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Als er in die Schule kommt, nehmen ihn die Eltern beiseite und sagen: »David, ab heute heißt du Dieter.« Sie waren im KZ und wollen nicht, dass ihr Sohn schon an seinem Namen als Jude erkennbar ist. Diese und andere Geschichten aus seinem Leben erzählt Dieter Graumann im sehr persönlichen und aufschlussreichen Gespräch mit den FAZ-Redakteuren Werner D’Inka und Peter Lückemeier.
Der Präsident des Zentralrats der Juden geht auch ein auf Antisemitismus und das Leben der Juden in Deutschland, und positioniert sich in aktuellen Debatten um die Beschneidung, das NPD-Verbot und die Altersarmut jüdischer Zuwanderer.
Graumann beharrt auf einem Akzentwechsel des deutschen Judentums, das seine Rolle nicht allein im Erinnern und Anklagen finden darf, sondern vor allem zukunftsgerichtet sein soll.
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Seitenzahl: 189
Über das Buch
Als er in die Schule kommt, nehmen seine Eltern ihn beiseite: »David, ab heute heißt du Dieter.« Sie waren im KZ und wollen nicht, dass ihr Sohn an seinem Namen als Jude erkennbar wird.
Über Momente seines Lebenswegs und über seine Lebensaufgaben sprechen Werner D’Inka und Peter Lückemeier mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann. Dieser nimmt darüber hinaus Stellung zu aktuellen Debatten und erläutert, warum das deutsche Judentum seine Rolle nicht allein im Erinnern finden darf.
Ein ausführlicher und persönlicher Gedankenaustausch, der viele Facetten Dieter Graumanns und des jüdischen Lebens in Deutschland zutage fördert.
Über den Autor
Werner D’Inka gehört seit 2005 dem Kreis der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an und ist zuständig für den Regionalteil. Zur F.A.Z. kam er 1980, von 1991 bis 2005 war er ihr Chef vom Dienst. Seit 2005 ist er Präsident des Frankfurter Presseclubs.
Peter Lückemeier ist seit 1980 Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und seit 1990 einer ihrer beiden Lokalchefs. Er ist der Urheber der »Herzblatt-Geschichten« in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die er sechzehn Jahre lang verfasst hat.
Ab heute heißt du Dieter!
Graumann im Gespräch
Herausgegeben von Werner D’Inka undPeter Lückemeier
Kösel
Copyright © 2014 Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlag: Weiss | Werkstatt | München
Abbildungen Inhalt aus Privatbesitz
ISBN 978-3-641-14321-3
www.koesel.de
Inhalt
1 »Nie habe ich mit meinen Eltern gestritten«
Kindheit, Schatten der Vergangenheit, Internat
2 »Eine wertvolle Sprache«
Der Untergang des Jiddischen
3 »Ich könnte mir mein ganzes Leben nur mit Büchern vorstellen«
Studium und Beruf
4 »Ich nenne es eine revolutionäre Veränderung«
Über die Frankfurter Jüdische Gemeinde und die jüdische Gemeinschaft in Deutschland
5 »Dadurch habe ich gelernt, mich zu engagieren«
Der Protest gegen das Fassbinder-Stück
6 »Euch hat man vergessen zu vergasen«
Der Konflikt mit dem Deutschen Fußball-Bund
7 »Wenn ich jemandem helfen kann«
Präsident des Zentralrats
8 »Diese schnodderige Skrupellosigkeit«
Zu den Kontroversen um Martin Walser und um Jakob Augstein
9 »Natürlich darf man Israel kritisieren«
Das Grass-Gedicht
10 »Jüdisches Leben wäre nicht mehr möglich gewesen«
Über die Beschneidungsdebatte
11 »Seinem Kurs folgen wir bis heute«
Erinnerungen an Ignatz Bubis
12 Ironie der Geschichte
1 »Nie habe ich mit meinen Eltern gestritten«
Kindheit, Schatten der Vergangenheit, Internat
Wo wurden Sie geboren?
In Israel, in Ramat Gan, einer Stadt in der Nähe von Tel Aviv.
Was machten damals, im Jahr 1950, Ihre Eltern in Israel?
Sie hatten sich ja in Frankfurt-Zeilsheim im Lager für Displaced Persons kennengelernt. Sie wollten aber nicht in Deutschland bleiben – »in verbrannter Erde«, wie sie das zu jener Zeit genannt haben – und entschlossen sich, nach Israel auszuwandern. Als sie auf dem Schiff waren, war meine Mutter schon mit mir schwanger. Mein Vater hat dann versucht, in Israel Fuß zu fassen, hat mit Freunden eine Wäscherei eröffnet, aber das Klima machte ihm doch sehr zu schaffen. 1950 gab es ja noch kaum Klimaanlagen in Israel, Autos waren auch Mangelware. Mein Vater fuhr jeden Tag mit dem Fahrrad in glühender Hitze von Ramat Gan nach Tel Aviv und wieder zurück. Die Lebensmittel waren rationiert, sodass auch eine vernünftige Ernährung schwer möglich war. Es war insgesamt ein sehr hartes Leben, und als ein Arzt zu meinem Vater, der nach seiner harten KZ-Zeit gesundheitlich noch sehr lange schwer angeschlagen war, auch noch sagte: »Wenn du hierbleibst, wirst du bestimmt nicht alt werden«, da haben sich meine Eltern entschlossen, Israel wieder zu verlassen.
Wie lange dauerte der Aufenthalt dort insgesamt?
Ich schätze, ungefähr 18 Monate lang.
Was ist Ihre erste Erinnerung?
Im jüdischen Kindergarten in Frankfurt am Main wird mein Geburtstagslied gesungen, und ich flüchte auf den Schoß der Erzieherin, weil es mir so schrecklich unangenehm ist, im Mittelpunkt zu stehen. So ähnlich wie heute übrigens häufig auch – nur weiß ich dann oft gar nicht, wohin ich flüchten soll.
Wenn Sie Ihren Vater mit vielleicht drei Eigenschaften beschreiben sollten, welche wären das?
Mein Vater, der 2012 im Alter von fast 91 Jahren gestorben ist, war außergewöhnlich klug, er war bestimmt der klügste Mensch, den ich jemals erlebt habe. Er war das emotionale Kraftzentrum unserer Familie, und er trug in sich eine bedingungslose Liebe ohne Grenzen.
War er streng?
Nein, gar nicht, er war sehr liebevoll. Er zeigte eine Liebe, die ganz wenig forderte und immer nur geben wollte. Das war gegenüber mir so, gegenüber meiner Frau und ganz besonders gegenüber seinen beiden Enkeln, also meinem Sohn und meiner Tochter.
Was für eine Ausbildung hatte er?
Dieser ungewöhnliche kluge Mann hatte überhaupt keine Ausbildung, er war ja als junger Mann ins Konzentrationslager gekommen.
Wie alt war er da?
Etwa achtzehn. Er hat, wie so viele, hinterher gesagt: »Meine Universität war das KZ.« Er war in sechs verschiedenen KZs und hat da ganz schlimme Dinge erlebt, zum Beispiel musste er in Ostrussland Gleise bei minus 25 Grad mit bloßen Händen verlegen, dabei musste er in unbeheizten Viehwaggons übernachten, bekam kaum etwas zu essen und war dabei auch noch ständig dem brutalen Sadismus der KZ-Wächter ausgeliefert. Der grausame, zynische Nazi-Plan »Vernichtung durch Arbeit« war schließlich nicht nur so einfach dahingesagt: Er wirkte. Mein Vater hat immer erzählt, wie seine Kameraden reihenweise um ihn herum gestorben sind. Als er mit 23 Jahren befreit worden war, das war im KZ Buchenwald nach einem langen und schauderhaften Todesmarsch aus dem Osten, hat er von Sicherheit, von Familie, von Aufstieg oder Karriere nicht einmal träumen können. Umso mehr bewunderte ich immer, dass es ihm dann gelang, eine Familie zu gründen, eine Existenz aufzubauen, wirtschaftlich erfolgreich zu werden. Man muss sich vor Augen halten: Er hat ja schließlich nicht nur mit nichts angefangen, sondern mit sogar einem ganz dicken Minus in Sachen Ausbildung und Startkapital und vor allem emotionaler Ausstattung. Alle Chancen auf ein gutes Leben schienen durch die Nazis doch barbarisch genommen zu sein. Umso bewundernswerter ist die Stärke, die er dann aufbrachte, es dennoch zu probieren.
Was immer ich Positives an mir entdecke, das habe ich von meinem Vater gelernt oder übernommen.
Und es zeigt auch, dass die Faschisten einem alles wegnehmen konnten, bis auf den Lebenswillen. Das ist für mich im Grunde immer wieder der Triumph des Guten über das Böse.
Bei welchen Gelegenheiten hat er vom Leben im KZ erzählt?
Meine beiden Eltern erzählten viel aus dieser Zeit. Anders als meine Mutter, bei der diese Zeit bis heute mit sehr, sehr starken Emotionen verbunden ist, hat mein Vater oft sogar relativ sachlich über die Konzentrationslager und seine Erlebnisse dort gesprochen. Meist berichtete er nur darüber, wenn er gefragt wurde. Lediglich in den letzten beiden Lebensjahren erzählte er viel von sich aus darüber. Als ich klein war, hat er zumeist recht ruhig geantwortet, wenn ich ihn danach befragte. Und er tat das eigentlich niemals mit Selbstmitleid oder Larmoyanz. Er betrachtete das Leben immer als große Herausforderung. Ich glaube gar nicht, dass er dieses Wort jemals verwendet hat, aber er hat es einfach immer so gesehen: Das Leben war eine Herausforderung, die einfach gemeistert werden wollte. Er hat das geschafft, weil er sehr fleißig, willensstark und ein wirklich ganz herausragender Kopf war. Er hatte einen glasklaren, analytischen Verstand. Ich denke immer: Was immer ich Positives an mir entdecke, das alles habe ich von meinem Vater gelernt oder übernommen.
In welchem Alter begannen Sie, Ihren Vater und Ihre Mutter nach der Vergangenheit zu befragen?
Sehr früh. Meine Mutter konfrontierte mich schon als kleinen Jungen mit ihren Erinnerungen, mit ihren Traumata. Da war es zwangsläufig so, dass ich meinen Vater fragte: »Und wie war das bei dir?«
Vater, Mutter, Kind: Familie Graumann in Ramat Gan 1951.
Gab es bei Ihren Eltern Angewohnheiten, die etwas mit der Lagervergangenheit zu tun hatten? Dass etwa immer die Tür verschlossen wurde, wenn ein Familienmitglied die Wohnung verlassen hatte?
Das eigentlich nicht, aber mein Vater aß zum Beispiel immer viel, viel zu schnell. Das hatte er sich im KZ angewöhnt. Wenn man dort einmal, was sehr selten geschah, etwas zu essen bekam, dann musste man sich beeilen, ehe es einem weggenommen wurde.
Von den KZ-Wächtern?
Ja. Da herrschte ein strenges, ein beinhartes Regiment.
Aus Sadismus?
Aus reinem Sadismus. Der Umgang mit den Häftlingen hatte sehr viel mehr mit Sadismus zu tun, als man heute denkt. In Menschen steckt offenbar eine brutale Lust, die Macht, die sie haben, auch auszuleben. Die Menschen, die einem ausgeliefert sind, einfach nur zu quälen.
Carl Zuckmayer berichtet in seinen Memoiren über ein Gespräch mit Peter Suhrkamp, der ja eine kurze Zeit im Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht hatte. Suhrkamp bat Zuckmayer, die Schilderung der dort begangenen Grausamkeiten nie zu verbreiten, da sie andere Menschen zur Nachahmung reizen könnte.
Ich versuche, das nachzuempfinden. Aber ich kann es mir nicht zu eigen machen, weil das ja hieße, man dürfe über schlimme Dinge nicht öffentlich sprechen. Ich denke vielmehr, dass es wichtig ist, auch späteren Generationen, die mit dem Leid der Juden nichts zu tun hatten, zu erklären, was damals geschah. Gerade um jegliches Anzeichen solch brutalen Hasses früh zu erkennen und gleich zu bekämpfen. Sonst wären ja auch alle Bücher über die Massenvernichtung und die Konzentrationslager vergeblich.
Welche dieser Bücher haben Sie besonders beeindruckt?
Ich nenne Primo Levi und Elie Wiesel. Aber ich füge auch hinzu: Wann immer ich über den Holocaust lese oder auch Filme sehe, denke ich, es war in Wirklichkeit noch viel schlimmer. Weil ich Geschichten kenne von Überlebenden, die noch so viel furchtbarer sind als alles, was in Filmen und Büchern gezeigt oder beschrieben wird.
Hatten Sie den Eindruck, dass Ihre Eltern untereinander über Erlebnisse sprachen, die sie Ihnen vorenthielten, um Sie zu schonen?
Nein, niemals. Ich hatte im Gegenteil immer den Eindruck, dass meine Mutter mir alles recht ungefiltert erzählt hat. Sie hatte das Bedürfnis, mir mitzuteilen, was sie so sehr beschäftigte.
Was psychisch ja eigentlich sehr gesund war.
Für sie wohl schon: Es ist sicherlich gesund, es nicht zu unterdrücken. Ob es für mich als Kind aber so schrecklich gesund war, das weiß ich nicht. Aber ich kannte es doch gar nicht anders. In dem Lager für Displaced Persons in Frankfurt-Zeilsheim, das erst im November 1948 aufgelöst wurde, herrschte ja ein besonderer Spirit. Dort haben sich meine Eltern ja damals auch kennengelernt und beschlossen, gemeinsam eine neue Zukunft zu begründen. Sie waren dann über 63 Jahre lang verheiratet – es war eine sehr glückliche Ehe, in der niemals ein böses Wort fiel. In Zeilsheim kamen zu jener Zeit 3500 Menschen zusammen, die alle in den Konzentrationslagern gelitten hatten, hinter denen mehr oder weniger das gleiche Schicksal lag, und diese Menschen stammten alle ursprünglich aus Polen oder anderen osteuropäischen Ländern. Sie hatten ähnliche Erfahrungen gemacht und konnten gar nicht anders, als sich darüber auszutauschen. Ich bin mit den Geschichten aus den Lagern groß geworden wie andere Kinder mit Grimms Märchen. Sonntags kamen die Freunde meiner Eltern aus der Zeilsheimer Zeit in unserer kleinen Zweizimmerwohnung im Westend zu Besuch – und worüber redeten sie? Natürlich fast nur über ihre Zeit in den KZs. Und ich hörte immer sehr aufmerksam zu.
Von wo aus war Ihre Mutter nach Zeilsheim gekommen?
Sie wurde von der Roten Armee in der Tschechei aus dem KZ befreit und hörte dann – wie man das damals erfahren hat, das weiß ich bis heute nicht –, dass eine ihrer Schwestern überlebt hatte und in Zeilsheim war. Sie hat mir später oft erzählt, was für eine dramatische, herzzerreißende Situation es dann war, als sich die beiden zum ersten Mal wiedersahen, sich in die Arme fielen und stundenlang einfach festhielten und zusammen nur noch weinten. Sie waren doch die beiden Einzigen, die aus einer Familie von 40 Angehörigen übrig geblieben waren. Wo sollten sie nun hin? Zu wem? Und vor allem: wozu? So ähnlich ging es doch mehr oder weniger allen Menschen dort in Zeilsheim. Es hat mich immer fasziniert, dass diese traumatisierten Menschen überhaupt in der Lage waren weiterzumachen, wieder etwas Neues aufzubauen. Denn zwischen dem KZ und dem Neuanfang lag ja kein Jahrzehnt, sondern das ging quasi sofort ineinander über. Im Zeilsheimer Lager gab es eine Zeitung in jiddischer Sprache. Sie trug erst den Titel »Undzer Mut«, also »Unser Mut«, und wurde ein paar Wochen später in »Unterwegs« umbenannt. Das Blatt hatte als Untertitel, als Motto die Worte »Wir senen du und wir wellen sein«. Das heißt auf Deutsch »Wir sind da«. Und »Wir wellen sein« kann man doppeldeutig übersetzen: »Wir werden sein« oder »Wir wollen sein«. Daran sieht man, dass sogar schon unmittelbar nach dem Ende der NS-Zeit die Juden wieder neuen Mut schöpfen und die Kraft hatten, sich nicht unterkriegen zu lassen. Nach dem, was sie erlebt hatten – viele von ihnen habe ich ja kennengelernt –, war dieser Mut für mich immer wieder verblüffend und bewundernswert. Und bis heute schulden wir diesen Menschen Dank, dass sie die eigentliche Pionierarbeit geleistet und so die Grundlage für neues jüdisches Leben in Deutschland gelegt haben.
Sie haben Ihren Vater als besonders liebevoll geschildert. Aber wenn Sie einmal eine schlechte Note nach Hause brachten, hat er dann nicht doch geschimpft?
Ich werde etwas sehr Ehrenrühriges eingestehen und zugeben: Ich habe nie wirklich eine ganz schlechte Note nach Hause gebracht. Jeder sagt ja heutzutage immer und rühmt sich fast damit, wie schlecht er in der Schule war und welches Glück er hatte, schließlich doch noch etwas aus sich gemacht zu haben. Aber es tut mir leid, ich hatte nie schlechte Noten, sorry. Deshalb brauchte er auch niemals deshalb böse zu sein.
Sie haben in Ihrem Buch »Nachgeboren – Vorbelastet?« beschrieben, dass Sie und andere Kinder in ähnlicher Situation nie gegen ihre Eltern rebelliert haben, noch nicht einmal in der Pubertät.
Das mag merkwürdig klingen, aber das war für uns nun mal ein absolutes No-Go. Es gibt Ausnahmen, aber in der Regel fühlten wir uns als die Eltern unserer Eltern. Wir passten auf unsere Eltern auf, weil wir alle wussten, was sie mitgemacht hatten. Wir Kinder waren ja oft die einzigen Familienmitglieder, die ihnen geblieben waren. Wir waren das einzige Stück Zukunft, auf das sie setzten. Deshalb empfanden wir es als unsere Aufgabe, nicht nur auf sie zu achten, sondern auch alles Leid von ihnen fernzuhalten. Dieser Schutzinstinkt begleitet uns unser ganzes Leben lang.
War das nicht auch eine Last für Sie?
Wenn man es im Rückblick betrachtet, antworte ich mit Ja. Als Kind habe ich es aber keineswegs so empfunden. Meine Eltern forderten das natürlich auch niemals ausdrücklich ein, aber es lag irgendwie doch immer unausgesprochen im Raum. Es schwebte wie eine Art neues jüdisches Gebot über unseren Köpfen. Und man kann viel über die Einhaltung jüdischer Gebote denken und meinen, aber dieses jedenfalls war immerzu fest verankert in meinem Herzen und mir stets ein ganz besonderes Anliegen, ja: sogar heilig! Ich habe beispielsweise bei Freunden mitbekommen, dass Eltern sagten: »Und deshalb habe ich Auschwitz überlebt, dass du mir das antust?!« Darüber haben jüdische Komiker ja auch schon viele Witze gemacht: »Du isst deine Suppe nicht, dafür habe ich Auschwitz überlebt?« Aber bei mir zu Hause gab es so etwas nicht, also kein bewusstes Einfordern der Eltern von Rücksicht oder Fürsorge.
Ich hatte immer das Gefühl, dass ich alles machen musste, dass meine Eltern nicht noch mehr Leid erdulden sollten, als sie schon erlitten hatten.
Gleichwohl hatte ich immer das Gefühl, dass ich ganz besonders auf sie aufpassen musste und ich alles nur Mögliche machen musste, dass sie nicht noch mehr Leid erdulden sollten, als sie schon erlitten hatten. Verlangt haben sie es nie, ich habe es freilich einfach immerzu gespürt. Und dieses Gefühl trage ich immer in mir.
In ihrem Buch »Die Enkelin« beschreibt Channah Trzebiner, wie ihr Großvater ohne Anlass ihren Hund tritt, weil er es nicht erträgt, seine Enkelin unbeschwert mit dem Tier spielen zu sehen. Opas Frau und der Sohn waren vor seinen Augen in die Gaskammer getrieben worden. Haben Ihre Eltern ähnliche Traumata beschrieben?
Nein, so nicht. Was Channah Trzebiner beschreibt, ist für viele typisch, aber es ist so doch wiederum nicht auf alles übertragbar. Die Mentalität ist sehr gut getroffen, wenn sie zum Beispiel ihren Opa als jemanden beschreibt, der es nicht ertrug, wenn andere glücklich waren. Sie schildert ja auch sehr schön eine Szene, wie sie als Mädchen stolz mit guten Noten nach Hause kommt und der Opa fast wegwerfend sagt: »A glik hot mich getrofn.« Das soll heißen, gemessen an seinem Leid, bedeuteten gute Schulnoten gar nichts. Solche Szenen gab es doch in vielen jüdischen Familien. Die Eltern maßen alles, ob sie es aussprachen oder nicht, an dem, was sie selbst erlebt und erlitten hatten. Und was konnte schon mit der Schoa »mithalten«? Aber bei mir war es dann doch anders. Das verpasste Glück meiner Eltern, jenes, das die Nazis ihnen vorenthalten hatten, kehrte ein Stück durch das erlebte Glück an ihrem Sohn wieder ein. Auf Jiddisch nennt man das »Nachess«, das Geschenk von freudigem Stolz, den die Eltern durch ihre Kinder verspüren. Und je mehr ich ihnen dieses Glück bereiten konnte, desto glücklicher machte es mich doch immerzu selbst.
Trifft Channah Trzebiner dennoch den richtigen Ton?
Ja. Ich kenne Channah Trzebiner schon sehr lange. Sie und unser Sohn gingen zusammen in den Kindergarten und in die Schule. Nicht nur deswegen hat mich ihr Buch bewegt, ich habe es allerdings auch noch anders gelesen: als Protestschrei gegen die eigene Holocaust-Traumatisierung. Ein gutes Buch hat nämlich mehr als nur einen Schlüssel. Ich finde, ein Schlüsselsatz ist der, in dem sie schreibt: Ich bin es müde, alles aus der Holocaust-Perspektive zu sehen, ich will weitergehen. So habe ich das Buch empfunden, dass sie sich das von der Seele schreibt. Ich wünsche ihr, dass es ihr gelingt. Ich glaube aber nicht, dass ein literarischer Befreiungsversuch ausreicht, die Seele frei zu machen von dieser Last.
Wie würden Sie Ihre Mutter beschreiben?
Als sehr emotional. Tief traumatisiert. Und außerordentlich warmherzig und ebenfalls ganz besonders liebevoll.
Emotional in jeder Hinsicht?
Ganz sicher in jeder Hinsicht, aber doch noch einmal ganz speziell im Blick auf ihre Erfahrungen im Konzentrationslager. Insofern überschneiden sich die Beschreibungen »sehr emotional« und »tief traumatisiert«. Ich glaube nicht, dass irgendeines der Holocaust-Opfer seine Erlebnisse jemals wirklich bewältigt hat, aber manche sind damit besser fertiggeworden als andere. Bei meiner Mutter haben diese Traumata immer – bis heute – eine ganz große Rolle gespielt, sie wird bis heute davon beherrscht. Das wird sich bestimmt auch nicht mehr ändern.
Wie alt ist sie jetzt?
87.
Woher stammen Ihre Eltern?
Beide aus Polen. Mein Vater kommt aus einem Kleinstädtchen, einem Schtetl in der Nähe von Tschenstochau. Er hatte sieben Geschwister. Meine Mutter stammt aus Bendzin, einer der wenigen polnischen Städte mit jüdischer Mehrheit. Arno Lustiger ist auch in Bendzin geboren und hat es oft und sehr eindrucksvoll beschrieben.
Es waren Schulen, über die man sich heute die Haare raufen würde.
Dort gab es nicht nur jüdische Intellektuelle und Kaufleute und Rabbiner wie sonst in den polnischen Städten, sondern auch jüdische Polizisten oder jüdische Feuerwehrleute – etwas, das in Polen damals die absolute Ausnahme war. Meine beiden Eltern kommen aus sehr traditionellen jüdischen Familien. Der Vater meiner Mutter war Vorbeter in der Synagoge; heute verdienen Vorbeter oder Kantoren in jüdischen Gemeinden recht gut, damals war das in Polen aber gar nicht so, weil es schließlich so viele von ihnen gab. Es war für den Vater meiner Mutter daher oft sehr schwer, seine Familie angemessen zu ernähren.
Was für eine Schulbbildung hatten Ihre Eltern?
Mein Vater ging in eine Religionsschule, eine sogenannte »Cheder«. Wie es in solchen »Cheder-Schulen« zuging, haben Isaac Bashevis Singer und andere jüdische Autoren dieser Zeit gut beschrieben. Es waren Schulen, über die man sich heute bestimmt die Haare raufen würde, mit oft sehr autoritären, barschen Lehrern, die tatsächlich auch vom Rohrstock Gebrauch machten. Dort hat man zwar Lesen und Schreiben gelernt, aber sonst gab es dort keine säkulare Ausbildung etwa in Mathematik, Biologie oder Fremdsprachen. Hier hat man sich praktisch nur mit Thora und Talmud beschäftigt. Meine Mutter, die vier Geschwister hatte, hat die Volksschule bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr besucht, dann kam sie ins KZ.
Gab es in Ihrer Schulzeit eigentlich Situationen, in denen Mitschüler damit angaben, was deren Väter im Krieg getan hatten?
Nein, das habe ich nie erlebt, da wäre ich auch hellhörig geworden. Ich war aber in der Volksschule, wie damals die Grundschule hieß, viele Jahre lang das einzige jüdische Kind. Und der Unterschied zu den anderen Kindern war schon deshalb sehr groß, weil sie alle schließlich Großeltern hatten. Die haben alle immer von ihren Opas und Omas erzählt und von den Geschenken, die sie von ihnen bekamen, aber ich hatte eben keine Großeltern, und ich wusste ja auch, weshalb.
Wenn die anderen Kinder von deren Großeltern erzählten, haben Sie ihnen erklärt, warum Sie keine Großeltern mehr hatten?
Nein, das hätte ich nie im Leben gemacht. Mir war völlig klar, dass sie das nicht verstanden hätten. Ich wusste doch, dass ich »anders« bin mit meiner ganz speziellen Familien-Biographie.
Wann hatten Sie dieses Anderssein zum ersten Mal verstanden?
Spätestens, als ich in die Schule kam. Als ich als einziges jüdisches Kind in die Klasse mit insgesamt 42 Kindern kam, da habe ich schon sofort gespürt, dass ich irgendwie »anders« bin. Dass das ein besonderes Schicksal war, das ich mit niemandem dort teilte. Dass mich das emotional ausgesondert, ja emotional auch isoliert hat.
Und als der Tag Ihrer Einschulung bevorstand, nahmen Ihre Eltern Sie beiseite. Diese Geschichte müssen Sie jetzt bitte noch einmal erzählen, obwohl Sie sie bereits oft erzählt haben.
Das ist ein Moment, den ich natürlich für immer in mir trage. Wir lebten damals in der Oberlindau im Frankfurter Westend in einer kleinen Zweizimmerwohnung. Wir hatten im Schlafzimmer meiner Eltern eine große Spiegelanrichte. Eines Tages riefen sie mich und haben sehr ernst gesagt: »David, du kommst ja jetzt in die Schule, und es ist nicht gut, wenn jeder weiß, dass du jüdisch bist. Und mit deinem Namen David weiß jeder sofort, dass du Jude bist. Das ist nicht gut, und deswegen werden wir jetzt etwas zusammen machen.« Und dann haben sie mich ganz feierlich vor den Spiegel gestellt, mich in ihre Mitte genommen und dann langsam zu mir gesagt: »David, ab heute heißt du Dieter.« Das war schon ein heftiger, ein absolut dramatischer und auch traumatischer Augenblick für mich. Ich glaube nicht, dass das vielen Menschen im Leben jemals geschieht.
Was genau geht da in Ihnen als Sechsjährigem vor?
Es ist so, dass ich es in der Tat sehr, sehr gut verstanden habe. Meine Eltern haben es mir erklärt, und ich war ja auch mit den Geschichten aus den KZs aufgewachsen. Insofern konnte ich die Sorge sehr gut verstehen.
Was über das hinaus, was Sie jetzt eben erwähnten, haben Ihre Eltern Ihnen in diesem Augenblick noch erklärt?