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WENN DIE VERGANGENHEIT NACH GERECHTIGKEIT SCHREIT ...
Im idyllischen Küstenort Niendorf sitzt Unternehmer Robert Schöllmann an eine Sandburg gelehnt am Strand. Ein Aalkopf ragt ihm aus dem Mund. Der grausige Tote passt so gar nicht ins Bild der malerischen Lübecker Bucht, findet der Dresdner Hauptkommissar Alfred Held. Er ist nur aufgrund einer Erbschaft an die Ostsee gereist und verabscheut eigentlich nichts mehr als Sand, Meer und Fisch. Auch der Zeitpunkt des Mordes erscheint ihm denkbar ungünstig, denn die Krönung der Strandkönigin steht unmittelbar bevor. Gemeinsam mit seiner Dänischen Dogge Herrn Meyer entdeckt ausgerechnet er den Toten. Und als wäre das nicht genug, soll er nun auch noch mit dieser hochnäsigen Niendorfer Kollegin Olivia von Hohenstein zusammenarbeiten. Pech für Held! Sein Aufenthalt am Meer sollte keinesfalls länger als drei Tage dauern. Während sich die beiden Ermittler zusammenraufen, taucht ein zweiter Toter auf. Sabotiert ein Täter die Krönung? Oder hat ein Serienmörder die Ostseeküste als Schauplatz für seine widerwärtigen Taten auserwählt?
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Seitenzahl: 424
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2025 Niemeyer Buchverlage GmbH, Osterstraße 19, 31785 [email protected] Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von Adobe StockEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8721-5
Angela L. ForsterAalglattEin Ostsee-Krimi
Für Richard– Tempus fugit, amor manet –Die Zeit vergeht, die Liebe bleibt
Robert Schöllmann genoss die Ruhe und Stille, die er abends nach einem stressigen Bürotag am Strand fand. Vor über zwanzig Jahren war er in die Fußstapfen seines Vaters und Großvaters getreten, die in der Logonik-Elektrik Maschinenteile für Segelboote und Jachten herstellten.
In stoischer Regelmäßigkeit brandeten die Wellen an den Strand. Die weißen Schaumkronen umspülten die kleinen Kieselsteine und den rotbraunen Seetang, an dem sich pechschwarze Miesmuscheln unnachgiebig an ihren Lebensplatz klammerten. Ein kurzer Moment der Besinnung, den er sich gönnte, bevor er nach Hause zu seiner Frau fuhr.
Die steingraue Anzughose bis zu den Knien hochgekrempelt, schlenderte Robert den Strand entlang. In der einen Hand hielt er seine stets auf Hochglanz polierten Slipper, in denen die Strümpfe steckten, während er mit der anderen Hand sein Jackett lässig über die Schulter trug. Die kobaltblaue Seidenkrawatte mit den rosa Flamingos, ein geschmackloses Geschenk seiner Mitarbeiter zu seinem zweiundfünfzigsten Geburtstag, hing mit einem lockeren Knoten über dem weißen Hemd.
Immer wieder richtete Robert den Blick auf das dunkle Meer hinaus und atmete die salzige Meeresluft ein. Kleine weiße Punkte, wie Signallampen, zuckten am Horizont auf. Kreuzfahrtschiffe, die aus Travemünde aufgebrochen waren, oder Frachter, die Kurs auf Ziele wie Mexiko, Marokko oder noch fernere Länder nahmen und das schwarze Gewässer durchquerten. Vielleicht waren es auch nur einige Fischer, die voller Hoffnung auf einen ertragreichen Fang in die Nacht hinausgeschippert waren. In der Ferne erklangen die tiefen und melodischen Nebelhörner der Schiffe.
Der erste Septembertag nach einem langen, heißen Sommer wärmte noch immer das Wasser der Ostsee und plätscherte glucksend um seine Füße. Er war wieder spät aus der Firma gekommen. Zu spät. Aber er musste unbedingt das Projekt abschließen, das seine Zukunft verändern sollte.
Dreimal schon hatte seine Frau versucht, ihn anzurufen. Jedes Mal hatte er sie abgewiesen. In einer Stunde bin ich zu Hause, hatte er ihr versprochen, als ob es wichtig wäre. Gehalten hatte er sein Versprechen nicht. Warum auch sollte er sich abmühen? Es gab so viel, auf das er sich zukünftig freuen konnte. Ein Neuanfang in seinem Leben, auf den er schon Jahre gewartet hatte. Und jetzt endlich war es so weit, war ihm ein Glücksgriff in die Hände gespielt worden. Genau zur richtigen Zeit. Die Firma brachte kaum noch Gewinne ein. Aber auch das würde ihn nicht mehr interessieren. Übermorgen säße er im Flieger.
Es war kurz vor dreiundzwanzig Uhr. An dem abgesperrten Strandabschnitt direkt hinter der Kurverwaltung blieb er stehen. Morgen begann hier die Krönungsfeier der Strandkönigin. Weiße Stehtische waren aufgebaut, auf denen Champagnergläser stehen würden und um die sich die High Society der Ostsee gruppieren würde. Eine erhöhte, hölzerne Bühne für die Musiker und Stuhlreihen sorgten für die entsprechende Zuhörerzahl der angereisten Touristen und Einheimischen. Auch an den Buden mit Souvenirs, Essen und Trinken wurde nicht gespart. Eine Kolonne kleinerer und größerer Foodtrucks säumte die Promenade vom Niendorfer Schwimmbad bis zum Sea-Life-Aquarium am Timmendorfer Strand.
Seit Wochen lief die Werbung. Plakate hingen in jedem Schaufenster, Flyer lagen aus, die Zeitungen und das regionale Fernsehen berichteten über das bevorstehende Fest, das zum ersten Mal an der Ostseeregion stattfinden sollte.
Wieder blickte er auf das dunkle Meer hinaus. Die Wellen rauschten leise an den Strand. Er würde diesen Anblick vermissen, wenn er …
Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als ihn jemand an der Schulter berührte. Er drehte sich um und fuhr mit den Fingern durch sein dunkles Haar, das ihm der Wind ins Gesicht gezerrt hatte.
„Ach, wen sehe ich denn da?“ Robert setzte ein mitleidiges Lächeln auf. „Ein bisschen abendliche Seeluft schnuppern tut gut, nicht wahr? Das macht den Kopf frei.“ Seine grauen Augen blitzten. Er streckte den Rücken durch, hob das Kinn und gab seiner Haltung etwas Bestimmtes, Überlegendes, während er in das blasse Gesicht mit den blutunterlaufenen Augen seines Gegenübers sah, die ihn vernichtend anblickten.
Ein paar stille und unbehagliche Augenblicke traten ein. Eine Bierfahne schlug Robert entgegen. Bevor er eine Antwort bekam, schnellte ein Arm vor. Verblüffung und Überraschung zugleich machten sich in seinem Gesicht breit, während ein Stechen und Zittern, das nicht aufhörte, immer wieder neu begann und immer schmerzhafter wurde, durch seinen Körper fuhr. Es begann am Hals, dann auf seinem Brustkorb, den Armen und … Seine Gedanken schwanden dahin, und sein Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Fratze. Er konnte sich nicht wehren. Jede seiner unkontrollierten Bewegungen verebbte von Sekunde zu Sekunde mehr und führte ihn in eine nicht endende Finsternis.
Hauptkommissar Alfred Held warf noch einen letzten Blick auf die Dresdner Semperoper, bevor er mit seinem betagten Ford Fiesta und der Dänischen Dogge Herrn Meyer vom Theaterplatz nach rechts in die Sophienstraße einbog.
Vor drei Jahren, kurz bevor seine persönliche Tragödie begann, hatten Sabine und er an einer Führung durch die Oper teilgenommen. Du bist achtunddreißig und ich vierunddreißig Jahre alt, hatte Sabine gesagt. Wir sind seit sieben Jahren verheiratet, leben schon ewig in Dresden und haben noch nie die Oper von innen gesehen. Das Gebäude gehöre zu den schönsten und berühmtesten Opernhäusern weltweit und sei ein Muss, hatte sie weiter offeriert und Karten gebucht. Auch wenn er nie in die Oper gehen würde – die Oper liebt oder hasst man –, so hatten ihn die 170-jährige Geschichte und das formvollendete Kunsthandwerk in den prunkvollen Räumlichkeiten dennoch beeindruckt.
Alfred riss sich aus der schmerzlichen Vergangenheit und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Bis er sein Ziel in Niendorf an der Ostsee erreicht hatte, vergingen sicher weit mehr als fünf Stunden. Er stöhnte. Doch niemals würde die Zeit ausreichen, nicht mit Herrn Meyer. Er warf einen kurzen Schulterblick auf die Rückbank, auf der es sich die Dänische Dogge bequem gemacht hatte und in gleichmäßigem Rhythmus schnarchte. Ab und zu hörte er ein leises Zischen und Knattern, und kurz darauf wurde es nötig, die Fenster zu öffnen.
Er wäre schon am frühen Morgen aus Dresden losgefahren, aber Herr Meyer musste zum Tierarzt, weil er dringend Tabletten gegen seinen Darminfekt benötigte. Leider brachten diese bisher nur mäßigen Erfolg, und so steuerte Alfred vorsichtshalber in geregelten Abständen einen Rastplatz an. Hauptsache, es gab keinen Stau.
Vor einem Jahr hatte er Herrn Meyer bei einem Einsatz an einer Autobahnraststätte gefunden. Am angrenzenden Waldstück war ihm ein klägliches Fiepen aufgefallen. Das kleine Tier war erst sechs Wochen alt gewesen. Halb verhungert und verdurstet hatte es, an einem Baum angebunden, seit Stunden oder länger ohne Hilfe ausgeharrt. Es ist eine Dänische Dogge, sie wird uns zu groß, stand in grotesken Zeilen auf einem Zettel, der an seiner Leine befestigt war. Alfred hatte sich sofort in den schwarzen Welpen verliebt und beschlossen, ihn mit nach Hause zu nehmen. Zwar wusste er nicht, was er in ein paar Monaten mit einer ausgewachsenen Dogge in seiner Zweizimmerwohnung, die er nach dem Verkauf ihres gemeinsamen Hauses im Rotkehlchenweg bezogen hatte, anfangen sollte, doch das kleine Kerlchen in ein Tierheim zu geben kam für Alfred nicht infrage. Du siehst aus wie mein Kollege Herr Meyer, hatte er zu dem Welpen gesagt und seine schlabberigen Wangen getätschelt. Dem Hund, der fortan der Liebling der Wache wurde, gefiel sein Name. Alfreds Kollege, Herr Meyer, sah das völlig anders.
Die letzten Strophen von Reinhard Meys Oldie-Song – Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alle Ängste und Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen und dann …, holten ihn aus seinen Gedanken heraus. Sabine hatte das Lied geliebt, es immer wieder gehört, dabei die Hüften geschwungen und meist hemmungslos geweint. Die schmerzliche Vergangenheit bohrte sich in Alfreds Magen und kroch hinauf in sein Herz. Eine Träne lief ihm über die Wangen, er wischte sie mit dem Handrücken zur Seite und konzentrierte sich wieder darauf, warum er an die Ostsee fahren musste.
Ausgerechnet an der Ostsee, in einem Kaff namens Niendorf, hatte sein Onkel ihm ein Haus vermacht. Dabei hatte er Onkel Waldemar seit über dreißig Jahren nicht gesehen. Er erinnerte sich nur, dass Waldemar ein großer, breiter Mann mit einem wilhelminischen Schnauzbart gewesen war, der ihm zu seinen Besuchen immer eine Tüte grün-weiß gestreifter Bonbons mitgebracht hatte. Bonbons, die nach Waldmeister schmeckten und mit Schokolade gefüllt waren und die er nur selten lutschte, weil sie ihm zu kostbar erschienen.
Irgendwann, als er acht Jahre alt war, hatten Onkel Waldemars Besuche aufgehört. Wenn er seine Eltern gefragt hatte, ob der Onkel bald wiederkäme, hatten sie geschwiegen. Mit den Jahren hatte er ihn vergessen. Bis vor zwei Wochen, als der Brief vom Nachlassgericht bei ihm eingetrudelt war. Onkel Waldemar sei verstorben und es gehe um eine Erbschaft. Auf die telefonische Nachfrage, worum es sich bei der Erbschaft handele, antwortete die näselnde Sachbearbeiterin, Onkel Waldemar habe ihm ein Haus an der Ostsee vermacht. Doch mehr könne sie ihm nicht sagen, er solle den Notartermin abwarten. Hatte Waldemar damals schon an der Ostsee gelebt? Alfred konnte sich nicht erinnern.
Sein Chef, Fritz Rosenbaum, meinte, Alfred könne sich glücklich schätzen, da die Immobilienpreise, wie überall, aber besonders am Meer, in utopische Höhen gestiegen seien. Es sei ein Hauptgewinn, den er mit dem Erbe bekommen hätte. Wenn es dann so wäre, dachte Alfred. Zwar war er mit dem Verkauf des Hauses am Rotkehlchenweg schuldenfrei, aber mit seinem Beamtengehalt konnte er sich dennoch keine großen Sprünge erlauben. Ein warmer finanzieller Regen käme ihm gerade recht. Hoffentlich ging der Termin beim Notar und Makler in Niendorf schnell über die Bühne, damit er wieder nach Hause fahren konnte.
Mit Sabine hatte er vor vier Jahren einen Urlaub auf Sylt verbracht. Es war ein weiterer vergeblicher Versuch, sie aus ihrer Depression herauszuholen. Auf Sylt war es ihnen zu kalt und zu nass, sodass sie das Zimmer kaum verlassen konnten. Für das Nordseewetter gibt es nur die falsche Kleidung, hatte der Concierge an der Rezeption des Hotels zu Sabine und ihm gesagt und mitfühlend auf ihre durchnässte Kleidung geblickt, die der stürmische Wetterumschwung ihnen bei einem Spaziergang fast vom Leib gefegt hatte.
Alfred liebte sein Dresden, da konnte einer über den Osten sagen, was er wollte. Er liebte seine Arbeit im kleinen, aber zuverlässigen Team seiner Kollegen. Er liebte die Oper, auch wenn er sie zwar von innen gesehen, aber nie eine Vorstellung besucht hatte. Er liebte das Theater ebenso wie den Plausch mit Hannes, dem Orgeldreher, am Elbufer, dem er ab und zu nach Feierabend ein Bier spendierte, wenn er mit dem Fahrrad vom Terrassenufer über die Augustusbrücke an ihm vorbei nach Hause fuhr. Und er liebte seinen Lieblingsbäcker, der die süßen Streuselschnecken mit Puddingfüllung herstellte, von denen er allerdings seit drei Wochen die Finger ließ, weil er sich auf Diät gesetzt hatte. Genauer gesagt hatte der Amtsarzt ihm beim Check-up geraten, zehn Kilo abzunehmen. Zehn Kilo, wie sollte das denn gehen? Obwohl, so unrealistisch fand Alfred die Zahl nicht. Zehn, so eine kleine Zahl. Dennoch stellte er sich darauf ein, dass er die nächste Zeit, wie lange wusste ja niemand, als Hungerkünstler verbringen würde.
Nach der Frage, ob seine Seele oder das kleine Bäuchlein schwerer wog, setzte er sich an den Computer und recherchierte im Internet nach geeigneten Diäten. Das Leichteste zuerst, überlegte er.
Die Auswahl war immens. Da gab es welche, bei denen man keine Kohlenhydrate essen durfte. Wieder andere Diäten schworen darauf, dass kein Fett und Zucker das ultimative Programm zum Abnehmen sei. Auch ein Intervallfasten kam für ihn nicht infrage. Wie sollte er sechzehn Stunden ohne Essen auskommen? Dazu kamen das Einkaufen und die teils aufwendige Kocherei. Er kochte kaum noch.
Früher, mit Sabine, hatte er gerne am Herd gestanden. Alleine oder auch mit ihr zusammen. Heute reichten ihm zwei Spiegeleier auf Toast oder Pasta mit Tomatensoße, wenn er nicht ins Restaurant ging.
Seit einer Woche ernährte er sich größtenteils von Knäckebrot und Möhren, lag kein Fleisch mehr auf seinem Teller. Geschweige denn eine Streuselschnecke, ein Stück Dresdner Eierschecke oder nur ein einziges klitzekleines Quarkkäulchen. Selbst auf die hausgemachten Maultaschen aus dem Augustiner Restaurant, gefüllt mit Blutwurst, Äpfeln und Zwiebeln, serviert mit Rahmsauerkraut, verzichtete er, ebenso wie auf das Braumeisterschnitzel mit Schinken, Gewürzgurken, Speck und dem Kartoffel-Gurken-Salat.
Essen Sie mehr Fisch und Gemüse, hatte Doktor Harmsfeld ihn aufmuntern wollen, dann klappt es schon mit dem Abnehmen. Alfreds Einwand, dass sein Gewicht sich mit der Zeit regulieren würde, sobald sein Körper den Zustand ohne Zigaretten akzeptiert hätte, verwarf der Amtsarzt. Alfred verstand das Gehabe nicht. In den letzten fünf Jahren war er nicht einen Tag krankgeschrieben. Außerdem hasste er Fisch und ebenso das Meer, in denen diese glubschäugigen Tiere umherschwammen.
Vor zehn Jahren hatte ihn sein Chef nach Husum geschickt, um die dortigen Kollegen bei einer Ermittlung zu unterstützen. Ein Dresdner Unternehmer war auf einer Geschäftsreise erschossen worden. Es dauerte zwei Wochen, bis er den Mord aufgeklärt hatte. Durch die Seeluft hatte sich auf jeder freien Hautstelle ein grauenhafter roter Ausschlag entwickelt. Überall juckte und brannte es ihm, bis hinunter an … na ja, zwischen die Beine. Und das, obwohl er schon bei über dreißig Grad eine lange Hose, dicke Socken und ein langärmliges Hemd getragen hatte. Mit Sabine lief in der Zeit nichts, also nichts Betttechnisches. Sie nahm es gelassen. Damals hatte sie noch zu ihm gesagt: Je älter du wirst, umso besser siehst du aus. Wie ein amerikanischer Actionheld der Sechzigerjahre. Dreitagebart, dennoch korrekt in Anzug gekleidet, aber immer mit diesem distanzierten, dunklen Blick, der die Frauenherzen reihenweise einfängt. Und nun musste er wieder ans Meer.
Es dämmerte bereits, als er die Autobahn an der Ausfahrt Ratekau verließ und auf der Landstraße der Beschilderung Richtung Timmendorfer Strand folgte. Fast acht Stunden waren sie unterwegs gewesen, und Alfred sehnte sich nach dem Bett in der gebuchten Pension, in dem er die Beine ausstrecken konnte. Er würde noch eine Runde mit Herrn Meyer gehen und hoffen, dass die Tabletten des Tierarztes endlich wirkten. Am nächsten Tag würde er ausgeruht den Notar und übermorgen den Makler aufsuchen, der das vererbte Haus verkaufen sollte. Und dann hielt ihn nichts und niemand mehr am Meer.
Alfred lenkte den Wagen von der Bäderlandstraße weiter in den Pappelweg. An der Pension Anna parkte er auf dem Parkplatz neben einem dunkelgrünen Geländewagen mit Hamburger Kennzeichen und dem weißen Aufdruck auf Fahrer- und Beifahrerseite: Fernsehen Immer Live Dabei. „Los, Herr Meyer, steig aus“, sagte Alfred und öffnete die hintere Tür des Wagens. Herr Meyer gähnte und trottete schwerfällig aus dem Wagen. Als hätte er die Anstrengung des Fahrens hinter sich, reckte er sich ausgiebig. Er streckte die Vorderbeine vor, hob das Hinterteil an und drückte den Rücken in Laufrichtung wie eine Rutschbahn durch. Alfred legte seinem Begleiter die Leine an und ging mit ihm zum Eingang der Pension.
An der Rezeption saß eine junge Frau mit schulterlangen blonden Haaren, die ihn freundlich anlächelte. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie, während ihr Blick Herrn Meyer streifte, der neugierig seinen Kopf über den Holztresen reckte.
„Ich habe für drei Tage ein Zimmer gebucht. Mein Name ist Alfred Held.“
„Herr Held. Ja, einen Moment, ich rufe meine Mutter“, sagte die junge Frau, die Alfred auf höchstens achtzehn Jahre schätzte.
„Meinetwegen“, antwortete Alfred, wunderte sich jedoch, warum die Rezeptionistin, deren Namensschild an ihrer roséfarbenen Blusentasche sie als Kerstin vorstellte, erst ihre Mutter rufen musste. Sie rief so laut, dass sogar Herr Meyer die Ohren anlegte und den Kopf hinter Alfreds Rücken versteckte.
„Ach, der Herr Held aus Sachsen“, flötete kurz darauf eine rundliche Frau, die aus einer hinteren Zimmertür an den hölzernen Tresen trat. Sie musste über fünfzig sein. Sie wischte sich die nassen Hände an einer hellblauen Kittelschürze ab, auf der einige rote Flecken nichts Gutes verrieten. Alfred hoffte, dass sie ihm nicht die Hand reichen würde. „Wir haben Sie bereits am frühen Mittag erwartet.“ Sie griff in die Bonbonschale, die auf dem Tresen stand, wickelte die kugelige gelbe Süßigkeit aus der durchsichtigen Klarsichtfolie und steckte sie in den Mund.
„Ja, ich weiß, aber Herr Meyer, mein Hund, er musste in Dresden noch zum Arzt. Deshalb bin ich erst später losgekommen.“
„Später, ja, das sehen wir“, sagte die Wirtin.
Ein Zitronenduft schwebte Alfred entgegen. Ob er vielleicht auch ein Bonbon … Er verwarf den Gedanken, als ihm die verschmierten Hände der Wirtin einfielen, die an der Kittelschürze rotbraune Flecken hinterlassen hatten.
„Aber Ihr Später ist jetzt leider zu spät“, schwatzte Wirtin Anna. „Wir haben Ihr Zimmer weiter vergeben.“
„An den netten Fernsehreporter aus Hamburg, nicht wahr, Mutter?“, fuhr Kerstin plappernd ins Gespräch.
„Ähm ja, dem Fernsehen“, sagte die Wirtin knapp und warf ihrer Tochter einen lächelnden Blick zu. „Wenn Sie nur angerufen hätten, Herr Held, dann …“
„Dann geben Sie mir ein anderes Zimmer. Ich bin nicht wählerisch“, spurtete Alfred dazwischen. Er wollte nur noch die Beine ausstrecken und schlafen.
„Leider ist kein anderes Zimmer verfügbar. Wir sind ausgebucht. Morgen beginnt die Feier der Strandkönigin. Es ist das erste Mal, dass eine Strandkönigin an der Küstenregion gekürt wird, und die Zimmer sind seit Wochen reserviert. Warum um diese Krönung so ein Wirbel veranstaltet wird … verstehe es, wer will“, sagte Anna, „aber für unser Gewerbe ist es ein Segen.“
„Aber ich habe auch vor zwei Wochen gebucht. Sie können doch mein Zimmer nicht so einfach anderweitig vergeben“, protestierte Alfred. Herr Meyer stimmte jaulend ein. Allerdings aus Gründen, die keiner Erklärung bedurften. „Und wo soll ich jetzt schlafen?“, fragte Alfred die Pensionswirtin.
„Herr Held, Sie hatten zwar telefonisch reserviert, aber nicht im Voraus bezahlt. Das wäre natürlich etwas anderes gewesen. Versuchen Sie es in einer anderen Pension oder in einem Hotel“, erklärte Wirtin Anna bedauernd. Sie drückte Alfred einen Prospekt mit der Aufschrift Haus des Kurgastes in die Hand. „Dort am Parkplatz ist eine Informationstafel aufgestellt, die über freie Unterkünfte informiert.“ Dass Mutter und Tochter ihm keine Hoffnungen auf einen Schlafplatz machten, sah er in ihren mitleidig dreinblickenden Gesichtern.
Alfred war kaum auf dem Parkplatz der Pension Anna angekommen, als aus Herrn Meyers Hinterteil eine braune Brühe schoss, die sich auf der Fahrerseite des dunkelgrünen Geländewagens mit dem weißen TV-Aufdruck verewigte. Alfred grinste.
Auch bei den fünfzig Pensionen und Hotels, die auf der Informationstafel Haus des Kurgastes um ihre Unterkünfte warben und die Alfred angerufen hatte, hatte er kein Glück. Alle Zimmer in den Ostseeorten waren aufgrund des stattfindenden Festes belegt oder nur zu Preisen buchbar, die, hätten sie nur die Hälfte gekostet, sein Budget sprengen würden. Eine Alternative wäre gewesen, das von Onkel Waldemar vererbte Haus als Schlafstätte zu nutzen. Doch hatte er dies von vornherein abgelehnt, da er sich erst ein Bild des Erbes machen wollte. Außerdem erschien es ihm abwegig, sich abends in ein fremdes Haus und Bett zu begeben, ohne zu wissen, was ihn dort erwarten würde. Da er aber keine Adresse hatte und erst für morgen der Notartermin vereinbart war, erübrigten sich jegliche Überlegungen. Alfred blieb nichts anderes übrig, als die Nacht in seinem Auto zu verbringen.
Er sah auf die Uhr. Dreiundzwanzig Uhr und zwanzig Minuten. Sein Rücken schmerzte, und er hatte das Gefühl, dass die Tabletten bei Herrn Meyer immer noch keine Wirkung zeigten. Alfred zog einen schwarzen Beutel aus dem Container, der für die Hinterlassenschaften der Vierbeiner an der Promenade aufgestellt worden war, und eilte mit Herrn Meyer … Ja, wohin sollte er mit ihm gehen? An den Strand, an dem tagsüber Kinder mit Sandeimerchen Muscheln sammelten und mit ihren Vätern Sandburgen bauten? Mitten auf die Promenade? Vielleicht vor der Eisdiele? Alfred beschleunigte seine Schritte. Zwischen zwei der aufgebauten Stände und Foodtrucks, die sich von der Kurverwaltung bis zum Sea-Life-Aquarium Richtung Timmendorfer Strand erstreckten, gab es eine Lücke und ein Grasstückchen. Alfred warf einen schnellen Blick nach links und rechts. Alles leer. Keine Menschenseele. „Los, Herr Meyer, mach schnell. Mir ist kalt“, sagte Alfred und betrachtete den Imbisswagen. Knallgelb und mit weißen und braunen Hühnern auf einer grünen Wiese bemalt, glaubte er, den Geruch der sich an einer Stange drehenden und gebratenen Tiere förmlich riechen zu können. Daneben der Crêpestand, an dem eine Schiefertafel Zimt und Zucker sowie Schokoladen- oder Apfelmusfüllung der französischen Spezialität in Kreideschrift anpries. Nichts für Alfred. Es sei denn, es gäbe Crêpes mit einer Vanillepuddingfüllung, dann sähen die dreieckig gefalteten Teigtaschen für ihn schon interessanter aus.
Als Herr Meyer seine Notdurft erledigt und Alfred alles eingesammelt hatte, was von der Konsistenz her einzusammeln war, ging es bereits auf halb zwölf zu. Alfred trat auf die Holzbohlen, die zum Strand hinunterführten. Vielleicht konnte er sich mit dem Meer anfreunden, zumindest für die Zeit, die er hierbleiben musste. Der Wind fuhr ihm durch die dunkelbraunen, viel zu langen Haare. Einen Friseurbesuch könnte er vielleicht noch in die anstehenden Termine hineinquetschen.
Kaum hatte Alfred ein paar Meter auf den Bohlen zurückgelegt, da sah er einen Mann im Sand sitzen. Der Mann lehnte mit dem Rücken an einer Sandburg, die mit vielen Muscheln und dem Gruß Moin verziert war. „Guten Abend“, sagte Alfred beim Vorbeigehen. Er wollte gerade die Holzbohlen verlassen, als ihn irgendetwas irritierte.
Möglicherweise war es für Einheimische und Touristen normal, um diese Uhrzeit abends am Strand zu sein, er war es ja auch, obwohl er kein Tourist war und aus anderen Gründen hier herumspazierte. Dennoch würde er sich niemals in den Sand setzen. Schon Sand in den Schuhen empfand er als äußerst unangenehm. „Alles in Ordnung?“, fragte er, als er ein paar vorsichtige Schritte näher an den Mann herantrat, der ihm noch immer keine Antwort gab. Er blieb abrupt stehen und hielt Herrn Meyer stramm an der Leine.
Der Mann trug einen grauen Anzug und ein weißes Hemd. Die Hosenbeine hatte er bis zu den Knien hochgekrempelt. Neben seinen nackten Füßen lagen schwarze Slipper, in denen schwarze Socken steckten. Sein Gesicht war aschfahl, und seine Augen waren weit aufgerissen, als staune er über das, was ihm widerfahren war. Der Wind zerzauste sein Haar und zerrte es über Wangen und Stirn.
Alfreds Blick fiel auf den Mund des Mannes, aus dem ein Aalkopf herausragte. „Igitt“, entfuhr es Alfred. Übelkeit stieg in ihm auf. War es der Hunger, der ihn seit seiner Diät quälte, oder der Anblick des Fisches in dem Mund des Toten? Vielleicht auch beides, überlegte er und ließ den Blick über den Strand schweifen.
Der Mörder konnte noch auf der Lauer liegen und ihn beobachten. Alfred griff in die Blousonjacke und holte sein Handy heraus. Er schaltete die Taschenlampe ein und ließ den Lichtstrahl über den Strandabschnitt gleiten, weiter zur kleinen Düne und hoch zur Promenade. Doch was er sah, waren nur die aufgestellten Stände und Foodtrucks, Sonnenschirme und weiße Stehtische, die auf viele Gäste des nächsten Tages hofften. Ansonsten war keine Menschenseele zu sehen.
Gerade als Alfred dabei war, die Nummer der Polizei zu wählen, hörte er eine Tür ins Schloss fallen. Nicht besonders laut, aber laut genug, damit er es hören konnte. Das Geräusch kam von der Promenade. Er hob das Handy und leuchtete mit dem Lichtstrahl in Richtung Haus des Kurgastes. Ein Schatten huschte durch den beleuchteten Bereich. Sollte er der Gestalt folgen? Herrn Meyer einen Verfolgungsauftrag erteilen? Er hatte keine Waffe dabei, und was, wenn …? Alfreds Füße setzten sich in Bewegung, und er rannte mit Herrn Meyer über die Holzbohlen zurück auf die Promenade. Oben angekommen, sah er, wie eine dunkle Gestalt in einem Durchgang zwischen zwei Geschäften verschwand. Eine weitere Verfolgung schien aussichtslos. Alfred drehte um und ging die Holzbohlen wieder hinunter zu dem Toten.
Hauptkommissarin Olivia von Hohenstein nutzte die angenehmen abendlichen Temperaturen und sprintete den Joggingpfad am Hemmelsdorfer See entlang. Sie war wütend. Stinkwütend. Und bei einer Runde Laufen konnte sie Stress am besten abbauen. Viel zu selten kam sie zu ihrer Sporteinheit.
Sie bog nach rechts ab, um zum Nordrand des Sees zu gelangen. Ihre Lungen verrieten mit einem Brennen, dass sie bereits genug hatten, doch Olivia zog das Tempo an. Mit offenem Mund atmete sie tief und schnell ein und aus, während ihre Füße über den Holzbohlenweg stampften und die Stirnlampe vor ihr durch die Nacht tanzte. Normalerweise lief sie um diese Uhrzeit nie die fünf Kilometer um den See, sondern verlegte ihr Laufpensum in die frühen Morgenstunden an der Niendorfer Strandpromenade entlang.
Sie verlangsamte ihr Tempo, blieb am hölzernen Hermann-Löns-Aussichtsturm stehen, streckte ihre schmerzenden Muskeln, beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie. So blieb sie einen Augenblick stehen, um zu Atem zu kommen. Aus ihren In-Ear-Kopfhörern erklang Michael Jacksons Popballade Heal The World, mit der Botschaft: Make it a better place. For you and for me ... Für einen Moment vergaß Olivia den Ärger und die Anspannung.
Den Abend über hatte sie an der Rezeption des elterlichen Hotels „Zur Hohen Düne“ ausgeholfen, weil eine Servicekraft ausgefallen war.
Natürlich musste ihr ihr Ex-Mann Frank, der als Chefkoch im Hotel arbeitete, brühwarm erneut zu verstehen geben, dass sie die Kinder am Wochenende, ob sie Geburtstag habe oder nicht, nicht zu sich nehmen könne, da er einen Ausflug in den Harz geplant habe. Seine freien Tage seien begrenzt, und die müsse er nutzen, auch gegen die Abmachung, dass Olivia die Kinder, Julia und Jasper, die beiden elf- und dreizehnjährigen Teenager, alle zwei Wochen zu sich holen könne. Mit diesen Worten und seiner Meinung, sie sei immer noch so dünn wie während ihrer Ehe, hatte er ihr eine üppige Portion Käsemakkaroni über den Empfangstresen geschoben. Sie hatte sie nicht angerührt. Dafür hatte ihre Erinnerung ihre Ehe mit Franks Frauengeschichten ausgespuckt. Mal war es die Küchenhilfskraft Liane, mit der er sich im Aufenthaltsraum vergnügt hatte und von der Beiköchin Simone erwischt worden war, dann wieder das Zimmermädchen Madeleine, das er gleich im Hotelzimmer beim Bettenmachen vernascht hatte. Olivia hatte nach einem Hoffnungsschimmer gesucht, nach etwas Positivem, aber sie wusste, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät war, um den Ehekarren aus dem Dreck zu ziehen, in den Frank ihn gefahren hatte.
Sie warf einen Blick über den See, der geografisch als der tiefste Punkt Deutschlands galt und zu jeder Jahreszeit Naturliebhaber anzog. Der Vollmond stand hoch am Himmel und brach durch die nahe am Ufer stehenden Schwarz-Erlen, Birken, Kiefern und Weiden des Bruchwaldes. Dichte Nebelschwaden stiegen über dem See auf, und aus dem raschelnden Schilfröhricht zu ihrer Rechten flatterten zwei Blässhühner aufgeschreckt über das Wasser. Eine gespenstische Szenerie, die nur durch das helle, abgehackte Krächzen der Vögel und das leise Plätschern des Wassers unterbrochen wurde.
Olivia kannte den See, seine Umgebung und jeden Baum und jeden Stein wie ihre Westentasche. Sie war hier aufgewachsen und hatte viel Zeit am See verbracht. Sie hätte ein Junge werden sollen, so wild wie sie ist, pflegten ihre Eltern immer zu ihren Hotelgästen zu sagen. Für Olivia war es ein riesiger Spaß, den Kindern der Gäste, die meist aus der Stadt anreisten, den See zu zeigen und ihnen abenteuerliche Geschichten über das vermeintlich darin lebende und grausige Seeungeheuer zu erzählen, das dem schottischen Monster Nessi ähnelte.
Eine frische Meeresbrise zog landeinwärts und wehte den Geruch nach Seetang und Salz zu ihr herüber. Über ihr spannte sich der Sternenhimmel, dessen unzählige Lichtpunkte wie aus Augen auf sie herabblickten, und aus der Ferne erklang der Ruf einer Eule.
Die fünf Ferienhäuser, mit Reet eingedeckt und mit weißen Fassaden sowie meerblauen Fensterläden, die rund um den See angeordnet waren und zum Hotelkomplex gehörten, lagen im Dunkeln. Alle Gäste schliefen, um für das morgige Strandfest zu Ehren der Strandkönigin ausgeruht zu sein. Nur am anderen Ende des Sees konnte Olivia noch einzelne helle Lichter an der Hotelfassade erkennen, die sich durch die dichter werdenden Nebelschwaden schoben.
Michael Jackson stimmte gerade seinen Earth Song an, als Olivias Handy vibrierte. Sie zog es aus der Bauchtasche und sah auf das aufleuchtende Display. Kollege Christian Bohlmann rief an. Olivia seufzte innerlich auf und verabschiedete sich von einer warmen Dusche und ihrem Bett. Sie wischte mit dem Zeigefinger über das grüne Hörerzeichen. „Christian, was gibt es so spät?“, fragte sie, während sie sich auf die nahe Bank setzte.
„Olli, wir haben einen Toten am Niendorfer Strandabschnitt, an dem das Fest für die Strandkönigin stattfinden soll“, schilderte er seiner Kollegin knapp.
„Sag, dass das nicht wahr ist. Verflucht! Mann, Frau, oder wer ist es?“
„Du wirst es nicht glauben, wenn ich dir das sage.“
Olivia konnte die Anspannung ihres Kollegen durch das Telefon spüren. „Nun spuck es schon aus.“
„Robert Schöllmann.“
„Wie? Du meinst Robert Schöllmann von der Logonik-Elektrik? Bist du sicher?“ Das Licht ihrer Stirnlampe bohrte runde Löcher in die Nebelwand über dem See.
„So sicher, wie man sich nur sein kann, wenn man direkt vor ihm steht.“
„Du bist schon am Strand?“
„Ja, ich wollte mich vergewissern, ob es sich lohnt, dich aus dem Bett zu scheuchen.“
„Ich habe nicht geschlafen.“ Olivia erhob sich von der Bank. „Ist er ermordet worden?“
„Er hat einen Aalkopf im Hals stecken, das macht niemand freiwillig. Also ja, es sieht nach einem Mord aus.“
„Ich komme, Christian. Sperr den Tatort ab und ruf unseren Rechtsmediziner und die Spusi aus Lübeck an.“
Hauptkommissarin Olivia von Hohenstein traf noch vor den Lübecker Beamten am Tatort ein. Sie stellte sich Alfred vor und musterte ihn von Kopf bis Fuß, bis ihr skeptischer Blick an Herrn Meyer hängen blieb, während sich Man In The Mirror aus Michael Jacksons Musikalbum ins Gespräch einmischte.
„Wie mir berichtet wurde, haben Sie den Toten gefunden, Herr Held“, stellte Olivia fest und schaltete die Musik aus. Ihr Blick fiel erneut auf Herrn Meyer. „Sie wissen aber schon, dass dieser Strandabschnitt kein Hundestrand ist. Oder ist Ihr Hund ein Leichenspürhund?“ Sie verkniff sich ein Grinsen, während sie Alfreds Namen in ihr Handy notierte.
„Nein, ist er nicht, Frau von Hohenstein. Herr Meyer ist einfach nur eine sanftmütige Dänische Dogge, die, wenn man sie beleidigt, sogar böse werden kann. Und dass der Strandabschnitt kein Hundestrand ist, ist mir durchaus bewusst. Aber da niemand mehr am Strand war, habe ich gedacht …“, begann Alfred, als Olivia ihn unterbrach.
„Sie haben gedacht. Soso. Aber dieser Strand ist Familien mit Kindern vorbehalten, und wenn Ihr … Ihr Hund hier sein Geschäft erledigt, ist das nicht im Sinne der Eltern“, sagte sie, weiter in ihr Handy vertieft, ohne Alfred anzusehen.
„Mein Hund hat hier kein Geschäft erledigt. Ich wollte lediglich ein wenig frische Luft schnappen und mich mit dem Meer anfreunden.“
Alfred warf einen Blick zu den Foodtrucks auf der Promenade.
„Sie mögen das Meer nicht“, stellte Olivia fest. Sie sah Alfred in die Augen.
„Nein. Nicht das Meer, nicht die salzige Luft, nicht diese glibberigen Quallen, die überall an den Strand geschwemmt werden, nicht den stinkigen Seetang und … Ich bin nur notgedrungen für drei Tage an der Ostsee“, unterbrach Alfred seine Aufzählung.
„Können Sie mir das genauer erklären? Ihrem Dialekt nach kommen Sie aus Sachsen. Dort gibt es doch auch Wasser.“
„Aus dem Freistaat Sachsen, um genau zu sein, und der bis 1918 als Königreich geführt wurde. Ich wohne in Dresden. Und ich liebe die Elbe. Sie kennen unser schönes Bundesland?“
„Nur von einem kurzen Aufenthalt. Mehr nicht. Und?“
„Und was?“
Olivia trat einen Schritt näher an Alfred heran, sodass er ihr blumiges Parfüm riechen konnte. „Was Sie hierher nach Schleswig-Holstein an den Niendorfer Strand verschlagen hat?“
„Eine Erbschaft.“ Alfreds Blick verweilte für einen kurzen Moment unweit bei zwei Möwen, die zänkisch aus einem kleinen silbernen Fisch Fleischstücke herausrissen. Daneben labte sich eine Schar Wasserinsekten am angespülten grünbraunen Seetang, in denen sich einige schwarze Muscheln eingenistet hatten und von kleinen Wellen mit Schaumkronen umspült wurden.
„Die Erbschaft des Toten vielleicht?“, fragte Olivia.
Alfred lachte kurz auf, und Herr Meyer stimmte jaulend ein. „Nicht jetzt, Herr Meyer, wir gehen gleich.“ Alfred wusste, was kommen würde. Hauptsache, Herr Meyer behielt alles da, wo es jetzt noch war, und donnerte nicht vor der Kommissarin in den Sand. Er musste dringend die Tablettendosis erhöhen. „Hat er denn etwas zu vererben?“, fragte Alfred, während er einen kurzen Blick zu Herrn Meyer warf, der sich bäuchlings hingelegt hatte und mit seiner Rute impressionistische Muster in den Sand klopfte.
„Robert Schöllmann ist ein bekannter Unternehmer der Niendorfer Logonik-Elektrik-Firma, die seit Generationen Maschinenteile für die Schifffahrt herstellt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er etwas zu vererben hat“, erklärte Olivia.
Alfred nickte und betrachtete die Kommissarin genauer. Sie war einen Kopf kleiner und sicherlich ein paar Jahre jünger als er mit seinen einundvierzig Jahren, möglicherweise Mitte der Dreißiger. Ihr blondes Haar trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, und ihre Augen leuchteten in einem schönen Meerblau, wie er im Mondlicht erkennen konnte. Sie trug kein Make-up, was möglicherweise der Uhrzeit geschuldet war, da sie bereits im Bett gelegen hatte. Auch wenn Alfred sich nicht sonderlich mit weiblicher Kosmetik auskannte, so wusste er, dass Sabine früher nicht ohne blauen Lidschatten und Mascara aufgetragen zu haben zum Mülleimer gegangen war. Olivia von Hohenstein stand ihre Natürlichkeit. Allerdings sah sie in ihrem pinkfarbenen Joggingoutfit und den weißen Turnschuhen eher aus, als wolle sie zu einer nächtlichen Sporteinheit aufbrechen, anstatt eine Mordermittlung führen.
„Also?“
„Also was?“, fragte Alfred abgelenkt.
„Ob Sie den Toten kennen? Ob Sie mit ihm verwandt sind? Ob Sie seinetwegen aus Sachsen angereist sind?“
„Nein.“ Alfred atmete erleichtert durch den Mund ein und aus. Die Übelkeit ließ nach, und das Rumoren in seinem Magen verstummte. Er trat ein paar Schritte von der Leiche weg und suchte in seiner Jackentasche nach der Schachtel Zigaretten, als ihm einfiel, dass er ja mit dem Rauchen vor einem halben Jahr aufgehört hatte. Im Kopf war sein Rauchfrei noch nicht angekommen.
„Nein was?“, fragte nun Olivia.
„Ja, ich sagte doch bereits, dass mich eine Erbschaft nach Niendorf geführt hat.“ Alfred warf einen Blick auf die inzwischen eingetroffenen Kollegen der Spurensicherung, die um den Toten herum kleine weiße Schildchen aufstellten.
„Ja, aber von wem denn nun?“ Olivia runzelte die Stirn.
„Von meinem Onkel Waldemar.“
„Wer ist denn jetzt wieder Onkel Waldemar?“
„Mein Onkel, der kürzlich verstorben ist.“
„Aha. Mein Beileid“, sagte Olivia und lächelte nachsichtig.
„Danke. Aber ich kannte ihn nicht wirklich gut.“
„So. Na dann. Hat Ihr Onkel in Niendorf gewohnt?“
„Ja. Wo genau, wird mir morgen der Notar verraten.“
„Wie hieß denn Ihr Onkel?“
„Das sagte ich Ihnen ebenfalls bereits. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie es verstanden haben. Aber vielleicht ist es zu spät oder zu früh für Sie?“ Alfred sah auf seine Armbanduhr. Der Zeiger bewegte sich auf Mitternacht zu.
„Nun werden Sie nicht unverschämt. Sie sprechen mit der Polizei.“
„Ach was, und die ist in Schleswig-Holstein schlauer als in Dresden.“
„Was soll das heißen, Herr Held?“
„Nichts, ich meine ja nur.“ Alfred grinste.
„Und kann ich von Ihnen als schlauer Sachse nun eine Antwort erhalten, wie Ihr Onkel hieß, oder spielen wir munteres Namenraten?“ Olivia rang sich ein Lächeln ab.
„Muntere Spiele können wir uns ja für einen anderen Abend aufheben“, sagte Alfred süffisant. „Aber mein Onkel hieß Waldemar Blume.“
„Muntere Spiele?“, fragte Olivia scharf. Ihr Lächeln erstarrte zu einer Maske. Besser, sie kam auf den Fall zurück, bevor ihr etwas herausrutschte, was sie bereuen könnte. „Sie sind von Ihrem Hotel aus an den Strand gegangen, um frische Luft zu schnappen. Wie ging es weiter?“ Olivia warf einen schnellen Blick auf den Rechtsmediziner, der neben dem Toten seinen silberfarbenen Metallkoffer öffnete, und die zwei Kollegen des Streifendienstes, die alle Hände voll zu tun hatten, die eintreffenden Schaulustigen vom Tatort fernzuhalten.
Die vor einer Stunde noch menschenleere Promenade hatte sich mit einer Flut von Neugierigen gefüllt. Lediglich die geschlossenen Verkaufsstände zeugten von nächtlicher Stunde. Handys wurden in die Höhe gehalten, Blitze zuckten durch die Vollmondnacht, Aufregung machte sich unter den Menschen breit. Einige Neugierige hatten es geschafft, bis zum Flatterband zu gelangen, wo sie aufgeregt hin und her liefen, um den Tatort und das Treiben der Beamten aus nächster Nähe zu fotografieren. Andere Schaulustige drehten Videos, um sie Sekunden später in den sozialen Netzwerken hochzuladen. Ein Mann, der sich zwischen dem Hähnchen- und dem Crêpewagen durchgeschlängelt hatte und nun seine Schuhe betrachtete, fluchte laut.
„Ursprünglich hatte ich in der Pension Anna ein Zimmer gebucht, aber die Wirtin hat mein Zimmer vermietet, weil ich zu spät angereist bin. Da aufgrund dieser Krönungssache kein anderes Zimmer weit und breit mehr frei ist, bin ich mit dem Wagen und Herrn Meyer auf den Parkplatz beim Haus des Kurgastes gefahren.“
„Sie haben im Auto geschlafen?“
„Nein, nicht wirklich. Jedenfalls musste Herr Meyer nach draußen, weil er … nun, er musste Gassi gehen.“
„Und da sind Sie an den Strand gegangen, der, ich wiederhole, kein Hundestrand ist, und haben Ihren Hund …“
„Nein, wo denken Sie hin?“, fuhr Alfred ihr in den Satz. „Wir waren auf der Promenade auf dem Grünstreifen, bevor wir zum Strand hinuntergegangen sind.“ Alfred wedelte mit dem schwarzen Hundebeutel vor der Nase der Kommissarin. „Für den Rest suche ich noch immer einen Mülleimer. Aber wollen Sie mich nicht fragen, ob mir jemand begegnet ist oder ich jemanden am Tatort gesehen habe?“
„Und, haben Sie jemanden gesehen?“, fragte Olivia genervt.
„Als ich unten am Strand bei Herrn …, nun bei dem Toten stand, hörte ich, wie eine Tür zugeschlagen wurde. Kurz darauf sah ich eine Person die Promenade entlangeilen. Möglicherweise war sie aus der Toilettenanlage gekommen. Ob es sich jedoch um einen Mann oder eine Frau gehandelt hat, das Alter oder die Kleidung, konnte ich leider nicht erkennen. Ich rannte mit Herrn Meyer hinterher, aber als wir oben auf der Promenade ankamen, war die Person zwischen dem Bernstein- und Eisladen verschwunden.“
Olivia nickte, trat zwei Schritte zurück und wandte sich dem Rechtsmediziner zu. „Klaus, hast du schon Ergebnisse für mich, außer die, die ich sehen kann?“, fragte sie, während sie letzte Notizen in ihr Handy eintippte.
Klaus Weißenfels, ein kleiner, rundlicher Mann in den Fünfzigern mit einem vom Wetter gegerbten Gesicht und fusseligen grauen Haaren, nickte zustimmend und erhob sich aus der Hocke. „Das ist auf jeden Fall kein schöner Anblick, Olli.“ Weißenfels bückte sich kurz und deutete auf Roberts Hals. „Am Hals sind zwei rote Punkte zu sehen. Es sieht nach einer Verbrennung aus, die von einem Taser stammen könnte. Muss ich mir aber im Institut genauer ansehen.“ Er richtete sich wieder auf. Sein Gesicht nahm einen konzentrierten Ausdruck an.
„Aber so ein Taser, ein Elektroschocker, führt doch nicht zum Tod“, wandte Olivia ein.
„Wenn es nur ein einziger Schock war, nicht unbedingt. Es sei denn, Schöllmann hatte eine Vorerkrankung oder ich finde weitere Spuren an seinem Körper, die zu seinem Tod geführt haben.“
„Wie sieht es mit Fußspuren und Fingerabdrücken aus? Gibt es Abwehrspuren? Ist der Fundort auch der Tatort?“
„Du meinst, so schöne DNA-Spuren unter den Fingernägeln, die auch noch in unserer Datenbank zu finden sind? Nein, da muss ich dich enttäuschen, Olli. Abwehrspuren sehe ich auf den ersten Blick keine, aber auch das muss ich mir genauer ansehen. Immerhin können wir froh sein, dass er so schnell gefunden wurde, bevor die Möwen ihn für ihr Frühstück entdeckt haben. Schleifspuren gibt es auch keine, noch sieht es so aus, als wenn Robert großartig bewegt wurde. Vielleicht höchstens ein oder zwei Meter, um ihn an die Sandburg zu lehnen. Für alle weiteren Spuren, die das Wasser nicht weggespült hat, solltest du die Kollegen der KTU befragen. Wenn du allerdings meine Meinung hören willst – Robert wurde mit Absicht so arrangiert.“
„Du hast recht, Klaus. Es scheint, als wäre es beabsichtigt gewesen, ihn genau hier am Strand zu platzieren, wo er schnell entdeckt werden würde. Aber wenn du sagst, der Fundort ist dem Anschein nach auch der Tatort, frage ich mich, was Robert um diese Zeit am Strand gewollt hat?“, sagte Olivia und beobachtete die Kollegen der Kriminaltechnik, die weitere Spurenziffern in den Sand steckten, um die Fundstelle zu dokumentieren. „Und dann der Aalkopf.“
„Ich würde sagen, Robert ist spazieren gegangen. Mit den hochgekrempelten Hosenbeinen und nackten Füßen liegt das nahe. Möglicherweise kannten sich Opfer und Täter“, sagte Weißenfels.
Olivia nickte. „Kannst du mir sagen, wie lange er an die Sandburg gelehnt sitzt?“
Weißenfels nickte. „Den Todeszeitpunkt schätze ich zwischen zweiundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr am heutigen Abend. Jedoch ist interessant zu bemerken, dass der Aalkopf so frisch aussieht, als wäre er gerade gefangen worden. Eindeutig ein Ostseeaal. Am Wochenende war ich an Rügens Küste und habe vier Prachtexemplare erwischt. In zwei Wochen beginnt für diese Tiere die Schonzeit, und dann ist es bis ins nächste Jahr vorbei mit dem Aalfang.“
„Igitt, wie widerlich“, sagte Alfred.
„Sie mögen keinen Aal?“ Klaus Weißenfels sah erstaunt zu Alfred.
„Ich mag überhaupt keinen Fisch, und Aale sind Aasfresser.“ Die Worte glitten Alfred wie ein widerlicher Geschmack über die Lippen, und ein erneutes Unbehagen breitete sich in seinem Magen aus.
„Wo haben Sie dieses Märchen gelesen? Jeder Angler weiß, dass Aale bestenfalls frisch getötete Köder fressen, niemals aber verweste Artgenossen oder was sonst noch auf dem Meeresgrund herumliegt.“ Der Rechtsmediziner warf einen kurzen Blick zu Robert Schöllmann. „Das liegt an ihrem fein ausgebildeten Geruchssinn. Klar, Aale sind Raubfische und ernähren sich hauptsächlich von Kleinstlebewesen wie Mückenlarven, Krebstieren, Muscheln und kleineren Fischen. Der Aal ist aber auch ein wichtiger Speisefisch, dessen Bestand leider weltweit durch die Überfischung gefährdet ist. Deshalb werden gefangene Jungaale, sogenannte Glasaale, von Meeresbiologen in eigens errichteten Hallen aufgezogen und bei entsprechender Reife in Binnengewässern ausgesetzt. Leider haben es sich inzwischen Kriminelle zur Aufgabe gemacht, einen lukrativen und illegalen Handel mit den Jungtieren aufzubauen, da sie als Delikatesse gelten und gegen alle möglichen Krankheiten vorbeugen sollen“, glänzte der Rechtsmediziner ebenso fachkundig wie euphorisch.
„Könnte der Täter den Aal an einem der Fischstände am Niendorfer Hafen oder direkt vom Kutter oder auch im Fischgeschäft gekauft haben?“, wollte nun Olivia wissen.
„Sicher, liebe Kollegin, auch das wäre möglich. Dann hätte der Täter den Aal allerdings bis zum Abend kühlen müssen, denn wie gesagt, dieser Aal ist superfrisch, wie eben gefangen. Eigentlich wollte ich morgen wieder auf das Boot meines Freundes zum Angeln. Aber ich bleibe natürlich, bis ich das Ergebnis meiner Untersuchung abgeschlossen habe. Nur für dich, Olli.“
„Das weiß ich zu schätzen, Klaus. Ich danke dir.“
„Oder die Täterin“, wandte Alfred in das Gespräch ein. „Außerdem war die Tat geplant. Möglicherweise war es ein unzufriedener Kunde.“
„Wie?“ Olivia sah Alfred irritiert an.
„Oder die Täterin. Die geplante Tat hätte ja auch eine Frau begehen können“, wiederholte Alfred. „Jemanden mit einem Taser zu überwältigen und ihm einen Aalkopf in den Mund zu stopfen ist ja nicht gerade eine Aktion, die viel Kraft erfordert.“
„Geplant, das sehe ich auch so“, pflichtete Weißenfels nickend bei, während er einem von der Spurensicherung aufgestellten Flutlichtscheinwerfer auswich, die ein grelles Licht mit bizarren Schattenspielen auf den Strand warfen. „Ebenso wäre auch eine Frau imstande, die Tat zu begehen. Vorausgesetzt, der Taser ist die Tatwaffe, aber das Ergebnis kriegst du mit meinem Bericht, Olli.“
„Wurde ein Taser gefunden?“ Olivia wandte sich an einen Kollegen der Lübecker Spurensicherung.
„Nein, bisher nicht. Möglicherweise liegt er ja in der Lübecker Bucht.“
„Christian“, wandte sich Olivia an ihren Niendorfer Kollegen, „fordere eine Tauchermannschaft an. Die sollen sofort anrücken, bevor die Strömung uns die Tatwaffe, falls es überhaupt die Tatwaffe ist, davonschwemmt. Und lass dir so schnell wie möglich das Band der Videoüberwachung vom Haus des Kurgastes geben. Vielleicht haben wir Glück, und der Täter ist darauf zu sehen, wie er an den Strand geht.“ Olivia zeigte auf die Kamera, die seitlich der Treppe am Haus des Kurgastes angebracht war.
„Das wird uns nicht viel nützen, Olli. Der Strand wird nicht mit Video überwacht, sondern nur der Eingang des Hauses und ein Teil der Promenade. Datenschutz, weiß ich von meiner Schwester, sie arbeitet ja im Haus.“
„Das ist mir egal. Wir brauchen trotzdem die Aufzeichnung. Und Sie können gehen, Herr Held.“ Olivias Stimme hatte einen schrillen Unterton angenommen. „Dies ist die Arbeit der Polizei, nicht die Ihrige. Ihre weiteren Personalien werden meine Kollegen aufnehmen. Doch halten Sie sich zu unserer Verfügung, falls unsererseits noch Fragen auftauchen.“ Sie nickte Christian Bohlmann zu.
„Sie müssen den Tatort weiträumig absperren. Eine Feier darf am Strand auf keinen Fall stattfinden. Und vielleicht hat ein Geschäftsinhaber die Person auch gesehen, die ich beobachtet habe“, gab Alfred noch als zusätzlichen Rat, während er mit dem Arm erst zur Promenade und Richtung Parkplatz und weiter zum Haus des Kurgastes schwenkte.
„Ja, das wissen wir“, sagte sie. Ein Tourist, der ihr Ratschläge gab, dachte Olivia, das hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie verzog das Gesicht zu einer Flunsch.
„Und welcher Fischer oder Verkäufer heute oder in den letzten Tagen am Hafen Aale verkauft hat, sollte auch überprüft werden“, rief ihr Alfred zu, als der Uniformierte ihn am Hemdärmel vom Tatort wegzog.
Olivia von Hohenstein stöhnte auf. „Gehen Sie mit Ihrem … Ihrem Hund schlafen“, rief sie Alfred hinterher, der mit dem Beamten über den Strand stapfte und den Anfang der Holzbohlen erreicht hatte.
„Na, die von und zu ist vielleicht hochnäsig, was, Herr Meyer?“, flüsterte Alfred dem Hund ins Ohr.
Alfred hatte dem Beamten gerade seine Personalien mitgeteilt, als er sah, wie Olivia von Hohenstein ihm eilig über den Strand auf die Promenade folgte. Abseits der Menschenmenge blieb sie mit zwei Männern in weißen Papieroveralls stehen. Alfred sah, wie Olivia sich unterhielt, konnte aber durch das Stimmengewirr der Neugierigen um ihn herum nichts verstehen. Ab und an warf sie ihm einen Blick zu, dem die Männer musternd folgten, dann kamen sie mit schnellen Schritten auf ihn zu.
„Herr Held“, begann Olivia. „Das sind die Kollegen der Lübecker Spurensicherung. Könnten Sie uns Ihre Schuhe überlassen, um sie mit den Schuhabdrücken, die wir am Tatort gefunden haben, abzugleichen?“
„Sicher. Ich komme morgen zu Ihnen auf die Wache“, antwortete Alfred.
„Nein, am besten gleich hier vor Ort.“
„Wie? Haben Sie Angst, ich könnte verschwinden?“, fragte Alfred kopfschüttelnd.
„Ja. Nein“, sagte Olivia. „Immerhin haben Sie das Opfer gefunden und …“
„Ich könnte der Täter sein. Schon klar.“ Alfred stöhnte auf. Er lehnte sich an eine hüfthohe Steinmauer, zog erst den einen Schuh aus, den er einem Mann in weißer Papierhülle reichte, dann den anderen.
„Sie sagten, Herr Held, Waldemar Blume sei der Name Ihres Onkels. Habe ich das richtig verstanden?“, fragte Olivia, während sie den Vorgang des Schuhabgleichs beobachtete.
„Sagte ich, ja.“ Alfred nickte kurz, während er einen Schuh nach dem anderen wieder entgegennahm. Er drehte sich um und ging zu einem Mülleimer.
„Hieß er Blümchen?“
Olivias Frage irritierte Alfred, ebenso wie die Tatsache, dass sie ihm gefolgt war.
„Nein. Blume“, sagte er, während er den kleinen schwarzen Beutel in den Mülleimer warf.
„Ja, ich habe Sie schon verstanden. Kann es sein, dass Ihr Onkel auf dem Hausboot am Niendorfer Hafen lebt, gelebt hat?“ Olivia sah Alfred fragend an.
„Nein, unmöglich. Waldemar hat mir ein Haus vererbt und keinen Schunkelkahn.“ Alfred lachte schallend auf.
„Wenn Ihr Onkel Waldemar Blume ist, also war, dann hat er auf einem Hausboot gelebt. Jedes Kind in Niendorf und der Umgebung kannte Blümchen. Er war das Urgestein der Ostseeküste.“
Alfred sah Olivia nachdenklich an. „Blümchen? Was ist das für ein bescheuerter Name?“
„Überhaupt nicht. Ihr Onkel, wenn wir denn von demselben Mann sprechen, und da bin ich mir hundertprozentig sicher, wurde immer Blümchen genannt.“
„Und warum?“
„Nun, er trug täglich Hemden mit Blümchenmuster und bepflanzte die Blumenkästen auf der Terrasse seines Hausbootes mit saisonalen Pflanzen. Jedem Kind, das vor seinem Hausboot stehen blieb und seine Blumen bewunderte, schenkte er einen Blumentopf, in dem eine daumengroße Pflanze wuchs. Es ist eine Zauberpflanze, ihr müsst jeden Tag mit ihr reden, dann wird sie wachsen und wunderschöne Blüten tragen, hat er immer zu den Kindern gesagt. Außerdem konnte man bei ihm Ableger dieser Zauberblumen kaufen. Das war sein kleiner Nebenverdienst.“
„Nebenverdienst?“
„Ja. Wussten Sie nicht, dass Ihr Onkel als Kinderbuchillustrator gearbeitet hat?“
„Nein. Ich hatte jahrzehntelang keinen Kontakt zu ihm.“
„Das ist sehr schade. Er ist, war, ein reizender und liebenswerter Mensch.“ Olivia senkte den Blick.
„Woran ist er gestorben? Vorausgesetzt, wir sprechen tatsächlich von meinem Onkel.“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Vor zwei Wochen wollte ich bei ihm Setzlinge für meine Dachterrasse kaufen, als ich hörte, dass Blümchen gestorben sei. Seine Haushälterin fand ihn eines Morgens tot im Bett. Er scheint einfach im Schlaf eingeschlafen zu sein. Ganz friedlich.“
„So, na ja. Ob es mein Onkel war, werde ich morgen vom Notar erfahren. Aber ein Hausboot?“ Alfred schüttelte den Kopf. Hoffentlich hatte diese von Hohenstein nicht von seinem Onkel gesprochen. Alfred warf noch einen letzten Blick hinunter zum Strand, wo die Kollegen der Spurensicherung Zentimeter für Zentimeter weiter den Strandabschnitt durchsuchten, während der Polizeifotograf aus verschiedenen Winkeln seine Bilder schoss.
Nachdem es sich Herr Meyer auf der Rückbank des Wagens gemütlich gemacht hatte und eingeschlafen war, googelte Alfred in seinem Handy nach dem Firmeninhaber Robert Schöllmann.
An Schlaf war zunächst nicht zu denken, der Fund des Toten hatte ihn aufgewühlt. Manchmal konnte Alfred an einem Tatort sehen, was zuvor geschehen war. Ein Ehemann, der seine Frau erschlagen hatte, weil ihm das Abendessen nicht geschmeckt hatte. Eine Frau, die ihre Widersacherin erschossen hatte und ihren Ehemann dennoch vergötterte, oder ein Opfer, das tagelang in der Elbe lag und bei dem sich später herausstellte, dass es der Täter war. Die Tatorte konnten ihm ganze Romane erzählen, wie auch hier: ein Mann, der mit einem Taser zu Tode gefoltert und dem ein Aalkopf in den Mund gesteckt wurde. Es war, als würden ihm die Umstände der Tat zwei verschiedene Geschichten erzählen.
Auch wenn er nur an diesen Ort gereist war, um seinem Onkel die letzte Ehre zu erweisen und das Erbe anzutreten, so war seine amtliche Neugier erwacht, und er versuchte, einen Zusammenhang zwischen dem Ort, dem Opfer und dem Täter herzustellen. Was will uns der Täter mit seiner Tat erzählen? Er hatte sich keine große Mühe gegeben, sein Opfer zu verstecken. Wer profitierte vom Ableben des Opfers? Gab es Familie, möglicherweise eine Affäre? War er ledig? Womit verdiente er seinen Lebensunterhalt? Aber auch die Motive und Beweggründe, die den Täter, ob Frau oder Mann, zu seiner Tat geführt hatten, interessierten Alfred. War der Täter Opfer, bevor er zum Täter wurde? Worin lag das Motiv für die Tat? War es eine der Todsünden? Neid oder Habgier? Hatte ihn die Wollust zu der Tat verleitet? Oder war es die Völlerei, die Angst vor einem Verlust, die auch der Trägheit und dem Hochmut nahestand? Dinge zu verlieren, an die man sich gewöhnt hatte, konnten Komplikationen und Zorn auslösen, das wusste er nur zu genau.
Mit seinen einundvierzig Jahren und seiner fast zwanzigjährigen Laufbahn als Polizist hatte er fast alle Facetten von Mordmotiven und teuflischem Leid gesehen, das ein Täter seinem Opfer zufügen konnte. Ein Mord mit einem Aalkopf im Hals war auch für ihn neu.