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Eigentlich führen Angelika und Gabriel ein relativ gutes Leben im realsozialistischen Bratislava: Angelika ist angesehene Chirurgin, Gabriel Institutsdirektor, ihre drei Kinder sind gute Schüler und sie haben einen netten Freundeskreis. Und dennoch hat die Familie beschlossen zu fliehen. An einem kalten Februarsamstag soll es unter dem Vorwand einer Urlaubsreise über die Grenze, über den Eisernen Vorhang nach Österreich und dann weiter in die Bundesrepublik gehen. Die letzten Tage vor der Flucht gestalten sich als Spießrutenlauf. Wer soll von ihren Plänen erfahren? Machen sie sich am Ende trotz aller Vorsicht verdächtig? Die Situation spitzt sich zu, als Gabriel von einem westlichen Agenten angeworben werden soll, während parallel auch seine Schwester Klara einen Fluchtversuch startet … Latentes Misstrauen, diffuse Gefahren und fatale Optionen: Eine Familie in der Tschechoslowakei plant ihre Flucht aus dem Überwachungsstaat hinter dem Eisernen Vorhang.
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Seitenzahl: 229
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Copyright © 2023 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © Kurt Hartmann, Leipzig, DDR/AKG Images
ISBN 978-3-7117-2134-1
eISBN 978-3-7117-5488-2
Informationen über das aktuelle Programmdes Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at
Heny Ruttkay
Picus verlag wien
Für Zoli Mauritz
1. Gabriel
2. Angelika
3. Klara
4. Gabriel
5. Angelika
6. Klara
7. Gabriel
8. Angelika
9. Klara
10. Gabriel
11. Angelika
12. Klara
13. Gabriel
14. Angelika
15. Klara
16. Angelika Und Gabriel
Die Autorin
Als er um die Ecke der Buchhandlung bog, hatte Gabriel wieder das Gefühl, dass ihm jemand folgte. Er blieb vor dem Schaufenster stehen, umklammerte die Henkel der schweren Tasche fester und betrachtete das Spiegelbild der Einkaufsstraße hinter seinem Rücken.
Die Sonne schien, der Schnee war bis auf die grauen Reste am Fahrbahnrand verschwunden und die meisten Passanten hatten ihre Mäntel aufgeknöpft. Niemand verlangsamte seine Schritte, niemand beachtete ihn oder drehte sich gar nach ihm um. Langsam zählte er bis zwanzig, ohne die Lippen zu bewegen.
Ein junges Paar mit einem Kinderwagen eilte vorbei, gefolgt von einem sehr alt wirkenden Mann mit Hut, der sich auf einen Stock stützte, und zwei Studenten mit schulterlangen Haaren, wie die Hippies, die er im Westen gesehen hatte.
Gabriel sah ihnen lange nach und merkte, dass er lächelte. Er atmete auf, ließ den Blick über die Bücher schweifen und stellte erfreut fest, dass sein Lieblingsdichter, ein früh an Tuberkulose verstorbener Arzt, neu aufgelegt worden war.
Er nahm die Tasche in die andere Hand, ließ den schlammbespritzten Trolleybus vorbeifahren und überquerte vorsichtig die Straße mit dem unebenen Kopfsteinpflaster. Als seine Frau drei Tage zuvor aus Ostberlin zurückgekommen war, hatte sie müde gescherzt, dass sie sich wie die Heldin eines Spionagefilms gefühlt habe.
»Bald ist alles vorbei, Angelika, nur noch sieben Tage.«
»Das wird die längste Woche unseres Lebens werden.«
Seit Monaten verfolgte sie beide die Angst wie ein aufdringlicher, unsympathischer Bekannter, ließ ihnen keinen Frieden, tauchte unerwartet in den alltäglichsten Situationen auf und überraschte Gabriel sogar im Schlaf.
Regelmäßig fuhr er gegen vier Uhr nachts hoch, mit klopfendem Herzen, und konnte sich nicht erinnern, was er geträumt und was ihn so erschreckt hatte. Hin und wieder griff er zu einem Schlafmittel, trotz Angelikas Missbilligung, aber es half nicht wirklich; die kleine, diskrete Tablette betäubte ihn nur, während die Angst ihn fest im Griff hielt und er sich noch ohnmächtiger und ausgelieferter fühlte.
Auf dem Hauptplatz spiegelte sich die Sonne in den Fenstern der alten Patrizierhäuser und blendete Gabriel, als er den Kopf hob, um Abschied zu nehmen. In den letzten Tagen hatte er stumm bereits vielen Straßen, Gebäuden und sogar einigen alten Bäumen Lebewohl gesagt.
Er war in dieser Stadt geboren und hatte gedacht, hier eines Tages zu sterben. Die Frau seines Lebens hatte Ostberlin verlassen, um nach Bratislava zu ziehen und eine schwere, ihr völlig unbekannte Sprache zu lernen, seine drei Kinder waren hier zur Welt gekommen und er liebte seine Arbeit am Institut.
»Sei nicht wie der Wurm, der sich in einen Apfel verbeißt und denkt, es gebe keinen besseren«, hatte sein Vater ihm früher immer wieder gesagt, um ihn zu ermuntern, abenteuerlich zu leben.
»Abenteuer in einem Ostblockland, unter der Diktatur des Proletariats?« Gabriel lachte. »Und wie macht man das?«
Sein Vater blieb ihm die Antwort schuldig, mahnte ihn aber regelmäßig mit den gleichen Worten, nicht in den eingefahrenen Gleisen zu bleiben. Das Thema schien für ihn erledigt, als Gabriel geheiratet hatte; er hieß Angelika herzlich in der Familie willkommen und verwöhnte seine Enkelkinder.
Vielleicht nahm er an, es sei zu spät für mich, dachte Gabriel, während er sich mit der Tasche umständlich durch die Drehtür des Hotel Carlton drängte. Wahrscheinlich hatte er es sich nicht einmal selbst eingestanden, aber er hatte mich aufgegeben. Die Partei hatte auch gedacht, die Falle sei nun zugeschnappt, deswegen haben sie mich zu den Kongressen in Amsterdam und Zürich fahren lassen, drei kleine Kinder und eine Frau saßen ja als Geiseln zu Hause.
Er war so in seinen inneren Monolog vertieft, dass er an der Garderobe vorbeieilte und erst an der Schwelle des Kaffeehauses merkte, dass er immer noch den Mantel und die Tasche trug.
Stumm wartete die Garderobiere mit den weißen Haaren, bis er seinen Schal in die Manteltasche gestopft und die Tasche über die Theke geschoben hatte. Er machte eine rasche Bewegung, um ihr zu helfen, als sie das schwere Gepäckstück mit beiden Händen nahm, aber sie hatte sich bereits gebückt und es verstaut. Sie schien sehr alt zu sein, wirkte älter als seine Mutter kurz vor ihrem Tod und genauso klein, zerbrechlich und resigniert. Er lächelte sie an, als sie ihm das gelbe Ticket mit der aufgedruckten Nummer gab, doch sie hielt den Blick gesenkt und kehrte gleich zu ihrem Stuhl zurück.
Josef war noch nicht da, saß an keinem der spärlich besetzten Tische, also wählte Gabriel eine Ecke, von der aus er den ganzen Raum und den Eingang überblicken konnte.
Jedes Mal, wenn er das Café des Hotel Carlton besuchte, kam es ihm schäbiger, verrauchter und verlassener vor. Sein Onkel bestand darauf, dass sie sich hier trafen, und wenn er mit ihm zusammen war, gelang es ihm durchaus, den Raum mit seinen Augen zu sehen und die Wände heller, die Möbel und Lüster glänzender und die Bedienung höflicher zu finden. Sein Vater und Josef hatten hier jahrelang die Samstagnachmittage verbracht, und ihre endlosen Gespräche über Gott und die Welt, ihre Begrüßungen der anderen Stammgäste und die Scherze, die sie mit den alten Kellnern austauschten, hatten irgendwo im Raum ihre Spuren hinterlassen, sichtbar nur für Alte und Eingeweihte.
Ein Mann betrat das Café, blieb wie suchend vor dem Eingang stehen, und Gabriel merkte sofort, dass er aus dem Westen kam. Amüsiert fragte er sich, warum er sich so sicher war; aus der Nähe hätten ihn der Stoff seines Anzugs und die Schuhe verraten, aber aus der Entfernung sah er nur eine rundliche Gestalt und ein schwammiges Profil.
Der Mann drehte das Gesicht zu Gabriel, lächelte plötzlich und nickte ihm zu.
Ich kenne ihn. Das darf nicht wahr sein, ich kenne ihn.
Mechanisch erhob er sich, während der Mann mit ausgestreckten Armen auf ihn zukam.
»Mr Siget, what a surprise meeting you here!«
»A surprise indeed«, stotterte Gabriel und brachte ein Lächeln zustande, während er versuchte, sich an den Namen des Fremden zu erinnern. Er schüttelte die angebotene Hand und war zum ersten Mal froh, dass kein Kellner sich blicken ließ und die übrigen Gäste gleichgültig und taub schienen.
»Sind Sie beruflich hier oder machen Sie Urlaub?« Gabriel erinnerte sich, dass er einen halben Nachmittag auf dem Kongress in Zürich neben ihm gesessen und in der Pause einige Minuten lang mit ihm gesprochen hatte. Er hatte ein Namensschild getragen, aber Gabriels sonst hervorragendes Gedächtnis versagte. Hatte er beim Mittagessen nicht am gleichen Tisch gesessen?
Der Kollege ließ sich mit der Antwort Zeit; er knöpfte seine Anzugweste auf, steckte lässig die Hände in die Hosentaschen und blickte erwartungsvoll auf die freien Stühle. »Ja, ich habe einen kleinen Abstecher aus Wien gemacht.«
Unmöglich. Niemand konnte einfach einen kleinen Abstecher aus Wien nach Bratislava machen, auch wenn die beiden Städte nur durch sechzig Kilometer voneinander getrennt waren. Es dauerte Wochen, um ein Visum zu erhalten, und wer kam schon Ende Februar auf Urlaub in diese Stadt? Minusgrade, ununterbrochener eisiger Wind, kurze Tage und lange, langweilige Nächte.
»Wohnen Sie hier im Hotel Carlton?«
Wenn er sich nur daran erinnern könnte, wie der Mann hieß und ob er Amerikaner oder Kanadier war, seinem Akzent nach war er auf keinen Fall Engländer.
»Nein, im Hotel Devín. Es wurde mir von einem Wiener Kollegen empfohlen, wegen des herrlichen Blicks auf die Donau. Ich habe ein Zimmer im vierten Stock bekommen.«
Während er sprach – eine Spur zu laut –, studierte Gabriel sein rundliches, sorgfältig rasiertes Gesicht mit dem Doppelkinn, den Koteletten und den kleinen, tief liegenden Augen aus der Nähe. Etwas stimmte nicht an diesem Zufall, etwas störte ihn an dieser Begegnung, an diesem übertrieben freundlichen Tonfall, und er erwartete beklommen, dass plötzlich etwas Unangenehmes passieren würde.
»Bleiben Sie lange in der Stadt?«
»Eine Woche. Nein, acht Tage.« Sein Gegenüber wurde übergangslos ernst. »Da fällt mir ein, dass ich Sie vielleicht aufhalte, Herr Siget.«
»Ich warte auf … ich habe eine Verabredung.« Erst jetzt merkte Gabriel, dass Josef am Eingang stand – eine magere, immer noch elegante Erscheinung – und mit einem Kellner sprach.
»Nun, dann störe ich nicht länger.« Der Mann lächelte wieder und entblößte dabei seine großen Zähne. »Ich würde Sie gern morgen Abend ins Restaurant im Devín einladen. Haben Sie Zeit?«
Was will er denn?
»Morgen geht es leider nicht, ich bin mit meiner Frau und einigen Freunden in der Oper. Sie spielen Nabucco.«
»Schön, dann übermorgen.« Der Mann lächelte noch, aber sein Ton war kaum merklich kühler und sein Blick zu fest, zu direkt geworden.
Zusagen kann ich ja.
»Übermorgen gerne.«
»Um neunzehn Uhr, Zimmer vierhundertzwölf.« Wieder schüttelten sie sich die Hände und Gabriel merkte überrascht, dass die seines Gegenübers feucht war. »Auf Wiedersehen, Herr Siget.«
Plötzlich schien der Mann aus dem Westen es eilig zu haben und streifte Josef fast beim Vorbeigehen. Als er aus der Tür hinaus war, ließ sich Gabriel auf den Stuhl sinken.
»Entschuldige, Gabriel, ich musste mich von Herrn Hartmann verabschieden.« Josef setzte sich zu seiner Linken, legte seine Zigarettendose auf den Tisch und zupfte die Manschetten aus den Ärmeln seines dunkelgrauen Anzugs. »Der Letzte der alten Garde geht in Rente und jetzt werde ich wohl endgültig das Kaffeehaus wechseln müssen, die übrigen Kellner hier sind ungenießbar.« Er hielt inne und wechselte ins Deutsche, wie immer, wenn er ein heikles Thema ansprach. »Ist etwas passiert? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Ich habe gerade zufällig einen Kollegen aus dem Westen getroffen.«
»War das der Mann, mit dem du gesprochen hast?«
Gabriel nahm sich zusammen und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ist nicht wichtig. Ich glaube, ich habe ihn verärgert oder verlegen gemacht, denn er ist gleich wieder weggegangen. Übrigens soll ich dich von Angelika grüßen lassen, sie ist gestern aus Ostberlin zurückgekommen.«
»Geht es ihrer Mutter besser? Hat sie bereits das Krankenhaus verlassen?«
Gabriel nickte stumm. Die angeschlagene Gesundheit von Angelikas Mutter hatte sie bestürzt und beinah von ihren Fluchtplänen abgebracht, aber gleichzeitig bot sie sich als Entschuldigung für ihre Abschiedsreise nach Ostdeutschland.
»Hat Angelika bei der Gelegenheit ihre Geschwister wiedergesehen?«
»Soweit ich weiß, ja, sie hat sich sogar mit dem Parteibonzen versöhnt.«
»Das freut mich für sie, nichts ist unangenehmer als ein Familienzwist. Und hat sie etwas von ihrer Schwester in Westdeutschland gehört?«
Auf seine verklärte Art sah Josef in Angelika – wie in den meisten Frauen seiner Umgebung – eine Heldin, die nur für ihre Familie lebte und sie mit allen Mitteln zusammenzuhalten versuchte. Dass sie mit ihrem älteren Bruder, der eine Zeit lang mit Erich Mielke zusammengearbeitet hatte, jahrelang nicht gesprochen hatte, nahm er nur widerwillig zur Kenntnis.
»Ihre Schwester meldet sich selten bei der Familie in Berlin. Angelika ist im Übrigen auch nach Potsdam gefahren, um ihren jüngeren Bruder zu besuchen. Sie hat erzählt, dass das Holländische Viertel noch weiter heruntergekommen ist als vor vierzehn Jahren, als sie das letzte Mal dort war …« Gabriel hielt angestrengt die Konversation in Gang, bis der Kellner den Kaffee brachte.
Josef musste bemerkt haben, dass etwas nicht stimmte, aber er schwieg taktvoll und zündete sich eine Zigarette an.
Gabriel seufzte, rückte die Kaffeetasse zurecht und räusperte sich. »Ich wollte dir schon seit längerer Zeit etwas sagen, Josef.« Er vergewisserte sich, dass die Tische in der Nähe immer noch leer und die Kellner wieder verschwunden waren, und zwang sich, seinem Onkel ins Gesicht zu sehen.
Josef lächelte ihn schwach an, als wollte er ihm Mut machen.
Gabriel senkte die Stimme. »Wir haben es geschafft. Angelika, die Kinder und ich, wir gehen fort. Wir gehen in den Westen.«
Josef blinzelte ihn einige Sekunden lang durch den Zigarettenrauch an und sah sich ebenfalls rasch nach den Nachbartischen um. »Wann?«
»In vier Tagen, zu Beginn der Schulferien.«
»Wie wollt ihr das machen?«
»Wir haben Visa für Österreich und Italien. Angelikas Schwester hat einen Freund in Italien gebeten, uns eine Einladung zu schicken, das war die Voraussetzung für die Visaerteilung. Offiziell fahren wir in den Skiurlaub nach Südtirol, aber unseren Bekannten und Freunden haben wir erzählt, dass wir in die Hohe Tatra fahren.«
»Wie habt ihr das geschafft, die Urlaubsgenehmigung für ein westliches Land zu kriegen?«
»Angelika hat vor einem Jahr bei einer Operation für ihren Chef einspringen müssen, der überraschend erkrankt war. Der Patient war der Sohn eines Staatssekretärs und das hat uns ganz neue Perspektiven verschafft.«
»Ja, du hast mir damals erzählt, dass Angelika im Operationssaal ein kleines Wunder vollbracht hat.« Josef zerdrückte seine Zigarette im Aschenbecher. »Wollt ihr in Italien einen Asylantrag stellen?«
»Nein, wir fahren direkt über Österreich nach Westdeutschland, nach Frankfurt, wo uns Angelikas Schwester bereits eine Wohnung besorgt hat.«
»Das ist gut, dann erspart ihr euch das Flüchtlingslager.« Josef nippte an seiner Tasse und wischte sich mit einem Taschentuch den Schnurrbart ab.
Zum ersten Mal merkte Gabriel, dass seine Hand leicht zitterte, und er sah rasch weg.
»Als Ärzte werdet ihr in Deutschland leicht Arbeit finden. Und ihr werdet zudem gut bezahlt.«
»Angelika wird als Chirurgin bestimmt gut verdienen, aber ich als Forscher …« Gabriel zuckte mit den Schultern. »Aber wir gehen nicht wegen des Geldes fort.«
»Ich weiß.« Josefs Augen glänzten. »Du wirst mir fehlen.«
Gabriel legte kurz die Hand auf Josefs Arm und zog sie gleich wieder zurück. »Du wirst mir auch fehlen, du weißt gar nicht, wie sehr.«
Eine Zeit lang schwiegen sie beide und starrten in ihre Kaffeetassen.
»Ich weiß, dass du schon lange mit dem Gedanken gespielt hast, wegzugehen, aber endgültig beschlossen hast du es erst, als dein Vater gestorben ist, oder?«
Gabriel spielte mit seinem Kaffeelöffel und wagte nicht, aufzusehen.
»Nicht sofort nach seinem Tod. Aber als wir letztes Jahr im Urlaub in Jugoslawien waren, haben wir kurz daran gedacht. Die Grenze zu Italien war zum Greifen nah und stellenweise schlecht bewacht.«
»Seid ihr nie in Versuchung gewesen, sie einfach zu überqueren?«
»Mit drei Kindern?« Gabriel schüttelte den Kopf. »Es war zu riskant und zu früh. Ich hatte es alles noch nicht richtig verarbeitet: den Einmarsch der Russen, Vaters Tod, die Schließung der Grenzen, die Probleme mit der Partei und in der Arbeit. Ich hatte keine Energie für einen Neuanfang und ich dachte, nun, ich hoffte, die Dinge würden sich irgendwie von allein arrangieren, aber …« Er zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß, es wird täglich schlimmer.« Josef faltete sorgfältig sein Taschentuch zusammen, steckte es in die Hosentasche und sah sich dabei beiläufig im Raum um.
»Angelika meint, bald würde es hier so werden wie in der DDR. Das Leben besteht nur aus Propaganda und Hetze, sogar an den Schulen. Wie kann man in einem Land leben, wo man Kindern Hass beibringt?«
Josef trat ihm heftig auf den Fuß und im gleichen Augenblick merkte Gabriel, dass einer der Kellner einen Tisch in der Nähe abräumte. Es war ein neues, junges Gesicht, wahrscheinlich der Nachfolger von Herrn Hartmann. Er stapelte lärmend die schmutzigen Kuchenteller aufeinander, rückte einen Stuhl zurecht und ging schlurfend wieder hinaus. Sie hatten ein Kauderwelsch aus Deutsch und Ungarisch gesprochen, aber in einer Stadt, in der die Mehrheit der Bevölkerung dreisprachig war, bot dieser Trick keinen Schutz.
»Dein Kollege aus dem Westen, der vorhin da war …« Josef flüsterte fast. »Hat er etwas mit eurer Flucht zu tun?«
»Um Himmels willen, nein. Ich habe mich furchtbar erschreckt, als ich ihn vorhin wiedererkannt habe. Du weißt, was für ein Dorf Bratislava ist. Wenn mich jemand so kurz vor der Reise mit einem Westler zusammen sieht …«
»Wer weiß denn Bescheid, dass ihr nach Südtirol fahrt?«
»Außer dir, einigen Behördenangestellten und Genossen von Rang eigentlich niemand. Aber wie gesagt, es reicht, dass einer von ihnen mich mit ihm zusammen sieht, um auf dumme Gedanken zu kommen.«
»Trotz Angelikas neuen Verbindungen finde ich es seltsam, dass sie dir erlauben, mit den Kindern zu verreisen.«
»Sie denken, dass wir zu viel zu verlieren haben, ich meinen Direktorenposten und Angelika ihre Karriere.«
»Ja, vielleicht …« Josef nickte einem Stammgast zu, der sich in der gegenüberliegenden Ecke niedergelassen hatte. Er öffnete seine Zigarettendose, zögerte einen Augenblick und schloss sie gleich wieder. »Es stimmt schon, dass es euch für die hiesigen Verhältnisse gut geht.«
»Einer Oberschwester in Angelikas Klinik ist vor sechs Monaten die Flucht über Kroatien in den Westen gelungen. Dass wir von unserem Jugoslawienurlaub zurückgekommen sind, hat sich wohl auch zu unseren Gunsten ausgewirkt.«
Im Gegensatz zu den meisten starken Rauchern griff Josef nie nach der Zigarette, wenn er angespannt war, und an der Art, wie sich die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte, merkte Gabriel, dass er besorgt war.
»Es wird alles gut gehen«, sagte er und legte wieder die Hand auf seinen Arm.
»Ja, natürlich.« Josef lächelte, öffnete wieder die Zigarettendose und klappte sie gleich zu. »Deine Schwester weiß also nicht Bescheid?«
»Nein, Klara verkehrt in Kreisen, in denen viel getratscht und getrunken wird, und ich wollte kein Risiko eingehen.«
»Du unterschätzt sie. Sie würde nie …«
Gabriel seufzte. »Du idealisierst sie, genau wie Papa. Aber reden wir von etwas anderem: Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.«
Josefs Gesicht hellte sich auf. »Was immer du willst, Gabriel.«
»Du weißt, dass sie nach der Flucht unsere Wohnung und alles, was drin ist, beschlagnahmen werden. Wir haben die meisten Dinge, die uns am Herzen liegen, in Kartons verstaut und haben all unseren Bekannten erzählt, dass während unseres Urlaubs die Wohnung gestrichen wird und wir daher die zerbrechlichen Sachen weggepackt haben. Ich hätte dir gern einige Wertgegenstände anvertraut.«
»Natürlich, kein Problem.«
»Ich habe die Bronzestatue, die früher bei meinen Eltern auf dem Piano stand, und das Schreibtischset von Papa dabei. Die Tasche habe ich an der Garderobe abgegeben.«
»Wer wird euch die Sachen hinüberbringen?«
Gabriel lächelte. »Du. In zwei, drei Jahren kommst du uns besuchen, Rentner lassen sie hin und wieder in den Westen reisen.«
»Wenn ich dann noch da bin.« Josefs Blick irrte im Saal umher. »Ich bin auch nicht mehr der Jüngste …«
»Natürlich bist du dann noch da, du bist erst vierundsiebzig!« Gabriel senkte wieder die Stimme. »Vater wäre auch noch da, wenn er nicht krank geworden wäre.«
»Ja, wahrscheinlich.«
»Du solltest aufhören zu rauchen.« Verlegen merkte er, dass seine Stimme nicht überzeugt klang; Josef und sein Vater hatten als Achtzehnjährige in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs zu rauchen angefangen und es war für sie genauso unverzichtbar geworden wie das Atmen.
Josef machte sich nicht die Mühe zu antworten; er seufzte und steckte die Zigarettendose in seine Hosentasche. »Ich möchte jetzt gehen. Es war heute alles ein bisschen viel für mich.«
Es war das erste Mal, dass Gabriel nicht darum kämpfen musste, den Kaffee zu bezahlen. Josef hielt sich sehr stramm, während sie ihre Mäntel an der Garderobe holten, aber seine Hände zitterten wieder ein wenig, als er seinen Schal umband.
»Die Tasche ist schwer. Ich trage sie und begleite dich bis nach Hause.«
»So alt bin ich noch nicht, dass ich eine Tasche nicht fünfhundert Meter tragen kann.« Er machte jedoch keine Anstalten, Gabriel die Tasche abzunehmen.
Draußen war es bereits dunkel, es nieselte und die Straßen glänzten nass im Licht der alten Laternen. Während sie den Platz vor dem Opernhaus durchquerten, hielt Josef seinen Hut fest und Gabriel schlug den Mantelkragen hoch, um seine Ohren vor dem eisigen Wind zu schützen. Als sie in die Gasse einbogen, in der Josef wohnte, kamen ihnen drei Polizisten entgegen, Schulter an Schulter nahmen sie die ganze Straßenbreite ein, sodass sie sich an ihnen vorbeidrücken mussten. Sie sprachen und scherzten laut und einer von ihnen musterte eingehend Gabriel und seine Tasche.
Wie würde es im Westen sein? Würde er dort auch beim Anblick von Polizisten aus Gewohnheit nervös oder wütend werden?
Josef und Gabriel blieben vor dem Haustor stehen und warteten, bis die schweren Schritte der Polizisten verhallten.
»Sehe ich euch alle noch einmal, bevor ihr weggeht?«
»Ja, unbedingt. Am Freitagabend kommen einige Freunde und Klara und wir machen einen kleinen Umtrunk.« Er zögerte, denn der Gedanke war ihm gerade erst gekommen. »Du könntest auch kommen, bei uns übernachten und noch einige Dokumente oder Bücher mitnehmen, die dich interessieren. Ich werde dich abholen, damit wir noch ein wenig reden können, vorher und nachher, wenn es dir recht ist.«
Im ersten Stock neben Josefs Wohnung ging das Licht an und Gabriel kam es vor, als stünden sie plötzlich beide auf einer beleuchteten Bühne, den Blicken einer unsichtbaren Menge ausgeliefert.
Josef nahm ihm die Tasche ab und schob das Tor auf.
»Bis Samstag, Gabriel.«
Auf ihrem Teller schwammen graues Fleisch und Kartoffelpüree in dunkelbrauner ausgekühlter Sauce. Angelika entschied, dass sie nichts davon anrühren würde, aber um kein Aufsehen zu erregen, gab sie das Essen nicht der Köchin zurück, sondern nahm eine Schüssel mit Aprikosenkompott von der Theke; sie brauchte unbedingt Zucker, um den Nachmittag zu überstehen.
Sie sagte sich, dass sie nur noch dreimal in dieser Kantine mit dem penetranten Geruch nach Braten und Sauce, dem grün-weißen glänzenden Linoleum und den harten Stühlen essen musste. Nur noch dreimal, den heutigen Tag nicht mitgerechnet, und dann nie wieder.
Als sie sich mit dem Tablett zum Saal wandte, sah sie Norbert allein am Ecktisch essen. Ihr erster Impuls war, sich abzuwenden und weiter nach hinten zu gehen, aber sie schämte sich sogleich. Es war spät, die Kantine fast leer und die vielen unbesetzten Stühle um ihn herum verliehen seiner Einsamkeit etwas Endgültiges und Anklagendes.
Er hob erst den Kopf, als sie vor dem Tisch stand.
»Darf ich mich setzen?«
Er lächelte. »Wenn du keine Angst hast, mit mir gesehen zu werden …«
Sie schob geräuschvoll den Stuhl zurück und setzte sich.
»Entschuldige, Angelika, ich weiß, dass du nicht so bist.«
Dies ist genau der Grund, warum wir fortgehen. Damit wir nicht mehr überlegen müssen, ob es nicht zu riskant ist, sich zu jemandem zu setzen.
»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich bewundere deine Ruhe und Ausgeglichenheit, vor allem nach dem, was gestern passiert ist.«
Norbert zuckte mit den Schultern. »Ich hatte schon so etwas erwartet, es hat mich nur gewundert, dass es Erika war. Ich wusste, dass sie sehr antiklerikal ist, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie mich vor allen Leuten deswegen angreifen würde. Wir haben uns immer gut verstanden.«
Angelika konzentrierte sich darauf, mit dem Löffel eine Aprikose zu halbieren. »Sie will deine Stelle.«
»Ich weiß. Trotzdem, ich hätte es nie von ihr gedacht.«
Norbert und Erika kannten einander seit der Universität und hatten gleichzeitig an der Klinik für Thorax- und Kardiovaskulärchirurgie zu arbeiten begonnen. Sie waren es auch, die Angelika als neue Kollegin am herzlichsten empfangen, ihr bei den anfänglichen Sprachschwierigkeiten geholfen und gleich das Gefühl gegeben hatten, dass sie zu Hause angekommen war.
Als Erika sich bei der Frühbesprechung am Tag zuvor mit beiden Ellenbogen auf den Tisch gestützt und erklärt hatte, Kollege Norbert Bartok mache ungern den Sonntagsdienst, da er an dem Tag zweimal in die Messe gehe, hatte Angelika zum ersten Mal bemerkt, wie ihre alte Freundin in letzter Zeit zugenommen hatte.
Obwohl sie im gleichen Alter waren – keine vierzig – hatte sie ein Doppelkinn, geplatzte Äderchen auf den Wangen und tiefe Falten auf dem Hals. Sie schminkte und frisierte sich immer noch sehr sorgfältig, aber das Bild der gut aussehenden, immer gut gelaunten, kompetenten Chirurgin bekam unübersehbare, schmerzliche Risse.
»Wir sind bereits unterbesetzt, lieber Genosse! Da wird hundertprozentiger Einsatz verlangt!«
Norbert rückte seine Brille zurecht.
»Ich glaube nicht, dass sich jemand über meinen mangelnden Einsatz beklagen kann …«
»Außer, wenn du zur Messe gehst?«
»Was hat meine Arbeit mit …«
»Sie hat alles damit zu tun, lieber Norbert!« Erika hatte schon immer die ärgerliche Gewohnheit gehabt, die Leute nicht ausreden zu lassen, aber früher war ihre Stimme weniger aggressiv und laut gewesen. »Deine Arbeit leidet unter deinem Aberglauben!«
Der Schlagabtausch war so schnell vor sich gegangen, dass die übrigen Ärzte wie bei einem Tennisspiel die Köpfe hin und her gedreht hatten. Als Norbert nicht antwortete und seine Kollegen der Reihe nach ansah, starrten sie den Tisch an oder blätterten in den Unterlagen. Angelika hatte als Einzige seinem Blick standgehalten und dabei bemerkt, dass sie den Mund leicht offen hielt.
Der Chefarzt hatte sich geräuspert. »Herr Kollege, wir sehen uns gleich nach der Besprechung. Ich schlage vor, dass wir uns nun den nächsten Punkt vornehmen …«
Angelika schob das Tablett von sich. »Was hat der Chef dir eigentlich gestern nach der Besprechung gesagt?«
Norbert legte Messer und Gabel quer über seinen Teller. »Er hat den Zwischenfall natürlich nicht erwähnt. Er hat nur gemeint, dass ich in letzter Zeit abgespannt aussehe und ob ich sicher sei, dass der Arbeitsrhythmus in der Klinik nicht zu viel für mich sei.«
»Was hast du geantwortet?«
»Er hat mich nicht zu Wort kommen lassen und gebeten – nein, mir befohlen –, die erste OP nächste Woche Dienstag Erika zu überlassen.«
»Das heißt, du darfst keine Prominenten mehr operieren.«
Norbert nahm seine Brille ab und sah übergangslos jung und wehrlos aus. Im Gegensatz zu Erika wurde er mit dem Alter immer magerer und seine Augen wirkten sehr groß in dem eingefallenen, asketischen Gesicht. Unvermittelt erinnerte sich Angelika, wie er ihr erzählt hatte, dass er als Jugendlicher überlegt hatte, Priester zu werden.
»Ich denke auch, dass dies der Anfang vom Ende ist. Ich meine, das Ende meiner Karriere an dieser Klinik.«
»Es gibt hierzulande nicht viele Herzchirurgen mit deiner Erfahrung.«
»Ach, sie werden mich sicher nicht gleich entlassen. Ich werde als Lückenbüßer hier und dort einspringen, bis die jüngeren Kollegen so weit sind.«
Angelika zuckte zusammen, als jemand an der Theke laut auflachte. Der Saal hatte sich bis auf das Kantinenpersonal geleert und die große Uhr über dem Eingang zeigte Viertel nach eins. Norbert hatte immer noch nicht seine Brille aufgesetzt, er kaute an einem der Bügel und starrte kurzsichtig vor sich hin.
»Ich gehe jetzt, ich habe mir heute Nachmittag freigenommen.« Unmerklich schob sie ihren Stuhl zurück, sie konnte sich nicht entschließen, ihn allein zurückzulassen. Einen sehr kurzen, verrückten Augenblick lang war sie versucht, ihm zu sagen, dass der Chefarzt ihn bald brauchen würde, denn eine der erfahrensten Chirurginnen würde weggehen, die Klinik verlassen, für immer verschwinden. »Kommst du morgen Abend mit in die Oper?«
»Natürlich. Ich hoffe nur, Erika sitzt weit genug entfernt von mir.«
»Wenn nicht, können wir unsere Plätze tauschen.«
Er setzte seine Brille wieder auf und lächelte sie an, als sie sich erhob und das Tablett nahm. »Du bist eine großartige Frau, Angelika. Wärest du nicht schon verheiratet, würde ich dir einen Heiratsantrag machen.«
Sie hatte sich nicht schnell genug gefasst, ihr entsetztes Gesicht musste sie verraten haben, denn er lachte leise. »Ich weiß, diese Art von Komplimenten hättest du nicht von einem Wüstenheiligen wie mir erwartet.«
Sie fühlte, dass ihr Lächeln gezwungen wirkte; Norberts Junggesellenstatus gab häufig Anlass für schlechte Witze im Operationssaal. »Diesen Spitznamen hat dir nur die Oberschwester Sarah verpasst und sie ist nicht mehr da.«
Er richtete sich sehr langsam und widerwillig auf, wie ein schlechter Schüler, der an die Tafel gerufen wird. »Ich weiß. Übrigens habe ich vor einer Woche eine Postkarte von ihr erhalten.«
»Von wem? Von Sarah?«
»Ja. Sie lebt in Bern und hat schon eine Stelle, was mich nicht weiter wundert, kompetente Krankenschwestern werden immer und überall gebraucht.«
Angelika stellte das Tablett vor dem Schiebefenster der Küche ab und Norbert tat es ihr nach.