen Seite der Glaswand. Direkt gegenüber Mr. Red steht ein Stuhl für mich bereit, auf dem ich etwas nervös Platz nehme. Jetzt sehe ich zum ersten Mal das Gesicht von Jimmy Red.
Ein alter Mann sitzt mir gegenüber. Der Bart ist lang und weiß und sein Gesichtsausdruck vermittelt ein Gefühl von Mitleid und Empathie. Doch die Tatsache dessen, was er gemäß der Akte getan hat, verwirft jegliches Gefühl der Einfühlsamkeit bei mir. Mit Spannung warte ich seine unglaubliche Geschichte ab.
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„Sie war doch mein Ein und Alles! Ich hatte keine andere Wahl!“
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Seine Stimme klingt weinerlich und er erinnert mich ein wenig an einen armen alten Obdachlosen, der einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort war.
„Mr. Red, bitte fangen Sie doch am Anfang der Geschichte an.“ Ich will ihn ein wenig daran erinnern, dass dies seine beste und vielleicht letzte Möglichkeit ist, der Welt noch einmal zu veranschaulichen, warum er hier im Gefängnis sitzt, zu zeigen, ob es für sein Handeln eine Rechtfertigung gibt. Dies soll seine Chance sein, sich von dem vergänglichen Leben zu verabschieden und sich in seiner Version den Schmerz von der Seele reden zu können. Erneut holt er tief Luft und fängt dann an zu sprechen.
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„Ich war Anlagewächter in der Gruselbahn vom Fun-Ride-Park drüben in der Camptonstreet. Seit meinem achtzehnten Lebensjahr arbeitete ich dort. Der Direktor des Parks, Cliff, war immer sehr gut zu mir. Er war ein sehr freundlicher und netter Mensch. Ich sah ihn in der ganzen Zeit bloß zweimal verunsichert, enttäuscht und wütend. Das erste Mal war vor sehr, sehr langer Zeit: An dem Tag, an dem die süße Gloria in der Gruselbahn des Parks durch eine fatale Fehlfunktion der Gerätschaften gestorben war.
An jenem Tag saß das Mädchen alleine im vordersten Wagen der überaus beliebten Grusel-Attraktion. Als die Wagons etwa die Hälfte der Bahn durchquert hatten, hörten wir plötzlich Schreie. Unglaublich laute, furchterfüllte Schreie. Wir wussten, dass diese nicht zu jenen gehörten, welche die Bahn zu einem unvergesslichen Spektakel machten. Nein, diese Aufschreie waren echt. Wir, die Angestellten, hörten bis dato viel, doch das ging selbst uns langjährigen Mitarbeitern durch Mark und Bein. Ich war zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Jahre da und gerade damit beschäftigt, ein Blech an der Außenseite des Gebäudes zu reparieren. Ich merkte, dass etwas nicht stimmte und schritt langsam in Richtung Ausgang der Bahn, wo sich bereits eine Menschenmenge wie eine Horde Schafe um die Gitter scharte. Das Geschrei aus der Bahn wurde immer lauter und greller. Dann kamen die Wagen ans Tageslicht und die Menschen draußen fingen ebenfalls an zu schreien. Sie hielten sich die Hände vor die Augen, liefen weg und erbrachen auf den staubigen Boden. Es bot sich uns ein Bild, das niemand bis an sein Lebensende vergessen hatte: Gloria McCallen, das junge Mädchen im ersten Wagen saß zwar noch da, aber ihr Kopf lag auf der Rückbank neben einem ohnmächtigen Jungen. Er war blutverschmiert und ebenso die übrigen Gäste in den hinteren Wagons. Die Ursache war schnell gefunden: Ein messerscharfes Blech, welches den Donner über den Köpfen der Leute imitieren sollte, löste sich von der Halterung ab und schwang genau in die Fahrbahn der Wagons.“
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