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Wer die Ideologie eines Gegners besser kennt als der Gegner selbst, wird für Debatten mit ihm gerüstet sein. Und wer die Kritik an der eigenen Politik besser versteht als der Gegner, wird sachlich-argumentativ die Oberhand behalten können. "Zu diesem Zweck unternimmt dieses Buch den Versuch, für die Abteilung Attacke, die Diskurse zu sichten und zu kommentieren, welche Rolle die Partei Alternative für Deutschland dabei spielt, um bei den prominentesten Streitthemen für den Wortkampf mit ihr Argumente zu liefern -- egal auf welchem Debattenfeld man sich befindet, vom Stammtisch, über die Talkshow bis zum Parlament: Themen wie die Europapolitik, die Energiewende, die Migration, die Corona-Krise und die Identitätspolitik kommen dabei unter die Lupe." Malte Krüger ist ein lebendiges Zeugnis der gegenwärtigen Zeit gelungen, das zudem eine bewegende Freude an der wissenden Sachlichkeit vermittelt. Wem die Güte der Demokratie am Herzen liegt, wird die nötige Entschiedenheit darin teilen wollen und die Vertrauen schaffende Menschlichkeit dafür begrüßen.
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Seitenzahl: 792
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Abteilung Attacke
Über das Buch:In einer Demokratie lebt der öffentliche Diskurs von bewegenden Argumenten und der sachlichen Auseinandersetzung und sie erzielt, in dieser offenen Gesellschaft, die besten Ergebnisse durch Klugheit und Ruhe, durch Leidenschaft und Entschiedenheit, sowie durch Wissen und das Vertrauen auf eine wohlbegründete und nicht beliebige Basis der menschlichen Überzeugung. Malte Krügers Buch zeigt exemplarisch und anschaulich, wie gesellschaftliche Probleme und Herausforderungen diskutiert werden können und führt mit transparenten Belegen die Auseinandersetzung mit der Partei Alternative für Deutschland auf eine sachliche Grundlage zurück. Dass die letzten zehn Jahre, seit 2014, Emotionalisierungen und Schuldzuweisungen in einer lange nicht mehr aufgekommenen Weise in den öffentlichen Raum gespielt hatten und es nun dringend geboten ist die Klarheit der Sprache, die Deutlichkeit des Arguments, die Fairness der Erwiderung und den Respekt der inneren Haltung zu wahren, gehört zu den Herausforderungen dazu, die der seit langem wieder aufgekommenen Mentalität der alternativen Wahrheiten adäquat zu begegnen hat. Das Buch macht deutlich: der politische Diskurs ist verworren geworden, doch er ist nicht verwirrend. Wer die Klarheit sucht und an einer tragfähigen menschlichen Basis arbeitet, wer die Kraft anreichert sich durch geschürte Ängste nicht entfachen zu lassen, wird einen Beitrag leisten können wieder Sachlichkeit und Ruhe einkehren zu lassen, um die großen Herausforderungen der Gesellschaften dieser Welt konstruktiv und zum Nutzen aller am Besten meistern zu können. Wer die Menschlichkeit ergründet und die egoischen Eitelkeiten überwindet, wird diese Klarheit leichter erkennen. Und wer die globalen Herausforderungen in den Blick nimmt, wird auch für seine lokale Aktivität vor Ort sinnvolle Betätigungen und Gespräche finden, um seinen Beitrag zum Gelingen des Menschlichen zu leisten. Wir sind damit alle aufgefordert uns selbst nicht im Stich zu lassen. Das Buch ist ein wertvoller Beitrag dazu, auf der Ebene des politisch-menschlichen Lebens, in Deutschland und der Welt.
Über den Autor:Malte Krüger, 1968 in Schleswig-Holstein geboren, studierte in München Sprach- und Theaterwissenschaft und Politik und leitet mit zwei Partnern eine Privatschule in Neumünster. Dort unterrichtet Malte Krüger in der Erwachsenenbildung in den Fächern Rhetorik und Dialektik Politiker, Ärzte, Lehrer, Juristen und Manager. Für sein letztes Buch „Undercover in der Finanzindustrie“, das im FinanzBuch Verlag erschienen ist, hatte er ein Stipendium der Günter Wallraff-Stiftung erhalten. Malte Krüger lebt in Schleswig-Holstein und schreibt aktuell an seinem nächsten Buch.
Malte KrügerAbteilungAttackeMit welcher Rhetorik die AfDendlich bekämpft werden muss
Mensaion Verlag
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Originalausgabe – im Mensaion Verlag© 2024 by Malte KrügerISBN-978-3-68918-011-9 (Hardcover)ISBN-978-3-68918-012-6 (Softcover)ISBN-978-3-68918-013-3 (E-Book)Satz: LaTeX, ebgaramond and TeX4ebook, European Computer ModernHerstellung: treditionCoverdesign by Mensaion Verlaghttps://www.mensaion.de/Besuchen Sie uns im Internet
Dieses Buch ist Ulrich Radtkegewidmet,einem der letzten Universalgelehrten.
Warum habe ich dieses Buch geschrieben? Die Partei Alternative für Deutschland (AfD) hat als in weiten Teilen rechtsradikale Partei mit ihrer aggressiven Rhetorik die Debattenhoheit bei vielen prominenten Themen erlangt, Themen wie die Migration oder die Identitätspolitik. Diese Debattenhoheit hat ihr viel zu viele Stimmen eingebracht wie bei der jüngsten Europawahl von 15,9 Prozent.1 Warum ist ihr das gelungen? Was kann man als Demokrat dagegen unternehmen, damit sie diese Zahlen nicht auch bei der nächsten Bundestagswahl erreicht, sondern als das gesehen wird, was sie ist, nämlich eine antidemokratische Partei? Wie kann man die Überzeugung vermitteln, dass die AfD mit ihrem Rassismus, Nationalismus und Antipluralismus keinen ideellen, materiellen und sozialen Gewinn bedeutet?
Die Frage nach dem passenden Umgang mit der AfD stellt sich, seit es die AfD gibt. Sie betrifft direkt meine berufliche Identität als Rhetoriktrainer. Sie betrifft mich, weil ich beim Training mit berufstätigen Erwachsenen wie zum Beispiel mit Politikern stets mit der Frage zu tun habe, wie man als Redner Überzeugungskraft gewinnt. Warum also gelingt es der AfD, ungeachtet von Fakten und Vernunft, Wähler auf ihre Seite zu ziehen? Warum gelingt es dieser Partei, Emotionalität und Bauchgefühl über jede Form der wissenschaftlichen Evidenz zu erheben? Warum gelingt es dieser Partei, den Glauben zu verbreiten, Rassismus könnte eine Stärkung der Meinungsfreiheit sein oder man habe ein Recht darauf, eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu zeigen? Warum gelingt es dieser Partei, die Medien unter dem Beifall ihrer Anhänger als Feind darzustellen, obwohl sie selbst doch wesentlich das Produkt der Medien ist? Warum also gelingt es dieser Partei, Überzeugungen über Effekte und Entertainment zu formen – statt mit sinnlogischen und faktenorientierten Erklärungen politischer Zusammenhänge?
Diese fragwürdigen Erfolgsmittel der AfD könnten den Eindruck erzeugen, dass die Menschen sich für die Wirklichkeit der Fakten und des Wissens, für Kritik und Aufklärung nicht mehr interessieren. Vielmehr wollen sie nur ihre „emotionalen und psychischen Befindlichkeiten durch Bilder und Narrative“ bestätigt sehen, wie es der Publizist Georg Seeßlen einmal ausdrückte.2 Das hieße, dass das System der deliberativen Demokratie mit ihren Aushandlungsprozessen, bei denen das bessere Argument zählen soll, nicht mehr umzusetzen ist. Denn das Postfaktische, die Post-Truth-Politik oder die alternative Wahrheit, hätte dann die Vorherrschaft übernommen und die Demokratie wäre nicht mehr mehrheitsfähig. Man müsste also Abschied nehmen von aller konstruktiven Sachlichkeit. Diese Gefahr besteht zweifellos.
Allerdings haben (Rechts)Populisten keinen Alleinverfügungsanspruch auf die Fähigkeit, die Gefühle anzusprechen. Fakten- und Argumentlosigkeit sind nicht die ausschließlichen Bedingungen für Überzeugungskraft und für die Einflussnahme auf Gefühle. Wenn das so wäre, könnten keine Aha-Erlebnisse, egal ob groß oder klein, jemals einen positiven Einfluss auf Gefühle haben. Es gäbe nicht einmal Aha-Erlebnisse. Auch Demokraten können die Emotionen ihrer Zuhörer erreichen und Narrative entwickeln. Demokraten können genauso Einfluss auf die Gefühle nehmen mit der Übermittlung von rationalen Erkenntnissen und Überzeugungen. Das sollten sie auch, weil sie für die besseren Ziele stehen, wie den Erhalt der Natur, der Kultur, der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit. Allerdings waren im Umgang mit den Ideologen der AfD die demokratischen Kräfte oder die Mitglieder der demokratischen Parteien bisher nicht gut genug in ihrer Rhetorik. So scheint es. Es ist ihnen bisher nicht oft genug gelungen, Erkenntnisse zu vermitteln, die sich auf das Gefühl ihrer Zuhörer positiv auswirken.
Gerade diese Fähigkeit macht aber einen guten Redner aus. Das ist der Maßstab, der seit über 2.000 Jahren gilt. Ein guter Redner ist nämlich imstande, die Überzeugungen seiner Zuhörer zu formen. Dabei konzentriert er sich auf drei Faktoren: 1. den Beweis seiner Standpunkte, 2. den Gewinn der Publikumssympathie und 3. die Einflussnahme auf die Gefühle seiner Zuhörer. Diese Aspekte der Technik machen einen Redner aber nicht allein zu einem guten Redner. Sonst wäre ein Volksverhetzer wie Joseph Goebbels (1897 – 1945) ein guter Redner gewesen, weil er voller Überzeugungskraft seine Zuhörer in den „totalen Krieg“ geschickt hatte.
Stattdessen muss ein guter Redner mit den Gefühlen seiner Zuhörer verantwortungsvoll umgehen. Deswegen muss er den Willen haben, die Gerechtigkeit in der Gemeinschaft wie in einem Staat zu fördern, indem jeder Einzelne an der Gemeinschaft politisch teilhaben darf. Dafür muss er etwas wissen über die Menschen und die Funktionsweise einer Gesellschaft, und am besten müsste er sich in allen Bereichen des Lebens auskennen. Er muss also auch die universelle Bildung eines Philosophen haben. Somit ist die Redekunst nicht allein die Kunst der überzeugenden Rede, sondern vor allem die Kunst, etwas politisch Gehaltvolles zu sagen zu haben und vor allem etwas sozial Verantwortliches.
Willy Brandt (1913 – 1992) war vielleicht kein Philosoph. Doch mit seiner Rede von der Losung „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, signalisierte er diesen Willen zur sozialen Gerechtigkeit, und das machte Brandt in diesem Moment der Parlamentsgeschichte zu einem guten Redner. Willy Brandt liefert demnach das Beispiel für den Maßstab eines guten Redners, dessen Definition von Marcus Tullius Cicero stammt, einem der prägendsten Redner und Lehrer der Beredsamkeit der Weltgeschichte. Dafür hat er das Bild von einem orator perfectus entworfen, dem vollendeten Redner.
Als Politiker gelang es Cicero (106 – 43 v. Chr.) in einer Zeit, als Rom eine Republik war, durch sein rhetorisches Talent in den öffentlichen Räumen wie der Volksversammlung oder vor Gericht politische Geltung zu erwerben. Zu seinem politischen Nachteil entstammte er nicht einer der bedeutenden Adelsfamilien, die wie die Scipionen viele Generationen hindurch die Politik in Rom bestimmten. Er verfügte auch nicht über ein Vermögen wie Crassus, (115/114 – 53 v. Chr.) um sich politischen Einfluss zu kaufen. Genauso wenig konnte Cicero als Feldherr wie Caesar (100 – 44 v. Chr.) mit einer Armee in seinem Rücken die Politik an sich reißen. Sein einziges Kapital war seine rednerische Gabe.3
Diese Art Geltung müssen Demokraten mithilfe des ciceronischen Maßstabes auch in der heutigen Zeit erreichen. Denn es ist die entscheidende Frage, wie man als Demokrat in Konkurrenz zur rechtspopulistischen AfD – solange sie Teil der Öffentlichkeit ist und nicht verboten ist – einen positiven Einfluss auf die Gefühle von Menschen bekommt. Denn die Manipulation von Gefühlen ist das Kerngeschäft von Populisten. Demokraten können und sollten dagegen mit Wissen und rationaler Erkenntnisvermittlung in sozialer Verantwortung bei ihren Zuhörern etwas bewirken, wozu die (Rechts)Populisten niemals imstande wären. Denn nur Wissen und Empathie schaffen Demokratie. Gerade deswegen müssen die Rechtsradikalen der AfD zur Gewalt und zu Schuldbezichtigungen greifen und Hass und Hetze verbreiten. Denn sie erklären gerade das Wissen selbst zum Feind und verkörpern mit ihrem Rassismus und Antipluralismus soziale Verantwortungslosigkeit. Das können Demokraten allein schon zur Hygiene des öffentlichen Raumes nicht dulden.
Mit diesem Buch möchte ich die Antwort aus der Perspektive eines Rhetoriktrainers geben. Ich möchte das, weil ich mich als Anhänger des ciceronischen Maßstabs der politischen Sachlichkeit und der Suche nach dem besseren Argument verpflichtet fühle.
Kiel, Juni 2024
Mit Rechten zu reden, will gelernt sein – gerade in einer Demokratie: Denn eine Demokratie ist laut den Politikwissenschaftlern Ernesto Laclau und Claude Lefort als ein „leerer Ort der Macht“ zu verstehen, der aufgrund seiner Offenheit mit einer unaufhörlichen Auseinandersetzung darüber verknüpft ist, was Demokratie sei.4 Das heißt, die Mitglieder eines demokratischen Gemeinwesens müssen diesen Ort immer wieder in Verhandlungen neu gestalten. Was wahr oder falsch, politisch legitim oder nicht legitim, sozial gerecht oder ungerecht ist, ist das Ergebnis sozialer Kämpfe. Die Beteiligten dieser Kämpfe sind darauf angewiesen, ihre Positionen mit einer überzeugenden Rhetorik zu vertreten. Die Frage ist, wer diesen offenen Raum mit welcher Rhetorik ausfüllen kann. Das gelingt mehr denn je den Rechtspopulisten der Partei Alternative für Deutschland (AfD) mit ihrer Rhetorik der Schwarz-Weiß-Malerei, der Sündenbockkonstruktionen, der Erlösungsversprechen, der Komplexitätsreduktion und der Lüge. Nach wiederholten Umfragen ist die AfD im Bund inzwischen zweitstärkste Kraft und aufgrund dieser Stärke bereit für mehr. Dem haben die demokratischen Parteien kaum etwas entgegenzusetzen. Es ist eher die Zivilgesellschaft, die sich mit ihren Demonstrationen diesem Spuk entgegenstellt.
Folglich könnte die AfD bei der nächsten Bundestagswahl einen eigenen Kanzlerkandidaten aufbieten und in Thüringen im Herbst 2024 mit Björn Höcke sogar einen rechtsextremistischen Ministerpräsidenten stellen. Die innerparteilichen Kämpfe seit ihrer Radikalisierung, weg von der rechtskonservativen eurokritischen Professorenpartei und hin zur in weiten Teilen rechtsradikalen Schmuddelpartei, haben der Partei nicht geschadet. Auch die Parteispendenaffäre ist verpufft. Zu verbreitet scheint in der Bevölkerung die Sehnsucht nach einem Bollwerk gegen den Wandel zu sein durch die Digitalisierung, die Migration, die Globalisierung, den Klimawandel und die Neuordnung der Welt als Folge des Krieges in der Ukraine. Der Krieg im Nahen Osten hat die Welt noch zusätzlich verkompliziert. Die AfD will dieses Bollwerk errichten gemäß ihrer Ideologie von der Zweiteilung der Welt, in der es ein vertrautes Wir gibt, das moralisch reine und homogene Volk, und das Fremde, wie zum Beispiel eine verkommene globalistische Elite, die Migranten, der Islam, der angeblich vorherrschende Schuldkult, die nicht-binäre Sexualität, die nicht patriarchalisch unterworfenen Frauen, die vermeintlich faulen Südeuropäer, die staatliche Gängelung durch Brüssel und am besten auch noch diejenigen, die vom Staat irgendwelche Leistungen beziehen, statt selbst Leistungsträger zu sein. Demnach sind Rassismus, Nationalismus und Antipluralismus nicht nur zum sichtbaren Teil des politischen Angebots geworden, sondern werden von der AfD auch noch als gleichwertige Inhalte verkauft. Dadurch scheinen sich immer mehr Menschen der Verpflichtung nie wieder Faschismus nicht mehr verbunden zu fühlen. Bezeichnenderweise beginnt die Brandmauer zwischen CDU und AfD zu bröckeln, wie ihre Kooperationen auf lokaler Ebene zeigen. Das heißt, die bisherigen Empörungsstrategien der demokratischen Parteien im Umgang mit der AfD sind gescheitert. Deswegen war die Einschätzung nach der letzten Bundestagswahl 2021 verfrüht, die AfD habe ihren Zenit überschritten. Ohnehin war diese Fehleinschätzung eingebettet in eine Normalisierung im Umgang mit der AfD. Die Positionierung der etablierten Parteien gegen rechts ist deswegen eher zu einem entleerten und kraftlosen Ritual verkommen. So als habe man sich abzufinden mit 10 bis 12 Prozent Rechtsradikalismus in den Parlamenten. Diese Kraftlosigkeit hat besonders Bundeskanzler Olaf Scholz demonstriert, als er die AfD als Schlechte-Laune-Partei etikettierte.5
Stattdessen hat sich die Einschätzung bewahrheitet, dass der Rechtsruck in Deutschland keine Augenblickserscheinung bleiben wird, solange die vielen Krisen und Konflikte, die den Nährboden für den Rechtsruck bilden, ungelöst bestehen bleiben. Der Rechtsruck ist bekanntlich aus der Krisenserie seit 2007 hervorgegangen und hat, wie der Diskurstheoretiker Jürgen Link richtig sagt, das System mit seinem Normalspektrum der Parteien krisenhaft angesteckt und mit dem Rechtspopulismus der AfD einen Antagonismus ins System gebracht.6 Diese Krisenserie mit der Finanzkrise, der Wachstumskrise, der Eurokrise, der Flüchtlingskrise, der Corona-Krise, der Klimakrise und jüngst mit der Energiekrise als Folge des Krieges in der Ukraine, hat sich teilweise ausweiten können, weil wie bei der Corona-Krise keine vorgefertigte Handlungsanweisung auf dem Tisch lag. Dabei waren von den Krisen vor allem Mittel- und Unterschicht betroffen und hatten die Kosten der Rettungsmaßnahmen wie bei der Bankenrettung zu tragen nach dem Muster, die Gewinne werden privatisiert und die Verluste sozialisiert. Deswegen können sich für immer mehr Menschen die Wohlstandsversprechen des Kapitalismus nicht erfüllen. Doch gerade die Stabilität der Demokratie hängt von der Verwirklichung dieses Versprechens ab.
Umso mehr sind große Teile der Gesellschaft in diesen Krisenzeiten und den damit verbundenen Erschöpfungsdepressionen von dem Grundgefühl der Angst bestimmt, wie der Soziologe Heinz Bude aufgezeigt hat.7 Deshalb können die Bürger durch gezielte Desinformationen wie beim Heizungsgesetz – unabhängig von allen handwerklichen Unzulänglichkeiten, wie dem Mangel der sozialen Absicherung bei der Gestaltung dieses Gesetzes – durch Kampfbegriffe, wie Heizungshammer und Energie-Stasi, viel zu leicht verunsichert werden. Deswegen kann Alice Weidel im Bundestag die ewig gleiche Rede von dem drohenden Ökosozialismus und der massenhaften Messereinwanderung halten, die wegen der Komplexitätsreduktion kaum schlechter sein kann. Es reicht ihr Appell, man müsse zurück zur Normalität mit der fossil getriebenen Automobilindustrie als Wachstumslokomotive, und sie wird im Netz dafür gefeiert, Hammerreden zu halten. Sie wird gefeiert, gerade weil sie kaum auf nennenswerte Gegenwehr trifft.
Deswegen geht dieses Buch der Frage nach, mit welcher Rhetorik man den eroberten Raum von der AfD zurückgewinnen kann, den sie für viele Gruppen verschließen und totalitär besetzen will. Mit welcher Rhetorik kann man ihre rechten Unterstützermilieus in die Defensive bringen? Sicher stellen die AfD und ihre Unterstützermilieus, abseits der neonazistischen Milieus, wie das der NPD, die den Boden des Konservatismus verlassen haben oder mit derartigen Grenzüberschreitungen spielen, keine homogene Bewegung dar: neben der AfD sind damit die Neuen Rechten um den Verleger Götz Kubitschek gemeint sowie die Identitären, die Reichsbürgerszene, Teile der Männerrechtsbewegung, die rechten Strömungen der Querdenkerbewegung, rechte Strömungen der sogenannten besorgten Bürger, wie die Pegida-Bewegung, die rechten Christen-Milieus mit Figuren, wie den Theologen Helmut Matthies und rechtslibertäre Milieus um Verschwörungsideologen wie die Youtuber Gunnar Kaiser, Boris Reitschuster und auch Marc Friedrich.8 Dementsprechend gibt es in der AfD auch noch keine in sich konsistente faschistoide Weltanschauung, wie die Soziologin Cornelia Koppetsch erklärt.9 Die AfD ist auch nicht deckungsgleich mit den Neuen Rechten, auch wenn sich Kubitschek als Stichwortgeber der Partei versteht. Die rechtslibertären Milieus sind wiederum nicht deckungsgleich mit der AfD. Das, was sie aber verbindet ist die Ähnlichkeit ihrer Narrative, die in den letzten 15 Jahren immer mehr Raum der Öffentlichkeit erobert haben, die Erzählungen, dass sich das Volk einer Diktatur erwehren müsse, wie der „Diktatur“ Angela Merkels, die in Komplizenschaft mit den Mainstreammedien einen Bevölkerungsumtausch durch eine angeblich illegale Masseneinwanderung organisiert, die Deutschen von der EU ausbeuten lässt, eine Meinungsdiktatur errichtet hat, den Ökosozialismus einführen will und die Corona-Diktatur verhängt hat. Diese Erzählung ist teilweise auch auf den Krieg in der Ukraine ausgedehnt worden, indem die NATO als der eigentliche Auslöser dieses Krieges stellvertretend für die globale Elite dämonisiert wird. Gerade die AfD verbreitet ihre Erzählung mit einem politischen und moralischen Alleinvertretungsanspruch, am besten zu wissen, was gut für das Volk sei. Die Gegenseite habe sich stattdessen aufgrund der Gehirnwäsche durch die Mainstreammedien verfangen in einer Matrix des Gutmenschentums.
Wie also kann man den Wortkampf mit der AfD bestreiten? Denn mit der AfD drohen der soziale Kahlschlag und das Ende von Aushandlungsprozessen und die Gefährdung des Schutzes von Minderheitenrechten. Das sollte aus der Ampelkoalition gerade die Grünen als das Hauptfeindbild der AfD interessieren. Natürlich auch die SPD aufgrund ihrer antifaschistischen Tradition. Die FDP als AfD light und wesentlicher Bremser der ökologischen Transformation spielt dagegen mit dem Feuer. Empörung und die Markierung als rechts allein reichen jedenfalls nicht aus und sind außerdem wohlfeil. Denn insbesondere die Empörung täuscht den Eindruck vor, ein Weiter-so wäre möglich und die Welt wäre in Ordnung, wenn es nur die AfD nicht gebe. Gleichzeitig verrät die Diskussion unter den Politikwissenschaftlern, soll man sich weiter von der AfD abgrenzen oder sich ihr annähern, wie sehr sich Empörung und die Markierung als rechts als Abwehrstrategien verbraucht haben. Zumal der Einsatz von Empörung und Negation keine Argumentation zulässt. Es ist bloß die Ersetzung eines dogmatischen Systems durch ein anderes.
Was spricht deshalb dagegen, die AfD mit einer viel umfangreicheren Aggressivität zu bekämpfen aus der Abteilung Attacke, frei nach Uli Hoeneß? Was spricht gegen eine Aggressivität, die sich nicht darauf beschränkt, das, was die AfD aufgrund ihres rechtsradikalen Gedankengutes glaubt, als falsch anzuklagen, sondern stattdessen aufdeckt, wohin dieser Glaube führt und was ein AfDler eigentlich glaubt? Nämlich Nichts. Die rhetorischen Rezepte für die Abteilung Attacke liegen im Grunde bereit. Sie werden nur viel zu wenig genutzt, wie das subversive Argumentieren, das der Philosoph Hubert Schleichert einmal so benannt hat. Bei diesem Verfahren gilt es, die Ideologie von der Mauer zwischen dem Vertrauten und Fremden eines AfDlers bei jeder Gelegenheit zu erschüttern, zu unterminieren und zu untergraben.10 Subversives Argumentieren heißt also, bei jeder Gelegenheit, die sachpolitische Inkompetenz der AfD bloßzustellen, weil die AfD eher auf Strategie beruht als auf sachpolitischen Konzepten. Dafür muss man die Ideologen der AfD beim Wort nehmen und auf jedem Wort, auf jedem Satz und auf jedem absoluten Urteil von ihr herumreiten. Man muss die AfDler dazu zwingen, zu jedem Detail ihrer Dogmen, Realitätskonstruktionen und Wahrheitsansprüche Stellung zu beziehen. Ansonsten ermöglicht die Markierung als rechts der AfD viel zu sehr, die eingeübte Opferrolle zu spielen, man wolle sie mit dieser Markierung von der politischen Debatte ausschließen. Kritik werde angeblich abgeschmettert mit der Gleichung: Wer gegen die Regierung ist, ist rechtsradikal.
Deswegen fragen Anhänger der AfD: Warum sollten es keine legitimen Positionen sein, raus aus dem Euro und der EU zu wollen, straffällige und irreguläre Asylanten schneller aus dem Land weisen zu können und sich für die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke einzusetzen? Ja, warum eigentlich nicht, wenn man diese singulären Punkte komplett aus allen ideologischen und sachpolitischen Zusammenhängen herauslöst. Nicht umsonst ist die AfD bis heute bestrebt, sich als bürgerliche Partei zu verkaufen, um sich das Label der Wohlanständigkeit zu geben.
Was aber könnte die Benchmark für eine derartige Aggressivität sein, ohne dass man dafür im Sinne eines Gegenpopulismus das Feld der Rationalität verlässt und ohne dass man die Komplexität im öffentlichen Raum reduziert? Obgleich die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe diesen Gegenpopulismus und die damit verknüpften Emotionen gern hätte, weil eine derartige Agonistik das Politische ausmache.11
Was könnte die Blaupause sein, um die rhetorische Überlegenheit von Figuren wie Marc Jongen oder Gottfried Curio ausgleichen zu können? Sie sind geschulter darin, Angst vor Freiheits- und Wohlstandsverlust zu verbreiten, als die Politiker der demokratischen Parteien geschult darin sind, diese Ängste zu nehmen.
Wer könnte das Role Model sein, um peinliche Momente zu vermeiden, wenn Markierungen als rechts bei Alice Weidel und Co. einfach nur abtropfen? Sie tropfen ab, weil es den Parteimitgliedern der AfD egal ist, ob der Verfassungsschutz sie beobachtet oder nicht. Folglich soll für die AfD der Verfassungsschutz nicht als Richtgröße für die Normalitätsgrenzen und die Verfassung nicht als Richtgröße für ihre Politik gelten. Auf die Art bringt Alice Weidel RTL-Moderator Philipp Sandmann zum Schweigen, als dieser fragt, ob der Rechtsextremist Björn Höcke mit seiner Rhetorik dem Wirtschaftsstandort Deutschland helfen kann. Weidel weist diese Einstufung Höckes brüsk zurück, gerade weil der Verfassungsschutz das sagt, und der schlecht vorbreitete Moderator kann kein rhetorisches Holz ins Feuer nachlegen und den Rechtsextremismus Höckes nicht nachweisen, geschweige denn die möglichen negativen Folgen für den Wirtschaftsstandort konkretisieren.12 Für diesen Nachweis müsste er zum Beispiel Höckes Buch „Nie zweimal in den selben Fluss“ gelesen haben.13 Obendrein ist es schon ein Fehler, den Rechtsextremismus der AfD auf die Figur Björn Höcke zu beschränken. Alice Weidel beweist selbst, dass auch sie das Diskurs- und Handlungsfeld einer pluralistischen Demokratie kaputtmachen will, wenn sie Flüchtlinge und Migranten ausschließlich als Kopftuchmädchen, alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse kategorisiert.14
Ein Role Model für die Abteilung Attacke unter den aktuellen Politikern ist kaum zu finden. Zuspitzen, herausfordern, bekämpfen und provozieren bis aufs Blut, ohne zu verfälschen, um gegen die AfD die Hoheit in der politischen Debatte zurückzugewinnen, können nur wenige. Ein Michel Friedman als CDU-Mitglied könnte das mit seiner technischen Raffinesse. Ein Gregor Gysi auch mit seinem Witz. Ein Heiner Geißler hätte das auch gekonnt mit seiner Mischung aus Technik, Witz und Bildung. Er wusste als Generalsekretär, dass man die Debatte nicht anderen überlassen darf. Doch weder ein Christian Lindner noch ein Olaf Scholz noch ein Friedrich Merz noch eine Annalena Baerbock reichen daran heran. Ein Robert Habeck vielleicht aufgrund seiner Bildung. Möglicherweise ist dieser aktuelle Mangel an rhetorischer Schärfe Ausdruck der Hinwendung der etablierten Parteien zum Pragmatischen der politischen Mitte, mit seiner sprachlichen Verdünnung in Zeiten des Postparlamentarismus, wie es der Politikwissenschaftler Franz Walter in seinem Buch „Baustelle Deutschland“ 2008 diagnostizierte.15
Deswegen geht der Blick fast ein wenig gezwungenermaßen zurück in die 1990er Jahre zu einem Fernsehauftritt eines Nichtpolitikers, des Soziologen Günter Amendt, in dem Talkshow-Format Live im ZDF.16 Dort demonstrierte Amendt das gesuchte rhetorische und dialektische Vermögen. Als gefragter Redner des öffentlichen Lebens war Amendt bis zu seinem Tod im Jahr 2011 auf den von ihm bevorzugten Feldern Sex und Drogen fachlich unangreifbar. Er hat sich trotz seiner Minderheitenpositionen den Status einer Autorität erkämpfen können, und deshalb hat kaum jemand versucht, Günter Amendt an seinem wundesten Punkt zu treffen, um darüber einen Nebenkriegsschauplatz zu eröffnen, nämlich seine Homosexualität. Er war für solche Ablenkungsmanöver einfach zu stark. Seinem unermüdlichen Einsatz für die Legalisierung von Drogen, was in den 1980er und 1990er Jahren eine klare Minderheitenposition war, ist es mit zu verdanken, dass heute zumindest die Legalisierung von Cannabis möglich geworden ist. Seine Stimme fehlt im öffentlichen Diskurs bis heute.
Bei seinem Fernsehauftritt liefert sich Amendt ein Rededuell mit dem früheren Wirtschaftsminister Günter Rexrodt und geht daraus als klarer Gewinner hervor. Die Aggressivität und argumentative Kraft, mit der Amendt Rexrodt hierbei angreift, sollte die Blaupause für den Umgang mit AfD-Mitgliedern wie Alice Weidel oder Marc Jongen in der Debatte sein. Dabei ist es das Gesamtpaket, das Amendt zur Benchmark macht: sein umfangreiches Expertenwissen, seine Fähigkeit, ausschließlich rational zu argumentieren, seine allgemeinverständliche Rhetorik und seine aggressive Haltung und Selbstsicherheit im Wortvortrag. Amendt verkörpert die ideale Kombination aus Experten- und Persönlichkeitsmacht. Zudem ist er gestählt durch zahllose Streitgespräche und Redeschlachten. Anlass dieses Rededuells mit Rexrodt war der anvisierte Sozialabbau der CDU-FDP-Koalition unter Helmut Kohl im Jahr 1993. Von Anfang an befindet sich Amendt im Angriffsmodus und konfrontiert Rexrodt mit den sozialen Folgen des kommenden Sozialabbaus. Amendt prognostiziert, dass die geplante Deregulierungsorgie der Regierung zu einem Anstieg der sozialen Verelendung und damit auch zu einem weiteren Anstieg des Drogenproblems führen werde mit noch mehr Drogensüchtigen. Damit hat Amendt den Frame festgelegt für das Gespräch, und Rexrodt als prägender Kopf der Regierung steht sofort unter einem Rechtfertigungszwang. Diese Defensive veranschaulicht Rexrodt durch ein Verlegenheitsräuspern, als der Begriff Deregulierungsorgie fällt. Rexrodt kann dem gesetzten Deutungsrahmen nicht entkommen. Denn der Zusammenhang zwischen sozialer Not und Drogenkonsum, den Amendt herstellt, ist für Rexrodt rational nicht zu widerlegen. Er kann nur emotionalisieren, indem er appelliert, dass er als Regierungsmitglied die besten Absichten gehabt habe. „Glauben Sie mir, wir wollen nicht dahin kommen, dass es den Menschen schlechter geht“, versichert Rexrodt.17 Dabei verwendet Rexrodt das damals gültige Sprachmuster: Wir bauen den Sozialstaat ab, um den Sozialstaat als Ganzes bezahlbar zu machen.
Doch Amendt lässt Rexrodt mit dieser Emotionalisierungsmasche nicht davonkommen. Vielmehr konfrontiert er ihn mit seinem Versäumnis als Wirtschaftsminister, sein Ministerium dafür einzusetzen, sich zusammenhängend mit der Ökonomie von Drogen zu beschäftigen und mit einem Modellentwurf der Drogenlegalisierung der organisierten Kriminalität die Einnahmequellen abzuschneiden. Amendt kennt das Thema und den dazugehörigen Diskurs so gut, dass er weiß, was genau die Bundesregierung in der Drogenpolitik alles versäumt hat. Sein Vorwurf lautet deshalb: Von der Regierung komme nichts, was das Drogenproblem in Gestalt des Angebotsdrucks von Drogen zumindest entschärfen, die Beschaffungskriminalität der Süchtigen beheben und zur AIDS-Prophylaxe beisteuern könnte. Amendt trägt in einer Steigerungsrede durch die Aneinanderreihung von Parallelismen seine Anklage vor und liefert als Conclusio den Vorwurf, Rexrodt sei nicht selbstkritisch genug: „Sie haben vorhin von zwei Gründen gesprochen, warum Politiker unbeliebt sind. Sie haben vielleicht den wichtigsten vergessen: Inkompetenz!“.18 Die Klarheit und Dominanz seiner Rede ist das Produkt seiner intensiven Beschäftigung mit dem Thema. Deshalb hat er es aufgrund der Qualität seiner Argumente nicht nötig, mit irgendwelchen rhetorischen Finten die Rationalitätsebene zu verlassen – nicht so wie Rexrodt. Die Zuschauer im Fernsehstudio spüren das und honorieren das mit Applaus. Rexrodt hilft nur die Flucht, Amendt Populismus zu unterstellen. Es ist ein reines Stigma, weil Amendt eine unterkomplexe Darstellung des Sachverhalts nicht vorzuwerfen ist. Amendts volkswirtschaftlicher Hinweis, man würde durch eine Legalisierung die Kosten für den Repressionsapparat sparen können, nutzt Rexrodt für einen Strohmann. Ohne ein derartiges Ablenkungsmanöver kommt er nicht aus. Deshalb spielt Rexrodt bei dem Begriff Repressionsapparat auf Amendts Herkunft als 68er an und unterstellt Amendt eine angeblich daraus resultierende Unbelehrbarkeit. „Manche sind ja nicht älter geworden“, suggeriert Rexrodt.19 Deutlicher hätte Rexrodt seine Unterlegenheit nicht ausdrücken können.
Günter Amendt macht vor, wie gut man in der Debatte mit der AfD informiert sein muss, um mit Fakten gegen Beharrungskräfte zu argumentieren, die von Ängsten vor Zuwanderung und vor Wohlstandsverlust durch die Energiewende bestimmt sind. Er wusste natürlich, dass er Günter Rexrodt nicht überzeugen kann. Rexrodt gehörte zu den Mittätern jener neoliberalen Deregulierungsorgie, die Amendt der Regierung Helmut Kohls vorwirft.
Genauso muss man sich darauf einstellen, dass man die Mitglieder der AfD mit ihrer Ideologie und einen Teil ihrer Anhänger wahrscheinlich nicht überzeugen kann. Man kann nicht mit jemandem argumentieren oder gegen dessen Thesen argumentieren, wenn man mit ihm in den fundamentalen Prinzipien nicht übereinstimmt. Auch Protestwähler werden nur schwer erreichbar sein. Zu groß ist die weltanschauliche Übereinstimmung. Protestwähler sind nicht nur dadurch definiert, wie die Studie von Spittler, Krause und Wagner gezeigt hat, ihre Wahlentscheidung für die AfD aufgrund der Abstoßung von den etablierten Parteien getroffen zu haben. Ihre Wahlentscheidung ist auch von Anziehungsfaktoren bestimmt.20 Aber Amendt führt mit der Kraft seines Auftretens vor, wie man neutrale Zuschauer oder Unentschiedene auf seine Seite ziehen kann. Er beweist das, indem sich der ebenfalls anwesende SPD-Politiker Günter Verheugen als Unterstützer für Amendt ins Gespräch einschaltet. Dabei hält Verheugen Rexrodt den wahren Grund vor, warum die Regierung nichts zur Entschärfung des Drogenproblems beitrage, ohne dass Amendt das noch leisten müsste. Die Regierung benötige schlichtweg die Bekämpfung von Drogen und von Süchtigen, um von ihrem Anteil an dem Drogenproblem abzulenken.
Darauf kommt es auch beim Meinungskampf mit der AfD an: Es geht darum, in der gespaltenen Gesellschaft in Deutschland jene 40 Prozent zu erreichen, die zwischen den beiden Lagern aus Pluralitätsbefürwortern und Pluralitätsgegnern stehen und in beide Richtungen mobilisierbar sind. Laut der Migrationsforscherin Naika Foroutan gebe es im Moment circa 30 Prozent von Deutschen, die sich für ein plurales und vielfältiges Konzept von Deutschland aussprechen. Diese 30 Prozent tun das auch, weil es bis heute immer noch Widersprüche gibt zwischen den Pluralitätsnormen, wie sie das Grundgesetz festlegt, und der empirischen Realität, zum Beispiel die in Teilen immer noch nicht vollendete Gleichstellung von Frauen. Es gibt aber auch 30 Prozent von Deutschen, die sich gegen die Pluralität aussprechen und eine Absenkung der Pluralitätsnorm des Grundgesetzes befürworten21 Das macht die Mobilisierung der dazwischen stehenden 40 Prozent umso herausfordernder. Besonders da die Verteilungskämpfe zunehmen werden, solange es beispielsweise nicht gelingt, die ökologische Transformation zu einem gesamtgesellschaftlichen Projekt zu machen.
Auch wenn Amendts Auftritt vor 30 Jahren stattfand, wirkt er als Benchmark mehr als tauglich für das, was die Demokratie benötigt im Kampf gegen den Rechtspopulismus und gegen die wachsende Handlungsbereitschaft, sich fremden- und minderheitenfeindlich zu zeigen: nämlich wehrhafte Demokraten. Sie braucht diese Wehrhaftigkeit, weil das Gefühl um sich greift, dass man mittlerweile, einschließlich der Leugnung des Holocausts, alles machen kann, nichts mehr ernst nehmen muss und die Geschichtserinnerung in den Hintergrund rückt, wie Michel Friedman beklagt.22 Sie braucht diese Wehrhaftigkeit, um die Ausbreitung rechter Narrative und ihren Einfluss auf die politische Kultur einzudämmen, erst recht weil die AfD mit ihrem Rassismus, Nationalismus und Antipluralismus eine feste Größe zu werden scheint besonders in Ostdeutschland.
Es braucht wehrhafte Demokraten, weil die Demokratie inzwischen von allen Seiten bekämpft wird – und zwar global. Diesen Angriff hat nicht nur Russland mit seinem Krieg gegen die Ukraine gestartet. Auch die Demokraturen in Polen oder Ungarn sind Schauplätze eines Kampfes gegen Offenheit, Liberalismus und Gleichheitsideen. Die Wiederwahl des neoliberalen Donald Tusk in Polen muss erst noch zeigen, ob es dort zu einer Umkehr kommt. Ähnliches betrifft eine der langlebigsten Demokratien der Welt, die USA. Dort haben die Präsidentschaft Donald Trumps und der Sturm auf das Kapitol die liberale Demokratie ins Wanken gebracht. Damit hat Trump einen Demokratieverfall fortgesetzt, der seit George W. Bush Fahrt aufgenommen hat. Dazu kommen noch die rechtspopulistischen und neurechten Bewegungen in Westeuropa, wie in Italien, in den Niederlanden, in Schweden, in Frankreich und in Deutschland mit ihrer demokratiefeindlichen Agitation, wir und nur wir vertreten das Volk und wissen, was das Volk will und wer überhaupt dazugehört. Auch in Israel verfällt die Demokratie zunehmend, obwohl sie einst als einzige Demokratie des Nahen Ostens qualifiziert worden ist. Denn die aktuelle Regierung wird wesentlich von rechtsradikalen Kräften bestimmt und sie schwächt durch einen Rückbau des Rechtsstaates das demokratische System. Gleichzeitig positioniert sich China selbstbewusster denn je als Systemalternative zur liberalen Demokratie aufgrund seiner wirtschaftlichen Erfolge mit seiner Version des Kapitalismus, eingebettet in einen Autoritarismus. Nicht zuletzt bieten islamistische Gesellschaften wie in Afghanistan einen anderen Weg an. Dort ist es nicht gelungen, eine Demokratie zu errichten. Insgesamt ist in den letzten Jahren nach dem Demokratieindex des Economist der Anteil der Menschen, die in einer Demokratie leben, gesunken. Gleichzeitig nimmt die Unterstützung für autoritäre Alternativen zu. Teilweise droht sogar die Gefahr, dass Europa in der Mitte von einem eisernen Gürtel rechter oder rechtspopulistischer Regime von Moskau, Budapest, Warschau bis Paris eingeschnürt wird. Obendrein haben sich die Demokratien auch noch selbst geschwächt mit ihren Freiheitseinschränkungen während der Pandemie, wenngleich das durch das fehlende Handlungsskript und den Mangel an Impfschutz im Kampf gegen das Virus begründet war.
Die Demokratie ist angezählt, weil sie bei der Bewältigung der vielen Krisen dieser Zeitenwende wie der Klimakrise an ihre Grenzen gestoßen zu sein scheint. Zumal die Autokratien über die fossilen und mineralischen Ressourcen verfügen, die die liberalen Demokratien vor allem in Europa benötigen. Wenngleich die Demokratie mit ihrer Gewaltenteilung und ihrem Parlamentarismus nie ein fertiges Projekt ist. Denn die Kernbegriffe der Demokratie, Herrschaft des Volkes, Freiheit und Gleichheit, verlangen, dass man sich immer wieder mit ihrer Bedeutung auseinandersetzt. Obendrein tendiert die Demokratie als System dazu, sich aus sich selbst heraus abzubauen.23
Mit den Angriffen auf Demokratie und Liberalismus jedenfalls haben sich, so wie es beispielsweise der Soziologe Andreas Reckwitz erklärt, die Grundannahmen der Modernisierungsvorstellungen in der westlichen Welt als Illusion herausgestellt. Danach galt bis jetzt Modernisierung als Verwestlichung. Das westliche Modell galt als der Normalfall der Entwicklung: Dazu zählen liberale Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft und soziale Sicherung, Pluralismus und Individualismus.24 Dieser vorherrschende Blickwinkel auf den globalen Prozess der Modernisierung galt sowohl für den globalen Süden als auch für Osteuropa. Erst recht nach dem Fall der Mauer galt diese Sichtweise als bestätigt. Denn die liberale Demokratie mit ihrer Marktwirtschaft hatte sich als leistungsstärker erwiesen als die sozialistischen Gesellschaften des Ostblocks mit ihrer Planwirtschaft. Der Systemgegner war weggefallen, und Francis Fukuyama rief großspurig das Ende der Geschichte aus. Ein Zurück in die Welt vor 1989 schien unmöglich zu sein. Auch für Russland galt diese Betrachtung. Wenn Russland in seiner Rolle als Energielieferant in den globalen Handel eingebunden und deren Zivilgesellschaft gestärkt werde, dann werde es sich schon zu mehr Demokratie und Pluralismus entwickeln. Doch wenn das nicht eintreffen sollte, werde sich Russland zumindest der ökonomischen Nutzenmaximierung widmen und nicht in historischen Erinnerungen an einen früheren Großmachtstatus schwelgen. Stattdessen ist Russland dazu übergangen, mit Gewalt seine Einflusszone auszudehnen und jetzt gegen das westlich-liberale Gesellschaftsmodell insgesamt Krieg zu führen.25
Warum aber ist die liberale Demokratie in so vielen Ländern des Westens derart unter Druck geraten? Warum gibt es in Osteuropa diese Tendenz zur Entdemokratisierung? Warum hat der globale Süden so wenig Lust auf Demokratie nach westlichem Zuschnitt? Warum glaubt Wladimir Putin, dass westliche Werte Russland zersetzen, Entartung und Verfall herbeiführen und der Natur des Menschen widersprechen würden?26 Warum haben über 70 Millionen Amerikaner mit Donald Trump einen Mann gewählt, der es zum Prinzip gemacht hat, die Lüge gleichrangig neben die Tatsache zu stellen, um Rassismus, Antipluralismus und Nationalismus als gleichwertige Werte und Themen in den politischen Diskurs zu drängen? Warum ist in Italien mit Giorgia Meloni eine Postfaschistin zur Ministerpräsidentin gewählt worden? Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, warum Millionen Menschen in Deutschland die AfD wählen. Sie tun das, weil sie diesen Richtungswechsel haben wollen.
Dennoch gibt es Unterschiede: Der globale Süden, die Entwicklungs- und Schwellenländer haben jedenfalls eine lange Liste gerechtfertigter Beschwerden über westliche Kolonialisierung und Ausbeutung vorliegen, die sie verbittert haben, stellt der Philosoph Slavoj Žižek fest.27 Mancherorts entwickelte sich sogar ein Hass auf den Westen. Obgleich Millionen Menschen nach Europa fliehen und das Risiko auf sich nehmen, im Mittelmeer zu Tode zu kommen. Wegen dieser Erblast des Westens kann China dort mit einer größeren Unschuld seine Variante des Kolonialismus durchsetzen und als großer Kreditgeber beispielsweise in vielen Ländern Afrikas neue Abhängigkeiten schaffen. Dagegen wird der Einsatz des Westens für Demokratie und Menschenrechte als zu oberlehrerhaft empfunden. Im Gegensatz dazu war in Osteuropa der Trend jedenfalls bis zum Jahr 2000 genau umgekehrt und die ehemaligen osteuropäischen Blockstaaten konnten sich nicht schnell genug dem Westen annähern wie zum Beispiel der NATO. Selbst Russland hatte sich in den Jahren unter Boris Jelzin liberalisiert. Insbesondere auch wegen dieses Trends glaubten umso mehr Menschen im Westen an das Ende der Geschichte. Diese Überzeugung, Teil einer leistungsfähigeren und moralisch höherwertigen Ordnung zu sein, ließ die 1990er Jahre mit ihrer Spaßkultur zum Jahrzehnt der Selbstüberschätzung und des Hedonismus werden.
Die Verheerungen des neoliberalen Kapitalismus sorgten jedoch in Osteuropa für ein böses Erwachen und für einen Rückzug der Demokratie. Viele osteuropäische Länder haben beispielsweise in der Transformationsphase nach dem Fall der Mauer auf Anraten von westlichen Ratgebern, wie den Experten des Internationalen Währungsfonds, ihre Kapitalmärkte liberalisiert. Die Osteuropäer haben diese Liberalisierung zugelassen, „ohne dass man bereit war, ihnen ein Währungssystem anzubieten, das sie vor Überbewertung und Spekulation hätte schützen können“, wie der Ökonom Heiner Flassbeck erklärt.28 Das hat der Oligarchie den Weg geebnet und viele Hoffnungen enttäuscht. Dadurch ist vielerorts das Gefühl entstanden, ökonomisch verkauft worden zu sein. Auch Russland war davon betroffen und erleichterte dem Putin-Regime die Rechtfertigung dafür, dass es den Modernisierungsprozess ausgebremst und die Liberalisierungen der Jelzin-Jahre zurückgeschraubt hat. Mit dem Hinweis auf die chaotischen Jahre mit den vielen zerstörten Existenzen konnte das Regime Putins der Bevölkerung den Deal vorschlagen: Leute, Ihr habt gesehen, dass Demokratie nichts taugt und nur Schaden anrichtet. Ihr bekommt aber dafür mehr Geld in die Taschen. Dieser Deal klappte aufgrund steigender Ölpreise. Nach dem Absturz des Ölpreises seit 2007 jedoch verlor der Gesellschaftsvertrag aus steigenden Einkommen und der Entpolitisierung der Öffentlichkeit laut dem Politologen Stefan Meister an Tragfähigkeit.29 Deshalb setzt heutzutage die russische Führung umso mehr auf die Machtressourcen Patriotismus und Nationalismus und das Feindbild des Westens.
Der damalige Absturz des Ölpreises ist wiederum eine Folge der Dynamisierung der Rohstoffmärkte gewesen. Es gehört zum Konzept des Neoliberalismus, Boom-und-Bust-Zyklen an den Aktienmärkten als finanzielle Rahmenbedingungen der Weltwirtschaft zu schaffen und dementsprechend instabile Wechselkurse und Rohstoffpreise entstehen zu lassen. Diese Instabilität hatte beispielsweise in Ungarn die rechtsnationale Wende ausgelöst, wie die Politikwissenschaftlerin Klaudia Hanisch ausführt. Das war eine Reaktion auf „die tief verschuldete ungarische Mittelschicht, die wegen der Währungsschwankungen seit der Finanz- und Schuldenkrise nicht mehr in der Lage war, ihre Devisenkredite abzubezahlen“.30 Ihren Hauskauf hatten viele Verbraucher mit Krediten in Fremdwährungen wie den Schweizer Franken finanziert, die jedoch mit Ausbruch der Finanzkrise aufwerteten und die Hypothekenkredite verteuerten. Verschuldet hatte das die Währungsspekulation der internationalen Märkte mit dem ungarischen Forint.31 Deswegen zimmert man sich in Ungarn inzwischen Verschwörungstheorien zusammen über den Investor George Soros mit deutlich antisemitischem Charakter, wie der Politikwissenschaftler Claus Leggewie betont.32
Auch im Westen hat sich der neoliberale Kapitalismus gegen immer mehr Bürger gewandt, weil die globale Vernetzung den Wettbewerb verschärft hat, die Wachstumszentren vom Westen beispielsweise nach Asien verlagern ließ und die realen Einkommen innerhalb der Mittelschicht geschwächt hat. Mittel- und Unterschicht sind die Verlierer der Globalisierung, wie beispielsweise der Ökonom Branko Milanović aufgezeigt hat, obwohl doch die Politiker der Generation Reagan, Thatcher und Kohl ihnen versprachen, dass die Öffnung der Märkte ihnen nur Vorteile bringe im Gegensatz zur wirtschaftlichen Lähmung durch den angeblich protektionistischen Wohlfahrtsstaat.33 Das Gefühl oder das Bewusstsein, die Wohlstandsgewinne würden ungerecht verteilt, haben die Entfremdung von den demokratischen Institutionen beschleunigt.
Das zeigt sich beispielhaft in den USA. Dort hat das rasende Tempo, in dem sich Deindustrialisierung, Niedriglohnjobs und Privatverschuldung ausbreiteten und den Lebensstandard der unteren zwei Drittel der Bevölkerung nach unten drückten, ein politisches Vakuum entstehen lassen. Donald Trump stieß in dieses Vakuum hinein und füllte es mit neuer nationalistischer und protektionistischer Symbolpolitik an. Zwar hat Donald Trump seiner Klientel aus dem Rust Belt und den Südstaaten nach der Deindustrialisierung mit seinen Handelskriegen die Jobs nicht zurückgebracht. Aber er hat mit seiner Hetze gegen Ausländer, Muslime, Homo- und Transsexuelle und gegen das System und seine Elite seinen Anhängern einen mentalen Ausgleich anbieten können. Deshalb glaubt die Mehrheit der Republikaner bis heute immer noch, dass ihnen die Wahl 2020 gestohlen worden ist. So sehr hat in den USA der Irrationalismus den politischen Diskurs in diesen Milieus im Griff. Die Pandemie hat das noch gesteigert, findet Claus Leggewie, indem sie einen politischen Nihilismus hervorgebracht hat, aus dem so viele Verschwörungserzählungen erwachsen sind und ein generalisiertes Institutionenmisstrauen.34
Ähnlich wie Trump in den USA bieten oder boten Figuren wie Victor Orbán in Ungarn, Nigel Farage in England, Geert Wilders in den Niederlanden oder auch Marine Le Pen in Frankreich ein Ventil in einer komplexer werdenden Welt, in der die wachsende Angst vor Wohlstandverlust, die gesellschaftlichen Modernisierungen und die Einflüsse der Globalisierung umso mehr Verunsicherung verursachen: Dazu zählen die schwindenden Einflussmöglichkeiten nationaler Parlamente aufgrund der Wirkungsmacht internationaler Institutionen, wie die EU und transnationaler Konzerne, wie Google oder Amazon, die zunehmende Überwindung traditioneller Geschlechter- und Familienbilder, die so vielen Menschen Angst davor macht, nicht mehr richtig zu sein, die aktuelle Migration, die für viele Menschen unkontrollierbar zu sein scheint, und die erhöhte Sichtbarkeit des Islam.
Trump, Orbán und Co. verkörpern ein Befremden gegenüber dieser Entwicklung der westlichen Kultur. Durch die zunehmende Unübersichtlichkeit ist eine Sehnsucht entstanden nach einem Dezisionismus, wie ihn Putin praktiziert. Der Historiker Volker Weiß nennt das den Kult der Entscheidung, der sich an den nationalsozialistischen Vordenker Carl Schmitt anlehnt. Egal, was entschieden wird und wenn es der Einsatz von Panzern ist, Hauptsache das ewige Reden der Liberalen wird damit beendet, und mit Putin ist endlich einer da, der Entscheidungen trifft. Die moralische Begründung dieser Entscheidung ist nicht wesentlich. Wichtig ist, dass überhaupt entschieden wird.35 In den Demokratien dagegen scheint gerade jetzt in diesen Krisenzeiten keiner zu wissen, wo es langgeht. Also wird kaum etwas entschieden. Obgleich doch Demokratien viel leichter auf Modernisierungsherausforderungen reagieren können als Diktaturen, weil sie die mit Umbrüchen verknüpften Komplexitäten mit ihrer Perspektivenvielfalt leichter bewältigen können. Dagegen können die Diktaturen nach Einschätzung des Sozialpsychologen Harald Welzer gar nicht anders, als sich bei derartigen Herausforderungen nach innen zu radikalisieren.36 Zumal gerade Diktaturen individuelle Freiheitsrechte als Ressource für eine Weiterentwicklung gar nicht nutzen wollen.
Bezogen auf die Situation in Deutschland fällt es trotz dieser an sich systemisch vorteilhaften Ausgangslage den demokratischen Parteien schwer, Argumente für die Demokratie zu finden. Wenn beispielsweise die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt bei der Stichwahl zum Bürgermeisteramt in Nordhausen an die Nordhäuser appellieren muss, bloß nicht den Kandidaten der AfD zu wählen, wirkt das wie eine letzte Rechtfertigungspatrone und hat keine Nachhaltigkeit. Zwar hat Göring-Eckardts Hinweis, dass in Nordhausen einst ein Außenlager des KZs Buchenwald war, eine moralische Berechtigung, die Wahl des AfD-Kandidaten abzulehnen. Eine Partei, die einen Geschichtsrevisionismus pflegt vom „Vogelschiss“ des Nationalsozialismus bis zur Verherrlichung des Kaiserreichs, passt nicht glaubhaft zur Stärkung der Demokratie zu einem Ort mit KZ-Vergangenheit wie Nordhausen.
Aber Göring-Eckardt sagt nicht, warum der bisherige Amtsinhaber, ein parteiloser Herr Buchmann, ein Gewinn für die Demokratie ist. Sie behauptet nur, dass es so ist, weil es der AfD-Kandidat nicht ist. Zumal die Kandidaten der etablierten Parteien gar nicht erst bis zur Stichwahl gekommen sind. Sie sagt nicht, was die Nordhäuser durch die Wahl kollektiv gewinnen. So wurde die Bürgermeisterwahl zu einer reinen Vermeidungswahl. Was aber ist Göring-Eckardts Angebot zur Stärkung des Allgemeinwohls in dieser Zeit des Wandels? Das müsste sie klar formulieren können.
Was ist das Angebot, um Menschen, die sich von den demokratischen Parteien abgewandt haben und sich von langwierigen Aushandlungsprozessen abwenden wollen, zurückzugewinnen? Die Lieferung von Angeboten ist notwendig, weil man aus der Abwälzung der Kosten der vielen Krisen auf Mittel- und Unterschicht schließen kann, wie es zum Beispiel der Kulturkritiker Georg Seeßlen ausdrückt, dass die Demokratie den Grundwiderspruch zwischen politischer Gleichheit und ökonomischer Ungleichheit nicht mehr ausreichend abmildern kann. Dementsprechend sind viele Menschen von dem Gefühl bestimmt, dass die Demokratie im Dienst der ökonomischen Elite steht und nicht im Dienst der Aufgabe, einen Ausgleich zwischen oben und unten, zwischen Arm und Reich, herzustellen.37 Demgemäß gilt in Deutschland die Losung »Wohlstand für alle« nicht mehr. Das heißt, Demokratie und Kapitalismus treten in Deutschland, wie auch in anderen westlichen Gesellschaften, immer mehr in einen Widerspruch zueinander. Statt Stabilität und Sicherheit gibt es eine entfesselte ökonomische Dynamik. Die Mittelschicht schrumpft und die Durchlässigkeit nach oben ist zunehmend blockiert. Folglich ist die Angst vor dem sozialen Absturz gewachsen.
Dieser Widerspruch hat wiederum zu einer Hegemoniekrise geführt ähnlich wie in den USA. Das drückt sich aus in verschiedenen Repräsentationslücken.38 „Bedeutende Teile der Bevölkerung fühlen sich von den etablierten Parteien nicht mehr angemessen repräsentiert“, stellt der Soziologe Floris Biskamp fest.39 Möglich wurde das auch, weil sich die großen Parteien SPD und CDU/CSU liberalisiert haben. Die Sozialdemokratie und die Christdemokraten rückten von links und rechts in ein liberales Zentrum. Die Parteien der linken Mitte wandten sich dem wirtschaftlichen Neoliberalismus mit seiner Marktradikalität und seiner Angebotsökonomie zu. Die Konservativen ihrerseits öffneten sich soziokulturellen Fragen wie der Identitätspolitik. Diese Verschiebung des politischen Angebots in die neoliberale Mitte hinein ließen in den traditionell linken und rechten Wählermilieus Marktlücken entstehen.40 Das weckte bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen das Gefühl, ausgeschlossen zu sein:
Erstens haben nach Ansicht der Soziologin Cornelia Koppetsch die Globalisierungsprozesse und der gesellschaftliche Wandel der 1970er Jahre dazu geführt, dass die (rechts)konservativen Milieus an Status und Deutungsmacht im besten Sinne des Soziologen Pierre Bourdieu verloren haben und durch die Liberalisierung der Christdemokraten ihre politische Vertretung verloren haben.41 Das stellt beispielhaft der Ehrenvorsitzende der AfD Alexander Gauland dar, der aus der Suhrkamp-Community ausgeschlossen wurde und mit seinem Berliner Kreis in der CDU als rechtskonservativer Think Tank nicht landen konnte. Damit steht Gauland für die Absturzerfahrungen und Deklassierungen eines zunächst etablierten konservativen Bürgerlichen, weil er innerhalb einer sich liberalisierenden Gesellschaft sich im Mainstream als Experte und Intellektueller nicht behaupten konnte. Gauland verkörpert hierbei mit seiner humanistischen Bildung einen klassischen Bildungsbürger aus vordemokratischer Zeit. Dazu passt, dass er im Bundestag Figuren, wie den Antidemokraten Bismarck und den Antimodernisten Nicolas Gomez Davila, zitiert.
Zweitens hat die Emanzipation der Frauen und die Feminisierung der Kultur, die zum Beispiel der Philosoph Philipp Hübl beobachtet, in vielen Männermilieus zu Habitusverunsicherungen geführt und die Rollenfindung erschwert.42 Zwar hat man infolge der Liberalisierung als Mann mehr Freiheiten, seine Rolle auszubilden. Es ist aber gerade diese Vielfalt an Möglichkeiten, die verunsichert. Wann ist ein Mann ein Mann? Die Antwort auf diese Frage scheint keine Selbstverständlichkeit mehr zu sein. Zumal das Konzept der fordistischen Männlichkeit heute im postfordistischen Zeitalter mit seiner wachsenden Prekarisierung nicht mehr abgefragt wird, wie der Soziologe Andreas Kemper erklärt.43 Das heißt, die Globalisierung und die Moderne haben bestimmte Berufsbereiche abgewertet. Das hat eher Männer getroffen in den unteren und mittleren Einkommensgruppen wie durch den Abbau eines Großteils der Industriejobs. Aus Mangel an Repräsentation sind Figuren, wie der Psychologe Jordan B. Peterson, zu Vordenkern der Männlichkeit geworden, auch weil er das Patriarchat für naturgegeben hält.
Drittens hat die Entsozialdemokratisierung der SPD mit der Agenda-Politik unter Gerhard Schröder und die Aufgabe des Konflikts zwischen Arbeit und Kapital für die Unterschicht zu einem Verlust ihres politischen Stellvertreters geführt. Zwar gibt es das traditionelle Industrieproletariat nicht mehr, es ist aber abgelöst worden durch das Dienstleistungsproletariat. Allerdings stellt dieses neue Proletariat keinen politisch und weltanschaulich monolithischen Block dar. Die SPD will aber nicht mehr der Anwalt der kleinen Leute sein, und die Gewerkschaften wollen keine Arbeitskämpfe mehr führen, wie der Politikwissenschaftler Franz Walter erklärt. Deswegen hat sich die SPD wie alle anderen Parteien den Lösungsformeln der Wissensgesellschaft angepasst und Abschied genommen von einer sozialen Gerechtigkeits- und Umverteilungspolitik. Stattdessen versteht sich die SPD als Chancenpartei, die dem Einzelnen Bildungskapital zur Verfügung stellt. Nur muss jeder dieses angebotene Kapital für den gesellschaftlichen Aufstieg auch nutzen.44 Bezahlt hat die frühere Massenpartei SPD diesen Wandel mit einem erheblichen Mitgliederschwund und mit dem Verlust des Status, Partei der Jugend und Partei des Zukunftsversprechens zu sein.45 Wahrscheinlich hat auch dieser Bedeutungsverlust der Sozialdemokratie dazu geführt, dass das untere Drittel an der Demokratie kaum noch teilnimmt. Das beklagt der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel als Bruch mit dem Gleichheitsprinzip der Demokratie: „Ich glaube, es ist nicht überzogen zu sagen, wir haben einen Zwei-Drittel-Demos, das über das untere Drittel entscheidet. Und das untere Drittel findet schlicht nicht statt.“46
Viertens fühlen sich Teile der traditionellen Mittelschicht, deren Broterwerb noch an die regionale Wirtschaft gebunden ist, zunehmend vom Statusverlust bedroht. Der Einfluss dieser sozialen Mitte auf die Entwicklung des Landes schwindet – dazu zählen Facharbeiter, Handwerker, kleine Gewerbetreibende, Landwirte und Kleinunternehmer. Über ihre Lebenschancen und Ressourcenzuteilungen entscheiden, so Cornelia Koppetsch, immer weniger die traditionellen Anwälte der Mitte wie die Volksparteien oder die Gewerkschaften.47 Diese mittelständischen Milieus fühlen sich nach Ansicht der Politologin Karin Priester unter Druck gesetzt zwischen den Global Players der internationalen Banken und Konzerne auf der einen Seite und „den Staatsbediensteten und der Sozialstaatsklientel“ auf der anderen Seite.48 Sie fühlen sich unter Druck gesetzt von den transnational ausgerichteten Selbstoptimierern, die sich im Individualismus und Eigenverantwortungswahn des Neoliberalismus eingerichtet haben und in Partnerschaft und Berufsleben flexibel sind und keine Stetigkeit leben. Das sind die Milieus, die der Soziologe Andreas Reckwitz als Vertreter einer Hyperkultur bezeichnet.49 Die durch die charismatische Selbstveredelung erzielte Kapitalansammlung wird begleitet von einem Prozess der sozialen Schließung durch einen exklusiven Lebensstil in hochpreisigen Stadtquartieren. Diejenigen, die hierbei ausgeschlossen bleiben, werden mit Appellen auch ideell ausgeschlossen wie: Sie hätten sich nicht genug angestrengt. Sie hätten die Freiheiten der liberalen Gesellschaft nicht genutzt. Oder sie hätten die Selbstveredelung schlichtweg verpasst. Dagegen stehen jene mittelständischen Milieus, die sich als Angehörige traditioneller Werte betrachten, wie Bescheidenheit, Aufrichtigkeit, Anstand, Common Sense und damit Normalität. Diese Werte gelte es nicht nur gegen Migranten zu verteidigen, sondern auch gegen das exzentrische Establishment und die abgehobene Elite.
Fünftens macht sich auf dem Feld der Identitätspolitik die zweite und dritte Generation der zugewanderten Gastarbeiter deutlich hörbarer als die erste Generation, wenn sie Teilhabe und Anerkennung einfordern. Gerade für die zweite und dritte Generation gilt mit dem veränderten Staatsangehörigkeitsrecht der Duldungsstatus vergangener Tage nicht mehr, wie die Schriftstellerin Jagoda Marinić betont.50 Die alte Aufteilung, die Mehrheitsgesellschaft mit allen Privilegien auf der einen Seite und die Gastarbeiter auf der anderen Seite, die nichts zu fordern haben, ist überholt. Deswegen fordern die zweite und dritte Generation umso lautstärker mehr Teilhabe in diesem Land von den etablierten Parteien ein, die das geforderte Tempo größtenteils nicht bieten können. Mit der gewachsenen Lautstärke verknüpft sind Vorwürfe vom strukturellen Rassismus, gegen die sich Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft wie die alten weißen Männer wehren. Denn sie haben den Eindruck, ihnen wird unterstellt, nur weil sie weiß sind, sind sie schon Rassisten. Dadurch entsteht unter den angesprochenen alten weißen Männern zuweilen das Gefühl, von den gesellschaftlichen Debatten ausgeschlossen zu sein.
Sechstens hat in der Unterschicht bei den Verteilungskämpfen zwischen Einheimischen und Zugewanderten die Konkurrenz zugenommen. In den prekären Milieus bewohnen Einheimische oftmals gemeinsam mit Migranten aus den ärmeren Regionen einen gemeinsamen Lebensraum. Das zeigt sich anhand von multiethnischen Stadtquartieren, Belegschaften oder Schulen. Der Zuzug von Geflüchteten oder Migranten wird dabei vor allem auch in Regionen mit geringem Anteil von Asylsuchenden, wie etwa in strukturbenachteiligten Regionen in Ostdeutschland, als Bedrohung wahrgenommen, betont Cornelia Koppetsch.51 Die dort Alteingesessenen betrachten die Geflüchteten oder Migranten als Konkurrenten um knapp gehaltene staatliche Transferleistungen. Aufgrund der wachsenden Bedrohungsgefühle bekommen folgende Fragen eine immer größere Bedeutung: Gehören die Migranten überhaupt dazu? Sind sie als die Anderen überhaupt berechtigt, staatliche Unterstützung zu erhalten? Wo bleibe ich als Einheimischer, und werde ich nicht von der Regierung gegenüber den Flüchtlingen benachteiligt? Dass die Integration von Migranten häufig gelingt, befriedet diesen Konkurrenzkampf nicht. Im Gegenteil. Denn hier greift das von dem Politikwissenschaftler Aladin El-Mafaalani beobachtete Integrationsparadox: Je besser Migranten integriert sind, desto größer wird der Konkurrenzdruck, weil der Verteilungskuchen nicht wächst. Solange die muslimische Kopftuchträgerin noch hauptsächlich Putzfrau war, störte sie zunächst nicht so sehr. Zudem konnte man als Mittelschichtler aber auch noch als Unterschichtler auf sie herabblicken, weil sie als Putzfrau den niedersten Teil der Gesellschaft verkörperte. Aber seitdem muslimische Kopftuchträgerinnen auch als Lehrerinnen auftreten und das Tragen ihres Kopftuches auch noch gerichtlich einklagen, weckt das umso mehr Aggressionen gegen Fremde.52
Siebtens sind Ost- und Westdeutschland immer noch gespalten. Willy Brandts Weissagung, es wächst zusammen, was zusammengehört, ist noch nicht vollendet. Zwar hat es eine politische Wiedervereinigung gegeben, aber wirtschaftliche und kulturelle Gräben bestehen nach wie vor. Nach über 30 Jahren Einheit in den neuen Bundesländern erreicht die Wirtschaftskraft je Einwohner in Ostdeutschland nur 74 Prozent des gesamt-deutschen Durchschnitts.53 Und: Aus der Sicht der Ostdeutschen wollen die Westdeutschen zu wenig anerkennen, dass für die Ostdeutschen das Glück der Wiedervereinigung untrennbar mit der Erfahrung des Verlustes der eigenen bürgerlichen Existenz verbunden gewesen ist. Das macht gerade die Energiewende für viele Ostdeutsche umso mehr zu einem erneuten Verlustszenario. Deswegen fühlen sich viele Ostdeutsche unverstanden in ihrem Wunsch nach einer Aufarbeitung des Wirkens der Treuhandanstalt. Gerade die Treuhandanstalt ist bis heute das Symbol der rigorosen Abwicklung des Ostens durch den Westen zugunsten oftmals westdeutscher Großunternehmen. Sie ist das Symbol für eine gnadenlose Plattmache und Kolonialisierung. Doch ist das tatsächlich so gewesen? Über die rationalen Fakten streitet man bis heute. Im kollektiven Gedächtnis vieler Ostdeutscher jedenfalls ist die Treuhandanstalt zur Projektionsfläche enttäuschter Hoffnungen geworden. Zumal viele Westdeutsche bis heute nicht anerkennen wollen, dass die DDR trotz aller sozialistischen Misswirtschaft und trotz ihrem maroden Erscheinungsbild auch eine andere Seite hatte: Darauf hatte bereits früh die SPD-Politikerin Regine Hildebrandt hingewiesen: „Eigentlich sehen sie nur, wie dreckig und verfallen alles ist, und hören aus der Presse die neuesten Stasi-Informationen und denken dann, wie konnte man in dem Land überhaupt leben. Und sie können überhaupt nicht begreifen, auch in den desolaten Betrieben, die sie jetzt zu sehen kriegen, dass da vernünftig produziert wurde, dass aus dem Betrieb weiße Tabletten herauskamen und dass da auch Menschen ein Leben gestaltet haben, das durchaus lebenswert war. Das sieht man nicht.“54
Was also ist das Angebot, um diese Repräsentationslücken zu schließen? Auch aufgrund dieser Repräsentationslücken haben sich die Diskurse polarisiert, die behandeln, wie das Land in Zukunft aussehen soll: Mehr oder weniger Europa? Einwanderung oder Abschottung? Wie können die nationalen Parlamente wieder mehr Macht erhalten? Wie viel Multikulti verträgt das Land? Gendern oder nicht? Ist die Digitalisierung Fluch oder Segen für die Arbeitswelt? Mehr nationale Verwurzelung oder mehr Entwurzelung durch die Dekadenz des Liberalismus? Wie kann man den Wohlstand erhalten trotz Klimawandel? Welches Konzept hilft gegen die massenhafte Altersarmut? Wie sieht sie aus, die Normalität nach Corona? Waffenlieferungen in die Ukraine oder nicht? Bei diesen Debatten konnten rechte Positionen immer mehr Raum gewinnen, wie: Deutschland sei der Zahlmeister Europas, es gebe einen linksgrünen Mainstream, die Meinungsfreiheit sei durch einen Tugendterror bedroht, der Islam gehöre nicht zu Deutschland oder Putin sei durch die Aggression des Westens zu dem Krieg gegen die Ukraine gezwungen worden. Dabei waren in der mehrstimmigen Gesellschaft in Deutschland rechte oder rechtsextreme Positionen schon immer verbreitet, wie der Soziologe Wilhelm Heitmeyer feststellt.55 Die AfD hat diese Haltungen eingesammelt und mit ihrer Diskursführung sichtbar gemacht. Und nicht nur das: Diese unbewältigten Herausforderungen haben in rechten Milieus eine Sehnsucht nach einem Zurück in eine Zeit hervorgerufen, wie die 1950er Jahre (oder noch weiter zurück), als angeblich noch Normalität und Klarheit herrschten, die erst die bösen 68er-Gutmenschen durcheinandergebracht haben. Stattdessen gibt es heute eine normative Unordnung, weil die CDU die Homo-Ehe einführt und die Wehrpflicht abschafft, und die SPD mit der Agenda-Politik den Sozialstaat abbaut.56 Teilen fällt aufgrund gewachsener Unsicherheiten immer schwerer. Die rechten Milieus konnten einen Teil dieses Raumes gewinnen, weil die Offenheit der Gesellschaft das ermöglicht hat. Gerade weil die rechten Milieus es so gut verstanden haben, die Opferrolle zu spielen und kampagnenhaft zu beklagen, dass man sie aus dem Diskurs nicht ausgrenzen dürfe, haben die Medien AfD-Größen wie Alexander Gauland, Alice Weidel oder Beatrix von Storch die Bühne geboten. Wie anders konnte sonst die AfD als rechtspopulistische Partei den Einzug in den Bundestag feiern. Genauso erhält der Verleger Götz Kubitschek aus der Intellektuellengruppe der Neuen Rechten Aufmerksamkeit, wenn er mit seinem Antaios Verlag, gestützt auf das Gedankengut der Konservativen Revolution der Weimarer Republik, eine Kulturrevolution von rechts anstrebt und die kosmopolitischen Eliten anklagt, sich von ihrem Volk entfremdet zu haben.57
Für die rechten Milieus bilden sich auch leicht Allianzen mit Cäsarenfiguren wie Donald Trump, Wladimir Putin oder Viktor Orbán. Dabei erhalten diese Führungsfiguren auch deswegen so viel Beifall für ihre patriarchalischen Denkmuster und ihren Männlichkeitskult, nicht obwohl sie damit Repräsentanten einer toxischen Männlichkeit sind, sondern weil sie es sind. Für den Historiker Volker Weiß ist der Fall klar: Putin wird von Rechten als Projektionsfläche in die eigene Reihe gestellt, weil er gegen Globalisierung, gegen LGBTQ und gegen Multikulti ist.58 Deswegen heißen sie es gut, wenn sich Putin als Vorreiter traditioneller Werte im Kampf gegen den dekadenten Westen darstellt. Aus diesem Grund haben die heutigen Rechten den antislawischen Ballast abgeschüttelt, der noch ihr Russlandbild im nationalsozialistischen Deutschland und auch im Nachkriegsdeutschland bestimmte. Darin sieht Weiß die Wiederbelebung der konservativen Neigung des 19. Jahrhunderts, Russland als einen Garanten der reaktionären Werte zu betrachten und als Verteidiger von Vaterland, Autorität und Christentum.59 Das sei verknüpft mit dem Drang, Deutschland aus dem transatlantischen Bündnis herauszulösen und die Amerikaner von dem europäischen Kontinent zu drängen. Dieses Vorhaben gehe nur mit Russland als starkem Partner.
Hier scheint sich eine Ostorientierung unter Deutschlands Rechtskonservativen anzudeuten, um sich von der Moderne mit seinen Gleichheitsgrundsätzen und seiner Verweiblichung abzugrenzen. Deswegen flirten AfD-nahe Vordenker wie Dimitrios Kisoudis schon seit Jahren mit der Idee von einem eurasischen Kontinentalbündnis mit Russland. Dieses Konzept werde angeblich jetzt durch das kontinentale Bündnis zwischen Russland und China verwirklicht und steht damit im Gegensatz zum atlantischen Bündnis zwischen (West)Europa und den USA.60 Dieser Gegensatz drückt sich angeblich aus durch die Polarität zwischen dem liberalen, globalistischen und dekadenten Westen und dem aufrechten, antiindividualistischen, leidenschaftlichen und traditionellen Osten in Gestalt Eurasiens. Dabei würden die Westeuropäer von den Amerikanern vereinnahmt und seien deswegen dem Untergang geweiht. Sofern sie sich nicht von Russland retten ließen. Hierbei rezipieren rechte Vordenker wie Jürgen Elsässer den rechtsradikalen russischen Philosophen Alexander Dugin,61 der in Russland die Metapolitik prägt mit der eurasischen Idee als Zukunftsidee. Danach könne nur der eurasische Kulturraum das Überleben der Menschheit im Zeitalter der Globalisierung sichern.62
Möglich wurde diese Entwicklung auch durch Tabubrüche, wie den von Thilo Sarrazin, der Panik davor verbreitet hat, Deutschland würde sich abschaffen. Dabei lenkte Sarrazin den Blick der Mittelschicht nicht so sehr nach oben zu den Eliten, sondern vielmehr nach unten, damit sie sich selbst aufgewertet fühlen kann. Denn Sarrazin vermittelt bekanntlich das Menschenbild, dass nicht nur Muslime so furchtbar dumm sind, weil sie Muslime sind, sondern auch die Unterschichten sind dort, wo sie sind, weil sie dumm sind. Die Armen und Migranten sind also die Ausbeuter und der Staat ist deren Komplize, damit der produktive Rest der Gesellschaft sie aushalten muss. Folglich ginge es allen gut, wenn es die Armen und Migranten nicht gebe. Mit diesem Aufwertungsgefühl, nicht so dumm wie ein Muslim oder ein Unterschichtler zu sein, trägt, wie die Publizistin Ulrike Herrmann erklärt, die Mittelschicht auch überwiegend eine Steuergesetzgebung mit, die sie selbst benachteiligt wie die Senkung des Spitzensteuersatz auf 42 Prozent.63 Dieser Spitzensteuersatz lag unter Helmut Kohl noch bei 56 Prozent. Wie sehr aber Steuergeschenke für die oberen Schichten die Einkommensungleichheit verschärfen und damit das realwirtschaftliche Wirtschaftswachstum behindern, blenden prominente Meinungsmacher der Rechten aus.
Dementsprechend fordert der rechte Ökonom Markus Krall eine bürgerliche Revolution, die zu einer Meritokratie führen soll.64 Das heißt, nur noch die Geldverdiener sollen politische Mitsprache erhalten. Deswegen spricht auch Alexander Gauland im Bundestag davon, dass das wahre Volk die Leistungsträger und die echten Steuerzahler sind, die den Laden am Laufen halten. Alles, was darunter liege oder vom Staat bezahlt werde, sei ausgeschlossen. In Wirtschaftsfragen sollen seine Anhänger demnach nach unten treten. Die Aufforderung, nach unten zu treten, belegt, dass es in Deutschland eine neue Klassengesellschaft gibt mit einer geringen Aufstiegsmobilität und mit einem der größten Niedriglohnsektoren in Europa mit mehr als einem Fünftel aller Erwerbstätigen. Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft nach dem Soziologen Helmut Schelsky ist Geschichte.65 Die bösen Eliten dienen den Rechten jedoch als Feindbild vor allem dann, wenn es um die Political Correctness und die Genderpolitik geht oder bei der Abwehr der Energiewende, weil angeblich eine kulturmarxistische Klimahysterie im Gang ist, die von den Eliten gesteuert wird.
Gerade wegen der Notwendigkeit, Angebote zu machen, erscheint Günter Amendts Fernsehauftritt als taugliche Richtgröße, weil er für etwas steht und mit rationalen Argumenten erklären kann, warum sein Angebot der Drogenlegalisierung einen Nutzen für das Allgemeinwohl hat und warum die damaligen Angebote der Regierung um Günter Rexrodt diesen Nutzen nicht besitzen. Im Gegenteil. Sie schaden dem Allgemeinwohl. Amendt kann zusätzlich deutlich machen, dass er nicht nur Unangenehmes, wie Verbrechen, Krankheit und Tod vermeiden will, sondern sich auf den Reiz von Zugewinnen zubewegen will, nämlich die Gerichte zu entlasten und die Süchtigen zu entkriminalisieren, damit sie nicht doppelt unter dem Sozialabbau zu leiden haben. Dadurch bekommen seine Angriffe noch mehr Glaubwürdigkeit.
Was also ist der ideelle, soziale und materielle Zugewinn der liberalen repräsentativen Demokratie, die aus mühseligen Aushandlungsprozessen besteht? Kann die Politik die soziale Marktwirtschaft wiederbeleben, damit die Demokratie nicht nur ein Zwei-Drittel-Demos ist, bei dem über die Köpfe des abgehängten unteren Drittels hinweg entschieden wird? Was ist der Zugewinn einer Energiewende im Gegensatz zum Erhalt einer fossil getriebenen Volkswirtschaft über die Vermeidung der Überführung des Erdklimas in eine Heißzeit hinaus? Kann die Politik die Energiewende und die soziale Frage als voneinander abhängige Größen betrachten, um die soziale Ungleichheit zu entschärfen? Was ist der Zugewinn der Gestaltung von Migration und der Stärkung einer Willkommenskultur im Gegensatz zum Aufbau einer Festung Europas zur Bekämpfung von Migranten und Flüchtlingen? Kann die Politik die Gestaltung dafür nutzen, die Frontenbildungen zwischen Migranten und Nicht-Migranten aufzuheben? Was ist der Zugewinn, sich für den Erhalt der Europäischen Union einzusetzen? Kann Deutschland das Projekt Europa und seine Außenbeziehungen stabilisieren? Wie kann Deutschland sein Verhältnis zum globalen Süden und den Autokratien verbessern, die traditionell andere Vorstellungen von Gesellschaft haben? Lässt sich die Globalisierung humanisieren abseits vom Neokolonialismus des Westens? Gibt es eine Alternative zu den bitteren Erfahrungen, die die Entwicklungsländer mit dem Westen gemacht haben und die Russland für seine Propaganda gegen den Westen für sich jetzt ausnutzt, um sich als Agent einer Dekolonialisierung zu verkaufen?
Um solche Antworten in der Debatte mit der AfD geben zu können, müssen die demokratischen Parteien die eigene Position schärfen und in Handlung umsetzen. Die Schärfung der eigenen Position drückt sich in der Fähigkeit aus, die Komplexität der politischen Lage transparent zu machen, so wie das Günter Amendt nicht nur in diesem Fallbeispiel vorführte. Er führte Kenntnisse von der Komplexität seiner Themen vor, die schon der Philosoph Rupert Lay in den 1970er Jahren einforderte, als er in den ideologischen Kämpfen dieser Zeit Deutschlands Managerriege für die Debatte gegen Marxisten ausbildete.66 Um ihren Gegnern das Debattierfeld nicht zu überlassen, sollte diese Riege den Marxismus besser kennen als ihre Gegner. Das sollte auch heute für die demokratischen Parteien der Maßstab sein. Sie müssen die Ideologie der AfD besser kennen als sie selbst. Folglich müssen sie auch die Kritik an der eigenen Politik besser kennen als die AfD selbst. Man muss demnach die verschiedenen Diskurse besser kennen als die AfD, um für die Debatte mit ihr und ihren Anhänger gerüstet zu sein.
Die Rückeroberung der Debattenhoheit und die Untergrabung der rechten Narrative gelingen aber nur aus einer Position der Stärke. Die Reduzierung auf die Empörung erfolgt aber aus der Position der Schwäche. Diese Stärke erwerben die etablierten Parteien erst, wenn sie anfangen, sich selbst zu reflektieren. Sie müssten sich fragen: Was haben wir dazu beigetragen, dass es so viele Menschen gibt, die glauben, eine Partei, die sich nur zwischen Ideologie und Hetze bewegen kann, könne eine Alternative für Deutschland sein? Dafür bräuchten die etablierten Parteien eine intellektuelle Wiederaufbereitung. Doch wo sind die intellektuellen Vordenker in der SPD, bei den Grünen, in der FDP, in der Linkspartei und in der CDU und CSU geblieben, die dazu imstande wären? Sie müssen bei sich anfangen und dem eskalierten Neoliberalismus endlich die Stirn bieten. Wie kommen wir dahin, fragt sich der Politikwissenschaftler Robert Feustel.67 Sie müssen bei sich anfangen, weil die Demokratie auch in Deutschland wie in anderen Ländern keine Ewigkeitsgarantie besitzt. Das gilt vor allem deswegen, weil wahrscheinlich ein Weiter-so wie bisher umso mehr Widerstand erzeugen wird. Das wird die um sich greifende Staatsparanoia in den widerständigen Milieus mit ihrem alternativen Wissen noch verstärken und noch stärker nach rechts drängen und ihr die Bildung einer einheitlichen Richtung erleichtern. Nur wenn die Demokratien und ihre Vertreter in dieser Zeitenwende bei sich selbst anfangen, gewinnen sie Glaubwürdigkeit gegenüber den Autokratien, bekräftigt Slavoj Žižek.68 Die demokratischen Parteien müssen also bei sich anfangen und in der Argumentation responsiver werden, um auf die paar Prozentpunkte an Wahrheit der rechtspopulistischen Agitation der AfD glaubwürdig reagieren zu können, ohne die populistischen Positionen opportunistisch zu übernehmen.