Heidegift - Angela L. Forster - E-Book

Heidegift E-Book

Angela L. Forster

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Beschreibung

Ein Luxushotel in der Lüneburger Heide: Oberstaatsanwalt Dr. Detlef Klammer, zu einem Klassentreffen nach Undeloh angereist, wird tot in der Sauna aufgefunden. Kein Zweifel: Klammer wurde ermordet. Kommissarin Inka Brandt und ihr Team ermitteln fieberhaft. Als ein weiterer Klassenkamerad ermordet aufgefunden wird, stellt sich die Frage, wer es auf die ehemaligen Schulkameraden abgesehen hat. Erst tief in der Vergangenheit findet Inka Hinweise auf den Mörder, der keine Ruhe zu geben scheint. Denn Rache lässt Menschen ungeheuerliche Dinge tun ...

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Das Buch

Wiedersehen macht Freude? Die Teilnehmer eines Klassentreffens in Undeloh sind sich da nicht so sicher. Denn einer ihrer Klassenkameraden wird tot in der Sauna eines Luxushotels aufgefunden. Kein Zweifel: Es war Mord. Inka Brandt und ihr Team, Polizeipsychologe Sebastian Schäfer und Rechtsmedizinerin Teresa Hansen, übernehmen die Ermittlungen. Bald taucht eine weitere Leiche auf. Wer hat es auf die ehemaligen Schulkameraden aus der Lüneburger Heide abgesehen?

Erst tief in der Vergangenheit der Opfer und der Gemeinde Undeloh finden sich Hinweise auf den Täter. Er wird keine Ruhe geben: Denn Rache lässt Menschen ungeheuerliche Dinge tun. Das müssen auch Inka und ihr Team bald am eigenen Leib erfahren …

Die Autorin

Angela L. Forster lebt und arbeitet im Hamburger Süden, dessen bezaubernde Landschaft mit der Nähe zum Alten Land und der Lüneburger Heide sie immer wieder zu neuen Geschichten inspiriert. Sie arbeitete als Journalistin für regionale Zeitungsverlage und als Textkorrespondentin.

Von Angela L. Forster sind in unserem Hause erschienen:

HeidefeuerHeidegift

ANGELA L. FORSTER

Heidegift

Ein Fall für Inka Brandt

Kriminalroman

Ullstein

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Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

ISBN 978-3-8437-1394-8

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016Umschlaggestaltung: ZERO Media GmbH, MünchenTitelabbildung: © Getty Images/Johner Images (Schaf); © Getty Images/Ezra Bailey (Vögel); © Image Source/Chris Cole (Heide, vorne); © Image Source/Craig Easton (Heide, Horizont, Himmel); © Heinz Wohner/Look-foto (Haus)

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Die Tiere morden, um zu leben, aber wir …?

Hermann Löns 1866–1914

Prolog

Sommer 1997

Die Sonne schien unerbittlich. Ein flammendes Rot, das durch die Baumspitzen schoss und keine Gnade kannte.

Ihre Hilfeschreie durchschnitten die brennende Augustluft wie die außer Rand und Band geratenen Messer des Messerwerfers, der beim Wanderzirkus in Egestorf um Zuschauer warb.

Ein Spiel, sagten sie. Er und seine Schwester hätten das Streichholz mit dem roten Schwefelkopf gezogen. Das Glückslos, wie sie sagten.

Immer weiter folgten sie den Schulkameraden in die Heide. Abseits der Wanderwege stapften sie durch Heidekraut, vorbei an Wacholderwäldchen und Heidschnuckenherden.

Sie müssten leise sein, sagten sie, sonst würden sie nicht wiederkommen. Doch er wusste, sie würden niemals kommen.

Er kannte die Lüneburger Heide wie den Schuhkarton unter seinem Bett, in dem er alles Mögliche aufbewahrte. Und er wusste, in diese Ecke des Naturschutzgebietes, weit hinter dem Wilseder Berg, fernab ausgeschilderter Wander- und Reitwege, verirrte sich kein Mensch.

Zwölf war er gewesen, als sein Vater ihn auf frühmorgendliche Herbstjagd mitgenommen hatte. Auf dem Hochsitz hatten sie gesessen, den ganzen Tag.

Ein Reh war die Ausbeute gewesen, das sie am Abend nach Hause schleppten. Er hörte noch den Schuss, der sich mit ohrenbetäubendem Knall gelöst hatte, sah, wie Vaters kräftige Schulter mit einer Leichtigkeit den Rückschlag auffing. Wie schämte er sich, dabei gewesen zu sein, ein Tier getötet zu haben.

Es muss sein, erklärte Vater ihm, während er das erlegte Tier auf die Laderampe des Geländewagens warf und mit einer Plane zudeckte. Die Jagd ist notwendig. Das Rotwild breitet sich zu sehr aus und frisst die jungen Bäume kahl.

Verstehen wollte er das nicht. Drei Tage baumelte das aufgeschlitzte Tier, zum Ausbluten festgebunden, an einem Haken an der Hofwand. Hin und her schwang es bei jedem kräftigen Windstoß, warf letzte Blutspritzer an die graue Wand, auf das Kopfsteinpflaster, verfolgte ihn mit dunklen Kulleraugen, wenn er auf das Loch in der Stirn des Tieres stierte. Morgens musste er an ihm vorbei zur Schule gehen. Den Rehbraten, den Mutter mit Speck gespickt und mit Klößen und Rotkohl am Sonntag servierte, hatte er nicht angerührt.

Nie und nimmer, keinen Bissen.

Langsam senkte sich die Dämmerung über die Heidelandschaft, Wolken überschatteten die letzten Bäume. Wie spät war es? Ob die Straßenlaternen leuchteten? Sie sollten längst zu Hause sein. Ihre Eltern würden sich Sorgen machen.

Er leckte sich über die trockenen Lippen. Lass uns mit dem Rufen aufhören, hatte er seine Schwester vor einer Weile gebeten, wir müssen mit unseren Kräften sparsam umgehen, bis sie wiederkommen und uns befreien. Das hatte er gehört. Schauspieler sagten das im Fernsehen, wenn sie in der Klemme steckten. Er wusste, das würde nicht geschehen. Sie hatten sie reingelegt.

Käme er nur an den rosafarbenen Rucksack seiner Schwester heran, er könnte ihr die Kakaotüte und die Packung Butterkekse reichen, die sie immer mit sich rumschleppte und womit sie ihre Barbiepuppen fütterte. Er mochte keine Barbiepuppen und noch weniger Kakao, das war etwas für kleine Mädchen. Jetzt gäbe er seinen Schatz aus dem Schuhkarton her für einen Schluck von diesem süßen Zeug. Bitte, einen kleinen Schluck, damit das Kratzen und Brennen im Hals aufhört.

Mit ausgestreckten Fingerspitzen versuchte er, die Hand seiner Schwester zu erreichen. Er wollte sie streicheln, ihr Mut zusprechen. Es gelang ihm nicht. Mit ihren neun Jahren war sie so zierlich und klein wie eine Sechsjährige. Er war fast vierzehn, und es war seine Aufgabe, sie zu beschützen. Pass immer gut auf deine kleine Schwester auf, wenn ihr in die Heide geht. Wie der Hänsel auf die Gretel. Die Worte seiner Eltern dröhnten in seinem Kopf.

War es im Märchen nicht Gretel, die die Geschwister aus den Fängen der bösen Hexe befreite?

Als die Nacht anbrach, war die Luft, trotz der hochsommerlichen Tagestemperaturen, eisig kalt. Ihre Körper zitterten im Gleichklang. Um sie herum war alles finster. Im Gebüsch knackte es, Laub raschelte, etwas huschte aufgescheucht vor seinen Füßen vorbei. Ein Kaninchen, ein Fuchs, ein Wolf? Die Wölfe sind in die Lüneburger Heide zurückgekehrt. Das hatten sie gerade in der Schule durchgenommen.

Sein Blick folgte dem Geräusch, doch er konnte nichts erkennen. Er war zu müde. Seine Augen brannten, und seine Beine wollten nachgeben, aber das Seil, das die drei Schulkameraden um Schenkel, Hüfte und Oberkörper geschlungen hatten, war fest, viel zu fest, als dass er sich auch nur einen Zentimeter hätte bewegen können. Er drehte den Kopf und sah zu seiner Schwester. Ihr blonder Zopf lag auf ihrer mageren Schulter, sie atmete leise. Ein bisschen schlafen, ausruhen, ja, das würde ihm auch guttun. Sein Kopf sank auf die Brust, und die Augenlider schlossen sich, als würde jemand gewaltsam daran ziehen.

Als er die Augen wieder aufschlug, wusste er nicht, wie lange und ob er überhaupt geschlafen hatte. Er fror, die Kälte hatte seinen Kinderkörper weiterhin im Griff. Mit den Fingerspitzen versuchte er den Knoten des Seils zu lösen, die raue Rinde des Baumes scheuerte an seinen Handgelenken, bröckelte ab und rieselte auf den Waldboden. Der Vollmond schien durch die Zweige, ein Käuzchen rief durch die Nacht, und der Nebel, der allmählich aufzog und immer dichter wurde, ließ jeden Strauch und Baum lebendig werden, jedes kleinste Insekt zu einem Fabelwesen heranwachsen.

Er ruckelte seinen Oberkörper hin und her, kaum ein paar Zentimeter, zu wenig, um sich und seine Schwester aus den Schnüren zu befreien. Er durfte nicht versagen, seine Eltern nicht enttäuschen. Er musste auf sie aufpassen. Er hatte es versprochen.

Wütend schlug er mit dem Kopf gegen den Baumstamm. Sein Herz schlug laut gegen seine Rippen, und er wusste nicht, ob er einfach aufhören sollte zu atmen. Ging so etwas? Delphine konnten das, das sagten die Meeresbiologen im Fernsehen. Du siehst viel zu viel fern, hörte er Mutters Worte. Nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester, sie weiß sich ohne Flimmerkasten zu beschäftigen.

Kühle Luft streifte sein Gesicht. Die Sonne ging auf.

Das Heidegedicht von Hermann Löns fiel ihm ein, heute sollte er es in der Schule aufsagen. Über Tage hatte er es auswendig gelernt, sogar geträumt hatte er davon.

Sommer

Über die Heide ziehen Spinneweben

Von Halm zu Halm ihr silberweißes Tuch.

Am Himmelsrande weiße Wölkchen schweben

Und weißes Wollgras wimpelt überm Bruch.

Es glüht die Luft wie ein Maschinenofen,

Kein Menschenleben regt sich weit und breit,

Der Baumpieper nur schmettert seine Strophen

Und hoch im Blau der Mäusebussard schreit.

In rosa Heidekraut den Leib ich strecke …

O Grabesschlaf, …

Wenn dieser müde Menschenleib verwest, …

»Ich weiß es nicht mehr, ich habe die letzten Strophen vergessen. Der Lehrer wird mit mir schimpfen.«

Er sah zum Himmel auf.

»Lieber Gott, bitte hilf uns. Lass uns nicht alleine«, betete er.

Siebzehn Jahre später

1 Am Freitag, den 28. November 2014, war es kalt und ungemütlich. Es war der Tag, an dem Dr. Detlef Klammers Sterben beginnen sollte. So war es geplant.

Im Hotel Zum Storchennest in Undeloh in der Lüneburger Heide saßen sieben Gäste an einem weiß gedeckten Tisch in der linken Ecke des Restaurants. Es war die Hölle los. Kellnerinnen eilten mit Tellern und Bierkrügen durch den Gastraum, um hungrige Gäste mit Essen und freundlichem Lächeln zu versorgen. Es roch nach Sauerkraut, Gegrilltem und Gebratenem. Im Kamin knisterten Holzscheite und verbreiteten eine wohlige Wärme. Ein schwarzer Labrador schlief in einem Weidenkorb und wärmte sich wohlig den Pelz, ohne sich von dem bunten Treiben im Hotelrestaurant stören zu lassen.

Das mit fünf Sternen ausgezeichnete Hotel Zum Storchennest war erst vor einem Jahr eröffnet worden. Ein weißer winkeliger Fachwerkbau, unter Reet gebaut, der seinen Gästen achtundzwanzig Zimmer, vier Suiten, einen Festsaal, Schwimmbad, Sauna und ein kneippsches Wassertretbecken bot. Die Ruhe und Erholung, die hier zu finden waren, konnten sich allemal mit anderen Orten und Hotels dieser Welt messen.

Eine rothaarige Kellnerin balancierte auf ovalen Tellern, an deren einem Ende die Keramikfigur eines Storches aufgesetzt war, nacheinander sieben Schnitzel mit Pilzsoße an den Ecktisch zu den vier Frauen und drei Männern. Ein Gericht, dessen deftige Zusammenstellung zur Jahreszeit passte.

»Das habe ich als Erinnerungsessen an unsere alte Schulkantine bestellt«, tönte Oberstaatsanwalt Dr. Detlef Klammer laut und großspurig über den Tisch, wie es seine Art war. »Haut rein, ihr Schmarotzer, heute zahle ich!«

Du Arschloch schmückst dich mal wieder mit fremden Federn. Ich habe das Essen für uns bestellt und bezahlt. Aber mach ruhig, du weißt ja gar nicht, wie gelegen mir das kommt. Es wäre besser gewesen, du hättest dich an unsere Vereinbarung gehalten, dann wärst du davongekommen. Jetzt hast du selber Schuld.

Sie musste nur noch für die richtige Ablenkung sorgen, und Dr. Detlef Klammer würde, kurz nachdem er Anfang der Woche wieder zu Hause in Cuxhaven angekommen war, spätestens zehn Tage später, tot sein. Getrockneter und zu feinem Pulver zerriebener Knollenblätterpilz würde ihm den langsamen Tod bringen, den er verdiente.

Alles war vorbereitet, das aufgerissene Tütchen lag in ihrer Hand und wartete auf seinen Einsatz. Ihre Anspannung wuchs, die Minuten vergingen. Sie musste sich beeilen.

Wenn Klammer in dieser verblüffenden Geschwindigkeit weiterfraß, wäre die Chance vorbei. Und was wäre, wenn ihm plötzlich schlecht würde und er aufhörte zu essen? Was, wenn er zum Telefon gerufen würde? Was, wenn das, was sie seit einem halben Jahr sorgfältig geplant hatte, null und nichtig würde?

Verdammt, konnte der Kerl denn nicht langsamer essen!

»Magst du keinen Salat, Detlef?«, wollte sie wissen, und wies mit der Gabel auf Klammers unangerührtes Salatschüsselchen neben seinem Teller. Sie musste ihn in ein Gespräch verwickeln. Diesen Vielfraß ablenken.

Klammer tunkte Pommes frites in die Soße und stopfte sie in den Mund. Schmatzend sagte er: »Fleisch ist mein Gemüse. Nimm dir den Karnickelfraß, wenn du willst. Gestandene Männer brauchen Saft und Kraft. Oder was denkt ihr?« Sein stierender Blick wanderte zu Dora Hoppe, Tanja Griese, Liane Wolters, Beate Schroth, Ullrich Grützmann und Roland Altmann. »Da stimmt ihr mir doch zu, was? Und ich hab vielleicht Glück, dass sich nur sieben von uns hergetraut haben, was wäre das sonst für eine Rechnung!«

Die Männer gegenüber zuckten kollektiv die Schultern. »Jeder, was er braucht«, antwortete Grützmann, ein Mann, der kaum Haare vorwies, dafür mit ausgesprochen sportlicher Figur in Jeans und Jackett steckte. »Doch wenn du meine Meinung als Arzt hören willst, dann solltest du auf dein Cholesterin und dein Gewicht achten, weil …« Weiter kam er nicht, als Klammer ihm das Wort abschnitt.

»Was weiß schon ein angelernter Eiergrabbler wie du!« Er lachte, sein Doppelkinn schwabbelte wie bei einem schlachtreifen Puter. »Ich bin gerade dreißig, was kann mir passieren?«

Sie stimmte Ullrich Grützmann, dem Assistenzarzt der Urologie aus dem Winsener Klinikum, zu. Klammer war fett geworden. Mindestens vierzig Kilo hatte er zugenommen, seit sie ihn das letzte Mal vor zehn Jahren auf der Abiturfeier gesehen hatte. Er bot einen widerlichen Anblick.

»Na, ich weiß nicht«, wand Roland Altmann ein, »hätte ich dein Gewicht, würde ich in den Tanks steckenbleiben.«

»Ja, Augen auf bei der Berufswahl, Roland!«, tönte Klammer, »hättest dein Abi machen sollen, dann müsstest du nicht für ein Butterbrot in stinkende Tanks kriechen. Kannst du dir diesen Schuppen überhaupt leisten?« Klammer fuchtelte mit der Gabel in großem Bogen quer durch das Hotelrestaurant.

»Halt die Klappe, Detlef. Frag dich lieber, wo du sitzen würdest, wenn ich dir nicht die Prüfungsfragen besorgt hätte.« Ein Muskel zuckte zornig an Altmanns Kinn.

»Besorgt! Na, das hättest du wohl gern«, antwortete Klammer mit vollem Mund.

»Jawohl, besorgt! Und weil du damals keinen Arsch in der Hose hattest und alle Schuld auf mich geschoben hast, bin ich anstatt deiner von der Schule geflogen.«

»Na und! Du warst es, der unbedingt in unsere Gruppe wollte. Und Mutprobe ist Mutprobe, haben wir alle gemacht. Wenn du Trottel dich erwischen lässt, bist du eben selber schuld.« Klammer lachte spöttisch, während er nach den nächsten Pommes frites stach.

»Ja, eine Mutprobe, aber du mit deiner Clique, ihr habt mir zwei aufgedrückt, und dann hatten mich die Pauker am Arsch. Außerdem kannst du leicht das Maul aufreißen«, donnerte Altmann weiter, »dich hat dein Herr Vater, der Richter, mit einem Fächer Vitamin-B-Scheinchen ja immer schnell aus der Scheiße geholt.«

»Jetzt reicht es aber, Roland, das war eine Gruppenentscheidung, ich …« Klammer schmiss die Gabel neben den Teller und verstummte, als fielen ihm keine passenden Worte ein. »Du hast ja nicht mehr alle Tassen im Schrank«, sagte er stattdessen und grapschte sein Bierglas.

Na los, prügelt euch. Los, kommt schon, kommt schon.

Eine Kellnerin eilte an den Ecktisch, beugte sich dezent zu Klammer und bat um Ruhe.

Das war ihre Chance. Jetzt musste sie zuschlagen.

Während drei männliche Augenpaare im Ausschnitt der Kellnerin hingen und ihre ehemaligen Mitschülerinnen kopfschüttelnd die Männer anstarrten, griff die Mörderin in absichtlich ungeschickter Weise über den Tisch. Sie stieß an Klammers Bierglas und Grützmanns Rotweinkaraffe, so dass Bier und Wein mit einem Schwall auf das weiße Tischtuch kippten.

Eine Lache Bier-Rotwein-Gemisch schwemmte jegliche vorweihnachtliche Strohsterndekoration von einem Tischnachbarn zum nächsten und umspülte die roten Miniaturweihnachtssterne mit den goldenen Glitzerpunkten. Klammer rückte mit dem Stuhl zurück, um seine graue Anzughose zu retten, während die Kellnerin und die drei Schulkameradinnen nach Stoffservietten griffen, wild auf dem Tisch herumwischten und die Strohkünstlereien in Sicherheit brachten.

Von der Aufregung aufgeschreckt, richtete sich der Labrador auf und lief, was seine alten Knochen hergaben, bellend durch den Gastraum und den Kellnerinnen vor die Füße. Seine Rute peitschte wie ein Scheibenwischer im Gewittersturm.

Ein Tablett schepperte auf den Fliesenboden, Geschirr zerbrach, Glas klirrte. Gäste sprangen auf und halfen den Kellnerinnen, die in Dreierformation auf dem Boden krabbelten.

Der Tumult war perfekt. Niemand achtete auf sie.

Mit schnellem Griff ließ sie das Pulver in Klammers Pilzsoße rieseln. Ihr Herz schlug wie ein Presslufthammer. Jetzt gab es kein Zurück. Rache ist süß.

Ein Junge vom Nebentisch, gerade vier, streckte ihr die Zunge raus. Verdammtes Mistbalg, kennst du keine Manieren? Sie grinste die Mutter an, die ihr einen entschuldigenden Blick zuwarf. Mit erhobenem Zeigefinger mahnend, schob sie das Kind zurück auf seinen Stuhl, woraufhin der Kleine hin und her zu zappeln begann, was seine Eltern zuverlässig zur Weißglut trieb. Ob er sie beobachtet hatte?

»Das tut mir wirklich leid«, sagte sie, als der Trubel verebbt war, »kommt, jetzt gebe ich einen aus.« Sie hob den Arm und suchte den Blickkontakt einer Kellnerin. »Bitte eine Runde Löns Kartoffelschnaps für uns sieben«, orderte sie. Zufrieden sah sie, wie Klammer sich über die Reste seines Essens hermachte.

2 Inka Brandt, Hauptkommissarin aus Hanstedt, drückte das Gaspedal durch und lenkte ihren Wagen links der Wache auf den Heidbecker Damm, um weiter nach Undeloh zu kommen.

Es schneite. Sie schaltete die Scheibenwischer ein, um den Schnee von der Windschutzscheibe zu fegen. Aus dem Radio säuselte Dean Martin Winter Wonderland. Sie hatte zwar nichts gegen Weihnachtslieder und das nahende Weihnachtsfest, im Gegenteil, aber heute ging ihr das vorweihnachtliche Gedudel auf die Nerven. Kaum war Halloween vorbei, lieferten sich fast alle Sender ein Wettrennen um die höchste Einschaltquote ihrer Weihnachtsmusik. Also wählte sie eine andere Einstellung.

Klassik-Radio: Little Serenade von Ernest Tomlinson.

Müde sah sie auf die Uhr am Armaturenbrett. 17.24 Uhr. Mist. Sie war eine halbe Stunde zu spät. Tilly, die Tagesmutter ihrer Tochter Paula, würde ihr wieder zehn Euro abknöpfen. Für jede angefangene Stunde berechne ich ab sofort bei jedem, der sein Kind zu spät abholt, zehn Euro; so machen sie’s im Kindergarten auch, hatte sie letzte Woche gesagt. Inka war einverstanden, leider ohne zu bedenken, dass ihre unregelmäßigen Arbeitszeiten sie mit Tillys neuer Verordnung auf kurz oder lang ruinierten.

Der Papierkram wegen eines Einbruchs in ein Hanstedter Farbengeschäft am gestrigen Donnerstagabend hatte sie aufgehalten. Doch sie wollte den Fall, in dem zwei sechzehnjährige Teenies das Geschäft in einen bunten Farbkasten verwandelt hatten, noch vor dem Wochenende vom Tisch haben. Der entstandene Schaden, den der Inhalt der aufgehebelten Farbdosen hinterlassen und der sich in den wildesten Farbschattierungen überall im Laden auf Wänden und Boden verteilt hatte, ging in den fünfstelligen Bereich. Doch wie die Sache lag, blieb der Besitzer auf einigen Euros, die die Versicherung nicht abdeckte, sitzen, da er das Kellerfenster, durch das die Jugendlichen eingestiegen waren, nicht ausreichend gesichert hatte.

Einbruchdiebstähle lagen normalerweise nicht in Inkas Zuständigkeitsbereich, doch auf der ganzen Wache herrschte Erkältungsalarm. Ihr Kollege Mark Freese war am Mittag mit triefender Nase nach Hause gegangen, und ihr Chef Fritz Lichtmann lag bereits seit gestern mit Fieber im Bett. Lediglich zwei Beamte aus der Zentrale und Amselfeld, ihr neuer Kollege in der Streife, standen noch aufrecht.

Auch wenn sie ab und an statt Mordfällen kleine Diebstahl- und Einbruchsdelikte übernehmen musste, bedauerte Inka ihre Berufswahl nicht. Sie war gern Polizistin, und sie war gut in ihrem Job. Ob in Lübeck, wo sie fünf Jahre Dienst und ihren Nochehemann Fabian hinter sich gelassen hatte, oder in ihrem Heimatdorf Undeloh in der Lüneburger Heide. Hier war sie vor achtunddreißig Jahren geboren und aufgewachsen, und hier auf dem Land sollte ihre dreijährige Tochter Paula ihre Kindheit verbringen.

Vor der engen Kurve, die links in die Straße Stiller Weg führte, ging sie vom Gas. Gerade, als sie vor Tillys Haus neben dem weißen Jägerzaun einscherte, klingelte ihr Handy. Ihre neue Freisprechanlage sprang in fürchterlicher Lautstärke an und dröhnte durch den Innenraum.

»Scheißteil«, motzte sie, dann sagte sie: »Brandt.«

»Hey, Süße, ich bin es Terry.«

»Terry, ich hole gerade Paula von der Tagesmutter, kann ich dich in fünf Minuten zurückrufen?«, fragte sie ihre beste Freundin, die Rechtsmedizinerin Teresa Hansen aus Stade.

»Nein, ich bin beim Schnippeln. Bei mir liegt ein Alkoholiker auf dem Tisch, bei dem du schon vom Ansehen besoffen wirst. Ich wollte dich nur fragen, ob du morgen statt 17 Uhr erst um 18 Uhr kommen könntest. Wir schaffen es mit dem Essen nicht früher.«

»Morgen?«, fragte Inka, während sie den Motor abstellte. Sie drehte sich zum Rücksitz, zog ihre Handtasche heran und wühlte nach dem Portemonnaie.

»Ja, morgen. Samstag. Floras Geburtstag«, kam es vom anderen Ende der Leitung. »Hast du den etwa vergessen?«

»Nein, wie kommst du darauf? Wie könnte ich«, antwortete Inka überstürzt und hielt in der Bewegung inne. Im Rückspiegel sah sie ihr erschrecktes Spiegelbild. Verdammt, Floras vierzigsten Geburtstag hatte sie tatsächlich nicht auf dem Schirm.

»Du lügst, gib es zu. Du hast den Geburtstag von meinem Schatz vergessen.« Teresas Stimme klang, als würde sie augenblicklich mit Skalpell und Säge durch den Hörer kriechen.

»Nein!« Inka kreuzte Mittel- und Zeigefinger der Linken. »Ich habe Floras Geburtstag nicht vergessen, nur ein wenig …«, Inka spürte, wie ihr die Antwort zu entgleiten begann, »na ja, nur ein wenig verlegt«, sagte sie schnell. »Das ist alles.«

»Hm«, knurrte es in Inkas Ohr. »Also gut, für dieses eine Mal lass ich dir das noch durchgehen.«

»Wie großzügig«, erwiderte Inka, obwohl sie wusste, dass ihre Freundin angefressen war. Teresa konnte es nicht verknusen, wenn man Termine vergaß. Sie war die Zuverlässigkeit in Person. Außer, sie stand beim Schnippeln an ihrem Seziertisch, dann vergaß selbst sie die Zeit und alle Lebenden um sich herum. Inka hatte noch nie einen Menschen getroffen, der so mit seiner Arbeit verwachsen war wie ihre Freundin. Zum Glück hatte sie ein Geschenk für Terrys Lebensgefährtin schon vor zwei Wochen gekauft. Das war gar nicht so einfach gewesen, denn was schenkt man einer Frau, die vierzig wird und alles hat?

»Also dann, Süße, wir sehen uns.«

»Bis dann«, sagte Inka, legte auf, nahm zehn Euro aus dem Portemonnaie und stieg aus dem Wagen.

Tillys Haus leuchtete schon vom Gartenzaun aus. Bunte Lichterketten wickelten sich um eine Dreimetertanne im Vorgarten. Auf dem Rasen stand ein beleuchteter Weihnachtsschlitten, den ebenfalls beleuchtete Rentiere zogen. An den Dachrinnen hingen blinkende Kunststoffeiszapfen wie riesige Reißzähne eines Raubtieres, und die Fenster schmückten allerlei Sterne und Basteleien.

Im Haus sah es ähnlich aus. An jeder freien Ecke standen Keramikfiguren, Engel, Räuchermännchen, Nussknacker, hingen Weihnachtskränze, duftete es nach Zimt, Nelken und frischen Backwaren.

Inka fragte sich, wie Tillys Mann es aushielt, mit so einem Weihnachtsjunkie verheiratet zu sein. Eigentlich war Tilly ein Junkie, was jegliche Feiertage anging. Ob das gerade vergangene Halloween, von dem zwei letzte wagenradgroße Kürbisse auf der ersten Eingangsstufe zeugten, das Egestorfer Kartoffelfest, das Amelinghausener oder Schneverdinger Heideblütenfest, der internationale Weltspieltag, der Umarme-Deine-Katze-Tag oder der Tag des Lächelns, Tilly fiel immer etwas ein, um eine Jahreszeit oder einen Anlass schmückend zu zelebrieren.

Paula war bereits in Mütze und Jacke gehüllt, als Inka an Tillys Haustür klingelte. In der einen Hand hielt sie einen selbstgebastelten Weihnachtsmann, in der anderen Hand eine Tüte Kekse, die kunterbunte Zuckerstreusel überhäuften.

»Sieh mal, Mama, was ich für dich gebastelt habe!« Stolz hielt die Kleine die Tüte und das Weihnachtsmännchen in die Luft.

»Das hast du wunderbar gemacht, mein Schatz, den werden wir gleich zu Hause an dein Fenster hängen«, erwiderte Inka, während sie auf Augenhöhe des Kindes ging und schmunzelnd die Bastelei betrachtete. Die Augen des dicken, aus rotem Tonkarton bestehenden Mannes lagen neben den Ohren, und die Stiefel klebten an der Seite des Bauches.

»Und die Kekse essen wir auch«, begehrte Paula auf.

»Ja, natürlich«, versprach Inka, während sie sich wieder aufrichtete und ihre Tochter an die Hand nahm. »Danke«, sagte sie zu der mütterlichen Mittfünfzigerin, die in schwarzen Leggings und einem dicken grauen, selbstgestrickten Wollpullover an der Haustür lehnte. »Du gibst dir immer so viel Mühe mit den Kleinen. Ich bin echt froh, dass ich dich gefunden habe. Ach, und sorry.« Sie drückte der Tagesmutter den Geldschein in die Hand.

»Danke für das Lob, Inka, aber trotzdem solltest du überlegen, ob du nicht Teilzeit arbeiten willst. Nicht meinetwegen, du weißt, Paula ist mir in den fünf Monaten, seit sie bei mir ist, ans Herz gewachsen. Sie versteht sich prima mit den anderen Kindern, wir sind eine tolle Truppe, und die sozialen Kontakte zu Gleichaltrigen sind für jedes Kind ein Gewinn in der Entwicklung. Und über deine Unpünktlichkeit«, sie wedelte mit dem Zehner in der Hand, »freut sich mein Konto. Aber ich habe seit ein paar Wochen das Gefühl, Paula vermisst dich.«

Inka verspürte einen Kloß im Magen. Da war es wieder, das schlechte Gewissen. Arbeitete sie zu viel? Vernachlässigte sie Paula? Es war verzwickt. Sie liebte ihren Job, die Arbeit war ihr wichtig, und sie brauchte ihn nun mal, um den Lebensunterhalt für Paula und sich zu finanzieren. Aber sie musste Fabian ersetzen, das war nicht einfach. Die beiden waren ein Herz und eine Seele. Und die vielen Fragen, die Paula ihr stellte, seit sie im Juli aus Lübeck weggezogen waren, lasteten schwer auf ihrer Seele.

Sie fühlte sich schuldig, Vater und Tochter getrennt zu haben.

Fabian war, wenn er denn mal zu Hause war, ein fabelhafter und liebevoller Vater, daran gab es nichts zu rütteln. Doch ebenso war er ein lausiger Ehemann, ein Herumtreiber und Lügner. Nur, wie sollte sie das einer Dreijährigen erklären, die ihren Vater vergötterte? Nie wollte sie einen Keil zwischen die beiden treiben, das hatte sie sich geschworen. Sie musste ihre Animositäten gegen Fabian beiseiteschieben. Paula zuliebe. Morgen würde er nach Undeloh kommen, um seine Tochter nach Lübeck zu holen. Es war sein Wochenende.

Inka wünschte Tilly einen schönen ersten Advent, setzte Paula auf den Kindersitz und schnallte sie an. Als sie aus der Straße Stiller Weg heraus und in die gegenüberliegende enge Anliegerstraße einfuhr, fiel der Schnee in dicken Flocken und bedeckte den Asphalt mit einem dünnen weißen Film. Doch er würde nicht lange liegen bleiben, schon für den nächsten Tag war Regen prophezeit.

An der nächsten Abbiegung lenkte sie links in die Wilseder Straße ein, vorbei am Hartig-Hof, der mit freien Ferienwohnungen warb, und fuhr weiter in die Heimbucher Straße Richtung Sundermöhren-Hof. An der kleinen Waldstraße Am Brink und dem Hotel Zum Storchennest hielt sie an, um einen fünfzehn Meter langen Laster mit der Aufschrift Wüppers Zuckerhütte – Süßwaren aus eigener Herstellung, der Richtung Dorfteich zum Adventsmarkt zuckelte, vorbeizulassen.

Vor dem Eingang des Hotels standen zwei Männer, die heftig mit den Armen gestikulierten und lautstark stritten. Ein silbergrauer Toyota mit einem blinkenden Schild auf dem Dach, das einem Taxischild ähnelte, stand rechts seitwärts des Eingangs. Inka las Notarzt im Einsatz.

Ob sie nachsehen sollte, was da los war? Vielleicht brauchte jemand polizeiliche Unterstützung? Sie war schon im Begriff, auf den Sandparkplatz einzuscheren, doch dann besann sie sich auf den gemütlichen Abend mit Paula, der vor ihr lag, und gab Gas.

Alles andere konnte warten.

3 Am Samstagmorgen um 10 Uhr klingelte Fabian an der Tür von Inkas Einliegerwohnung auf dem Sundermöhren-Hof.

»Du bist ja überpünktlich«, begrüßte sie ihren Nochehemann, ohne die Spur Sarkasmus in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Wo sind die unterschriebenen Papiere?«

»Was für eine nette Begrüßung. Und ja, ich freue mich auch, dich wiederzusehen.« Fabian Neureuther setzte sein charmantes Lächeln auf. »Willst du mich nicht hereinbitten?«

Noch bevor Inka antworten konnte, kam Paula an die Tür gelaufen.

»Papa! Papa!«

Fabian ging in die Hocke, und Paula warf sich in die Arme ihres Vaters. Ihre dünnen Ärmchen um seinen Hals geschlungen, drückte sie ihre Wange an seine.

Es war wieder der Moment, in dem Inka auffiel, wie sehr Paula ihrem Vater ähnelte. Mit den großen dunklen Augen, den vollen geschwungenen Lippen und der Stupsnase war ihre Ähnlichkeit mit der Neureuther-Familie nicht zu leugnen. Einzig die blonden Haare hatte sie von Inka geerbt.

»Da ist ja mein Zuckerpüppchen«, sagte Fabian.

»Guck mal, Mama hat mir einen Zopf gemacht. Wie die Prinzessin aus Dornröschen.« Paula drehte sich vor ihrem Vater wie eine Primaballerina auf Zehenspitzen, während sie ihre kleinen Hände an die geflochtene und hochgesteckte Zopfkrone drückte.

»Ja, du bist wirklich eine hübsche Prinzessin«, sagte Fabian und nahm die Kleine auf den Arm.

»Gehen wir in den Zoo, Papa? Und kaufst du mir die Mütze mit der Giraffe, die du mir versprochen hast?« Paulas Worte überschlugen sich vor Freude.

»Alles, was du willst, meine Süße«, bremste Fabian den Wortschwall des Kindes. »Aber erst muss ich mit deiner Mama reden. Magst du solange deine Sachen holen, ja?« Er küsste Paula auf den Kopf und setzte die Kleine wieder auf den Boden, die sofort Richtung Kinderzimmer davonrannte.

»Also, was willst du, Fabian?« Inka zählte nicht zu den Menschen, die um den heißen Brei herumredeten. »Los, spuck’s aus, ich kenne diesen Blick.« Ihr Ton war freundlicher als ihre Worte. Mit verschränkten Armen vor der Brust stand sie in der Tür und hatte nicht die Absicht, auch nur einen Schritt zu weichen, um Fabian in die Wohnung zu lassen.

»Wie jedes letzte Wochenende im Monat meine Tochter holen und hören, ob du dich gut eingelebt hast in diesem, diesem … deinem Heimatdörfli am Arsch der Welt«, sagte er betont lässig. Genau diese Art, dazu seine nachtdunklen Augen und das markante Kinn, wie aus einer Römerfigur gemeißelt, hatte Inka vor Jahren höllisch gut gefallen. Er besaß diese Leichtigkeit, mit der er durchs Leben ging, ohne sich über das Morgen oder Übermorgen Gedanken zu machen.

»Habe ich«, antwortete sie kühl. Ihr war nicht klar, worauf Fabian hinauswollte. Er kam jeden Monat einmal nach Undeloh, um Paula zu holen, warum heute die scheinbare Sorge um ihr Wohlbefinden? »Na schön, nachdem wir meine Befindlichkeit abgehakt hätten, was ist mit den Scheidungspapieren, hast du sie endlich unterschrieben?«

»Gut, dass du es ansprichst, Inka. Seit gestern wähle ich mir die Finger wund, um dich zu erreichen.«

»Ich war arbeiten«, sagte sie angesäuert und spürte, wie der Wind auffrischte. Sie sah an Fabian vorbei in den bleigrauen Himmel und zog die Strickjacke fester um ihren Körper.

»Wir müssen neu verhandeln. Ich brauche Unterhalt von dir. Der Alte hat mich letzte Woche vor die Tür gesetzt.« Fabian stieß sich vom Türpfosten ab, an dem er gelehnt hatte.

»Waaas?« Inka stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf, als wolle sie einen bösen Traum vertreiben. »Das soll ja wohl ein Scherz sein!«

Beschwichtigend hob Fabian die Hände. »Geh mal nicht gleich in die Luft. Ich kann ja auch nichts dafür.«

»Ach, hör auf! Wetzleder ist ein feiner Kerl. Der schmeißt nur jemanden raus, der ihm goldene Löffel klaut. Also spinn mir nicht die Hucke voll. Du wirst genug Mist gebaut haben.«

Fabian verzog das Gesicht zu einer grotesken Grimasse. »Ja, da war eine Kleinigkeit, aber …«, sagte er mit gefährlich leiser Stimme. »Bist du jetzt sauer?« Ein verhaltenes Lächeln trat aus seinem dunklen Bartschatten hervor, das aber ebenso schnell wieder verschwand, als er das Blitzen in Inkas Augen bemerkte.

»Nee. Ich finde das alles total super. Was denkst du wohl? Natürlich bin ich sauer«, schob sie hinterher, sog die Luft tief durch die Nase ein und stieß sie als kontrolliertes Schnaufen aus. Wenn Fabian nicht mehr in Wetzleders Werbeagentur arbeitete, fiel der Unterhalt für Paula weg. In Inkas Gedanken schlichen sich Behördengänge und Papierkram, zu denen sie weder Lust noch Zeit finden würde.

»Und, wann können wir …«, säuselte Fabian in Inkas Gedanken hinein.

»Wir können gar nicht«, unterbrach Inka ihn. »Paula und ich kommen selber mit Ach und Krach über die Runden.«

»Na, na, na, wer macht denn jetzt Witze? Ihr habt den dicken Hof, allerhand Viecher, Ferienzimmer, die, wie ich sehe, selbst zu dieser Jahreszeit, ausgebucht sind.«

Mit einem Kopfnicken wies er auf Autos aller Klassen, die auf vollbesetzten Parkplätzen standen.

»Der Hof gehört meinem Schwager Tim und meiner Schwester Hanna, falls du es vergessen hast. Ich wohne in der Einliegerwohnung und zahle Miete.«

»Na und? Wie ich hörte, hast du zwei Pferde im Stall stehen, verkauf eins davon«, bemerkte er bissig, als sich eine Stimme hinter seinem Rücken zu Wort meldete.

»Da habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden. Sebastian Schäfer.« Sebastian streckte Fabian die Hand entgegen.

»Fabian Neureuther«, erwiderte der, während er zögernd die gebotene Hand annahm.

»Angenehm«, antwortete Sebastian. »Übrigens, nur Harlekin gehört Inka, Bajazzo ist mein Pferd, und der wird nicht verkauft«, und an Inka gewandt fügte er hinzu: »Ich sattle die Brüder. Sehen wir uns gleich?«

»Ja, ich komme sofort.« Inka schenkte Sebastian ein eindeutiges Lächeln.

»Hat mich gefreut.« Sebastian nickte Fabian kurz zu und eilte Richtung Stall.

»Na, du verlierst ja keine Zeit. Seit wann hast du denn den neuen Typen?«, wollte Fabian wissen. Er warf Sebastian einen ablehnenden Blick hinterher und murmelte etwas, das klang wie: »Der sieht ja aus, als ob der von der Kartoffelernte kommt.«

»Ich habe keinen neuen Typen. Sebastian ist ein guter Freund und zudem ein Hamburger Kollege, nichts weiter«, stellte Inka klar, während sie Fabians Blick folgte. Sebastians Haar war wie immer zerrauft, als käme er gerade aus dem Bett, und rasiert hatte er sich offenbar auch nicht, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Auch seine Kleidung sah aus wie immer: schlabberige Jeans, der Windblouson an den Seitentaschen eingerissen, staubige Turnschuhe. Wenn man Sebastian nicht kannte, konnte man leicht vermuten, er wäre irgendein übles Subjekt auf der Lauer nach der nächsten kriminellen Tat.

»Ein guter Freund und Kollege, soso. Wo arbeitet er? Im Untergrund?« Fabian verzerrte die Mundwinkel zu einem arroganten Grinsen.

Inka überhörte seine abfälligen Worte. Auch wenn Fabian immer aussah wie aus dem Ei gepellt, gab es ihm nicht das Recht zu urteilen.

»Es geht dich zwar nichts an, Fabian, aber damit du nicht dumm nach Lübeck zurückfährst … Ich habe Sebastian im September dieses Jahres kennengelernt, nachdem wir uns getrennt hatten, falls du etwas anderes denken solltest.«

Ein leises Grollen, wie ein unvermeidliches Erdbeben, kam aus den Tiefen von Fabians Kehle. »Ach ja, und wann war das noch mal genau? Unsere Trennung, meine ich. Denn soweit ich weiß, sind wir immer noch verheiratet.«

Nach einer erneuten Diskussion über das Aus ihrer Ehe stand Inka nicht der Sinn. Also sagte sie: »Unterschreib endlich die Papiere, und das ändert sich schlagartig.« Ihre Augen blitzten, und sie spürte die Anspannung zwischen ihnen, die von Sekunde zu Sekunde stärker wurde.

»Erst, wenn wir uns geeinigt haben. Ich habe Anspruch auf Unterhalt«, hielt Fabian uneinsichtig dagegen.

»Du bist und bleibst ein Arschloch, Fabian. Und wenn du glaubst, ich gehe arbeiten, um deine Abenteuer zu finanzieren, hast du dich …« Inka verstummte, als Paula um die Flurecke hüpfte.

4 Der zweistündige Ausritt mit Sebastian und den beiden Haflinger-Brüdern war nach Fabians morgendlichem Auftritt die reinste Entspannung für Inka. Ihrem Nochehemann fehlten einige Tassen im Schrank, wenn er auch nur im Entferntesten annahm, sie finanzierte seine Liebschaften. Sollte er sich gefälligst einen neuen Job suchen oder bei Wetzleder in der Agentur zu Kreuze kriechen. Ihr war es egal. Keinen Cent bekäme er von ihr, zumindest nicht freiwillig.

Es ging auf 14 Uhr zu, als Inka beschloss, die restliche Bügelwäsche und das Putzen des Wohnzimmerfensters auf einen anderen Tag zu verschieben. Sie warf eine Portion Spaghetti in kochendes Wasser und öffnete das Glas mit Hannas selbstgemachter Tomatensoße. Ihre kleine Schwester war acht Jahre jünger, einen Kopf größer, etwas fülliger als sie und ein Multitalent, was das Einkochen betraf. Eigentlich war sie ein Multitalent für alles, was Hof und Haushalt betraf. Bodenständig wie Mama und nicht so ungestüm wie du, dachte Inka, kratzte die Soße in den Topf und lutschte den Rest vom Löffel. Lecker. Augenblicklich fing sie an zu strahlen.

Nach dem Teller Spaghetti mit Tomatensoße und einem Berg Parmesankäse gönnte sich Inka ein Mittagsschläfchen. Vorschlafen war angesagt. Geburtstage bei Teresa und Flora zogen sich meist bis in die frühen Morgenstunden.

Kurz nach 17 Uhr rekelte sie sich vom Sofa, zog den schwarzen knielangen Rock und den neuen weißen Angorapulli über und schminkte sich sorgfältig. Dann machte sie sich daran, eine breite weiße Schleife um Floras Geschenk zu binden. Vor zwei Wochen war ihr dieses einen halben Meter hohe balinesische, handgeschnitzte Buddha-Unikat im Gartencenter Klintworth in Neuwiedenthal ins Auge gestochen. Eigentlich hatte sie nur Blumenerde für ihre Tomatenpflanzen kaufen wollen, die sie dieses Jahr rechtzeitig vorziehen wollte. Für Tomaten sei das Aussähen im März frühzeitig genug, hatte der Verkäufer zwar gemeint, doch Inka ließ sich nicht davon abbringen. Inzwischen sprossen schon viele kleine Keimlinge unter den in Folie verpackten Eierkartons hervor und bevölkerten die Fensterbänke in Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche.

Als sie gerade mit dem Verpacken fertig war, klingelte ihr Handy. Sie sah auf die Anruferkennung. Mark ruft an, stand im Display. »Grüß dich, Mark. Wie geht’s dir?«

»Leider nicht besser. Nächste Woche liege ich flach. Wollte dir das nur mitteilen«, antwortete Mark Freese nasal.

»Du auch noch. Verdammt. Fritz fällt schon aus. Na gut, danke jedenfalls für deinen Anruf. Ist ja bis auf Kleinigkeiten alles ruhig über den Dörfern, und bis ihr wieder fit seid, begnüge ich mich halt mit Kollege Amselfeld.« Inka lehnte sich ins Sofapolster und legte die Füße auf den Tisch.

»Na, so schlimm ist er nun auch wieder nicht. Ich finde, er ist sehr freundlich. Gut, er ist etwas introvertiert, aber seine Uniform ist gebügelt, und er kommt pünktlich zur Arbeit. Also, was willst du mehr?«, witzelte Mark.

»Er mag mich nicht, und ich kann ihn nicht ausstehen.« Inka war genervt. Seit den Morden auf dem Seerosenhof vermied der neue Streifenbeamte jegliches Gespräch mit ihr, vermutlich wegen dieser Bemerkung, die sie vor drei Monaten gemacht hatte, Vögel würden zwitschern, die er als Scherz auf Kosten seines Nachnamens missverstanden hatte. Was Inkas Meinung nach noch lange kein Grund war, ihr wortwörtlich den Fehdehandschuh vor die Füße zu werfen, sie hatte es gar nicht so gemeint.

»Nimm es nicht so schwer. Der Knabe kommt aus der Karnevalshochburg Köln. Hab gehört, da laufen einige Straßenkellen neben der Spur. Er wird sich schon wieder einkriegen. Was ist mit der Farbensache, hast du …?«

»Alles erledigt«, fiel Inka ihrem Kollegen ins Wort. »Zu Flora kommst du dann sicher auch nicht, oder?« Ein letzter Gedanke blieb noch bei Amselfeld hängen. Es war ihr völlig egal, aus welcher Stadt oder fernem Land es ihren Kollegen nach Hanstedt verschlagen hatte, ob aus Köln oder vom Nordpol. Sie mochte ihn nicht und damit basta.

»Nein. Terry würde mich und meine Viren sowieso nicht in ihr steriles Heiligtum reinlassen.«

Inka lachte. »Stimmt, da hast du recht.«

Seitdem Teresa und Flora den Resthof in Egestorf im Döhler Kirchweg gekauft hatten und von Grund auf restaurierten und sanierten, war sie noch pingeliger als früher. Diese vielen Käfer, Spinnen und Würmer, die aus allen Ecken kriechen, das ist widerlich, hatte sie geschimpft, während sie eine Spritze mit Silikon nach der anderen in rissige Wandfugen gedrückt und sie mit transparenter Füllmasse versiegelt hatte. Warum sich eine Rechtsmedizinerin vor Krabbelkäfern ekelte, war Inka schleierhaft. Käfer waren Käfer, ob aus Körperöffnungen oder Wandfugen, was machte es für einen Unterschied?

»Was schenkst du Flora zu ihrem Vierzigsten?«, wollte Mark verschnupft wissen.

»Du meinst zu der aufmunternden Karte, sie möge das Alter heiter und flockig nehmen?«

Mark lachte.

»Sie kriegt einen Holz-Buddha aus Bali. Ein neues Stück für ihre Sammlung. Handgeschnitzt«, setzte sie als Rechtfertigung hinzu, da Flora bereits vom Keller bis auf den Speicher alle Räume mit Buddhas ausgeschmückt hatte.

»Wann warst du auf Bali, in der Mittagspause?«

»Hör bloß auf, Mark. Ich hätte Floras Geburtstag total vergessen, hätte mich Terry nicht angerufen.«

»Und?«

»Was, und?«

»Wie war es auf Bali?«

»Nett. Hat Ähnlichkeit mit dem Gartencenter Klintworth in Neuwiedenthal. Toller Laden, hat echt schöne Sachen. Den Buddha habe ich dort schon vor zwei Wochen gekauft.«

»Er ist aus nachwachsendem Tropenholz, wie ich hoffe.«

»Was?«, fragte Inka, in Gedanken stöberte sie in Klintworths Sortiment.

»Das Holz, aus dem der Buddha ist, Inka. Du weißt doch, was Flora für eine Ökotante ist.«

»Ja, ja klar. Und was kriegt sie von dir?«

»Karten für das Hamburger Musical Rocky, weil sie auf Boxen und Sylvester Stallone steht. Na ja, der spielt nicht mit, aber der Darsteller Drew Sarich hat Potential.«

»Wow«, erwiderte Inka. Ihr Freund und Kollege Mark war ein Mann mit überraschenden Ideen. Nicht jeden seiner Einfälle fand sie genial, aber dennoch schaffte er es, zu jeglichem feierlichen Anlass mit einer neuen Geschenkidee aufzuwarten.

Das Klingeln an der Haustür holte sie aus ihren Überlegungen.

»Du, Mark, ich muss dich abwürgen«, sagte sie, »es klingelt, das wird Sebastian sein.« Sie warf einen schnellen Blick auf die Wohnzimmeruhr. Der Zeiger hüpfte auf 17.46 Uhr. Jetzt aber los.

Inka rannte zur Tür, blieb vor dem Spiegel kurz stehen, wuschelte sich durch den Blondschopf, bis sie zufrieden war, zog den Rock glatt, straffte die Schultern und öffnete die Tür.

Sebastian hatte seine Schlabberklamotten gegen schicke schwarze Jeans, weißes T-Shirt, kariertes Hemd und eine dunkelbraune Winterjacke mit buschigem Webpelzkragen getauscht. Die schwarzgraue Zottelmähne bändigte ein Haarband auf dem Hinterkopf. Er grinste. »Ich bin etwas spät«, sagte er, »aber ich musste noch bei meinen Eltern anrufen. Pflichttelefonat. Einmal die Woche«, ergänzte er und klang, als entschuldige er sich für die Überfürsorglichkeit seiner Eltern ihrem zweiundvierzigjährigen Sohn gegenüber.

»Kind bleibt man sein Leben lang«, erwiderte Inka und schaute Sebastian in die Augen. Das war ein Teil seines Lebens, den sie noch nicht kannte. »Gehen wir.« Sie nahm die Schlüssel von der Kommode und verschloss die Tür der Einliegerwohnung.

Auf dem Hof herrschte ungewohnte Stille. Weder Gustav und Gloria, die beiden Hausgänse, noch Bonny und Rocky, das verliebte Katzenpärchen, oder Inkas Neffen Linus und Lennart trieben sich schnatternd oder tollend herum.

5 Seit dem frühen Morgen hatte sich sein Magen-Darm-Trakt beruhigt. Der Tag gehörte ihm. Auch während der Kutschfahrt mit seinen ehemaligen Schulkameraden und der nachmittäglichen Buchweizentorte, von der er drei Stücke verdrückt hatte, war es Dr. Detlef Klammer blendend gegangen. Das Abendessen, geschmorte Heidschnuckenkeule mit Klößen und Sauerkraut, schlang er hinunter, als wäre sein Körper nie kurz vorm Kollabieren gewesen.

»Wie mir scheint, Detlef, geht es dir wieder besser.« Ullrich Grützmann schielte zu Klammer, der sich noch mal zwei Klöße und eine Portion Keulenfleisch auf den Teller schaufelte.

»Ja.« Klammer lachte, während braune Soße aus seinem rechten Mundwinkel tropfte und sich ihren Weg Richtung Kinn suchte. »Ich hab einen Kuhmagen. Aber ich sag’s euch, die letzte Nacht war vielleicht eine Nacht. So viel hab ich mein Leben lang nicht gekotzt und geschissen. Mindestens sechs Kilo ohne Knochen.« Er griff zur Serviette und wischte sich den Mund ab. Ein brauner Fleck haftete hartnäckig an seinem Kinn.

»Tatsächlich.« Grützmann schluckte und schob seinen Teller mit dem Rest Soße und Keulenfleisch zur Seite. »Hauptsache, du bist wieder fit.«

»Das will ich hoffen«, antwortete Klammer.

Hoffe ruhig und friss dich voll. Leider hattest du nicht das Glück, gleich an einem hypovolämischen Schock zu sterben. Wie schön für mich, du darfst weiter leiden. Denn nach frühestens drei und spätestens zehn Tagen wird eine Leberschädigung eintreten, deine Nieren werden geschädigt, und deine Blutgerinnungsfaktoren kommen zum Erliegen. Innere Blutungen folgen, weil lebensnotwendige Hormone nicht mehr produziert werden, dein Stoffwechsel wird zusammenbrechen. Von Stunde zu Stunde wird es dir immer schlechter gehen, doch bis jemand herausfindet, was du hast, ist es zu spät, bist du elendig verreckt.

»In einer halben Stunde«, begann Klammer neu, er sah auf seine Armbanduhr, deren Lederband sich eng um sein kräftiges Handgelenk schnürte, »um 18.30 Uhr, gehe ich in die Sauna und schwitz mir den Rest aus dem Pelz. Will mich jemand begleiten?« Er sah erst die Männer an, bevor er den vier Frauen am Tisch aufmunternd zuzwinkerte.

Liane Wolters, Dora Hoppe, Beate Schroth und Tanja Griese schüttelten nacheinander angewidert die Köpfe, ohne auszusprechen, was ihnen sprichwörtlich ins Gesicht geschrieben stand. Ullrich Grützmann schloss sich der Verneinung an.

»Ich begleite dich«, sagte Roland Altmann nach kurzem Zögern, was ihm die erstaunten Blicke seiner Tischnachbarn einbrachte. Er zuckte die Schultern. »Eine Saunarunde zum Aufwärmen kann ich gut gebrauchen«, setzte er nach, als müsse er sich rechtfertigen, diesem Widerling zu folgen, mit dem er sich gestern beim Abendessen so gefetzt hatte, als wollten sie sich jeden Moment wie wütende Terrier an den Hals springen.

Klammer nickte grinsend. »Aber nicht, dass du Spargeltarzan durch die Rillen der Pritsche rutschst und ich dich vom Boden kratzen muss.« Er schob den letzten Fleischklumpen vom Teller in den Mund, kaute. »Hau mal lieber rein, damit du was auf die Rippen kriegst.« Seine Gabel wirbelte über der Schüssel, in der ein letztes faustgroßes Keulenstück in brauner dicker Soße schwamm.

Die Sauna war auf achtzig Grad vorgeheizt, und ein Stapel Handtücher lag am Tauchbecken bereit, als Oberstaatsanwalt Dr. Detlef Klammer und Roland Altmann die im Untergeschoss befindliche Wellnessetage des Hotels Zum Storchennest betraten.

Klammer hängte seinen Bademantel an den Haken neben die Saunatür, schnappte sich ein Handtuch vom Stapel und schlurfte in die Sauna. Er griff zur Holzkelle, schöpfte im Eimer nach dem ätherischen Aufguss und goss den Inhalt mit Schwung auf die elektrisch beheizten Granitsteine, die auf dem Saunaofen lagen. Es zischte. Eine Dampfsäule wirbelte an die Holzdecke, und herber Eukalyptusduft füllte den vierzehn Quadratmeter großen Raum. Mit dem Handtuch wedelte er ein paarmal durch den Dampf, bevor er es auf der obersten der drei Holzstufen ausbreitete.

Robert Altmann warf Klammer, der wie Götterkönig Zeus auf dem Frottee lümmelte, einen nachdenklichen Blick zu.

»Wird dir das nicht zu heiß da oben?« Sein Blick fiel auf das Thermometer, dessen Anzeige blitzartig auf neunzig Grad geschossen war.

»Ach was, mein Adoniskörper verträgt einiges.« Mit flacher Hand klatschte er dreimal auf seinen Wanst, der unter dem Schlag wie gestürzter Wackelpudding schaukelte.

»Ja, wer von körperlicher Arbeit verschont bleibt und immer eine schützende Hand über seinem fetten Arsch hat, der kann …«

»Hey, hey, hey, Roland! Willst du mich etwa beleidigen?«

»Ich dich? Hast du heute schon in den Spiegel gesehen, Detlef? Du bist es doch, der sich mit Beleidigungen bestens auskennt! Das war schon früher in der Schule so.«

»Nun mach aber mal halblang.« Klammer setzte sich auf und stellte seine Füße auf die darunterliegende zweite Bankreihe. »Unsere Schulzeit ist seit zehn Jahren Geschichte.«

Altmann winkte ab. »Du warst ein Ekel und wirst immer ein Ekel bleiben. Ich weiß noch, wie du Dora gemobbt hast, weil sie ungarische Wurzeln hat. Und du warst es auch, der Doras retuschierte Nacktbilder ins Internet gestellt hat.«

Klammer zuckte gleichgültig die Schultern. »Na und, wen interessieren denn nach all den Jahren noch Dummejungenstreiche? Das war Spaß, nichts weiter.«

»Dumm. Ja. Jungenstreiche sicher nicht. Das war kriminell. Das solltest du als angehender Richter eigentlich wissen.« Roland Altmann hob die Mundwinkel an. »Wie schafft man eigentlich mit dreißig den Sprung auf der Karriereleiter zum Oberstaatsanwalt? Da hast du ordentlich gebüffelt, oder? Dabei gehört Lernen doch so gar nicht zu deinen Stärken.«

»Fängst du wieder mit der alten Leier an«, polterte Klammer los. »Kannst du nicht Ruhe geben? Ist doch alles verjährt.«

»Die seelischen Narben, die du hinterlassen hast, verjähren nie. Oder hast du vergessen, wie du Beate runtergemacht hast, wegen der paar Pfündchen mehr auf den Rippen? Die Arme war mit den Nerven völlig am Ende. Und Tanja, erst hast du sie geschwängert und ihr dann auch noch eine Pfuscherin vermittelt. Jetzt kann sie keine Kinder mehr bekommen.«

»Pah, soll sie froh sein, so bleiben ihr die schreienden Blagen erspart, und sie kann vögeln, bis der Arzt kommt.«

Klammer rutschte mit nacktem Hintern auf die unterste Holzbank Altmann gegenüber, spreizte die Beine, griff sich in den Schritt und bearbeitete mit der rechten Hand seinen Schwanz.

»Was bist du für ein widerliches, fieses Warzenschwein«, sagte Altmann. Angewidert beobachtete er seinen ehemaligen Schulkameraden. »Hast du überhaupt kein Gewissen?« Seine Augen verdunkelten sich und sein Kiefer verkrampfte.

»Wieso denn?«, krakeelte Klammer. »Jeder ist für sein Leben selbst verantwortlich.« Mit einem leichten Seufzer nahm er die Hand aus dem Schritt. »Nun komm schon, Roland.« Klammer stand auf und setzte sich neben Altmann.

Noch bevor er den Arm um Altmanns Schulter legen konnte, sprang der auf und brüllte los: »Fass mich bloß nicht an, du Drecksau!«

»Was ist, hast du Angst, ich würde dich mageren Hanswurst angrabbeln? Gott bewahre. Ich steh nicht auf Versager.«

Für einen Moment herrschte angespanntes Schweigen. Dann holte Altmann aus und ließ seine Faust auf Klammers Kinn krachen. Klammers Kopf schnellte zurück. Er torkelte kurz zur Seite, landete mit dem rechten Ellenbogen auf der Holzpritsche, fing sich aber gleich wieder.

»Na siehste, das klappt sogar ohne Abitur.« Schief grinsend rieb Klammer sein Kinn und ließ die Zähne blitzen.

»Du verdammtes Arschloch.« Mit geballten Fäusten stand Altmann vor Klammer und beäugte ihn wie ein Bussard die Beute. »Warum reist du nicht ab und lässt uns alle in Ruhe, bevor ich dich …«

»Was willst du, du Hänfling?«, fuhr er Altmann ins Wort. »Willst du mir etwa drohen? In zwei Wochen bin ich Richter am Landgericht in Cuxhaven. Was meinst du, wie schnell ich dich hinter schwedische Gardinen setze, wenn du mir an die Wäsche gehst. Ups«, er sah an sich herunter, »ich habe ja gar keine an.« Sein bösartiges Grinsen wurde noch breiter.

»Und was meinst du, was passiert, wenn ich rausposaune, wie du dir dein Abitur erschwindelt hast. Wie schnell verpufft dann dein Richteramt? Na?« Roland Altmann wartete nicht auf Antwort und fuhr fort: »Ja, da bleibt dem Herrn die Spucke weg, was?«

Klammer stand auf, stellte sich vor Altmann und legte ihm siegessicher die Rechte auf die nackte Schulter. »Mach nur. Dann bist du genauso dran, denn du hast die Prüfungsfragen geklaut, nicht ich.«

Angewidert fegte Altmann Klammers rechte Hand von seiner Schulter. »Ich? Ich habe nichts zu verlieren. Wen interessiert in meinem Job schon, was ich vor zehn Jahren gemacht habe und warum ich so blöd war, dir zu vertrauen?«

»Richtig, wen interessiert ein kleiner Tankreiniger? Ein Nichtsnutz, ein Wurm, oder sollte ich Würmchen sagen?«

Klammer riss Altmann das Handtuch von den Hüften. »Und wie ich sehe, ist da noch mehr, oder besser gesagt weniger, was seit der Schulzeit den Aufschwung verpasst hat.« Klammer, mit Blick zwischen Altmanns Beine, lachte dreckig.

»Jetzt langt es! Dein Gequatsche hör ich mir nicht mehr an!«

Robert Altmann bückte sich nach dem Handtuch, dann fiel sein Blick auf die Holzkelle, die über dem Eimer mit dem ätherischen Aufguss lag. Es brauchte diese Hundertstelsekunde, bis sein Gehirn seine Hand aufforderte, nach der Kelle zu greifen und diese schwungvoll seinem Gegenüber an den Kopf zu schmettern.

Klammer starrte ihn aus aufgerissenen Augen an, taumelte, versuchte sich an der Holzbank festzuhalten, vergeblich. Mit dumpfem Aufprall stürzte er zu Boden und blieb, nachdem sein feistes Fleisch eingeebnet war, regungslos in Seitenlage liegen.

Für einen Augenblick erstarrten Altmanns Gesichtszüge, er hielt den Atem an, dann beugte er sich zu Klammer, fühlte seinen Puls.

Der stöhnte leise und schickte Flüche in Altmanns Richtung.

Roland Altmann schlüpfte in die Badelatschen, die vor der Sauna standen, nahm den Bademantel vom Haken und sah durch das rechteckige Sichtfenster der Holztür. Klammer hatte sich aufgerappelt und auf die unterste Pritsche gesetzt. Er schwankte leicht, und über seine linke Schläfe lief Blut.

Als es an der Saunatür klopfte, saß Klammer noch immer auf der untersten Bank und hielt sich den Kopf. In Zeitlupe sah er hoch und torkelte zur Tür, dann riss er die Augen weit auf.

So sollte es sein. Oberstaatsanwalt Dr. Detlef Klammer sollte sehen, wer ihm den letzten Atemzug raubte. Niemand würde sie stören.

Das Schild »Wegen Reinigungsarbeiten vorübergehend geschlossen« an der Tür des Untergeschosses erfüllte seinen Zweck. Klammer drückte die Klinke, die Tür blieb verschlossen, der Stiel des Wasserschiebers hielt.

»Lass mich raus. Lass die Witze«, sagte er, während er beide Hände um den Türgriff legte und ununterbrochen daran rüttelte. »Mach doch keinen Scheiß.« Ein missglücktes Lächeln huschte über Klammers aufgedunsenes Gesicht.

Er wusste, was mit ihm geschehen würde, käme er aus dem Schwitzkasten nicht heraus. »Hör zu, ich kann dir Geld geben! Wie viel willst du? 10000 Euro? Nein, sagen wir, ich geb dir 100000! Na, das ist doch was, oder? Das kannst du doch gut gebrauchen.«

Er bekam keine Antwort.

Klammers Blick fuhr zum Thermometer. Der Zeiger sprengte die 120-Grad-Marke. »Ich geb dir 200000 Euro!«

Lange ging das nicht mehr gut. Panik ergriff ihn. »Los jetzt, du hattest deinen Spaß, mach endlich die verdammte Tür auf!« Mit den Händen wischte er sich den Schweiß von Stirn, Nase, den verfetteten Hängewangen, wartete und sah mit irritiertem, unstetem Blick in eisige Augen. Ein aufgesetztes schiefes Lächeln und kaum erkennbares Kopfschütteln war alles, was er zur Antwort bekam.

»Himmelarsch noch mal!«, schrie Klammer. Seine Halsadern schwollen an wie dicke, blaue Würmer. Er tat zehn Schritte bis zur hinteren Holzpritsche, nahm Anlauf und warf sich mit der rechten Schulter gegen die Tür. Wieder und wieder. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schrie er auf, trommelte mit den Fäusten gegen das Holz und versuchte mit den Fingern die Tür aufzuhebeln. Er stöhnte und kreischte abwechselnd, was seine miserable Kondition hergab.

»Halt endlich die Klappe, du miese Ratte! Du wirst büßen für das, was du getan hast. Und du bist nur der Anfang«, hörte Klammer hinter der Scheibe.

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