Heidefeuer - Angela L. Forster - E-Book

Heidefeuer E-Book

Angela L. Forster

5,0

  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Drei Tote in der Lüneburger Heide. Ein Dorf, das schweigt. 1. Fall für Inka Brandt Hauptkommissarin Inka Brandt zieht nach einer unangenehmen Trennung mit ihrer Tochter von Lübeck nach Undeloh in die Lüneburger Heide. Ihre Schwester betreibt dort einen Biobauernhof. Die reine Idylle sollte man meinen. Doch weit gefehlt, denn bald schon liegt ein Toter im Dorfteich. Zusammen mit ihren Kollegen von der Hanstedter Kripo beginnt Inka zu ermitteln. Der Tote war Therapeut im Seerosenhof, einer psychosomatischen Klinik. Über das Opfer sagen alle nur Gutes — selbst die Patienten —, von Mordmotiven will niemand etwas wissen. Als aber eine zweite Leiche gefunden wird, beginnt sich Inka ernsthaft zu fragen, ob es tatsächlich so eine gute Idee war, aufs Land zu ziehen ... Der erfolgreiche Heidekrimi nun bei CW Niemeyer.

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Seitenzahl: 394

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Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort.Dort treffen wir uns.Dschalal ad-Din al-Rumi(1207-1273)

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2020 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8380-4

Angela L. ForsterHeidefeuer

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Über die Autorin:Angela L. Forster lebt und arbeitet mit bayrischen Wurzeln im Hamburger Süden, deren bezaubernde Landschaft mit der Nähe zum Alten Land und der Lüneburger Heide sie immer wieder zu neuen Geschichten inspiriert.Bevor sie zum Romanschreiben fand, schrieb sie für regionale Zeitungsverlage und arbeitete als Textkorrespondentin für Versicherung und in einer Computerfirma.Wenn sie nicht schreibt, verbringt Angela L. Forster ihre Freizeit mit ihrem Mann am Nord- oder Ostseestrand.

Für meinen Mann Richard

Prolog

„Heute bist du dran“, flüsterte der Mann, der in vorletzter Stuhlreihe im Gemeindesaal des Hotels Heiderose in Undeloh saß.

Ein zischendes „Pssst“, hinter sich ließ den Mann in den schwarzen Reiterstiefeln und der cognacfarbenen Cord­jacke herumfahren.

Blöde Kuh, du willst doch auch nur das eine, dachte er, drehte sich wieder vor und verschränkte die Arme vor der Brust.

Der Mittdreißiger auf dem Podium plapperte munter weiter. In Birkenstocksandalen und ausgewaschenen Jeans wirkte er nicht besonders attraktiv. Dennoch schien er etwas an sich zu haben, das die Damenwelt faszinierte wie ihn seine eigenhändig erlegte und in Rotwein ge­schmorte Heidschnuckenkeule.

Ein Gaumenschmaus.

Soeben brachte der Frauenschwarm einen Lacher in seine Plauderei ein. „Der Mann ist der Kapitän, aber die Frau steuert das Schiff.“

Kurz dachte der Mann in der Cordjacke an seine Frau. Viel hatten sie erlebt, waren durch Höhen und Tiefen gewandert.

Tosender Applaus holte ihn aus den Gedanken.

Der Mann hinter dem Pult, Robert Andresen, trat vor und verbeugte sich tief. Seinen therapeutischen Vortrag über den Seitensprung bei Mann und Frau und die gesellschaftlichen Unterschiede der soziologischen Entwicklung hatte er überzeugend zu Gehör gebracht.

Andresen strahlte, während achtzig Frauen und ein paar wenige Männer klatschten und jubelten.

Als der Applaus nachließ, stand der Mann aus der vorletzten Reihe auf und lenkte seine Schritte Richtung Diele. Über die rotbraunen Terrakottafliesen betrat er die Vorhalle des Hotels. Die Rezeption war nicht besetzt.

Mit seinen Reiterstiefeln schritt der Mann links den kurzen schmalen Gang hinunter, gönnte sich einen ausgiebigen Blick auf seine Gestalt in dem bodentiefen Spiegel und drückte die Tür der Herrentoilette auf.

Diesen Moment hatte er noch.

Im Hintergrund verebbte der Applaus. Jetzt musste er sich beeilen.

Er betrat die Vorhalle, ging vorbei am Fahrstuhl, der zu den oberen Zimmern und ihren Bewohnern führte, die sicher ausnahmslos im Gemeindesaal hockten. Eine Veranstaltung, und war sie noch so lächerlich, ließ man sich abends auf einem Dorf, wo es außer Fernsehen nichts gab, nicht entgehen. Vor allem nicht, wenn sie den Unterhaltungswert einer Gameshow besaß, bei der jeder gewinnen konnte. Und Robert Andresen, Therapeut der psychosomatischen Einrichtung Seerosenhof, verteilte großzügig Gewinne. Für den einen mehr, den anderen weniger.

Der Mann warf einen kurzen Blick zur verwaisten Rezeption und atmete auf. Hinter dem Informationsstand, bemalten Milchkannen, dem Regal mit dem Honig und plätscherndem Steinbrunnen mit naturgetreuen Plastik­enten, drückte er die Tür ins Freie auf.

Zwanzig Schritte weiter lehnte er sich gegen die Hauswand und wartete. Bis auf ihn war niemand hier. Noch nicht. In ein paar Minuten ginge es hier zu wie übermorgen auf Garbers Scheunenfest.

Kohlgeruch drang aus den zwei geöffneten Hotelküchenfenstern hinter ihm. Widerlich. Er hasste Kohl in jeder Variation.

Dann schwang die doppelseitige weiß lackierte Eichenholztür des Hotels Heiderose auf. Er drückte sich dichter an die Wand, um nicht gesehen zu werden. Durch seine Cordjacke kroch die Kälte. Er fröstelte und zog den Kragen über den Nacken. Der Wind schlich sich von Norden heran, brachte kühlere Abende und den Herbst.

Männer und Frauen strömten aus dem Hoteleingang. Einige gingen ihres Weges, andere blieben stehen, rauchten oder redeten.

Zum vierten Mal besuchte er Andresens Veranstaltung. Immer verließ dieser als Letzter den Saal, ließ sich feiern wie einen Popstar, bis alle Gäste gegangen waren.

Der Mann beobachtete, wie Andresen zu seinem Fahrrad ging, eine braunlederne Mappe auf den Gepäckträger klemmte und das Fahrrad über den Sandweg auf den schmalen Bürgersteig schob. Für den Plattfuß hatte er gesorgt.

Er sah sich um. Das Brunnencafé und die Heidjer-Kate, gegenüber dem Teich, waren geschlossen. Kein Mensch spazierte mehr durch den Ort.

Im Abstand von zehn Metern, um nicht aufzufallen, folgte er dem Therapeuten bis fast zum Ende des Dorfteichs. Er beschleunigte seine Schritte, bis er nah genug bei ihm war.

„Wer sein Fahrrad liebt, der schiebt“, sagte der Mann in der Cordjacke.

Ohne aufzusehen, betrachtete Andresen den platten Hinterreifen. Seine weizenblonden Haare waren zerzaust, und er sah ausgesprochen verärgert aus. „Ja“, knurrte er. „Irgend so ein Vollhorst hat mir den Reifen zerschnitten.“

„Das ist ärgerlich“, bejahte der Mann in der Cordjacke.

Andresen sah auf. Der Mond warf einen schwachen Schein auf sein Gesicht. „Ach, Sie sind es. Ich habe Sie gar nicht erkannt. Die Gemeinde sollte endlich Straßenlaternen aufstellen, man sieht ja die Hand vor Augen nicht. Waren Sie wieder auf meiner Veranstaltung? Das vierte Mal, wenn ich richtig mitgezählt habe, oder?“ Andresen grinste. „Ja, bei meinen Vorträgen kann jeder etwas lernen.“

„Halt die Klappe! Dein psychologisches Gequassel interessiert mich so wenig wie Pferdescheiße“, polterte der Mann los und sah Andresen ohne mit der Wimper zu zucken an. „Heute bin ich hier, um mein Versprechen einzulösen.“

Andresen fiel das Grinsen aus dem Gesicht. Er wollte das Fahrrad umdrehen und schützend zwischen sich und den Mann stellen, zu spät.

Sein Mörder hob den Arm, die Schneide des Messers blitzte im Mondlicht kurz auf und sauste sekundenschnell über Andresens Hals.

Andresen starrte ihn ungläubig mit aufgerissenen Augen an. Noch immer klammerte er sich an das Fahrrad. Blut quoll aus seiner Kehle, die aufklaffte wie ein angetrocknetes Butterbrot, färbte den hellblauen Hemdkragen, den senfgelben Pullunder, tropfte auf den Fahrradsitz, die Birkenstocksandalen.

Der Mann mit der Klinge löste Andresens rechte Hand vom Lenkergriff und gab ihm einen Schubs an der Schulter. Andresen fiel rückwärts in den Dorfteich, versank für zwei Wimpernschläge und tauchte bewegungslos an der Oberfläche, die Arme vom Körper weggestreckt, wieder auf.

Es war die perfekte Kulisse für den nunmehr verstummten Robert Andresen. Der Therapeut der psychosomatischen Einrichtung Seerosenhof lag im Dorfteich, umgeben von weißen Seerosen.

Welch ein malerisches Wassergrab.

1

„Du hast versprochen, Hanna bei den Ferienzimmern zu helfen. Morgen kommen neue Gäste. Ich muss noch schlachten und den Tresen vom Hofladen auffüllen.“

„Das ist dein Beruf, Tim, nicht meiner.“ Inka legte beide Hände um den Becher und nippte am Hagebuttentee.

„Stimmt. Du sitzt ja im warmen Hanstedter Büro, wo du Kaffee für deinen Chef kochst und Berichte tippst, wohin Frieda, Holzmanns Schnucke, wieder ausgebüxt ist.“

Mit einem Knall landete Inkas Becher auf dem Tisch. Der Tee schwappte über den Rand und hinterließ auf dem weißen Tischtuch ein rosa Sternenmuster.

„Und wo ich als Polizistin arbeite“, konterte Inka.

„Du machst es dir einfach. Wir waren nur einverstanden, dass du auf …“

„Tim“, schaltete sich Hanna ein. „Jetzt ist Schluss. Inka ist meine Schwester, und das ist auch ihr Zuhause. Dass Fabian sie nach Strich und Faden betrogen hat, dafür kann sie nichts. Oder sollte sie deiner Meinung nach mit Paula in Lübeck bleiben?“

„Nein. Natürlich nicht. So hab ich das ja auch nicht gemeint. Fabian ist ein Windhund. Und ich hab euch gleich gesagt, die Ehe hält keine fünf Jahre. Bei dem Lebenswandel, den der führt. Nur – auf mich wollte ja keiner hören. Und dann zieht sie auch noch zu den Fischköpfen nach Lübeck.“

„Na und! Glaubst du etwa, Undeloher sind besser als Lübecker? Außerdem wollte ich keinen Bauern heiraten, sondern …“ Inkas Handy vibrierte auf dem Tischtuch und robbte sich an das Sternenmuster. „Moment.“ Sie sah auf das Display. Fritz Lichtmannruft an, stand in einer Textzeile auf dem Handy. Sie drückte die Annahmetaste. „Inka hier. Morgen, Fritz.“

„Morgen, Inka. Gut, dass ich dich noch erreiche.“

„Was ist los? Ich wollte gerade zur Wache.“

„Spar dir den Weg. Bei euch am Dorfteich liegt ein Toter.“

„Bin in zehn Minuten da“, antwortete sie und legte grußlos auf. „Hanna, kannst du Paula zur Tagesmutter fahren?“

„Klar. Was gibt’s?“

„Am Teich liegt ein Toter. Viel Spaß beim Bettenaufschütteln, Tim.“ Inka feixte, schnappte sich das Mohnhörnchen aus dem Brotkorb und verschwand aus der Wohnküche des Biohofes Sundermöhren.

2

Vom Hof brauchte Inka mit dem Wagen zum Undeloher Dorfteich, über die Heimbucher Straße bis auf die Wilseder Straße, knapp fünf Minuten. Hinter Mark Freeses biergelbem Mini-Cooper parkte sie am Straßenrand.

„Morgen, Fritz, Mark.“ Inka nickte ihren Kollegen zu. „Was haben wir?“

„Robert Andresen, vierunddreißig.“ Lichtmann wies auf den Toten, der am Teichrand im Gras lag. Wasserschlingpflanzen wickelten sich um seine Beine, und eine weiße Seerose zierte den linken Knöchel. Sah man von den Umständen des Todes des Mannes ab, war es, wie er dalag, ein fast malerisches Bild. „Er war Psychologe im Seerosenhof. Das ist der riesige Bau um die Ecke im Neunstücken“, erklärte Lichtmann.

Inka nickte. „Hab von dem Kasten gehört“, sagte sie. „Haben wir eine Plane für den Herrn?“

„Im Wagen“, erwiderte Mark Freese und flitzte los.

Inka sah ihrem Kollegen nach, der sich hinter dem Absperrband durch neugierige Touristengruppen schob, die minütlich mehr wurden. Auf der Wilseder Straße stockte der Verkehr auf beiden Seiten. Autos reihten sich hinter Zweispännern ein. Ungeduldige Fahrer hupten, schimpften aus Wagenfenstern. Pferde wieherten und klapperten mit den Hufen. Wanderer holten ihre Kameras aus Rucksäcken, fuhren Objektive aus, Handys klickten im Sekundentakt.

„Haltet die Leute zurück. Und die dahinten sollen mit der Huperei aufhören. Die machen die Pferde scheu“, rief Inka zwei uniformierten Kollegen der Wache entgegen. „Meine Güte, was gibt es für Idioten!“ Sie schüttelte den Kopf. „Hatte er was bei sich?“

Lichtmann hielt Inka einen Plastikbeutel mit einem Portemonnaie und einem Schlüsselbund vor die Nase. „Das ist alles. Wir wissen aber, dass er gestern Abend von 20 bis 22 Uhr im Gemeindesaal des Hotels Heiderose einen seiner monatlichen Vorträge hielt.“

„Und was ist mit Unterlagen, Aktentasche oder Beutel?“

„Nichts, Inka. Im Hotel liegt nichts, und um den Teich herum ist auch alles abgesucht. Vielleicht finden wir was im Wasser. Mark hat Taucher angefordert, aber das dauert, bis die aus Winsen hier sind.“

„Und wer hat ihn gefunden?“

„Zwei Rentner, Touristen aus Leipzig, die in die Heide zum Pilzesammeln wollten.“

„Na, als Touristen sind wir die wohl los“, stellte Inka trocken fest. „Wo sind sie?“

„Da drüben, bei Kollegin Bartels.“ Lichtmann nickte mit dem Kopf über seine linke Schulter.

3

Ein Rentnerehepaar hockte auf einer Holzbank längs des Teiches. Eine junge Streifenpolizistin saß neben der Pilzsammlerin und hielt ihre Hand.

„Ich muss mit beiden sprechen.“

„Später“, entschied Lichtmann. „Lass sie ein paar Minuten verschnaufen.“

Inka nickte und stellte sich an das Kopfende des Toten.„Wann kommt Teresa?“

„Schon da“, meldete eine Stimme hinter ihrem Rücken.

Inka drehte sich um, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Teresa überschwänglich auf die Wangen. Ein pudriger Duft nach reifem Pfirsich setzte sich in ihre Nase.

„Terry, wie ich mich freue, dich zu sehen. Wie geht es dir?“

„Na, damit kommst du ja früh raus. Bist du nicht schon seit zwei Monaten wieder bei den Ziegen im Stall?“ Teresas große braune Augen blinzelten sie übermütig an.

„Der Sundermöhren-Hof hat keine Ziegen. Und ja, es tut mir leid. Aber ich wollte dich mit meiner schlechten Stimmung nicht vergraulen. Du weißt schon, Fabian und so.“

„Seit wann nimmst du Rücksicht auf eine alte Freundin?“

Inka zog eine Flunsch. „Ich machs wieder gut. Lass uns heute Abend in die Heidjer-Kate gehen und eine Runde quatschen.“

„Da bin ich dabei.“ Mark Freese schob sich zwischen Teresa und Inka und fasste beide Frauen um die Taille.

„Ein anderes Mal, Mark, das ist ein Frauenabend“, erwiderte Inka und entzog sich Marks Griff.

Fünfundzwanzig Jahre war es her, dass Mark, Teresa und Inka gemeinsam das Hanstedter Gymnasium besucht hatten. Die Erste der drei, die Hanstedt nach dem Abitur verließ, war Teresa, um in Hamburg Medizin zu studieren. Dort lernte sie ihre Lebenspartnerin Flora kennen. Mark studierte Betriebswirtschaft und stieg in die elterliche Lüneburger Keksmanufaktur ein. Inka verzichtete aufs Studieren und bewarb sich nach dem Abitur bei der Hanstedter Polizei, wohin Mark ihr sechs Jahre später folgte.

„Nein.“ Teresas Blick fiel auf den Toten. „Geht ihr zwei nur. Flora und ich wollen heute Abend …“

Mark ließ sie nicht ausreden. „Wunderbar“, entgegnete er, „ich hol dich um acht Uhr vom Hof ab.“ Lasziv blinzelte er Inka zu und verschwand Richtung Streifenwagen.

„Na super, da hast du mir ja was Feines eingebrockt“, murrte Inka, als Mark außer Hörweite war.

„Das ist die Strafe, weil du dich nicht gemeldet hast“, erwiderte Teresa.

„Das ist keine Strafe, sondern die Einfahrt zur Höllenschlucht. Und sag ja nicht, ich habe unrecht.“

Mark war, wie Teresa, ihr bester Freund und Kollege. Und auch wenn sie ihn sehr schätzte, brauchte sie zurzeit Teresas ruhige Art und die Knautschecke der Heidjer-Kate und kein übersprudelndes Temperament, mit dem man prima über die Dörfer ziehen konnte. So weit war sie noch nicht.

„Seit wann ist er tot?“ Inka sah auf den Toten, ging in die Hocke, und Teresa tat es ihr gleich.

„Na ja, er lag im Wasser, 12 Grad Nachttemperatur … Hmm“, Teresa wiegte den Kopf hin und her und sah auf ihre Armbanduhr. „Ich denke, seit zehn bis elf Stunden.“

„War das ein Hirschfänger?“ Inka wies auf den Schnitt am Hals des toten Robert Andresen.

Mit dem behandschuhten Zeigefinger spreizte Teresa die Wundränder am Hals des Toten und schüttelte den Kopf. „Der Schnitt ist zu fein und zu gerade gesetzt. Ein Jagdmesser macht an der Klingenspitze einen Bogen, aber der Schnittbeginn säße tiefer, da der Ansatz anders läge. Nein, das schließe ich aus, weder ein Hirschfänger noch ein Fabrikat eines Jagdmessers kam zum Einsatz. Eher eine scharfe, gerade verlaufende Klinge ohne Sägeblatt. Im Institut sehe ich mir das genauer an.“

„Fein, dann ran an die Arbeit. Ich brauche den Bericht bis morgen früh.“

„O nein, Inka. Du weißt, Flora und ich … Heute ist der spezielle Abend bei ihren Eltern.“

Inka grinste. „Jeder kriegt, was er verdient.“ Mit flinken Schritten steuerte sie auf Fritz Lichtmann zu, der sich zu dem Rentnerehepaar gesellt hatte.

„Deine Worte bringen dich irgendwann in Lebensgefahr“, hörte sie Teresa hinter ihrem Rücken rufen.

Inka wusste, wie ihre Freundin es meinte. Teresa nahm ihre Arbeit ernst. Ihr Beruf kam an erster Stelle. Dennoch hörte sie die Spur Enttäuschung in ihrer Stimme.

4

Neben dem Rentnerehepaar rutschte sie auf die Holzbank.

„Mein Name ist Inka Brandt. Ich leite mit meinem Kollegen Fritz Lichtmann den Fall des … des Mannes, den Sie im Dorfteich fanden. Geht es Ihnen besser?“

„Ja, danke“, erwiderte die Frau in den braunen Wanderstiefeln. „Wir haben uns nur furchtbar erschreckt.“

„Ich verstehe“, antwortete Inka. „Können Sie uns sagen, zu welcher Uhrzeit Sie am Teich waren?“

„Aber das haben wir doch schon alles Ihrem Kollegen erzählt.“ Ihr Blick flog zu Mark Freese, der neben der Streifenpolizistin stand und eine seiner angeregten Unterhaltungen führte. Über seinen üppigen Erzählstoff rätselte Inka schon seit der Schulzeit. Morgen früh würde ihr der Kopf dröhnen, als hätte sie einen Liter „Waldgeist“ geleert, den eigens gebrannten Kräuterschnaps von Glüters Hof. Teresa, ich habe einen gut bei dir, dachte sie und wandte sich wieder der Pilzsammlerin zu.

„Ich weiß es nicht mehr“, entgegnete die Rentnerin. „Wir sind aus dem Zimmer …“

„Wo wohnen Sie?“

„Im Hotel Heiderose, aber das …“

„Ja, Frau …“

„Seidel. Erwin und Martha Seidel heißen wir.“

„Frau Seidel“, begann Inka neu, „haben Sie gestern Abend auch die Veranstaltung von Robert Andresen besucht?“

„Ja, aber wir sind nicht lange geblieben. Nur bis zur Pause. Es hat uns nicht gefallen. Das Fremdgehen ist für uns Alten kein Thema.“

„Und heute Morgen sind Sie aus dem Hotel zum Pilzesammeln aufgebrochen.“

„Nein. Erwin wollte erst noch frühstücken. Obwohl ich sagte, wir müssen uns beeilen. Eine Zimmernachbarin verriet mir, dass die größten Rotkappen im Wäldchen hinter dem Totengrund sprießen.“

„Ja“, ergänzte der Rentner. „Und nur, weil du die für dein Kaffeekränzchen morgen mit nach Hause nehmen willst, hab ich auf meine Heidschnuckenwürstchen verzichtet. Wir wohnen in Leipzig, müssen Sie wissen, da gibt es die nicht, Frau … Wachtmeister“, plauderte er los, als ihm weder Inkas Nachname noch Titel einfielen.

„Ich verstehe.“ Inka schmunzelte. „Unsere Undeloher Heidschnuckenwürstchen sind aber auch verdammt lecker, und der Biohof Sundermöhren macht die besten. Wenn Sie auf der anderen Straßenseite die nächste Straße links in die Heimbucher Straße einbiegen und der Straße fünfhundert Meter folgen bis zum Kopfsteinpflaster, sehen Sie hinter dem Friedhof und der Kapelle die Einfahrt zu einem Bauernhof mit Hofladen. Dort können Sie Würstchen und andere leckere und tolle Sachen kaufen.“ Inka räusperte sich, warf einen Blick auf Lichtmann, der sie vergnügt anblinzelte. „Natürlich gibt es überall in Undeloh schöne Sachen. Heitmanns Hökerladen zum Beispiel ist eine wahre Fundgrube für alles, was gut aussieht, gut schmeckt, gut riecht und gesund ist … Nun ja … kommen wir zurück zu … Wenn Sie noch einmal überlegen, erinnern Sie sich dann, um welche Uhrzeit Sie das Hotel verließen?“

Der Rentner nickte ein paarmal, dann erwiderte er, fast in Zeitlupe: „Sie haben recht. Ja. Wenn ich recht überlege, fällt es mir wieder ein. Die Kirchenglocken läuteten. Sieben Mal. Ich zähle immer mit, wenn ich Glocken höre.“

„Es war also sieben Uhr, als Sie losmarschierten.“ Nicken.

„Und als Sie am Dorfteich vorbeikamen, sahen Sie den Toten im Wasser liegen.“

Der Rentner schüttelte verneinend den Kopf.

„Nein?“

„Nein“, antwortete Seidel. „Eigentlich waren wir schon auf dem Wanderweg, als meine Frau …“

„Erwin.“ Ein harscher Blick strafte den Rentner aus dunklen Augen.

„Ja?“, drängte Inka.

„Meine Frau wollte, dass ich ihr eine Seerose aus dem Teich fische.“

„Dass du aber auch dein Plappermaul nicht halten kannst“, zischte Martha Seidel. Eine Spur Rosa färbte ihre Blässe.

„Wir sind nicht vom Naturschutzbund, Frau Seidel“, setzte Inka schlichtend nach, obwohl sie Martha Seidel gern auf die Finger geklopft hätte. „Herr Seidel, bitte weiter.“

„Ja“, er zögerte kurz, „wie gesagt, wir sind noch einmal um den Teich.“ Seidel wies mit erhobenem Arm in Richtung des Toten, wo die Plane gehoben wurde und zwei Männer mit einem Metallsarg hervortraten. „Und als ich die Seerose mit meinem Stock“, er griff um den silberfarbenen Entenknauf des Wanderstocks, „herausangeln wollte, hing da plötzlich ein Bein dran. Na und der Rest des … des Herrn.“

„Haben Sie sonst noch etwas gesehen? Eine Aktentasche, Unterlagen, die im Gras oder Wasser lagen?“

„Nur auf dem Gepäckträger vom Fahrrad klemmte eine Tasche. Aber die haben wir nicht aufgemacht“, setzte der Rentner nach, als rechtfertigte er sich im Vorwege für eine bislang unausgesprochene Verfehlung.

„Auf welchem Fahrrad, Herr Seidel?“

„Ein Trekkingrad, es lag da vorne im Gras. Nichts Besonderes. 28 Zoll, Rahmenhöhe 52 Zentimeter, Halogenscheinwerfer, grauer Diamant-Stahlrahmen, 6-Gang-Shimano-Schaltung, Gewicht höchstens 21 Kilogramm …“

„Stopp, Herr Seidel. Sie haben ein Fahrrad am Tatort gefunden und uns nichts gesagt?“

„Woher soll ich wissen, dass es wichtig ist?“ Unruhig rutschte er auf der Bank herum.

„Wo ist das Rad?“ Inka holte tief Luft.

„Meine Frau hat es hinter dem Teich beim Eingang des Hotels in einen Fahrradständer geschoben.“ Er fuchtelte mit seinem Wanderstock in die Richtung. „Wir sind sehr pingelig, wenn es um Fahrräder geht. Sie müssen wissen, bis zur Jahrtausendwende führten wir in Leipzig, in der Lindenstraße, einen ausgezeichneten Fahrradladen, und Räder so hinzuschmeißen, ist nicht gut fürs …“

„Sie warten“, würgte Inka den Rentner erneut ab. Sie machte eine Kopfbewegung zu Lichtmann und rannte über den Sandweg in Richtung Hotel.

„Und welches ist es jetzt?“, schnaufte sie. Mindestens fünfzig Leihfahrräder warteten in Zweierreihen auf ihre täglichen Ferienbenutzer vor dem Hoteleingang.

„Ein graues“, antwortete Lichtmann, der keuchend hinter Inka auftauchte. „Ich schlage vor, du suchst auf dieser und ich auf der anderen Seite.“

Nach fünf Sekunden wedelte Inka mit den Armen in der Luft. „Hierher, Fritz, das muss es sein. Das mit der Tasche auf dem Gepäckträger. Und das auf dem Lenkergriff, dem Sattel und der Pedale könnte Blut sein. Was meinst du?“

„Das könnte nicht, das ist Blut, Inka. Aber das sollen sich die Kollegen ansehen und Fingerabdrücke vom Rad und unseren übereifrigen Pilzsammlern nehmen. Diese verrückten Touristen“, murmelte er.

„Sieh mal, Fritz. Das Hinterrad hat einen Platten.“ Inka beugte sich nach unten und fühlte mit den Fingern über das Gummi. „Aufgeschlitzt wie seine Kehle. Sagte die Seidel nicht, in Andresens Vortrag ging es um das Fremdgehen?“

„Du meinst …“ Fritz Lichtmann schien leicht irritiert.

Inka nickte. „Ein eifersüchtiger Partner, dem Andresen auf den Fuß getreten ist. Möglich wär’s“, bemerkte sie, dann vibrierte ihr Handy. Sie griff in die Hosentasche. Das Display zeigte einen Anruf von Hanna. „Hanna, was gibt’s?“

„Paula ist so quengelig und hat auf Bauch und Rücken rote Flecken. Du musst mit ihr zum Arzt.“

„Gib mir eine Viertelstunde, Hanna. Ich beeil mich.“ Inka legte auf.

„Schlechte Nachrichten?“

„Paula muss zum Arzt.“

„Flitz los, den Rest mache ich mit Mark“, bot Lichtmann an.

5

„Mensch, Deern, bist endlich wieder im Lande.“ Doktor Manfred Konopka stand aus seinem Arztsessel auf und kam mit offenen Armen und wehendem Kittel auf Inka zu. „Hab dich ja seit Urzeiten nicht gesehen. Bist ein bisschen blass und dünn.“ Er tätschelte Inka die Hüfte.

Seit er in den Sechzigern in Hanstedt die Praxis eröffnet hatte, war Konopka der Haus- und Kinderarzt der Familie Brandt. Auf dem elterlichen Hof in Undeloh ging er ein und aus wie ein Familienmitglied und hieß „Nuppi“, seit Inka denken konnte.

„Und du, Paula, wie geht es dir?“

„Das juckt so, Onkel Nuppi“, antwortete die Kleine.

„Na, lass mal sehen.“ Konopka griff Paula unter die Arme und setzte sie auf die Untersuchungsliege. „Eindeutig Windpocken. Ist meine Kleine nicht geimpft?“ Konopka warf Inka einen strengen Blick zu.

„Nein. Ich wollte sie in Lübeck, nur da … Nein. Sie ist nicht geimpft.“

„Ja, das höre ich häufiger.“ Er runzelte die Stirn. „Da denken Eltern, soll das Kind alle Krankheiten ruhig durchmachen, aber immer …“

Inka atmete tief ein. Ihr Magen fühlte sich an, als benutzte ihr Neffe Linus ihn für seine Boxübungen.

„Nun, so schlimm wird’s nicht werden. Mach dir mal keine Sorgen.“ Konopka fasste Inkas Hände. „Kinderkrankheiten sind Kinderkrankheiten, und wir leben nicht im 18. Jahrhundert“, präzisierte Konopka und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Aus einer Schublade zu seiner Rechten holte er einen regenbogenfarbenen Schuhkarton und öffnete den Deckel. „Na, such dir was aus.“ Er strich der Kleinen, die von der Liege gerutscht und Konopkas Winken gefolgt war, über die blonden Locken.

„Und was mache ich jetzt?“, fragte Inka aufgeregt. „Ich habe …“

Konopka kam ihr zuvor. „Ich schreib dich krank. Der Tote in eurer Katzenkuhle kann warten.“

„Du weißt …“ Sie brach den Satz ab. Natürlich. Neuigkeiten verbreiteten sich wie ein Lauffeuer über die Dörfer. Und ein Toter im Dorfteich, den Undeloher Bewohner „Katzengrube“ nannten, weil dort in den 50er-Jahren die Bauern neugeborene Hofkatzen ertränkten, blieb kaum länger als eine Stunde verborgen.

„Wie geht’s deinen Eltern?“

„Gut“, antwortete Inka und zog Paula das Jäckchen über. „Die beiden kutschieren mit ihrem Wohnmobil durch die Weltgeschichte. Die letzte Karte kam aus Monaco.“

„Ja.“ Konopka lachte, und seine goldumrandete Brille, die er auf der Nasenspitze trug, rutschte runter und fiel in seinen Schoß. „Sieh mal“, er setzte die Brille wieder auf, „da hängt ein ganzes Bataillon Karten.“ Er zeigte auf den Spiegel über dem Waschbecken, dessen Rand mindestens zwanzig Ansichtskarten zierten. „Weißt, Deern“, er warf einen verträumten Blick zum Spiegel, und Inka schien es, als wäre er gern in jedem Land beim Aussuchen dabei gewesen, „die beiden machen es verdammt richtig. Diese Schufterei. Seit Jahren predige ich, sie sollen den Hof und das Viehzeug verkaufen.“

„Ja“, erwiderte Inka und lachte. „Ich hörte von deiner Hartnäckigkeit.“ Sie stand auf und ging mit Paula zur Tür, die einen kleinen gelben Trecker in der einen und ein grauweißes Plastikschaf in der anderen Hand hielt.

6

Als sie im Auto saß, wählte Inka Fabians Nummer. Wie üblich sprang der Anrufbeantworter an. „Fabian, ich war bei Nuppi. Paula hat Windpocken. Sie kann nicht zur Tagesmutter. Hanna und Tim haben Hochsaison auf dem Hof, und ich hänge mit einem Fall fest. Du musst dich um Paula kümmern. Ruf mich an, sofort.“

Von der Praxis lenkte sie durch Hanstedt und fuhr auf der Landstraße zwölf Kilometer Richtung Undeloh. Auf der Wilseder Straße überholte sie eine Pferdekutsche, die zwei schwarzbraune Kaltblüter zogen. Sie warf einen kurzen Blick zum Dorfteich, wo die Spurensicherung ihre Arbeit verrichtete, und bog hinter Heitmanns Hökerladen in die Heimbucher Straße ein.

„Na“, flötete Hanna, „da seid ihr ja wieder. Was hat Nuppi gesagt?“ Sie wischte ihre nassen Hände in die grüne Schürze.

„Windpocken.“ Inka verzog das Gesicht. „Kein Kontakt zu anderen Kindern, Schwangeren und Menschen, die noch keine Windpocken hatten oder nicht geimpft sind, so lange, bis die Bläschen und der Juckreiz verschwunden sind.“

„Und nun?“

„Ich habe Fabian auf seinen Anrufbeantworter gequatscht. Er darf sich als Vater beweisen.“

Hanna lachte auf. „Fabian, du hast Fabian angerufen! Na Mahlzeit. Dein Nochehemann schafft mit Ach und Krach den monatlichen Zoobesuch.“

„Fabian ist ein A…“, Inka hielt inne und sah auf Paula, die im Sandkasten eine Schaufel Sand nach der anderen über den Trecker und das Plastikschaf warf, den Berg mit der Schaufel platt schlug und die Prozedur erneut begann. „Ein Arsch“, flüsterte Inka, „aber er liebt Paula.“

„Ja. Doch Liebe und Verantwortung sind bei Herrn Fabian Neureuther zwei Paar Stiefel. Das solltest du wissen, Schwesterherz.“

Entmutigt verschwand Inka mit Paula in die Dreizimmer-Einliegerwohnung, die sie vor zwei Monaten bezogen hatte, als sie von Lübeck nach Undeloh gezogen war.

Sie schaltete den Fernseher ein und setzte Paula zu ihrer Lieblingssendung „Bob, der Baumeister“ aufs Sofa. Dann wählte sie auf ihrem Handy Fritz Lichtmanns Nummer.

„Fritz, ich bin es. Paula hat die Windpocken. Was machen wir jetzt?“

„Dann muss Mark ran“, antwortete Lichtmann entschlossen. „Wenn ich die Kreuzfahrt zu den Fidschis absage, treibt mich Charlotte mit der Peitsche barfuß durch die Lüneburger Heide.“

„Das schafft Mark nie alleine“, entgegnete Inka.

„Gib ihm telefonisch Hilfestellung. Oder wir fordern Ersatz aus Soltau an.“

„Nein. Wir werden ja wohl mit einem Mord fertigwerden“, entschied Inka. „Was ist mit den Gästen auf Andresens Vortrag? Seid ihr weitergekommen?“

„Alles in Arbeit. Mark und zwei Streifenkollegen klappern alle ab, die angemeldet waren. Ist bisher aber nur die übliche Mischung Dörfler und ein Haufen Touristen. Die Angestellten hab ich durchgecheckt. Und denk dran, morgen beginnt das Scheunenfest. Es ist jetzt schon die Hölle los.“

„Ja.“ Inka stöhnte. Morgen, am 3. September, stand auf Garbers Hof der dritte und letzte Termin des alljährlichen Scheunenfestes mit Musik, Tanz und nach Inkas Geschmack mit viel zu viel Dorfinfos und Döntjes an. Und das zur Hochsaison. Inkas Erinnerung ging zu ihrem letzten Scheunenfest vor dreizehn Jahren. Bauer Matthiesens alkoholgetränkte Döntjes-Witze und die anschließende Rauferei lösten heute noch Schmunzeln aus. Vier Bauern landeten im Krankenhaus, zwei in der Güllegrube, drei in der Hanstedter Ausnüchterungszelle, und einen scheuchte Ehefrau Waltraut nach Hause und schloss ihn eine Nacht im Keller ein.

„Und wie sieht’s mit Andresens Verwandtschaft aus? War er verheiratet, gibt es Eltern, Geschwister?“, fragte Inka, als wollte sie der Vergangenheit so schnell wie möglich entfliehen.

„Krieg ich auch noch raus. In einer halben Stunde bin ich mit dem Leiter des Seerosenhofes, wo Andresen arbeitete, verabredet.“

„Fritz, es tut mir leid.“

„Mach dir keinen Kopf, Inka. Alles wird gut.“

„Danke, ruf mich an, wenn es Neuigkeiten gibt, und falls wir uns nicht mehr sehen, wünsch ich dir und Charlotte viel Spaß auf dem Schiff und den Inseln“, setzte sie schnell nach und legte auf.

Bob, der Baumeister, legte ebenfalls seinen Helm ab, eine andere Zeichentrickserie begann, und Inka überkam ein schlechtes Gewissen. Kindermädchen-Fernsehen war nicht das, was sie Paula als geistige Nahrung andachte. Zumindest nicht in diesem Ausmaß.

Ihr zweiter Anruf galt Teresa. „Hey, Terry. Ich bin’s. Erzähl, was sagt Andresen?“

„Sag mal, glaubst du etwa, ich bin die Lüneburger Heidehexe? Morgen früh hast du gesagt, nicht in einer Stunde. Sag mir lieber, wie es Paula geht. Fritz erzählte, du bist mit ihr zum Arzt gegangen.“

„Sie hat die Windpocken.“

„Ach, die netten Varizellen sind wieder da. Hat sie Fieber oder Gehstörungen?“

„Fieber und Gehstörungen? Um Himmels willen! Nein. Was erzählst du da?“ Inka schnaufte in den Hörer. „Hast du noch mehr medizinischen Kuhmist auf Lager?“

„Nein, schneide ihr nur die Fingernägel kurz, damit sie die Bläschen nicht aufkratzt und sich die Bakterien verbreiten.“

„Danke“, murmelte Inka. „Du, ich muss auflegen, ich warte auf einen Anruf von Fabian. Er muss Paula holen.“

„Fabian?“

„Ja. Fabian. Und sag jetzt nichts.“

„Ist ja gut, nur …“

„Terry, ich will nichts hören!“

„Lass mich ausreden. Ich wollte nur sagen, dass ich Paula gerne über den Tag nehme, während du arbeitest. Sie kommt mit mir ins Institut. Tote kriegen keine Windpocken.“

„Sag mal, spinnst du? Soll sie dir vielleicht assistieren?“

„Super, was du mir zutraust.“ Teresa klang enttäuscht. „Nein“, entgegnete sie. „Ich werde Blümchen, meine Assistents-Sekretärin, mit Paula in mein Bereitschaftszimmer einquartieren, und sollte irgendetwas sein, bin ich sofort zur Stelle. Na, wie wäre das?“

Erleichtert atmete Inka auf.

7

Als Paula ihr Mittagsschläfchen hielt und sie Hanna versprach, in einer Stunde zurück zu sein, schlich Inka in den Stall und holte Harlekin aus der Box. Eine Runde an der frischen Luft täte ihr gut, würde ihr den Kopf freipusten.

In Lübeck nutzte sie jede freie Minute, um mit Jonny, ihrem Rappen, über das Niendorfer-Brodtener-Ufer und den Timmendorfer Ostseestrand zu reiten. „Du stinkst wie ein Stallbursche“, hatte Fabian gesagt und sich von ihr abgewandt. Er verstand Inkas Liebe zur Natur und den Pferden nicht.

Inka sattelte den Haflinger, den sie vor zwei Monaten auf Arno von Hofstettens Gestüt gekauft hatte. Die Hofstettens gehörten zu der reichsten Sippe in der Lüneburger Heide.

Das gleichmäßige Geklapper von Harlekins Hufen auf Asphalt beruhigte ihr Gemüt. Sie ritt die Heimbucher Straße runter bis an die Wilseder Straße und hielt sich rechts bis zum Dorfteich. Ab da ritt sie im Galopp weiter auf den Heidelehrweg zu und über die ausgeschilderten Reiterwege.

Sie ritt, ohne nachzudenken. Vorbei an Flussauen, Wäldern mit ausladenden Kiefern, Tannen und Wacholderbäumen, Feldern und Wiesen. Hinein in das fliederfarbene Blütenmeer der Heidelandschaft.

Inka atmete tief ein. Der herbe Duft der schwarzen Beeren des Wacholderwäldchens erfüllte die warme Nachmittagsluft. Irgendwo blökten Heidschnucken, bellten zwei Hunde ein Duett. An einem Heidebach, unter einem Holzsteg, stoppte sie und band Harlekin ans Pfahlwerk. Sie zog Reitstiefel und Socken aus und hielt neben Harlekins Kopf, der schlabbernd das kühle Nass genoss, die Füße ins klare Wasser.

„Na, mein Guter, das tut gut, was?“, sagte sie. Inka ließ sich auf den Rücken ins blassgrüne Gefälle sinken und breitete die Arme aus. Für einen Moment schloss sie die Augen, ließ nachmittägliche Sonnenstrahlen ihr Gesicht streicheln und ihre Gedanken mit dem lauen Wind davonziehen. Wie gut es tat, wieder zu Hause zu sein und die Aufregungen der letzten Monate einfach zu vergessen. Sie atmete den würzigen Duft des Wacholders ein, plätscherte mit den Füßen im kühlen Wasser und spürte, wie eine innerliche Ruhe sie erfasste. Sie musste gerade fünf Minuten gelegen haben, als es über ihr auf dem Holzsteg polterte. Inka schreckte auf.

Zwei Reiter saßen ab. Stiefelabsätze bollerten auf Holz. Sand rieselte durch Bretterlücken. Pferde wieherten und schlugen abwechselnd ihre Hufe auf den Steg.

Durch einen Holzschlitz erkannte sie Lukas Deerberg.

Der achtundzwanzigjährige Gutssohn aus Egestorf war mit Femke, der Tochter von Arno von Hofstetten, verlobt. Nächsten Monat, im Oktober, stand die Hochzeit an. Falls es so weit kam. Wie man sich im Dorf erzählte, hatte Lukas die Heirat bereits viermal aus familiären Gründen verschoben.

Lukas Deerberg trug schwarze Reiterstiefel, braune Reiterhosen, einen gleichfarbigen Sweater und eine tannengrüne Steppweste. Die junge Frau neben ihm steckte in Jeans und dunkelblauer Weste, die sie über einem weißen Hoody trug. Ihre schwarzen Haare, zu einem Pagenkopf geschnitten, umrahmten ein helles Gesicht. Mit ihrer zierlichen Gestalt wirkte sie neben Lukas wie ein kleines Mädchen und so zart, dass man Angst bekam, sie könne davonfliegen, wenn man sie anpustete. Femke von Hofstetten ähnelte diesem Persönchen in keiner Weise, sondern war in allen Punkten das Gegenteil des zerbrechlichen Wesens, das über Inka auf der Holzbrüstung stand.

Bevor sich Inka bemerkbar machen konnte, tobte über ihrem Kopf ein heftiger Streit los.

8

„Lukas, du bist ein Arschloch“, donnerte die Frau auch schon los, die Inka trotz ihrer Jugendlichkeit auf Ende zwanzig schätzte.

„Nun mach mal halblang, Rike“, fuhr ihr Lukas Deerberg schnippisch ins Wort. „Wir kennen uns eine Woche, und es war von vornherein klar, dass wir beide nur unseren Spaß wollten.“

„Spaß? Erst sagst du, ich bin die Einzige, die du liebst, und gestern Abend sehe ich dich mit dieser Schlampe Viola knutschen.“

„Rike, sie ist nur eine …“

„Eine von vielen, meinst du wohl.“

„Dass ihr Frauen immer jedes Wort auf die Goldwaage legt. Ich liebe euch nun mal alle.“ Lukas Deerberg fasste Rike um die Taille, hob sie hoch und setzte sie auf das Geländer. Er hielt die zarte Person fest, bevor sie mit dem nächsten Windhauch, wie der Fallschirm einer Pusteblume, in die Lüfte trieb.

Rike, wer diese junge Frau mit der festen Stimme in einer fragilen Hülle auch immer war, hatte vollkommen recht. Lukas Deerberg benahm sich wie ein blasiertes Arschloch. Nun gib ihm endlich den Laufpass, und knall ihm vorher noch ordentlich eine, dachte Inka und zog die Füße aus dem Wasser, die dabei waren, sich in Eisklumpen zu verwandeln.

„Du bist wohl sehr von dir überzeugt, was?“, zischte Rike.

„Nur wenn ich eine so hübsche Frau wie dich erobern will.“

„Spar dir das Süßholzgeraspel, Lukas. Und jetzt lass mich runter! Zum Glück gibt es ja noch andere Männer.“

„Wenn du mit anderen Männern deinen vertrockneten Figaro meinst, kann ich nur lachen.“

„Du bist widerlich.“ Rikes Hand knallte mit so einer Wucht, die man dem zarten Persönchen nicht zugetraut hätte, auf Lukas’ Wange.

„Warum?“ Lächelnd rieb sich Lukas die linke Gesichtshälfte. „Sei ehrlich, Süße, dir gefallen doch meine zwanzig Jahre jüngeren Schenkel.“

„Verschwinde“, fauchte Rike, „oder …“

Deerberg lachte übertrieben laut auf. „Nun komm her, du Wildpferd.“ Rikes Gegenwehr erstickte er mit ungeduldigen Küssen und forschenden Händen.

Inka drückte sich unter den Steg und hielt die Hand vor den Mund. Die beiden feierten jetzt nicht über ihrem Kopf Versöhnung, oder?

Ob Femke von Hofstetten wusste, dass ihr Verlobter als Möchtegern-Amor im Heidekraut vernachlässigten Ehefrauen seelenvolle Abenteuer bescherte? Waren das die familiären Gründe für vier verschobene Hochzeitstermine? Wie auch immer. Dass Lukas sie betrog, hatte selbst Femke nicht verdient.

Das Stöhnen klang umso lauter und intensiver, je mehr sich Inka die Ohren zuhielt. Irgendwann kamen ein weiblicher spitzer Aufschrei und Lukas’ seufzender Laut.

Stille. Ein paar Augenblicke. Geflüster, Pferdewiehern, Hufgeklapper. Lukas Deerberg und Rike saßen auf und ritten davon.

Inka zog sich Strümpfe und Schuhe an, band Harlekin vom Pfahl und ging den kleinen Hang hinauf. Sie erschrak, als hinter einem Wacholder ein Mann auftauchte, der sie übermütig angrinste.

„Das war eine Vorstellung, was?“, stellte er fest, während er sich den Hosenboden der Jeans klopfte.

„Ja“, räusperte sich Inka. „Haben Sie etwa zugesehen?“

„Na, Sie doch auch.“ Der Mann lachte. Er hatte ein sympathisches Lachen aus schokoladenbraunen Augen.

„Nur die gemütliche Bank hat mir gefehlt. Sebastian Schäfer.“ Der Mann, den Inka auf Anfang vierzig schätzte, streckte die Hand aus und stakste wie ein Storch über Heidekraut auf sie zu.

„Inka Brandt.“ Sie nahm die Hand entgegen, während sie mit der linken den Haflinger am Zügel hinter sich herzog. „Und das ist Harlekin.“

„Freut mich, dich kennenzulernen, Harlekin.“ Mit gebührendem Abstand verbeugte sich Sebastian. „Du bist ja ein besonders hübscher Brauner. Sie auch. Ich meine“, Sebastian machte eine Geste zu Inkas Haaren, „Sie sind ja kein Brauner, ich meine Blonder, Sie sind blond. Nun, es freut mich auch, Sie kennenzulernen.“

Inka grinste. „Ebenfalls“, erwiderte sie. „Sind Sie auf Pilzsuche?“

„Nein, auch Pilze mag ich nicht.“

„Auch?“

„Ja. Nein. Ich meine, ich suche keine Pilze. Ich genieße die Natur.“

„Ah ja. Viel Vergnügen. Übrigens, eine Bank können Sie in Auftrag geben und der Lüneburger Heide spenden. Gehen Sie in die Touristikinfo.“ Inka schwang sich auf Harlekins Rücken, winkte kurz und galoppierte zurück auf den Reiterpfad.

Am Dorfteich hielt sie kurz inne. Das aufgeregte Treiben vom Morgen war verebbt. Touristen fuhren in Kutschen vorbei, winkten wie Queen Mum persönlich, standen vor Buden mit geräuchertem Heideschinken, Lammfellen und geflochtenen Heidekörbchen, saßen vor Cafés, aßen Buchweizentorte, tranken Kaffee und reckten die Hälse in die Nachmittagssonne. Der Alltag war ins Dorf zurückgekehrt, und es war ein normaler friedlicher Tag wie an allen anderen Tagen.

Zumindest sah es so aus.

9

Nachdem sie Paula am nächsten Morgen in Stade bei Teresa im Institut gut versorgt wusste, fuhr Inka zur Wache. Mark Freese saß über Papierkram gebeugt am Schreibtisch.

„Morgen, Mark“, grüßte Inka fröhlich. „Wie weit sind wir?“

„Guten Morgen, liebe Inka“, flötete Oberkommissar Mark Freese. „Ich dachte, wir beide wollten eine Standleitung halten.“

„Hat sich erledigt. Paula ist bei Teresa. Wir können loslegen. Tut mir übrigens leid wegen gestern Abend.“

„Kinder gehen vor“, sagte er und: „Was sagt Teresa, hat sie schon was für uns?“

„Nein“, antwortete Inka und kippte das Fenster, um den würzigen Zimtgeruch, der ihren Kollegen ständig umgab, aus dem Raum zu lassen. „War Fritz gestern im Seerosenhof?“

„Jupp. Ich sehe gerade die Unterlagen durch.“

„Und?“ Inka legte ein Brötchen mit Heidschnuckenschinken in den Kühlschrank.

„Nichts Besonderes. Der Leiter, Ludwig Wesel, erklärte, dass Robert Andresen seit einem Jahr als Therapeut im Seerosenhof gearbeitet hat. Er soll bei seinen Patienten beliebt gewesen sein. Hier steht“, Mark blickte kurz auf, „dass er Fälle übernahm, bei denen es sich um Ehebruch handelte. Er kurierte die betrogenen Partner, die dem Alkohol verfielen, Drogen nahmen oder Depressionen nicht bewältigten. Das war sein Spezialgebiet und gestriges Thema in der Heiderose:Der Seitensprung bei Mann und Frau und die gesellschaftlichen Unterschiede in der soziologischen Entwicklung.“

„Wohl eher auswickeln als entwickeln.“ Inkas Gedanken rasten in Höchstgeschwindigkeit durch fünf Jahre Ehe mit Fabian. Wenn er nur endlich die Scheidungspapiere unterschrieb.

„Was?“

„Nichts, Mark. Steht in den Unterlagen etwas von Verwandten, Freunden, Liebschaften?“

„Seine Eltern leben in Südafrika und bewirtschaften ein Weingut. Eine Schwester wohnt in Hamburg-Harburg.“

„Sind alle informiert?“

Mark Freese nickte. „Die Schwester kommt morgen, die Eltern übermorgen. Liebschaften keine.“

„Gut. Wo hat Andresen gewohnt?“

„In Wilsede zur Untermiete, bei einer Rentnerin. Sein Zimmer wurde durchsucht. Nichts. Nur belangloser Papierkram über Seelenklempnerei, Statistiken aus Amerika, China, Frankreich und Italien. Seinen Laptop habe ich Henry aufgedrückt. Ergebnisse stehen aus. Sobald er etwas hat, ruft er an.“

„Wie läuft die Befragung der Gäste von Andresens Veranstaltung?“

„Schleppend, Inka. Laut der Servicekräfte aus der Heiderose saßen über achtzig Menschen im Saal. Angefangen haben wir mit den Touristen. Die Hälfte ist geschafft.“

„Schönes lila Heidekraut. Und heute beginnt das Scheunenfest.“

„Richtig. Hier probier mal!“ Mark hielt Inka eine Schüssel mit Keksen hin.

„Nein, danke. Und du solltest auch nicht immer dieses Zeug futtern.“ Inka blies die Wangen auf.

„Das ist kein Zeug! Das ist die neue Waffelmischung aus der Fabrik meiner Eltern. Maracuja, Granatapfel und …“

„Zimt.“

„Nein. Für die Weihnachtssaison: Lübecker Marzipan mit Kirsch. Es ist der Probelauf der neuen Sorten. Wir machen gerade eine Marktumfrage. Das Rennen macht Granatapfel. Nimm endlich eine, und sag mir, wie sie dir schmeckt.“

Bereits bei der Kombination Lübecker Marzipan und Kirsch drehte sich Inka der Magen um. Zögernd griff sie in die Schüssel.

„Ich werde dir welche für Paula einpacken. Kinder sind die ehrlichsten Kritiker.“

Inka nickte, während sie auf einer Waffel mit undefinierbarer Füllung herumkaute.

„Und?“, drängelte Mark und sah Inka aufmerksam an, dann: „Nein“, er winkte ab, „nein, sag lieber nichts. Lass den Geschmack auf der Zunge wirken. Er muss sich entfalten. Mit Keksen ist das wie mit gutem Wein.“

Was für ein blöder Vergleich, dachte Inka. Paula würde sie diese trockenen Dinger garantiert nicht geben.

„Hat Fritz nur den Leiter oder auch die Patienten im Seerosenhof befragt?“ Inka griff nach der Flasche Wasser, die auf ihrem Schreibtisch stand.

„Nein, nur den Leiter. Na sag, wie …“

„Gut“, würgte sie Marks Frage ab. Sie war feige, aber sie würde ihm noch die Wahrheit sagen, nur nicht jetzt. „Ich mach mich auf in den Seerosenhof. Du bist ja noch mit Kollegin Bartels bei den Touris beschäftigt. Falls du mich suchst …“, Inka machte die typische Geste, „Handy ist an.“

Mark nickte, auf seinem Gesicht lag ein ernster Zug. „Findest du mich zu dick?“, fragte er, als Inka schon halb aus der Tür war.

„Solange es nicht mehr wird.“ Sie blickte auf Marks Bauch, den sie weder unattraktiv noch abstoßend fand. Ein Mann mit Bäuchlein zum Kuscheln war nicht das Schlechteste.

10

Sebastian Schäfer schritt den langgezogenen, leicht erhöhten Heidschnuckenweg hinauf, weiter über den Wanderweg und hinein in die lila blühende Heidelandschaft.

Welch ein fantastischer Ausblick! Aber Sebastian war nicht hier, um die Aussicht zu bewundern oder sich körperlichen Ausgleich zu verschaffen.

Er befand sich in einem Konflikt, einem großen Konflikt, von dem er hoffte, dass die zwei Freistunden vom Seerosenhof und die frische Luft etwas Klarheit in seine Gedanken brächten.

Auf den Tag genau vier Jahre war es jetzt her, als seine Frau und seine siebenjährige Tochter einem Frauenmörder zum Opfer gefallen waren. Es war seine Schuld.

Sein Beruf als Polizeipsychologe.

Nicht nur einmal hatte Maja ihn gebeten aufzuhören, eine Praxis für Psychotherapie zu eröffnen und ein ruhiges Leben zu führen. Ihre Versuche waren kläglich gescheitert.

Nur noch diesen einen Fall, wir sind so dicht dran, wir können den Mistkerl erwischen, bevor er … hatte er gesagt.

Ja. Er hätte auf Maja, seine junge Frau mit dem kupferfarbenen Teint, hören sollen.

Es war ein Morgen wie jeder andere gewesen, wie jeder normale Mittwochmorgen. Katharina löffelte ihre Cornflakes aus der rosa Prinzessinnenschüssel am Küchentisch, und Maja verstaute die Brotdose in der Schultasche ihrer Tochter und stellte das Geschirr in die Spülmaschine. Er trank Kaffee, vervollständigte seine Notizen für den Tag, küsste und umarmte seine Frau und seine Tochter und verließ das Haus. Alles wie immer.

Heute Abend habe ich eine Überraschung für dich, hatte er Maja zugerufen, dann war er in den Wagen gestiegen.

Sie lächelte ihm zu. Ein letztes Mal.

Der heutige Arbeitstag würde der wichtigste seit zwei Jahren werden. Die Nacht über war es ihm gelungen, den entscheidenden Hinweis auszuarbeiten, um den Mörder, der elf Frauen tötete, zu schnappen. Er war am Ziel.

Dann zwei Wochen Ferien in Dänemark. Das online gebuchte Ferienhaus wartete. Im nächsten Monat begann seine neue Arbeit in einer Gemeinschaftspraxis in Altona.

Maja würde sich freuen.

Als er erkannte, dass er etwas übersehen, die Zeichen falsch gedeutet hatte und in die ausgelegte Falle des Mörders getappt war, war es zu spät. Über eine Videobotschaft auf seinem Handy musste er zusehen, wie seine Frau und seine Tochter gefesselt am Fenster ihres Hauses standen, das kurz darauf in die Luft flog.

Es war der Gedanke an Rache, der Sebastian die letzten vier Jahre aufrecht hielt. Tag für Tag tauchte er mit seinen intellektuellen medizinischen Fähigkeiten ab, sah in die Abgründe der menschlichen Seele, kam er den Mördern auf die Spur. Und außer einem hatte er sie alle im Visier. Er kannte keine Gnade. Wozu auch?

Insiderkreise nannten ihn den Rächer.

Und er überschritt seine Grenzen. Er trank zu viel, schlief zu wenig, und wenn er einmal eingeschlafen war, rissen ihn Albträume aus dem Schlaf. Als die Halluzinationen begannen, wusste er, die nötige Auszeit war gekommen. Nicht seinetwegen, sondern für die Jagd auf das Ungeheuer, das ihm sein Leben, seine Familie genommen hatte, galt es gesund zu werden.

Sebastian warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Seit über einer Stunde war er unterwegs, aber sein Kopf dröhnte noch immer von dem Knall, Feuerschlangen tanzten vor seinen Augen über Hauswände, verschlangen seine Frau, seine Tochter.

Sebastian rannte los. Angst und Verzweiflung standen ihm ins Gesicht geschrieben. Er fing an zu schreien, bis seine Kehle brannte, seine Augen die Landschaft nur noch als schwimmende Masse ordneten und ihm der Kopf zu platzen drohte. Er sank auf die Knie, fiel zur Seite, lag zusammengerollt wie ein Baby im Heidekraut, wimmerte und schrie. Mit den Fäusten trommelte er auf den Boden, grub die Finger in die Wurzeln der Pflanzen, riss sie aus der Erde, warf sie um sich, stand auf und begann von Neuem, bis Schweiß sein staubiges Gesicht sauber wusch, seine Lunge ihm Pause verordnete. Erschöpft und schweißnass setzte er sich auf einen Baumstumpf, steckte sich eine Zigarette an, inhalierte so tief und oft hintereinander, dass ihm schwindelig wurde.

Drei Saatkrähen kreisten mit lautem Kraa, Kraa, Kraa kaum zwei Meter über seinem Kopf und weiter Richtung Tannenwäldchen. Ihr schwarzes Gefieder glänzte im Sonnenlicht metallisch grün, und ihre dunkelbraune Iris äugte Sebastian bedrohlich an. Drei Heidewächter, die jede seiner Bewegungen beobachteten. Zehn Meter weiter marschierte ein Ehepaar mit Wanderstock und Wanderstiefeln. Der Mann lüftete ansatzweise grüßend seinen grauen Trachtenhut mit Gamsbart, sie nickte lächelnd. Die Raben flogen weiter auf einen Wacholderzweig. Sie ließen ihn nicht aus den Augen.

In Sebastians Kopf verlangsamte sich allmählich der Strudel, sein Blick klärte sich, seine Gedanken ordneten sich. Er hob die fünf Kippen auf, die im Heidekraut vor seinen Füßen lagen, und machte sich mit drohendem Kraa, Kraa, Kraa im Rücken auf den Heimweg.

An der Wilseder Straße warf er einen neuerlichen Blick auf seine Armbanduhr. In einer Viertelstunde begann das autogene Training. Er musste sich beeilen. Noch immer war ihm auf eine körperliche Weise elend, fühlte er sich ausgelaugt und schwach.

Mit dem Hemdsärmel wischte er sein Gesicht ab.

11

Kurz nach acht Uhr lenkte Inka ihren Golf über die belebte Wilseder Straße bis zur Sackgasse Neunstücken. Sie fuhr die kleine Anhöhe hinauf zum Anfang der Weidefläche und parkte auf dem Parkplatz neben einem Lieferwagen mit der Aufschrift: Firma Rein & Weiß, alles Grau, dann kommen wir. Tischwäsche und Leibwäsche jeder Art. Telefon 04189/42 42 42.

Die psychosomatische Einrichtung Seerosenhof in Undeloh galt in Fachkreisen als ausgezeichnete private Klinik. Die Undeloher sträubten sich vehement gegen die Bezeichnung Klinik.

Ein halbes Jahr, bevor der erste Spatenstich für den Seerosenhof erfolgte, schwollen lautstarke Proteste über umliegende Dörfer. Es ging die Angst um, dass Höfe und Häuser nicht sicher wären und Brandstiftungen, Diebstähle und Viehabschlachtungen bald zur Tagesordnung gehörten.

Täglich schwirrten neue Horrormeldungen von Hof zu Hof und Dorf zu Dorf. Die Bauern und Bewohner rotteten sich zusammen und demonstrierten vor dem Hanstedter Rathaus. Sie rammten Protestschilder in die Rabatten vor ihren Häusern und beriefen Gemeinderatssitzungen ein. An ihren Kutschen fuhren sie Protestplakate spazieren und beklebten Kartoffelsäcke und Eierkartons mit Infozetteln. Eine befremdende Einigkeit der Dorfgemeinschaft machte sich breit.

Inzwischen feierte der Seerosenhof sein dreijähriges Bestehen, und die aufgeregten Gemüter von damals hatten eingesehen, dass von den Patienten keine Gefahren ausgingen. Zumindest vertrat man diese Meinung bis zum 2. September 2016, dem gestrigen Dienstagmorgen und dem Fund der Männerleiche im Dorfteich.

Durch zwei breite Glastüren betrat Inka den Seerosenhof