Heidefalle - Angela L. Forster - E-Book

Heidefalle E-Book

Angela L. Forster

4,0

Beschreibung

Ein Fall für Inka Brandt Was … wenn du der Vergangenheit nicht entkommen kannst? … wenn du Teil eines perfiden Spiels bist? … wenn du in die Falle gerätst? Sebastian Schäfers persönlicher Fall wird zum Albtraum, als das Profil des Killers – genannt der Kreuzer – immer mehr Gestalt annimmt. Er tötete seine geliebte Frau und Tochter. Mit einem ausgeklügelten Plan will er den Mörder in die Falle locken. Von der Nordsee nach Köln, Darmstadt, Braunschweig, Clausthal-Zellerfeld und weiter in die Lüneburger Heide reist Sebastian dem Täter hinterher. Unterstützung erhält er von der Dithmarscher Kollegin Sahra Sturm sowie Inka Brandts Team aus der Heide. Doch ein Ende der gnadenlosen Verbrechen ist nicht in Sicht. Bis eine geheimnisvolle Spur auftaucht und dem Fall, der deutschlandweit die Bevölkerung in Atem hält, eine erschreckende Wendung gibt. Angela L. Forsters sechster Fall „Heidefalle“ entführt mit psychologischem Gespür in die beängstigenden Gedanken eines Serientäters, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen.

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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2022 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8424-5

Angela L. ForsterHeidefalle

„Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben.“– Goethes Faust –

Prolog

Nur wenige Autos kamen Inka auf dem Weg nach Egestorf zum Resthof der Rechtsmedizinerin Teresa Hansen und ihrer Lebenspartnerin Flora Holländer entgegen.

Flora, eine sechsunddreißigjährige Halbtamilin und Buddhistin, lebte strikt nach dem Mondkalender. Nur wenn bestimmte Mondphasen eintraten, goss die approbierte Medizinerin, die ihren Job in der Klinik an den Nagel gehängt und in der Holzschnitzkunst ihre Berufung gefunden hatte, Blumen, ging zum Friseur oder zum Zahnarzt, kochte ihren Reispudding oder begann mit einer Holzarbeit im angebauten Atelier des Egestorfer Resthofes.

Einerseits freute Inka sich auf das Treffen mit Flora, die sie viel zu selten sah. Andererseits lag ihr das Gespräch über den ausbaldowerten Plan zwischen Flora und Sebastian schwer im Magen. Wie konnten die beiden nur denken, dass das gut ging, der Kreuzer auf ihre List hereinfallen würde? Seit zwei Wochen versuchte Sebastian, sie zu erreichen. Entweder lehnte sie seine Anrufe ab oder ließ sich verleugnen. Sie brauchte Zeit, um zu überlegen, Sebastians Lügen zu verkraften.

Inka lenkte ihren Golf durch die Toreinfahrt des Hofes, den Teresa und Flora gekauft hatten und stückchenweise renovierten. Sie parkte vor dem Küchenfenster längs der roten Backsteinwand. Schon als sie ausstieg, vernahm sie den besonderen Duft, der immer dann durch den Resthof strömte, wenn Flora ein indisches Gericht aus ihrer Heimat kochte. Heute gab es Palak. Ein vegetarisches Spinatgericht, das Flora mit indischem Frischkäse zubereitete, dem Panir, den sie selbst herstellte.

Inka klingelte.

„Ist offen!“, hörte sie Flora rufen.

Ein Windspiel aus vier fingerdicken Metallrohren, angebracht über der Eingangstür, bimmelte sanft bei Inkas Eintreten in die Diele. Während der Renovierung des Resthofes hatten Teresa und Flora einige Zimmerwände entfernt, den Eingangsbereich vergrößert und die Küche integriert, bis ein kleiner Tanzsaal entstanden war. Hier feierten sie Geburtstage und Feste, bewirteten sie Gäste.

Flora stürmte an der Kücheninsel vorbei und Inka entgegen. Freudig küsste sie ihre Freundin auf die Wange. „Setz dich. Essen ist gleich fertig. Du isst doch mit, oder?“

„Ja. Ich geh nur schnell Händewaschen“, sagte Inka, während sie sich aus der Jacke schälte. Obwohl das Fenster im Bad gekippt war, war die Luft warm und feucht, als wäre gerade heiß geduscht worden. Es duftete nach Rosenblüten und Zuckerwatte. Teresa war zu Hause. Inka verließ das Bad und ging zurück in die Küche. „Sie ist schon da. Stimmt’s?“

„Wenn du meine Frau meinst, ja, sie ist oben und kommt gleich runter“, sagte Flora ernst. Das lustige Funkeln aus ihren braunen Augen war verschwunden und der so vertraute fröhliche Tonfall ihrer Stimme von Anspannung entstellt.

„Ihr habt also schon …“, begann Inka vorsichtig.

„Ja, wir haben schon gesprochen. Sie hat gesagt, sie hasst dich, und mich hasst sie inzwischen auch.“

„Ich weiß. Ich hasse sie auch. Und ich hab zu nichts zugestimmt, nicht mehr.“

„Das glaubt sie dir aber nicht.“

„Das weiß ich. Sie ist stur.“

„Sie ist so stur wie du, Inka.“

„Und sie kann euch hören“, sagte eine Stimme hinter Inkas Rücken.

„Terry, ich …“, stotterte Inka.

„Lass uns erst essen, bevor mir der Appetit vergeht. Flora hat den ganzen Vormittag in der Küche gestanden und unser Lieblingsessen gekocht“, schnitt Teresa Hansen den Satz ihrer Freundin ab.

Eine Weile aßen die drei Frauen schweigend, dann legte Teresa die Gabel beiseite und sah Inka an, ohne das Gesicht zu verziehen. „Ich lege Wert auf Gradlinigkeit und Ehrlichkeit. Beides kann ich bei euch nicht erkennen.“

„Wir sind ehrlich“, bestätigte Inka. „Ich hab dem Plan von Flora und Sebastian vor drei Monaten mit Vorbehalt zugestimmt. Außerdem kann kaum Polizeischutz für diese schwachsinnige Aktion gewährt werden. Nur Mark und Fritz sind eingeweiht. Sebastians ehemalige Hamburger Kollegen sowie Amselfeld, Rommel, Faller und alle Hanstedter Kollegen bleiben vorerst außen vor.“

„Hast du nach unserem Telefonat mit Sebastian gesprochen?“, wollte Teresa wissen.

„Nein.“

„Hat er dich angerufen?“

„Ich hab ihn weggedrückt.“

„Du musst ihn anrufen.“

„Ja. Später, wenn ich zu Hause bin.“

„Das ist zu spät.“

„Zu spät wofür?“

Teresa nippte an ihrem Wein, dann läutete es an der Haustür. Flora stand auf und eilte zur Tür. Sebastian stand mit einer Reisetasche in der Hand vor der Haustür.

„Zu spät für einen Anruf“, sagte Teresa und nickte zu Sebastian.

„Das ist …“, stotterte Inka, den Blick starr auf Sebastian gerichtet.

„Den Besuch hat mir meine Zukünftige auch erst vor einer Stunde mitgeteilt. Ich hoffe, deine Schwester hat auf dem Hof noch ein Zimmer für mich frei.“

Ohne Teresa zu antworten, stand Inka auf und ging Sebastian entgegen. „Was machst du hier?“, herrschte sie ihn an.

„Ich helfe Sebastian“, kam Flora Sebastian mit einer Antwort zuvor. „Unser Plan beginnt heute.“

„Wie? Und das alles hinter Terrys und meinem Rücken. Habt ihr einen Knall?“

„Hör zu, Inka. Auch wenn ich mich der Holzarbeit verschrieben habe, so bin ich noch immer Ärztin, die Menschen in Notlagen …“, begann Flora, als sie von Teresa barsch unterbrochen wurde.

„Das bin ich auch, verdammt! Was aber nicht heißt, dass du dich unsinnigerweise in Gefahr begeben musst. Wir wollen Ende des Jahres heiraten und Kinder adoptieren. Hast du das vergessen? Was ist, wenn, wie Inka anmerkte, die Behörden, solltet ihr den Kreuzer fassen, von deinem Plan Wind bekommen? Kinder können wir dann vergessen.“ Die Angst, die Teresa um ihre Lebensgefährtin hatte, war für jeden in diesem Raum greifbar.

„Es geht um Sebastians Seelenheil. Ich muss ihm helfen. Bitte versteh mich doch. Außerdem kann dann auch Inka endlich glücklich werden.“

Abwehrend hob Inka die Hände, setzte sich neben Teresa an den Esstisch zurück und griff nach dem Weinglas. „Lass mich aus dem Spiel“, sagte sie angesäuert. Sie leerte das Glas. „Hinterhältige und unehrliche Männer können mir gestohlen bleiben.“

„Ich wusste, dass du nicht einverstanden bist, Inka“, sagte Sebastian, während er sich ihr gegenüber auf einen der gemütlichen Essstühle setzte. „Das war der Grund, warum ich am Sonntag, als ich abgefahren bin, nicht gesagt habe, dass ich mit Flora sprechen will. Du hättest es nicht verstanden.“ Er griff über den Tisch nach Inkas Händen.

„Das hätte ich nicht und verstehe ich nicht. Du kommst und gehst, wie es dir passt, und nimmst dir, was du brauchst. Ohne Rücksicht auf die Menschen in deiner Nähe.“ Inka spürte, wie ihre Wangen zu brennen begannen und die Geister der Vergangenheit nach ihr griffen. Sie entzog Sebastian ihre Hände und zwang sich zur Ruhe. „Bis zu deinem Verdacht, der Kreuzer käme aus deinem Umfeld, hab ich mitgemacht und dich unterstützt. Aber jetzt gehst du zu weit. Flora ist kein Lockvogel für eine Jagd auf deine Dämonen. Ich verstehe deine Gründe, deine Qual, deine Frau und Tochter verloren zu haben, aber dass du Floras Leben aufs Spiel setzt – nein. Bleib in Hamburg, lass dich wieder einstellen und arbeite mit deinen Kollegen an dem Fall, meinetwegen so viele Jahre, wie du willst, aber lass uns hier und auch mich in der Heide in Ruhe.“ Inka wollte gerade zu einem neuen Wortschwall ansetzen, da klingelte es erneut an der Haustür. Mark Freese und Fritz Lichtmann traten in die Diele. „Ihr auch noch?“, sprudelte Inka hervor.

„Wie, ihr auch noch?“, fragte Mark. „Wusstest du nicht, dass wir kommen?“

„Woher?“ Inka warf Flora einen bissigen Blick zu.

„Sie sind unschuldig, Süße. Mein Schatz hat sie auch erst vorhin angerufen“, erklärte Terry, während sie ihr Weinglas erneut füllte und sogleich in einem Zug leerte.

„Was wollt ihr hier, etwa gleich einziehen?“, fragte Inka, während sie Teresa einen besorgten Blick zuwarf. Ihre Freundin trank normalerweise kaum Alkohol. Schon als sie früher zusammen um die Häuser zogen, hielt Teresa sich an Apfelschorle.

„Wir sind hier, weil Flora, Teresa und du mit uns sprechen wolltet. Worum geht es überhaupt?“

„Du … ihr wisst nicht, worum es geht?“

„Nein“, sagte Mark und rutschte mit Fritz auf das lindgrün-weiß gestreifte Küchensofa mit gleichfarbigen kuscheligen Kissen.

„Es geht um den Plan mit dem Kreuzer.“

„Ihr wollt diesen gefährlichen Feldzug durchziehen?“, fragte Fritz. „Habt ihr euch das gründlich überlegt? Du bist damit einverstanden, Inka?“

„Wie kommt ihr nur alle darauf, dass ich dem zustimme? Nein! Natürlich nicht!“, entgegnete Inka entrüstet.

„Inka wusste von nichts“, entschuldigte Sebastian. „Aber ich kann so nicht weiterleben. Er hat es nicht nur auf Frauen in anderen Städten abgesehen. Er hat sein Muster verlassen und gewinnt mit jeder neuen Tat an Sicherheit. Er übt sich in Selbstjustiz und glaubt, er wäre ein moralischer Vollstrecker. Seine Mission hat sich verfestigt und ist zu etwas Persönlichem gegen mich und die Menschen in meiner Umgebung geworden. Ich kann das nicht zulassen. Dregelberg, mein ehemaliger Chef, hat alle meine zusammengetragenen Beweise mit Strafandrohung vom Tisch gewischt. Ich arbeite nicht mehr im Hamburger Team und soll die Suche nach dem Kreuzer den Kollegen überlassen. Aber ich lass mich nicht einschüchtern. Ich will den Mörder, der meine Familie getötet hat, finden, ihm ins Gesicht sehen. Darum werden Flora und ich ab sofort Tag und Nacht zusammen sein. Wir zeigen uns in der Öffentlichkeit und auf der Hamburger Wache. Alle, die uns sehen und kennen, werden denken, dass ich Majas und Katharinas Verlust überwunden und eine neue Liebe gefunden habe. Floras ebensolcher gebräunter Teint wird sie überzeugen. Vielleicht schreibt Bea einen Artikel über mich, um den Kreuzer zusätzlich aufzuscheuchen. Was meinst du, Mark, würde das deine Frau tun?“

„Bea ist in Elternzeit, aber ihre Vertretung, Helma Flöter, ist sicher zu einem Artikel bereit“, bestätigte Mark.

„Ich kann es nicht glauben“, sagte Inka. Mühsam hielt sie ihre Tränen zurück. „Du sprichst von den Menschen in deiner Umgebung, Sebastian. Aber du vergisst, dass du mit deiner Hinterhältigkeit und Unehrlichkeit schon jetzt viele Menschen in deiner Umgebung verloren hast, die dachten, dass sie dir etwas bedeuten.“

Teresa Hansens Stimme zitterte, als sie sagte: „Das, was ihr vorhabt, ist kein harmloses Heidespiel, Flora.“ Bittend und hoffend, dass Flora ihre Meinung änderte, sah Teresa ihre Lebenspartnerin an.

„Nein. Es ist eine tödliche Heidefalle“, erwiderte Inka.

Kapitel 1

Vor einer halben Stunde war er in St. Peter-Ording an der Nordsee angekommen. Nach dem Mittagessen und dem Spaziergang am Strand würde er eine Reetdachkate am Tümlauer Koog mieten. Vergessen war sie. Vergessen in den kommenden Wochen seines Resturlaubs. Morgen würde er nach Büsum fahren und in den nächsten Tagen in Friedrichskoog die Auffangstation der Heuler besuchen, die ihn als Kind fasziniert hatte. Vielleicht würde er seine Mutter in Husum besuchen, bevor er weiterfuhr nach Köln, Darmstadt, Clausthal-Zellerfeld, Braunschweig und zurück nach Hamburg.

Im Hafenrestaurant setzte er sich am Fenster an einen Zweiertisch und genoss die Aussicht. Beim smarten Kellner – du bist schwul, dachte er, so bewegen sich und reden nur Schwule – bestellte er Eismeerlachs mit Weizentortilla auf Rahmspitzkohl. Zum Nachtisch Brüsseler Waffeln, friesisch üblich, mit Pflaumenmus und Schmand. Er sah dem Kellner nach, der in schwarzer Hose, die straff bei jedem Schritt seine Hinterteilmuskeln akzentuierte, weißem Hemd und schwarzer Fliege, mit wiegendem Schritt in der Küche verschwand. Beim Betrachten der Sport- und Segelboote, des feinen Sandstrands und des in der Mittagssonne silbern glänzenden Meeres überkam ihm plötzlich diese diffuse Angst und Hilflosigkeit. Er sah sie alle wieder. Alle Charus, denen er begegnet war und denen er das Leben genommen hatte, nehmen musste. Immer dann, wenn er auf Dienstreise war oder zu Wochenend­trips mit der Familie aufbrach. Er spürte die Verachtung seiner Eltern körperlich so nah, spürte, wie sein Körper zu schmerzen begann, seine Muskeln verkrampften, er zitterte, Übelkeit seinen Magen drehte. Wie sie ihn für seine Unfähigkeit hassten, weil er Charu, seine Halbschwester, nicht aus dem Dreetzsee herausgezogen, nichts getan hatte, um ihr Leben zu retten. Er hatte sie in den See geschubst, damit sie eine Erkältung bekam, sie endlich nach Hause fuhren und er der Enge des Wohnwagens entkam. Woher sollte er wissen, dass sie nicht schwimmen konnte? Natürlich entschuldigte seine Tatenlosigkeit, sein Zusehen, wie sie ertrank, nicht das Resultat eines Mordes. Aber sie machte es für ihn leichter, nachvollziehbarer, darauf kam es ihm an. Er hatte nicht gemordet, weil er wahnsinnig war, sondern diese Tat, wie die zuvor und alle, die in den Jahren folgten, hatte nur zu dem geführt, dass er sich von einer Last befreite, die seinen Brustkorb einschnürte und ihn am Atmen hinderte. Doch immer wieder tauchte sie auf, überall. Reiß dich zusammen.

Der Eismeerlachs war butterzart und glasig, der Spitzkohl wunderbar rahmig und die Maispolenta cremig. Die Restauranttür schwang auf und wehte ein Pärchen und den Geruch des Meeres in den Innenraum. Sie müssen Mitte zwanzig sein, dachte er, den letzten Waffelrest in den Mund steckend. Die Frau erinnerte ihn an seine Frau in jungen Jahren, blond, schlank, ein Engelsgesicht. Vergangenheit. Ihre Ehe war nur noch Makulatur, ein Aufrechterhalten, was nicht mehr da war, und Rissestopfen, was längst zusammengefallen war. Vielleicht sollten sie die Scheidung einreichen, sobald sie mit den Kindern aus ihrem Urlaub zurückkam. Ein getrennter Urlaub. Eine Auszeit für sie beide. Ein letzter Versuch. Er trank den Cognac aus. Das Pärchen setzte sich an den Nebentisch, grüßte ihn. Er nickte lächelnd zurück und winkte dem Kellner. Mit einem großzügigen Trinkgeld bezahlte er die Rechnung und stand auf. Vom Kleiderständer zog er die Steppjacke, legte den blau-rot karierten Cashmereschal um den Hals, ein Geschenk seiner Frau zum fünfundvierzigsten Geburtstag, zog die schwarzen Lederhandschuhe an und trat aus dem Restaurant.

Ein schneidiger Wind pfiff ihm ins Gesicht. Die Luft war gefüllt mit dem Salz des Meeres, und die Mittagssonne schob sich durch die Wolken, als er den Holzsteg zum Wasser hinunter betrat. Der Wind spielte mit seinen Haaren, das von vielen Silbersträhnen durchzogen so voll war, dass ihn gleichaltrige Männer beneideten. Inzwischen ging es ihm bis zu den Schultern. Die Mühsal des Färbens in die ursprüngliche dunkelblonde Naturfarbe hatte er aufgegeben. Nach hundert Metern, die sich die Salzluft ausgehungert in seine Lungen gesaugt hatte, sah er sie. Wie konnte das sein? Verdammt, er hatte seinen Resturlaub genommen und war hier, um sich von seinem stressigen Bürojob zu erholen und alle Urlaubsorte anzusehen, die er mit seinen Eltern als Kind besucht hatte, aber nicht, damit ihm ein neues Opfer präsentiert wurde. Er atmete tief ein. Ein Schweißschleier überzog seine Stirn. Die Gelegenheit war zu gut, um sie ungenutzt verstreichen zu lassen, wenn es das Schicksal für ihn so einfach machte. Ihm sie auf einem Silbertablett überreichte. Sie saß inmitten einer Düne und hielt ein Buch in den Händen. Er blieb stehen. Sein Atem schnellte in kurzen ruckartigen Zügen aus seinen Lungen, und seine Füße trieben ihn die Düne hinauf. „Schuld und Sühne. Der erste große 1866 erschienene Roman von Fjodor Dostojewski. Ein Weltklassiker“, sagte er. Zwei Meter vor der jungen Frau blieb er stehen, die das Buch in den Schoß sinken ließ und ihn wortlos anlächelte. „Was halten Sie von der Schuld des Jurastudenten als Doppelmörder?“, fragte er, obwohl seine Frage reine Zeitverschwendung war. Er spürte, wie ihn ihre Anwesenheit aufwühlte, er kaum die Hände in den Jackentaschen behalten konnte.

„Nun, ich denke, dass der Student Rodion Romanowitsch Raskolnikow, bitterarm und abgespalten von der Gesellschaft, mit eigenen inneren psychischen Widerständen kämpfte. Er war ein Mensch, dem sein Gewissen nach der Tat zusetzte, was seine Flucht in den fiebrigen Dämmerzustand rechtfertigte, wie seine spätere Sühne, sich der Polizei zu stellen. Aber das war ja nicht Ihre Frage, Herr …?“

„Sie sind Psychologin, Frau …?“, stellte er die Gegenfrage.

„Sapna Asjadi-Sturm, angenehm. Nein, ich lese nur gern Weltliteratur.“ Sie lächelte und hielt das Buch in die Höhe.

„Machen Sie Urlaub in St. Peter-Ording, Frau Asjadi-­Sturm?“ Nur mit Überwindung kam ihm der Name der Frau über die Lippen.

„Nein. Ich wohne ein paar Minuten entfernt in St. Peter-­Ording. Mein Mann …“ Sapna stockte. „Sind Sie im Urlaub an der Küste?“

„Ja. Das hatte ich eingangs vor, aber soeben habe ich entschieden, dass ich mich auf einer betrieblichen Durchreise befinde.“ Mit selbstzufriedenem Grinsen, die Hände in den Taschen der Winterjacke vergraben, trat er an die Frau heran.

Ein merkwürdiger Mann, dachte Sapna. Aber es gab so Typen. Als Kindergärtnerin begegneten ihr oft Väter. Männer in Jeanshosen mit Manieren und Männer in Anzügen ohne Manieren. Männer, die sie aufgrund ihrer oliv­farbenen Haut, der dunklen Haare und Augen respektlos anglotzten oder Komplimente machten, ansprachen und mit ihr Verabredungen treffen wollten, obwohl zu Hause die Frau wartete. Vielleicht war er so ein Anmachtyp. Obwohl er nicht so aussah. Er war freundlich und schien gebildet, was seine Haltung und die Artikulation seiner Worte verriet. Dennoch überfiel sie ein mulmiges Gefühl. Unwillkürlich legte sie ihre Hände auf ihren Bauch, als müsse sie ihr Ungeborenes schützen. Vier Jahre hatten ihr Mann Magnus und sie versucht, ein Baby zu bekommen. In sechs Monaten war es endlich so weit, dann würde sie ihr erstes Kind zur Welt bringen. Ihre Frauenärztin hatte ihr eingeschärft, sie möge unter allen Umständen Stress vermeiden. Das war leichter gesagt als einzuhalten und in diesem Augenblick einfach unmöglich. Zitternd griffen ihre Hände zu ihrer Handtasche, die neben ihr im Dünensand lag. Sie steckte das Buch ein und schaute zu dem Mann hoch. Ein finsteres Lächeln begegnete ihrem Blick, und seine blauen Augen schienen sie zu durchbohren. Irgendetwas stimmte nicht. „Ich mache mich auf den Weg, es sieht aus, als würde es bald regnen“, sagte sie, den Blick in den Himmel hebend.

Noch bevor sie aufstehen konnte, zog der Mann seine Hände aus den Taschen und klammerte sie fest um ihren Hals. Verzweifelt versuchte sie ihn abzuwehren, die Hände abzuschütteln und die Flucht zu ergreifen, aber es war zu spät. Das Letzte, was sie hörte, war ein Singsang. I am sailing, I am sailing home again, cross the sea. I am sailing stormy waters …

Kapitel 2

Sebastian blickte von der Promenade hinüber zu St. Peter-­Ordings sanften Dünen, die so friedlich wirkten und nichts davon ahnten, dass zehn Meter entfernt eine Frau tags zuvor um ihr Leben gekämpft hatte. Die salzhaltige Meeresbrise brannte in seinen Augen. Er war müde. Die letzte Nacht, wie die vergangenen Nächte der sechs Jahre, war mit vier Stunden Schlaf zu kurz gewesen. Als er heute Morgen um acht Uhr die Tür des Verbindungszimmers des Hotels einen Spaltbreit öffnete und ins Nachbarzimmer sah, schlief Flora. Er hatte ihr Frühstück aufs Zimmer bringen lassen und einen Zettel auf das Tablett gelegt, wohin er gegangen war. Zwei Wochen waren inzwischen vergangen, in denen Flora ihn begleitet hatte. Ein Plan, dem Inka keineswegs zustimmte. Er vermisste sie und ihre fünfjährige Tochter Paula. Er hatte sie enttäuscht und … nein, er hatte sie belogen und ihr Vertrauen missbraucht. Er war nach einer gemeinsamen Nacht nicht, wie er gesagt hatte, aus Undeloh nach Hamburg zu seinen Eltern gefahren, sondern nach Egestorf, um mit Teresa und Flora den Plan zu besprechen, den Kreuzer mit Flora als Lockvogel in eine Falle zu locken. Sebastians Nacken schmerzte. Da war es wieder, dieses Stechen. Tausende Nadeln stachen in seine Haut, bissen zu wie hungrige Raubtiere. Vor sechs Jahren, nach dem Tod seiner Frau und Tochter, begann es, immer dann, wenn sein Jagdfieber erwachte.

„Herr Schäfer? Sie sind Herr Schäfer, oder?“ Kommissarin Sahra Sturm holte Sebastian aus den Gedanken.

„Ja, wer will das wissen?“, fragte Sebastian.

„Sahra Sturm, Hauptkommissarin aus St. Peter-Ording.“

„Observieren Sie mich, Frau Sturm?“

„Nein. Unser Zusammentreffen ist zufällig.“

„Bei der Polizei gibt es keine Zufälle.“

„Richtig, doch in diesem Fall … Es ist einfach so, dass ich gerne noch einmal alleine an den Ort des Verbrechens gehe und die Tat Revue passieren lasse“, erklärte sie knapp.

„Das kenne ich, eine Kollegin …“ Sebastian zögerte. Inka, ich vermisse dich.

„Ich habe Sie in St. Peter-Ording erwartet, Herr Schäfer.“

„Sie haben mich erwartet?“

Sahra Sturm nickte. „Gibt es einen Kreuzer-Fall, auch nur vermutet, werden alle Informationen an jede Polizeistelle in Deutschland weitergeleitet. Vor zwei Stunden erhielt ich einen Anruf Ihres ehemaligen Hamburger Chefs Norbert Dregelberg.“

„Was wollte er?“

„Mir sagen, dass Sie nicht befugt sind, Alleingänge zu unternehmen, da Sie nicht mehr an dem Fall arbeiten. Sollten Sie in St. Peter-Ording auftauchen, erwarte er eine sofortige Meldung.“

„Wie lange arbeiten Sie für die Polizei, Frau Sturm?“, fragte Sebastian. Er sah der Kollegin in die meerblauen Augen.

„Sie seit zwei Jahren nicht mehr, Herr Schäfer“, sagte Sahra, ohne Sebastian zu antworten. „Woher haben Sie also Ihre Informationen, dass in St. Peter-Ording eine tamilische Frau ermordet wurde?“

Sebastian lächelte. „Ich habe meine Quellen. Und Sie haben recht, seit zwei Jahren arbeite ich nicht mehr für die Hamburger Polizei. Seitdem ich mich freiwillig in eine psychosomatische Klinik nach Undeloh in die Lüneburger Heide habe einweisen lassen, weil mich die Suche nach dem Mörder, der meine Frau und meine Tochter mit unserem Haus in die Luft gesprengt hat, nicht zur Ruhe kommen lässt. Ich sehe Spinnen, Käfer, Menschen, die nicht da sind, trinke und rauche zu viel, und meine Gedanken an Rache und die Jagd nach dem Kreuzer lassen mich selten nachts durchschlafen.“

Sahra Sturm schluckte. Ihre Wangen röteten sich. „Oh, das …, das tut mir leid, es stand nicht in der Akte.“

„Natürlich nicht. Ich habe es entfernen lassen, aus Gründen, die nur für mich relevant sind.“

„Bitte entschuldigen Sie, Herr Schäfer. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“ Für einen Augenblick blieb Sahra stumm. Sie blickte auf das Meer hinaus und beobachtete die sanften Wellen, die in ruhiger Gleichmäßigkeit an den Strand rollten, dann sagte sie: „Ich gebe keine Meldung über unser Treffen heraus. Uns verbinden Gemeinsamkeiten.“ Über Sahras Gesicht liefen Tränen. „Der Mord, der hier geschehen ist, ist für mich der abscheulichste überhaupt, und ich will, dass dieser Scheißkerl, für den jedes Schimpfwort zu harmlos ist, geschnappt wird.“

„Frau Sturm, sind Sie sicher, dass der Polizeiberuf für Sie geeignet ist?“ Sebastian blickte Sahra ins tränennasse Gesicht.

„Ja. Das weiß ich.“ Sie schluckte und wischte mit dem Jackenärmel die Tränen von den Wangen. „Sapna war meine Schwägerin.“

„Die Gemeinsamkeiten, verstehe. Dann sind Sie befangen.“

„Gleiches predigt mein Chef, der mit einer Erkältung die halbe Wache angesteckt und lahmgelegt hat. Ich bin mit zwei Kollegen der Streife die Einzige, die an dem Fall arbeiten kann, zumindest, bis Verstärkung aus Tönning eintrudelt. Die allerdings sind ebenso krankheitsbedingt unterbesetzt.“

„Woher wissen Sie, dass der Kreuzer die Tat begangen hat? Gibt es Hinweise, die ihn als Täter bestimmen?“, fragte Sebastian.

„Nein. Außer, dass Sapna tamilische Wurzeln hat, haben wir nichts. Die Schuhabdrücke und Faserspuren der Handschuhe, die der Täter getragen hat, selbst der Zettel in Sapnas Hand, könnten auch von einem anderen Täter stammen.“

„Hm“, bemerkte Sebastian. Er blickte über den breiten Sandstrand, der in der Morgensonne wie ein weißes Tuch vor ihm lag. „Ich bleibe ein paar Tage, wir werden sehen, ob sich Ihr Anfangsverdacht bestätigt, Frau Sturm.“

„Ich bin für jede Hilfe dankbar.“ Über Sahras Gesicht legte sich ein zaghaftes Lächeln. Sie griff in ihrer Handtasche nach vier Kopien. „Das sind Auszüge der Tatortfotos. Sapna lag mit dem Rücken im Sand. Die Schändung an ihrem Körper geht auf das Konto der Lachmöwen.“ Sie nickte zum Rumpf eines umgedrehten Holzbootes, auf dem drei braungraue Möwen saßen, die ihre gewaltigen Flügel auf- und niederschlugen und ein bedrohliches Geschrei veranstalteten. „In einer Hand hielt sie diesen zusammengerollten Zettel, auf dem Schuld und Sühne stand.“ Sahra reichte Sebastian eine Fotokopie.

„Schuld und Sühne, Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Ein Weltklassiker“, sagte Sebastian nachdenklich, während er den Zettel betrachtete. Eine Spielart des Kreuzers, wenn er es war, die er noch nicht kannte.

„Wir haben das Buch Schuld und Sühne in Sapnas Handtasche gefunden. Ich hörte von Fällen, bei denen der Täter eine Nachricht hinterlässt. Aber was uns der Kreuzer mit dem Zettel sagen wollte …?“ Sahra zuckte die Schultern.

„Kennen Sie den Roman, Frau Sturm?“

„Es ist etwas her, dass ich ihn gelesen habe. Er handelt von einem psychisch erkrankten und bettelarmen Jurastudenten in St. Petersburg. Er wird von seiner Mutter finanziell unterstützt, ist aber zu angstbesessen, um sich seinem Studium zu widmen. Ungerechtigkeiten steht er feindlich gegenüber. Als eine Pfandleiherin die Ärmsten der Armen betrügt, erschlägt er sie und ihre zufällig eintreffende Schwester mit einem Beil. Der Jurastudent Raskolnikow hat ebenfalls eine Schwester, die einen reichen Mann heiraten soll. Es kommt zu Verwicklungen und Intrigen. Als ein ihm zugetaner Freund ihm einen Kommissar vorstellt, gerät er in den Fokus der Tat. Er gesteht die Morde, wird verurteilt und nach Sibirien ins Gefängnis gesteckt.“

„Ein paar geringe Änderungen, aber dann ist die Kurzfassung korrekt.“ Sebastian nickte schmunzelnd.

„Aber was will uns der Täter damit sagen?“, wiederholte sie ihre Frage.

„Schuld und Sühne – Verbrechen und Strafe“, sagte Sebastian.

„Sie meinen, der Kreuzer ist wie Raskolnikow psychisch labil und wird sich irgendwann stellen?“

„Das ist eine berechtigte Frage, Frau Kollegin. Täter gestehen ihre Tat aus unterschiedlichsten Gründen. Meist können sie es nicht ertragen, die Schuld im Geheimen mit sich herumzutragen. Es belastet ihre Seele mehr als der Ursprung, der zu der Tat geführt hat. Sie gestehen unter Alkohol- oder Drogeneinfluss. Sie schildern einem Freund einen Teil, oder sie spielen mit der Polizei, hinterlassen Anrufe oder Nachrichten, legen Spuren, die ins Leere führen. Sie wollen zeigen, wie genial sie sind. Der Kreuzer weiß, dass wir seine Entwicklung verfolgen. Vielleicht will er gefunden werden und traut sich deswegen immer weiter vor, schickt uns Nachrichten, wie den Zettel in der Hand des Opfers. Auch kann der Zettel eine einmalige Nachricht bleiben. Wir brauchen mehr Fakten, die uns weiter als bisher in seine Vergangenheit führen, erst dann begreifen wir, was ihn antreibt. Hast du auf der Wache … Oh, Entschuldigung, ich duze dich ganz ungefragt.“

„Das ist in Ordnung. So steif, wie man es uns Nordlichtern nachsagt, sind wir nicht. Ich heiße Sahra. Umarmungen und Küsschen fallen allerdings aus, falls ich mich von den Kollegen mit einer Erkältung angesteckt habe. Aber wenn du heute Abend nichts vorhast, lade ich dich auf ein Abendessen und zu einem Glas Wein in die Strandbar 54 ein. So als Willkommensgruß in St. Peter-Ording.“

„Umarmung und Küsschen werden überbewertet. Wer will freiwillig den Körpergeruch oder das letzte Mittagessen des Gesprächspartners erschnüffeln“, sagte Sebastian, „und wer weiß, ob dir mein Rasierwasser gefällt. Aber solange ich meine Verlobte Flora mitbringen kann, folge ich dir im Ort überallhin.“

„Du bist verlobt? Natürlich, es ist ja sechs Jahre her, als … Entschuldigung, ich wollte nicht indiskret sein. Das geht mich nichts an. Nicht, dass du mich falsch verstehst.“

„Ich verbuche deine Frage als amtliche Neugier. Aber ist es ein Problem, wenn Flora mich begleitet? Sie ist mit dem Fall vertraut und absolut verschwiegen“, fragte Sebastian.

„Natürlich nicht. Aber lässt du mich am Profil des Kreuzers mitarbeiten?“, fragte Sahra.

„Willst du Fallanalytikerin werden?“

„Ich hab darüber nachgedacht. Ich will in den Kopf eines Mörders sehen und in seine Gedanken eintauchen. Was geht in ihm vor? Wie fühlt er sich in dem Moment, wenn er einen Mord plant? Warum mordet er, und was hat ihn dazu veranlasst? Und wie kann ich ihm zuvorkommen und ihn stellen, bevor er eine Tat begeht?“

„Profiling ist ein Prozess, Sahra. Es geht um Puzzleteile, die nicht zusammenpassen, sie zu ordnen und so lange zu drehen, bis der Anschluss gefunden ist. Je weiter wir in seinem Leben zurückgehen, desto mehr sind wir ihm voraus. Seine Tat ist öffentlicher als viele andere. Unser Mörder will, dass wir ihn sehen. Dass ich ihn sehe.“

„Wobei wir ihn nicht sehen“, betonte Sahra.

„Richtig. Doch je mehr Fitzelchen wir an Wissen zusammentragen, desto mehr kommt am Ende ein fundiertes Konzept heraus, mit dem wir weiterarbeiten können. Die Suche hat etwas von einem Kreuzworträtsel. Eine Angabe liefert einen Hinweis auf die nächste Angabe, bis ein Gesamtbild entsteht. Nur am Ende kommt kein Lösungswort heraus und der Gewinn einer Waschmaschine oder Weltreise, sondern der Mörder, der geschnappt wird. Es ist eine Frage von Fakten und Indizien, die aus jeglichen Blickwinkeln auszuwerten sind. Was hat die Rechtsmedizin bisher herausgefunden?“

„Sapna wurde erwürgt.“

„Sie war nicht in ein weißes Laken eingewickelt, und der toxikologische Befund weist kein Gift aus, das ihr injiziert wurde?“

„Nichts, Sebastian.“

„Hm“, Sebastian krauste die Stirn.

„Was ist?“

„Wenn der Kreuzer die Tat begangen hat, dann hat er seine Vorgehensweise geändert. Was aber für Täter allgemein nicht ungewöhnlich ist.“

„Er hat Handschuhe getragen. Unsere Rechtsmedizinerin Klara Petermann fand Faserspuren von schwarzen Lederhandschuhen auf Sapnas Hals. Sie sagt, der Täter war ein Mann, das bestätigen die kräftigen Hämatome, die die Fingerabdrücke hinterlassen haben, und die Handspannweite von neunzehn Zentimetern. Wobei die Spannweite auf die Hälfte der erwachsenen männlichen Bevölkerung zutrifft, die sie hätte erwürgen können. Dann fanden wir im Sand Schuhabdrücke. Identifiziert sind die der Teenies, die Sapna gefunden haben, und Sapnas Schuhabdrücke. Die Abdrücke in Größe vierundvierzig, die vom Wasser bis zur Düne und zu Sapna führen, enden erst auf der Promenade. Sie stammen vom Täter. Er hat sich über sie gebeugt, als er sie gewürgt hat. Dadurch sind die Abdrücke rechts und links in Höhe ihrer Hüfte tiefer und schräger im Sand eingegraben als die, die zu ihr führen und auf eine kräftige Täterstatur hinweisen.“

Sebastian nickte. „Zumindest sieht es hier auf den Fotos so aus. Was hat Sapna am Strand gemacht?“

„Sie verbrachte ihre Mittagspause immer am Strand. Sie liebte es, draußen zu sein. Gestern war das Wetter besonders schön. Die Sonne schien, und ein lauer Wind wehte vom Meer über das Land.“

„Wie lange war sie tot, als sie gefunden wurde?“

„Vier oder fünf Stunden. Hinter den Dünen, im Haus Sonnenschein, hat sie als Erzieherin im Kindergarten gearbeitet. In den Dünen war ihr Lieblingsplatz.“ Sahras Augen füllten sich erneut mit Tränen. „Sie war so ein lieber Mensch, Sebastian. Sie war schwanger. Magnus, mein Bruder und sie …“, Sahra schluckte, „vier Jahre haben sie versucht, ein Baby zu bekommen.“

„Sie hätte ein Kind bekommen?“

„Ja. In sechs Monaten. Ein Junge.“ Sahra schluchzte auf.

„Das tut mir leid“, sagte Sebastian. Ein unbändiger Hass stieg in ihm auf. Seine Hände verkrampften sich zu Fäusten, und sein Atem rollte schwer aus seinem Brustkorb.

„Könnte es ein Trittbrettfahrer gewesen sein?“, fragte Sahra, nachdem sie sich ein wenig gefangen hatte. „Ich meine, der Kreuzer hat seine Opfer in Laken gewickelt, ihnen Gift gespritzt und die Haare abrasiert?“ Mit tränenden Augen sah sie zu Sebastian auf.

„Ja, das Einwickeln, das Gift, ein überdosiertes Betäubungsmittel, das Abrasieren der Haare, das alles waren psychologische Hinweise, die auf sein Verhalten hindeuteten. Wir überlegten, dass das Einwickeln der Leichen rituell oder ein Zeichen von Reue sein konnte. Inzwischen ist sicher, dass dies für ihn kein Mordimpuls war, sondern ihn lediglich neue Fantasien beflügelten. Rasieren Täter ihren Opfern die Haare ab, kann es bedeuten, dass sie sie als Trophäe mitnehmen. Haare sind der Ausdruck von Schmuck eines Menschen, auch Sexsymbol. Der Trichophilie, so heißt dieser Fetisch, geht die Lust am Haar voraus. Die Menschen oder die Täter sind derart auf Kopfhaare oder auf sämtliche Körperhaare fixiert, dass sie für sie zu einem erotischen Signal werden. Beim Kreuzer war das nie der Fall. Die Haare lagen verstreut neben dem Opfer. Er hat sich nicht die Mühe gemacht, sie zu entsorgen oder mitzunehmen. Das Haareabrasieren bedeutete für ihn, sein Opfer als Frau zu entstellen. Haare besitzen für ihn keine erotische Anlage. Was uns zeigt, dass ihm die Abfolge seiner Tat gleichgültig geworden ist, er seine Routine unterbrochen hat.“

„Aber glaubst du, Sebastian, dass ihn der Akt des Erwürgens anturnt?“

„Nein. Nicht in sexueller Hinsicht. Es gab keinen einzigen Missbrauchsfall. Anturnen wird ihn die Befriedigung der Machtausübung, der Überlegenheit und des Vernichtens nach der Tat. Frauen aus indischen oder persischen Ländern sind für ihn Müll. Und zu deiner Frage, ob ein Trittbrettfahrer den Mord begangen hat und den Ruhm des Kreuzers einheimsen will – nein, das denke ich nicht. Er wird mutiger und fühlt sich von Opfer zu Opfer sicherer. Es ist ihm egal, ob er die Frauen versteckt. Wie gesagt – sie sind für ihn Müll, den er achtlos liegen lässt.“

„Warum tötet er immer den gleichen Frauentyp?“

„Weil es ist, als töte er immer nur eine Person. Seine Mutter, die Oma oder auch die Schwester, die Nachbarin, eine Freundin, die ihn verlassen oder verspottet hat, von der er benachteiligt oder nicht wahrgenommen wurde. Er folgt in seiner Fehlwahrnehmung und der psychosozialen Störung seiner eigenen Mission. Für ihn sind die Frauen Feinde, die er töten muss. Eine Allmachtsfantasie, ein Impuls, den er nicht aufhalten kann. Ihm fehlt der feste Boden, und er schiebt die Schuld, den Grund seines Tötens auf andere. Natürlich haben wir überlegt, ob er selbst tamilischer Herkunft ist und als moralischer Vollstrecker seines Landes mordet, er aus einer Zwangsvorstellung heraus Selbstjustiz üben muss. In Indien und Persien besitzen Frauen kaum gesellschaftlichen Status. Oft sind Frauen für die Männer Freiwild. Das geht von häuslicher Gewalt bis zu brutalen Misshandlungen auf offener Straße. Vom Staat werden sie kaum ernst genommen. In unserem Fall, seinem Profil, ist vieles offen und dehnbar. Und was uns unlogisch erscheint, ergibt für ihn einen Sinn. Wir müssen uns weiter in ihn hineinversetzen, dann wird er uns verraten, was in seinem Kopf vorgeht.“

„Entschuldige meinen Einwand, Sebastian, aber seit sechs Jahren wird der Kreuzer deutschlandweit gesucht, und noch immer gibt es kein greifbares Profil.“

„Das siehst du falsch, Sahra. Als Ermittler braucht man einen langen Atem, aber wir haben nie aufgegeben. Über viertausend Personen aus dem nahen Umfeld der Opfer sind überprüft. Seine Zeit- und Reiselinie wurde bis zum ersten Opfer zurückverfolgt und jede kleinste Spur untersucht. Im Sommer letzten Jahres fanden wir unter den Fingernägeln eines Opfers männliche DNA-Spuren. Leider führten sie zu keinem Bekannten aus der Datei oder nachweislich zu einer der überprüften Personen. Und das Profil ist nur in dem Sinne noch offen, weil sich immer neue Teile hinzufügen. Es erweitert sich. Es ergeben sich neue Blickwinkel. Wir wissen, dass der Täter ein Trauma in der Kindheit erlebt hat. Eine Verlustneurose – eine soziale Isolierung, die in seiner Kindheit aufgetreten ist. Diese äußert sich in psychosozialen Schüben.“

„Okay, das verstehe ich, aber warum hat er deine Frau und deine Tochter ermordet?“

„Maja war tamilischer Herkunft. Als ich am Fall, seinem Fall, mitzuarbeiten begann, fühlte er sich von mir persönlich angegriffen und fokussierte sich mit der Zeit auf mich und die Menschen, die mir nahestanden. Er kennt die Hamburger Adresse meiner Eltern und weiß, wo ich in der Heide wohne. Er schreibt mir Briefe. Er sieht das Töten als eine Art Sucht an und ist süchtig nach dem Gefühl der Macht. Da er dieses Gefühl immer wieder erleben möchte, verkürzen sich die Abstände. Er wird dem Verlangen zu töten immer schneller nachgeben, wenn wir ihn nicht aufhalten.“ Sebastian schluckte schwer. „Er sieht in seinem Wahn immer die Frau oder das Mädchen, das ihn einmal verletzt hat oder wodurch er verletzt wurde. Und es ist gut möglich, dass er im nächsten Ort, in der nächsten Stadt, just sein nächstes Opfer ausspäht. Und wir wissen nicht, wo er auf seiner Mission seinem letzten Opfer begegnen wird und in welcher Stadt er mit seinen grausamen Taten aufhört, falls er aufhört. Bei jeder Tat gewinnt er an Sicherheit. Und mit der Sicherheit wächst sein Glaube an die Sache, dass er das Richtige tut. Außerdem besitzt er eine Waffe, die er nicht scheut zu benutzen, sobald die Frauen in Begleitung auftreten. Die Männer sind für ihn die größte Bedrohung und werden zuerst außer Gefecht gesetzt, damit er in Ruhe sein Werk vollenden kann. Er will es genießen, dass sie zusehen, wie er die Frau oder Freundin tötet. Erst dann tötet er die Begleitung. Die Presse sollte nur die Teile des Mordes erfahren, die ihn nicht in den Himmel heben, ihn nicht weiter glorifizieren, wie sie es bereits tun. Er darf so wenig Aufmerksamkeit in den Medien bekommen wie möglich.“

„Das hab ich in einem Buch über Kriminalpsychologie gelesen. Die Täter fühlen sich dann noch sicherer, bestärkter in ihrer Tat, werden noch unberechenbarer und gefährlicher, sobald sie einen Namen in der Presse bekommen.“

„Richtig.“

„Warum aber dann Kreuzer?“

„Ein übereifriger Streifenkollege setzte den Namen in die Welt und steckte ihn der Presse. Unsere Abteilung war darüber nicht glücklich, aber es war zu spät, die Medien hatten sich bereits auf seinen Titel gestürzt und verbreitet.“

„Gab es in Hamburg je einen annähernd vergleichbaren Fall?“

„Nein.“ Sebastian schüttelte den Kopf.

„Was ist der Täter für ein Mensch? Was geht in seinem Kopf vor, Sebastian?“

„Er ist kein Mensch, er ist ein Monster. Aber das erzähle ich dir heute Abend. Erzähl du mir etwas mehr über deine Schwägerin.“

Sahra nickte. „Sapna war neunundzwanzig und wunderschön. Sie war Kindergärtnerin in der Kita Haus Sonnenschein. Alle liebten sie für ihre Geduld und die Liebe, die sie den Kleinen gab. Sechs Jahre war sie mit Magnus, meinem Bruder, verheiratet. Sie lernten sich auf der Arbeit kennen. Magnus ist der Leiter des Kindergartens.“

„Ist sie in Deutschland aufgewachsen?“

„Ja. Ihre Eltern leben in Tönning. Sie kamen vor zweiunddreißig Jahren aus dem Dorf Munsiyari nach Deutschland. Ein kleines Dorf nahe des Himalajas. Es liegt zwischen den Grenzen Indiens, Nepals und Tibets. Da es für Kinder wenig Zukunftsmöglichkeiten gab, sind sie ausgewandert.“

„Hat Sapna Geschwister?“

„Drei ältere Brüder. Sie leben in Hamburg, Berlin und Magdeburg.“

„Sind sie informiert?“

„Ich war gestern bei ihren Eltern“, Sahra zögerte, „sie haben ihre Söhne angerufen. Sie kommen übermorgen. Mein Bruder hat sich eingeschlossen. Er lässt niemanden an sich heran und nimmt das Telefon nicht ab. Nachbarn sagen, dass es im Haus oft scheppert. Unmengen an Glasscherben von Schnapsflaschen liegen auf der Terrasse. Er hat noch nie getrunken, nicht in diesem Ausmaß. Sapna war alles für ihn. Ich mache mir Sorgen.“

Sebastian nickte. „Ja, ich kann nachempfinden, wie es ihm geht.“ Seine Hand griff in den Nacken. „Gebt ihm Zeit. Hast du Sapnas Umfeld aufgesucht?“

„Ja, bis gestern spät in der Nacht und heute Morgen. Kollegen, Bekannte, alle haben ein Alibi. Auch kein Schuh­abdruck passt zu dem in den Dünen.“

„Wir erweitern den Umkreis. Wir nehmen die Bekannten der Bekannten unter die Lupe.“

Sahra nickte. „Lass uns den Kerl schnappen, Sebastian. Es ist das Einzige, was ich für Sapna noch tun kann.“

Kapitel 3

Er fuhr gemächlich von St. Peter-Ording über die L305 bis nach Büsum. Eilig hatte er es nicht. Das flache Land zog vorbei, ein Postkartenhimmel wölbte sich über ihm. Im Radio berichtete der Moderator über den Mord an einer jungen Frau, der in St. Peter-Ording geschehen war. Wieder ein grausames Verbrechen, das vermutlich auf das Konto des Kreuzers ging.

„Vermutlich? Was heißt hier vermutlich? Natürlich war ich es!“ Er fluchte und schlug mit den flachen Händen aufs Lenkrad. Allerdings gefiel ihm, dass die Polizei ihm den Namen Kreuzer gegeben hatte, ihm diese Aufmerksamkeit schenkte. Er lauschte den Nachrichten, dann kündigte der Moderator Rod Stewarts Oldie-Song an. I am sailing … Wie passendfür das Meer, dachte er und sang den Song mit. Eigentlich wollte er nur die Orte besuchen, in die er mit seinen Eltern gereist war, als er noch klein war. Eine Erinnerungstour der vielen Städte und Dörfer. Doch als sie ihm in St. Peter-Ording in den Dünen begegnete, wusste er, er müsste sie überall finden. Er lenkte den Wagen auf den Büsumer Parkplatz der Familienlagune Perlebucht, nahm das Parkticket an der Schranke entgegen und stoppte neben einem Surf- und Kiteshop. Schon als er ausstieg, sah er, dass sich seit Kinderzeiten viel am Sandstrand verändert hatte. Ein großzügiger Familienbereich mit Spielgeräten, Klettergerüsten, Hängematten und Platz für den Freizeitspaß der Kleinen war entstanden. Eine Tafel mit Strandinformationen erklärte den Weg- und Servicebereich der Grillplätze, die Strandkorbreservierung, den Kioskverkauf und die Bade-, Surf- und Kitemöglichkeiten, den Spielgeräteverleih und jede Menge Ausflugstipps. Er stellte sich an den Rand der Promenade, den Blick auf das Meer gerichtet, und atmete tief ein. Eine innerliche Ruhe überfiel sein aufgeregtes Gemüt. Wo würde er sie finden? Ein Wattführer kehrte mit einer Schar Touristen von der Wanderung aus dem Meer zurück. Eingepackt in gelbe Friesennerze, Schals und Pudelmützen, stapften sie mit matschigen Füßen, die Hosen bis zu den Knien hochgekrempelt, dem Wattführer im Entenmarsch hinterher. Er sah ihnen nach, wie sie mit rosigen Wangen, die die Seeluft auf die Gesichter gemalt hatte, Richtung Wattdusche spazierten. Sein Magen knurrte. Er zog den Jackenkragen über den Nacken. Mit schnellen Schritten ging er zu seinem Wagen zurück, startete den Motor und fuhr über die Nordseestraße zum Restaurant Krabbe Am Hafen.

Der Wind fühlte sich am Hafen noch kälter an. Er sah sich um. Mindestens zwanzig Schiffe lagen vor Anker. Wahre Schmuckstücke. In dem mit dunklen Holzstühlen und hellen Tischen geschmackvoll eingerichteten Restaurant setzte er sich an einen Fensterplatz und blickte auf das Hafenbecken. Ein Boot mit Namen Pilar lief aus. Auf der Reling stand ein Mann in weißer Hose und blauem Windjanker und winkte einem Ehepaar, das an der Kaimauer eine blaugelbe Fahne schwenkte. Die Kellnerin, die mit Block und Stift an seinen Tisch trat, riss ihn aus dem Hafenblick. Mit der Bestellung von Riesengarnelen mit Knoblauch in Olivenöl, gebratenem Gemüse und Brot und zum Nachtisch einem warmen Schoko-Küchlein mit weichem Kern, Vanillesoße, Erdbeereis und Sahne verschwand sie in der Küche. Die wenigen Wolken am Himmel warfen vereinzelt Schatten auf die Boote und Jachten, die im Hafen vor Anker lagen. Der Mann mit dem Boot und das fahnenschwenkende Ehepaar waren verschwunden. Eine Familie spazierte vorbei. Zwei Kinder, mochten sie fünf oder sechs Jahre alt sein, quengelten und zottelten an der Hand ihrer Mutter, die sie erfolglos zu beruhigen versuchte.

Immer mehr hungrige Gäste betraten das Restaurant, das jetzt im November mit weihnachtlichem Schmuck glänzte. Auf dem Fenstersims schlängelten sich neben hüfthohen Bonsaibäumchen Tannengirlanden, verziert mit weinroten Kugeln und Kerzen, passend zu den Stuhlkissen und Läufern, die auf den Tischen das Holz schonten. Einige rot beleuchtete Papiersterne auf Ständern verrieten eine kreative Hand.

Als das Essen kam, hatte er kaum Appetit, obwohl der Koch die Garnelen und das Gemüse auf den Punkt gebraten und das Brot knusprig geröstet hatte. Auch im Schokoküchlein stocherte er nur herum, und das Eis, die Sahne und Vanillesoße ließ er gänzlich unangetastet. Er war nervös. Sein Gesicht spiegelte sich in der Glasscheibe, und er sah, wie es einen dunkleren Ton angenommen hatte. Er hätte sich auf dem Weg nach Büsum die zwei Becher Kaffee-to-go beim Bäcker verkneifen sollen. Er sah auf sein Handgelenk, an dem er vor einer Woche noch eine Uhr trug, die die Körpertemperatur und den Blutdruck anzeigte und ihm vorschrieb, sein tägliches Bewegungsziel zu steigern. „Scheißding“, grummelte er, während er mit den Fingern durch sein volles Haar fuhr. Seine Arbeitskollegen probierten jegliche Mittelchen gegen Haarausfall, griffen nach jeder kosmetischen Versprechung, die ihnen neuen Wuchs auf ihren Köpfen versprach. Wenigstens etwas Gutes. Wann war er zuletzt beim Friseur gewesen? Längst hatte er erkannt – nichts und niemand auf der Welt war perfekt. Es scherte ihn nicht mehr, was andere Menschen über ihn dachten, solange er sich wohlfühlte. Und ob seine Haare länger oder kürzer waren, ging nur ihn etwas an. Als die Kellnerin an seinem Tisch vorbeikam, bat er um die Rechnung. Er musste an die Luft.

In der Büsumer Einkaufspassage ging er durch die Alleestraße, die vom Strand bis zum Brunnenplatz mit zahlreichen Souvenirgeschäften, Boutiquen und Restaurants für Touristen alles anbot, um Blumen gießende Nachbarn zu Hause mit unsinnigen Staubfängern zu bedenken. In einer Herrenboutique kaufte er eine sündhaft teure graue Stoffhose und stellte fest, dass er ein paar Kilo verloren hatte. Mit der Einkaufstüte in der Hand schlenderte er durch die Einkaufsstraße. Seine Unruhe wuchs. Er warf einen flüchtigen Blick zu einer bunt graffitibesprühten Hauswand, die den Büsumer Leuchtturm, den Strand und das Meer zeigte. Die Mittagssonne blendete ihn, er blinzelte und wandte den Kopf zu einer hölzernen Sitzbankreihe, von der aus er den Hafen überblicken konnte. Neben ihm fuhr die Touristenbahn des Krabben-Express vorbei. Mit schrillem Gebimmel hielt sie an der Haltestelle Ankerplatz. Er überlegte kurz einzusteigen und entschied sich für eine Verschnaufpause auf der Bank. Das Hafenwasser glitzerte in der Sonne, nur ein paar kräuselnde Wellen ließen die Boote und Jachten sachte im Wind schunkeln. Der Tag war wärmer, als der Wetterbericht angekündigt hatte. Er zog seine Handschuhe aus und steckte sie in die Taschen der Winterjacke. In der Ferne leuchtete der rot-weiß gestrichene Leuchtturm. Ein unter Denkmal stehendes Büsumer Wahrzeichen, das von diesem Nordseeörtchen nicht wegzudenken war. Als Kind hatte es ihn geärgert, dass er mit seinem Vater nicht die Stufen hinaufsteigen und Büsum von oben ansehen konnte, weil der 1913 errichtete Leuchtturm noch immer in Betrieb sei. „Scheißteil“, murmelte er, warf einen letzten verächtlichen Blick zum rot-weißen Turm, stand auf und ging weiter durch die Einkaufstraße. Zum Herumtrödeln war er nicht hier.

Vor dem Geschäft eines Herrenfriseurs blieb er stehen, sah auf die Preisliste, die neben der Eingangstür am Schaufenster klebte: Heute ohne Termin. Herrenhaarschnitt zehn Euro. Wenn er gleich drankäme, fände er am Nachmittag für seine Suche nach ihr noch genügend Zeit. Als er den Salon betrat, erklang über seinem Kopf das Bimmeln einer Glocke, bevor die Glastür sich hinter ihm schloss. Der Geruch, der ihm entgegenschlug, nahm ihm den Atem. Ein widerliches süßes und gleichzeitig beißendes Konglomerat, das sich an ihn heftete und ihn in Besitz nahm. Er hustete. Dann sah er sie. Sie stand neben einem Stuhl, in dem eine Frau mittleren Alters mit nassen Haaren saß, und starrte ihn an. Abfällig, das Gesicht zu einer Fratze verkrampft, betrachtete er ihr Outfit. Hose, Bluse, schwarzes, zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar, die um die Hüfte geschwungene Arbeitstasche, bestückt mit dem Handwerkszeug einer Friseurin. Dinge, die ihn nicht interessierten. Seine Gedanken kreisten.

Kapitel 4

„Sie sind also Flora, die Frau an Sebastians Seite.“ Sahra setzte sich auf einen weißen Holzstuhl Flora und Sebastian gegenüber an den Tisch in St. Peter-Ordings Strandbar 54.

„Ja“, antwortete Flora knapp, während sie Sebastians Hand suchte.

„Wie schön, dass Sie den Fall des Kreuzers kennen.“ Sahra sah Flora in dunkelbraune Augen. Es war nicht zu übersehen, was ihr auf der Stirn geschrieben stand. Sebastian hatte sich den gleichen Frauentyp wie seine ermordete tamilische Frau gesucht. Aber etwas irritierte sie. Waren es die Blicke der beiden, die kein bisschen Verliebtheit ausstrahlten, oder die knappen Worte, die sie miteinander wechselten und die eher auf ein freundschaftliches Verhältnis hinwiesen?

„Wie lange kennt ihr euch?“, fragte Sahra, während der Kellner das Essen servierte. Sahra hatte sich für eine Ofenkartoffel mit frischen Nordseekrabben und Sour Creme entschieden, Flora für den israelischen Salat Fatoush mit Tomate, Zwiebeln, Minze, Joghurt und geröstetem Pita­brot, während Sebastian das Eiderstedter Roastbeef mit Bratkartoffeln und Sauce Tatar bestellt hatte.

„Zwei Monate“, antwortete Flora.

„Ein junges verliebtes Paar. Wie schön“, antwortete Sahra. Mit der Gabel stach sie nach einigen Nordseekrabben.

„Bist du auch gebunden?“, wollte Sebastian von Sahra wissen.

„War ich“, nuschelte Sahra mit vollem Mund. „Ist eine Weile her. Das Singledasein ist entspannend. Aber ich bin neugierig, erzähl, was ist der Täter für ein Mensch? Was geht in seinem Kopf vor?“, lenkte Sahra vom Thema ab. Über ihre vierjährige Beziehung zu Sven, die sie vor drei Wochen beendet hatte, schwieg sie.

Sebastian nickte. Er legte das Besteck zur Seite. „Richtig, eine Antwort, die ich dir schulde.“ Für einen Augenblick sah er aus dem bodentiefen Fenster des Pfahlbau-Restaurants hinaus auf das Meer, das in der Dunkelheit nur zu erahnen war, dann sagte er: „Serientäter sehen normal und durchschnittlich aus. Wir übersehen sie, wir kennen sie meist nicht, das macht sie extrem gefährlich. Wenn wir sie kennen, vermuten wir nicht, dass die Menschen, die uns nahe sind, zu solchen Taten fähig sind.“

„Wie der Täter, der der nette Onkel von nebenan ist. Oder der verheiratete Mann mit Familie, der nach außen hin freundlich und normal wirkt, in einem Reihenhaus wohnt und ein unauffälliges Leben führt.“