MALTE KRÜGER | ALEXANDER SCHMIDT
UNDERCOVER
IN DER FINANZINDUSTRIE
Dieses Buch ist Siegfried Krüger gewidmet, einem der letzten Journalisten der alten Schule
MALTE KRÜGER | ALEXANDER SCHMIDT
UNDERCOVER
IN DER FINANZINDUSTRIE
Wie Banken, Versicherungenund VermögensverwalterIhre Rente ruinieren und wasSie dagegen tun können
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1. Auflage 2018
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Redaktion: Ulrike Kroneck
Korrektorat: Bärbel Knill
Umschlaggestaltung: Maria Wittek, München
Umschlagabbildung: Shutterstock/Mario Savoia
Satz: inpunkt[w]o, Haiger (www.inpunktwo.de)
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN Print 978-3-95972-117-2
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-203-2
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-204-9
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INHALT
Vorwort
EinführungDer Rentenkomplex
Der Vermögensberater – dein Freund und Helfer bei der Altersvorsorge?
Altersvorsorge in der Hand von Narren
Ein Gesprächsleitfaden für den Kundenbetrug
Was Vorsorge alles kaputt macht
Rentenlücken stopft man nicht wie Löcher in den Strümpfen
Kein Finanzberater kann sauber bleiben
Wir tun es, solange wir es können
Wenn’s um Vorsorge geht, eben nicht Sparkasse
Wenn die Altersvorsorge für die Mittagspause zum Problem wird
Die Bank an keiner Seite
Blaue Anzüge und nichts dahinter
Elite-Banking nur für Elitekunden
Nischen ohne Zugang
Das Vorsorge-Dilemma:Der Zwang der Banken zum Plündern
Auch Zwerge haben klein angefangen:Wie Verbraucher ihre Altersvorsorge selbst managen können
Exkurs
Vorsorge ohne Illusionen:Möglichkeiten und Grenzen einer fairen Beratung
Dank
Über die Autoren
Anmerkungen
VORWORT
Das Wort »Finanzindustrie« verursacht mir Übelkeit. Dann nämlich, wenn diese Dienstleister den Eindruck erwecken, sie seien eine Industrie und schafften aus eigener Kraft Werte. Das tun sie nicht. Geld vermehrt sich nicht aus Geld, sondern nur, wenn es in den produktiven Wirtschaftskreislauf eingespeist wird und dort für eine Erhöhung der Produktion und des Warenumschlags sorgt.
Der Irrtum – oder die Irreführung – beginnt genau hier: dass Lohnabhängigen, Selbstständigen, Hausfrauen und Hausmännern, Arbeitslosen, Studierenden oder Rentnern suggeriert wird, wir bräuchten nur ein paar Hundert Euro oder, besser noch, ein paar Tausend Euro zu irgendeinem Institut der »Finanzindustrie« zu tragen und es vermehre sich dort auf wunderbare Weise.
Wie wenig das stimmt, haben viele zu spüren bekommen, die mit der Wirtschafts- und Finanzkrise seit den beginnenden 2000er-Jahren ihr Geld in Luft ausgelöst fanden oder schlimmer noch: in den Taschen der allergrößten dieser »Finanzdienstleister« verschwinden sahen. Die Masche à la Maschmeyer, nicht nur dort, sondern ebenso bei der Deutschen Bank, bei Goldman Sachs, bei Merrill Lynch und all den anderen.
Am härtesten traf es diejenigen, die auf diese Weise ihr Alterseinkommen hatten sichern wollen. So wird es gezielt und fortwährend gepredigt: Wenn ihr euer Geld zur »Finanzindustrie« tragt, müsst ihr im Alter nicht darben. Weil sich diese durch Versicherungswirtschaft und Politik gezielt verbreitete Desinformation trotz grassierender Altersarmut auch derjenigen hält, die ihr Geld »gut angelegt« hatten, und weil es trotz aller sonstigen schmerzhaften Bauchlandungen im Finanzsektor weiter verbreitet wird, wurde es höchste Zeit, der makroökonomischen Kritik an derlei Finanzmärchen mit einer Langzeitrecherche beizukommen.
Malte Krüger hat sich in die Märchen- oder besser: Monsterwelt einschlägiger »Finanzdienstleister« begeben und von innen deren Geschäftsgebaren kennenlernen und entlarven können. In bester »Undercover«-Manier hat er sich anheuern lassen und mitgemacht bei der Akquise neuer Einleger und kann deshalb die Strukturen einiger »Finanzdienstleister« aufs Konkreteste offenlegen. Ich freue mich darüber, dass der Autor Stipendiat meiner Stiftung war und vom Projekt work-watch bei seiner Arbeit unterstützt wurde.
Malte Krüger hat erlebt, wie rabiat solche Vermögensbildner mit den Hoffnungen ihrer Kunden auf ein bisschen Sicherheit umspringen, ja, vielleicht auch mit deren Hoffnung auf schnell und einfach verdientes Geld. Aber die »Finanzdienstleister« wollen ihre Geschäfte machen, nicht die der Anleger.
Es gehört zum Prinzip dieser Branche, dass sie nicht nur willens ist, ihre Kundschaft übers Ohr zu hauen. Es trifft auch ihr eigenes Personal. Denn um ihr Geschäft zu optimieren, werden die eigenen Leute, die es an der Basis abzuwickeln haben, abgerichtet und scharfgemacht. Man könnte Gehirnwäsche dazu sagen, auch wenn es sich Schulung nennt. Am Ende ist es Antreiberei und Unterwerfung, selber denken und moralische Skrupel werden sanktioniert. Malte Krüger hat das erlitten und brauchte längere Zeit, um wieder er selbst werden zu können.
»Undercover in der Finanzindustrie« sollte jeder lesen, der in Versuchung gerät, den Versprechungen der »Finanzdienstleister« aufzusitzen. Auch die Politik, zumindest die sozial orientierte, wäre gut beraten, die Enthüllungen dieses Buches zu berücksichtigen. Sie sind nämlich ein weiterer Beleg für die Notwendigkeit des staatlichen Rentensystems und einer längst überfälligen Bürgerversicherung*. Viel ist zu tun, damit die Rentenversicherung ihre Schutzfunktion wieder erhält und nicht als Torso vor sich hin kümmert. Die »Finanzindustrie« wird diese Aufgabe ganz sicher nicht übernehmen.
Günter Wallraff im März 2018
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*In Österreich, wo seit Jahrzehnten eine Bürgerversicherung existiert, erhalten Rentner ca. 85 Prozent ihres letzten Einkommens, hierzulande wird das Rentenniveau schrittweise auf 43 Prozent abgesenkt – so wird Altersarmut produziert.
EINFÜHRUNGDER RENTENKOMPLEX
Wenn ich an meine Rente denke, habe ich Angst. Ich bin Durchschnittsverdiener und habe eine wechselhafte und gebrochene Erwerbsbiografie vorzuweisen. Zeitweise habe ich als Angestellter gearbeitet und zeitweise als Selbstständiger. Gleichmäßige und durchgängige Beiträge in die Rentenkasse waren deswegen nicht drin. Deshalb muss ich privat vorsorgen, um nicht im Alter beim Staat betteln gehen zu müssen.
Doch wie kann ich am besten nachhaltig Vermögen aufbauen? Damit bin ich überfordert. Zu eingeschränkt ist mein Finanzfachwissen. Das ist zum Teil auch meine Schuld. Als Kommunikationsberater verstehe ich etwas von Rhetorik und von professioneller Gesprächsführung. Ich weiß auch als Coach, mit welchen Methoden ich unterrichten muss. Was aber weiß ich von Wirtschaft und Finanzen? Ich kenne ein paar volkswirtschaftliche Zusammenhänge und weiß auch ein bisschen etwas über Wirtschaftsgeschichte. Das, was ich halt in der Schule gelernt habe. Allerdings habe ich mich um mein finanzwirtschaftliches Gewusst-wie für den Alltag viel zu wenig gekümmert. Ich weiß nicht einmal genau, was ein Fonds ist. Deshalb bin ich jetzt leider viel zu abhängig von den Experten. Und viele dieser Fachleute sagen, ein Mittvierziger wie ich müsse bis zur Rente mindestens 300.000 Euro als Sicherheit angespart haben. Nur so könne ich ohne Sorgen vor der Altersarmut in die Rente gehen und 80 Prozent meines Lebensstandards einigermaßen beibehalten für ein Leben, das möglichst nicht mit 75 Jahren enden soll. Oder brauche ich 400.000 Euro? Wenn man älter wird, wird man auch anfälliger für Krankheiten, und die kosten Geld. Viel Geld – trotz Krankenversicherung. Nicht zu vergessen die Steuern, die ich als Rentner seit dem Alterseinkünftegesetz zu zahlen habe, und die Steuern auf die Kapitalerträge. Deshalb komme ich bei einer voraussichtlichen gesetzlichen Rente von 580 Euro im Monat auf eine Rentenlücke von mindestens – je nachdem – 160.000 oder 260.000 Euro. Ich kalkuliere jedoch lieber mit mindestens einer Viertelmillion, weil ich auch die Inflation im Blick haben muss. Doch selbst das scheint viel zu knapp zu sein. Wie aber kann ich solche Summen zusammenbekommen? Eine Immobilie habe ich nicht. Soll ich deshalb mein Glück an der Börse versuchen und Aktien kaufen? Soll ich noch eine Lebensversicherung abschließen? Reichen Riester und Rürup? Oder soll ich mein Geld in Fonds investieren? Indexfonds sollen ja, wenn ich die Zeitungen durchblättere, ganz groß im Kommen sein. Oder soll ich mein Geld in jede dieser Möglichkeiten anlegen? Werde ich überhaupt bei den niedrigen Zinsen heutzutage in die Nähe dieser Summe kommen? Oder kann ich wieder auf höhere Zinsen hoffen?
Bei der Suche nach dem richtigen Dreh zur Vermögensbildung weiß ich nie, wessen Urteil ich vertrauen kann. Auf allen Kanälen gibt es Finanzprofis, die Anlegertipps haben. Zum Beispiel Wirtschaftsjournalisten wie Anja Kohl und Mick Knauff, die das Börsengeschehen in den letzten Jahren stets als heile Welt verkauft haben, als sei der Kauf von Aktien so einfach und einträglich wie beim Monopolyspiel. Und was ist mit Max Otte und Dirk Müller? Wirtschaftsprofessor Otte sagt häufiger mal den Crash voraus, als wolle er über derartige Angstszenarien Anleger für seinen Aktienfonds gewinnen. Auch Müller, der sogenannte Mr. DAX, erklärt gern Laien wie mir, wie die Börse funktioniert, und bezieht die Kursbewegungen auf die große Politik. Natürlich hat auch er einen Aktienfonds laufen. Ich habe nur keine Ahnung, ob es sich lohnt, bei diesen Leuten einzusteigen.
Sicher: Spätestens seit der Finanzkrise liefert die Finanzwelt den Empörungsstoff im Mainstream: die Banker mit ihren Tricks, faule Kredite in Finanzprodukte zu verpacken; die Börsianer, die mit ihren Zockereien die Aktienkurse zum Absturz bringen; und die Hedgefonds-Manager, die beim Abwickeln von Unternehmen den Heuschreckenhals nicht voll genug bekommen. Bei diesem medialen Dauerbeschimpfungsfeuer habe selbst ich mitbekommen, dass der Finanzbranche nicht recht zu trauen ist. Möglicherweise kann man dort gerade deswegen richtig viel Geld verdienen. Die großen Vermögensverwalter wie Black Rock tun das. Aber man kann auch richtig viel Geld verlieren. Das haben die Landesbanken gezeigt, weil sie versucht haben, beim Handel mit Derivaten am großen Rad zu drehen. Wie viel Glück ist dabei und wie viel Pech? Wer hat tatsächlich Einfluss auf den Markt und wer nicht? Da kann ich nur mutmaßen. Zudem ist so vieles sehr widersprüchlich. Warum fordern uns die Politiker immer wieder dazu auf, privat vorzusorgen? Zu diesem Zweck hat die Politik ja auch Förderprogramme eingerichtet, damit wir Verbraucher uns Riester- und Rürup-Produkte zulegen sollen. Doch warum tut sie das, wenn doch Verbraucherschützer immer wieder vor den Verlusten bei Rürup und Riester warnen? Gerade bei Riester würden die Kosten der Versicherer die staatlichen Zulagen größtenteils auffressen. Und die Steuervorteile, die die Rürup-Rente den Freiberuflern verspricht, bleiben angeblich dem selbstständigen Geringverdiener vorenthalten. Sind Riester und Rürup folglich gescheitert? Auch die stets so beliebte Lebensversicherung soll nicht mehr das Wahre sein – wegen der niedrigen Zinsen, der zu hohen Kosten und der zu geringen Überschussbeteiligung. Stimmt nicht, sagen Sprecher der Versicherer. Die Lebensversicherung sei alles andere als ein Auslaufmodell. Sie biete einem Versicherten nicht nur die Stärke und den Schutz einer Versichertengemeinschaft, sondern auch höhere und sicherere Zinsgewinne, als sie ein Privatanleger in den übrigen Anlagen erzielen könne.1 Ist das nur Lobbyistengerede, weil die ganze private Altersvorsorge nicht geheuer sein und nur den Interessen der Finanzindustrie dienen soll? Das beklagen zumindest die Macher der Nachdenkseiten im Internet um den Publizisten Albrecht Müller. Deswegen fordern sie regelmäßig die Rückkehr zur Stärkung der gesetzlichen Rentenversicherung. Dieses gesetzliche System mit dem guten alten Umlageverfahren sei viel sicherer und würde viel weniger kosten als eine kapitalgedeckte Rente über die Finanzindustrie. Die Sache hat nur einen großen Haken: Es gibt nicht genügend vollwertige Einzahler. Dafür sind in den letzten Jahren viel zu viele unsichere Beschäftigungsverhältnisse und Niedriglohnjobs geschaffen worden.2 Und so schnell scheinen die verantwortlichen Politiker die Wirtschaftspolitik auch nicht ändern zu wollen oder die Unternehmen ihre Verteilungsstrategie. Also wohin mit meinem Geld?
Ich bin nicht der Einzige, der dieses Problem hat. Millionen anderen Verbrauchern droht eine ähnliche Rentenlücke wie mir oder eine noch größere. Millionen andere Leute wissen ebenso wenig wie ich, wie es geht. Viele Verbraucher sind aber auch ermüdet von den vielen Negativmeldungen über die Finanzindustrie. Deshalb beschäftigen sie sich nicht mehr mit ihren Finanzen. Viele andere wiederum sind ratlos und bleiben bei dem, was die deutschen Sparer schon immer gemacht haben. Sie kaufen Lebensversicherungen oder Bausparverträge, oder sie legen ihr Geld auf einem Sparbuch an. Das bringt ihnen dann schon mal von Leitmedien wie Der Spiegel den Vorwurf ein, sich ohne »Zins und Verstand« in die Armut zu sparen.3 Stattdessen sollten wir Verbraucher endlich unser Anlageverhalten ändern. Nur wie?
Die Politiker appellieren immer wieder an uns Normalbürger, wir müssten mehr Eigenverantwortung beweisen. Deswegen übernehme ich jetzt Eigenverantwortung und informiere mich über die Branche, über die ich meine private Altersvorsorge aufbauen soll: die Finanzindustrie. Wie funktioniert sie? Wie ticken die Leute dort? Welche Werte gelten dort? Was sind die Regeln beim Vertrieb oder bei den Produktlieferanten? Was für Menschen sitze ich bei einer Beratung über Rentenprodukte gegenüber? Was sind ihre Interessen und ihre Arbeitsbedingungen? Was ist ein gutes und was ein schlechtes Produkt? Das alles muss ich wissen nach den vielen Medienberichten über Skandale von Falschberatungen von Kunden wie mir. Das alles muss ich wissen, wenn ich mein finanzwirtschaftliches Knowhow aufpolieren will. Das alles muss ich wissen, um entscheiden zu können, wem ich meine paar Euros anvertraue.
Fragt sich nur, wie ich am besten anfange. Es gibt Banken, Versicherungen, Finanzdienstleister, Finanzmakler und Honorarberater, und inzwischen gibt es auch noch die modernen Fintechs, die Altersvorsorge per Mausklick anbieten. Nicht zu vergessen Vermögensverwalter wie Flossbach von Storch; die sind aber doch eher etwas für wohlhabende Leute, oder? All diese Anbieter verkaufen Produkte, die mir einen entspannten Ruhestand versprechen. So als könnte man Wohlstand erwerben, ohne zu arbeiten. Vielleicht nützt es etwas, wenn ich vorab das Standardlehrbuch Wirtschaftslehre des Kreditwesens von Grill und Percynski lese und dazu noch einen Ratgeber von Warren Buffett. Ohne Fachliteratur komme ich bestimmt nicht aus. Ich möchte aber auch die Praxis kennenlernen und alle Spielarten des Produktverkaufs nacheinander untersuchen. Ganz systematisch, wie das ein Journalist machen würde. Doch nach welchem System soll ich vorgehen? Mache ich es wie ein Testkäufer und klappere Bank für Bank ab? Oder Makler für Makler? Wie reagieren diese Leute, wenn ich ihnen meine Rentenlücke offenlege? Möglicherweise nehmen sie mich nicht ernst, weil sie mich als beruflich gescheitert betrachten. Solche Eitelkeiten dürfen mich aber nicht behindern. Es wird ohnehin nicht reichen, mir von Finanzberatern aller Art Produkte vorstellen zu lassen. Wenn ich herausfinden will, wie ein Finanzberater denkt, muss ich ins Innere der Branche blicken und nicht nur als Kunde auftreten.
Fehlt nur noch der Zugang, den ich als Außenstehender und Fachfremder zu diesem Milieu bekommen muss. Dabei hat mir der große Bruder Zufall beigestanden: Im Sommer 2014 war das. Damals trat eine Repräsentantin eines amerikanischen Kosmetikkonzerns an mich heran und wollte mich als Vertreter für Schönheitscremes rekrutieren. Sie führte mich in das System des Provisions- und Strukturvertriebes ein, das ich bis dahin nur vom Hörensagen kannte. Ein System, das größtenteils auch die Finanzindustrie definiert. Als hätte es die Vertreterin gerochen, dass mich meine Altersvorsorge plagt, versprach mir diese Frau eine verlockende Aussicht: ein Passiveinkommen, das auch noch exponentiell wachse. Das ermögliche mir finanzielle Freiheit im Alter. Ich müsste nur die Beauty-Produkte des Konzerns für den Eigenverbrauch kaufen, sie wie ein privater Einzelhändler gegen Provision meinen Freunden und Bekannten weiterverkaufen und weitere Vertriebspartner rekrutieren, an deren Umsätzen ich mitverdiene. Wenn ich schön fleißig sei, könne ich bereits nach kurzer Zeit 4000 Euro monatlich verdienen. Ich überlegte in der Tat, dieses Business nebenberuflich auszuprobieren. Meine Zukunftsangst hatte mich derart unkritisch gemacht. Zum Glück erkannte ich rechtzeitig, dass es sich um ein ausbeuterisches Pyramidensystem handelt. Die Vertriebler auf den unteren Linien der Pyramide rackern sich für die oberen Linien ab, ohne dass sich ihre Wohlstandsträume erfüllen.
Deshalb schaute ich mir das Gewerbe nun besonders genau an. Zu diesem Zweck wandte ich mich an Günter Wallraff und work-watch, seinen Verein zum Schutz von Arbeitnehmerrechten. Dort konnte man mich aber nicht mit Opfern eines derartigen Pyramidensystems zusammenbringen. Ich bekam aber etwas Besseres: Man vermittelte mir den Kontakt zu einem Aussteiger aus einem der großen deutschen Strukturvertriebe, der einen Hilferuf an work-watch gesandt hatte, wegen der Ausbeutungspraktiken dort. Ich gebe zu: Von diesem Finanzstrukturvertrieb wusste ich bis dahin nicht viel. Ich kannte vor allem die Werbung mit einem Prominenten. Ansonsten nur ein paar Fakten: Mit einigen Millionen Kunden einer der Marktführer der verkaufenden Finanzindustrie und zielt auf Verbraucher meiner Einkommensklasse ab.
Gerade deshalb waren die Insiderkenntnisse des Informanten über den Massenvertrieb der ideale Einstieg für mich. Wie gut, dass er mich mit Material und noch mit weiteren Informanten zusammenbringen konnte, auch wenn sie fast alle anonym bleiben wollen. Leichter konnte ich keinen Zugang bekommen. Denn bei meinem Verdienst muss ich natürlich prüfen, ob es sich für Leute mit meinem Status lohnt, Kunde zu sein. Möglicherweise werden einzelne Vertriebler dort ausgebeutet. Doch darf ich bei meiner Altersvorsorge nach der Moral gehen, solange ich nicht selbst dort arbeite? Ich kaufe auch bei Amazon billige Bücher, obwohl ich weiß, dass sich die Mitarbeiter dort bei Niedriglöhnen abschuften und von ihren Vorgesetzten schikaniert werden. Wenn ich bei einem Finanzvertrieb eine seriöse Unterstützung erhalte, um meine Rentenlücke annähernd schließen zu können, müsste ich eigentlich zugreifen. Wenn nicht, muss ich mich eben mit den Banken, Maklern oder den Fintechs beschäftigen. Entscheidend ist: Wo haben Normalos wie ich die beste Chance, ihren Lebensstandard im Alter einigermaßen halten zu können? Gibt es für uns Sparer überhaupt eine Lösung? Oder muss sich unsereins damit abfinden, im Alter arm zu sein? Um erste Antworten darauf zu finden, bewerbe ich mich zunächst einfach einmal. Es ist nützlich zu wissen, wie die andere Seite mich und alle anderen Kunden betrachtet. Mit Fürsorge, Gleichgültigkeit oder Verachtung?
Malte Krüger im März 2018
DER VERMÖGENSBERATER – DEIN FREUND UND HELFER BEI DER ALTERSVORSORGE?
An welcher Stelle ist ein Bewerbungsgespräch erfolgreich? Ich finde, wenn ich gesagt bekomme, dass ich in dem Unternehmen sehr erfolgreich werden kann. So ähnlich bewertet man mich nach einem ersten Kennenlernen. Dabei kennt mich der Mann gar nicht.
Ich habe einfach unter einem falschen Namen angerufen und gesagt, ich komme aus der Bildungsbranche und sei Kommunikationsexperte. Passend zur Finanzindustrie habe ich mich als Herr Gier vorgestellt. Ich sei an einem Job interessiert. Zwar wisse ich nicht viel über Finanzen, aber mit meinem Wissen über professionelle Gesprächsführung müsse ich eigentlich für den Vertrieb sehr geeignet sein. Und das möchte ich bei der Nummer eins der Finanzdienstleister gern einmal ausprobieren. Natürlich sage ich nicht, dass ich herausfinden möchte, wie attraktiv jemand für eine Vertriebsmaschine ist, der behauptet, alle rhetorischen Manipulationstechniken zu kennen. Ich will einfach wissen, was dran ist an dem Vorurteil, Finanzberater würden die Kunden regelmäßig übervorteilen.
Einen Lebenslauf oder etwas Ähnliches muss ich nicht vorlegen. Keiner kontrolliert meine Personalien. Gut möglich aber, dass man jedem Interessenten sagt, er könne groß herauskommen, um ihn so richtig heiß zu machen auf das Geldverdienen. Wir haben September 2015, und der Ort dieser Bewerbung ist ein Büro in Hamburg. Dort präsentiert sich mein Gesprächspartner als sportlich-sehniger Typ von Anfang 50 und trägt einen elegant-lässigen dunklen Anzug ohne Krawatte und mit offenem Hemdkragen. Gar nicht so spießig und überkorrekt, wie ich es von einem Mitglied der Finanzindustrie vermutet habe. Als Direktionsleiter hat er die höchste Vertriebsstufe innerhalb des Strukturvertriebs erreicht. Drei Trophäen thronen auf seinem Büroschrank für seine herausragenden Vertriebsleistungen. Über ihm stehen nicht mehr viele, allenfalls vielleicht noch die Zentrale mit der Geschäftsleitung, den Vorständen, den Bereichsvorständen und den Organisationsleitern. Er selbst bezeichnet sich als Ausbilder in der Firma. Obendrein sitzt er sowohl bei der IHK im Prüfungsausschuss für die Sachkundeprüfung für Finanzanlagenfachleute. Er muss demnach ein geschultes Auge für fachliche Qualität haben.
Ich erkläre, warum ich für den Vertrieb so geeignet sein könnte. Aufgrund meiner Fachkenntnisse weiß ich, wie man Verkaufsgespräche führt. Ich weiß, wie man das Nein der Kunden in ein Ja umwandelt. Darin habe ich einen Vorsprung gegenüber vielen anderen Vermögensberatern. Dazu liefere ich noch ein wenig Namedropping mit Hinweisen auf die Verkaufsschule des Neurolinguistischen Programmierens4, auf Rupert Lays Manipulation durch die Sprache5 oder auf die Beeinflussungspsychologie von Werner Correll.6 Das scheint das richtige Stichwort zu sein. Denn mein Gegenüber kennt Correll persönlich. Es funktioniert also. Er will mich haben und lädt mich zu dem üblichen Infoabend ein. Ganz der Firmenrepräsentant, verkauft er die Firma zunächst aber noch als Finanzwohltäter. Na ja, er kann auch schlecht sagen, wir beeinflussen die Kunden gegen ihre Interessen. Vielmehr preist er, Teil eines Konzerns zu sein, dessen Allfinanzberatung einmalig sei auf dem Finanzmarkt. Dabei redet er immer von wir, also er und die Firma: Sie seien die Sammelstelle aller denkbaren Finanzdienstleistungen, und mit diesem Gesamtpaket machten sie die Kunden glücklich. Sie seien seine Helfer. Denn sie böten eine echte Beratung an. Ein Vermögensberater unterscheide sich dadurch ganz entschieden von einem Bankberater: Bei ihnen gehe es nicht darum, dem Kunden ein Produkt nach dem anderen aufzudrücken. Sie holten den Kunden nicht unter einem falschen Vorwand in die Bank. Sie gingen zum Kunden, und dort machten sie erst einmal eine detaillierte und komplette Analyse seiner Finanzverhältnisse und seiner Wünsche. Wie siehst du dich eigentlich in deiner Finanzsituation? Das biete ein Banker nicht.
Ach echt, denke ich mir. Die Besonderheit, von der er spricht, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Keine Ehe-, Erziehungs-, Berufs- oder Rechtsberatung kommt ohne eine derartige Bestandsaufnahme aus. Ohne die gibt es gar keine Beratung. Wie schlecht muss es also um die Beratung innerhalb der Finanzindustrie insgesamt bestellt sein, wenn bei diesem Strukturvertrieb die Einhaltung einer Selbstverständlichkeit schon als Qualitätsnachweis gilt; ein Nachweis, den die anderen Mitspieler des Finanzmarktes überhaupt nicht erbringen können.
Zwei Wochen später beim Infoabend gibt es eine noch stärkere Dosis der Eigenwerbung. Das Ganze findet in einer Art Berufsbildungszentrum statt. Von diesen Zentren im kitschigen Firmenlogodesign hat die Firma mehrere über die ganze Republik verteilt. Die Sprecherrolle übernimmt ein junger Charmeur von 27 Jahren. Ein gutaussehender und einfühlsamer Typ, der jugendliche Frische versprüht. Es fällt sofort auf, dass er es gewohnt ist, vor Publikum zu reden. So eingespielt sind seine Sätze und Gesten. In dieser Professionalität ist er den meisten seiner Zuhörer weit voraus. Ungefähr 30 Interessenten sind gekommen, neben zehn Angestellten, die als ihre Betreuer an ihrer Seite sitzen – so wie mein Betreuer an meiner. Darunter befinden sich ein paar Abiturienten auf der Suche nach einem Karriereweg, ein arbeitsloser Elektriker, der raus aus seinem Dreck will, wie er sagt, und ein paar Verkäuferinnen, die genug haben von ihrer schlecht bezahlten Arbeit. Kein Problem, versichert unser Seminarleiter. Bei der Firma seien alle gut aufgehoben. Dort dürfe man offen über Geld sprechen.
Ausbildungsbeauftragter nennt er sich und berichtet mit aufgesetzter Euphorie von seinem letzten Kundenbesuch: Geweint habe sein Kunde vor Freude über seine Beratung. Eine bessere Bestätigung könne man sich als Berater gar nicht wünschen. Worauf er mit dieser Anekdote abzielt, ist natürlich klar: Ich habe einen Traumberuf als Vermögensberater, weil ich die Träume meiner Kunden wahr mache. Wie aber ist so viel Glück für den Kunden möglich? Ein Vermögensberater ist selbst glücklich, weil sein Job alle erdenklichen Berufswünsche erfüllt: wie Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit, Kontakte und natürlich Geld. Die Befriedigung, unternehmerisch etwas aufzubauen, ist verknüpft damit, etwas Sinnvolles zu tun, gerade weil ein Vermögensberater dem Kunden so viel Freude bereite. Auch unser Ausbildungsbeauftragter redet viel von wir, wenn er die Wohltaten von Vermögensberatern aufzählt. Damit meint er sich und alle Anwesenden.
Wir sind für den Kunden ein Navigator in der Finanzwelt. Wir klären auf, wie man den Rentenbescheid richtig liest. Wir bauen Vermögen auf und zeigen Tricks, wie man sich steuerliche Vorteile sichert. Wir erarbeiten für den einzelnen Kunden ein steuerliches Konzept für die Zukunft. Das Motto dabei: Wir sind keine Vergangenheitsverwalter, sondern Zukunftsgestalter. Man kann also sagen, wir bringen zwar keinen Geldkoffer mit, aber wir sind immerhin nahe dran. Zumal wir auch dem Bürger gegen den Staat helfen würden, der ihm mit seinen Gesetzen das Geld aus der Tasche ziehen will.
Gemeint sind damit Gesetze wie das Alterseinkünftegesetz von 2005 über die Rentenbesteuerung. Der Staat ist also der Gegner, und die Strukturvertriebler sind die Beschützer. Solch ein Freund-Feind-Schema schafft Identifikation. Wer glaubt denn noch, dass die gesetzliche Rentenversicherung ausreicht? Natürlich keiner von den Zuhörern. Ich glaube das auch nicht. Und weil die Rente nicht mehr sicher ist, sei Vater Staat auch die beste Werbeagentur für die Firma. Unfreiwillig natürlich. Und bei diesem Freund-Feind-Schema hätte ich als Vermögensberater die Kundenbrille auf und böte eine branchenneutrale Beratung an. Warum ist das so? Weil Vermögensberater keine Produktverkäufer sind, sondern eine Beratung liefern. Ist das nicht toll? Niemand von den Anwesenden sagt nein. Warum auch.
Um all diese Erträge des Vermögensberaterberufes genießen zu können, müsse man natürlich auch etwas tun. Die heile Welt kann auch unser Seminarleiter nicht versprechen. Deswegen brauche ein Vermögensberater Mut, Zeit und Ausdauer – vor allem am Anfang. Denn die Arbeit für die Firma sei nicht der Weg zum schnellen Geld. Das Geld komme erst langfristig. Wie viel jeder davon investiere, entscheide jeder selbst. Folglich entscheide jeder auch selbst über seinen Verdienst. Damit diese Aussicht uns nicht abschreckt, macht er uns noch einmal richtig heiß. Als er einst 18 Jahre alt war, habe er noch davon geträumt, im Monat 5000 Euro zu verdienen. Jetzt sind 5000-Euro-Monate schlechte Monate für ihn. Das heißt nicht, dass es jeder schafft. Natürlich nicht, andernfalls wäre die Firma ja auch nichts Besonderes. Das heißt, nur wenn ich mehr leisten will als andere, bin ich hier richtig. Mehr heißt, mehr als die anderen außerhalb. Bei der Firma lohne sich Leistung also noch.
Bis es aber soweit ist, fängt man an als Vertrauensmann und verschafft der Firma und sich selbst Kontakte aus seinem privaten Umfeld. Dann wird man zum Vermögensberater-Assistenten und begleitet seinen Betreuer zu Kundengesprächen und darf auch erste Analysen vornehmen. Bis man schließlich selbst das Kundengespräch führen darf. Von dort aus arbeitet man sich weiter hoch über den Agenturleiterposten, den Regionalgeschäftsstellenleiter, den Hauptgeschäftsstellenleiter bis hin zum Direktionsleiter. Auf diesem Weg sammelt jeder Karriereeinheiten und nicht Geld. Diese Karriereeinheiten berechnen sich zum Beispiel aus der Laufzeit und der Beitragssumme der verkauften Produkte. Dadurch wird die Beratung angeblich neutral gestellt. Auf diesem Weg legt jeder diverse Prüfungen ab, damit der Erwerb von Fachwissen gesichert sei. Das sei auch als Auslese gedacht, weil nur Leute mit Charakter und Ausdauer sich diesen Prüfungen aussetzen würden. Ohne diese Qualitätsnachweise habe man ohnehin keine Chance auf dem Markt.
Eine Vertrieblerin für Druckertoner zieht zufrieden Bilanz, als wolle sie eine Aufbruchsstimmung verbreiten. »Das gefällt mir hier. Hier muss ich dem Kunden nichts andrehen. In meinem Beruf muss ich unausgesetzt Leute verarschen.«
Mein Erstkontakt und ich vereinbaren, dass ich wegen meiner Wissensvorsprünge Schulungseinheiten überspringen könne. Also doch. Ich soll anscheinend möglichst schnell in den Verkauf. Ein paar Wochen später geht es in mein erstes Seminar. Dort erweist sich, wie verlogen der Slogan unseres Ausbildungsbeauftragten war: »Wir sind keine Produktverkäufer.« Das Schulungsthema ist nicht umsonst der Karriereweg des Vermögensberaters und wie ich ihn zu organisieren habe. Verkaufen? Natürlich. Nur: Verkaufsdruck gibt es angeblich keinen. Warum das so ist, peitscht uns ein ehemaliger Marineoffizier mit zackigem Befehlston in die Köpfe. Für mich als Vermögensberater gebe es keine Produktvorgaben. Ich entscheide selbst, was ich verkaufe. Gerade darin soll meine Eigenständigkeit bestehen. Ich werde bezahlt nach den Karriereeinheiten, und darauf, wie die zustande kommen, werde nicht geschaut. Das ist natürlich größtenteils gelogen. So viel weiß selbst ich als Laie, dass die Firma ein gebundener Vertrieb ist. Der ehemalige Marineoffizier scheint aber überhaupt nicht zu lügen, wenn er das Wissen, und vor allem das Finanzfachwissen diskriminiert.
Als Vermögensberater brauche ich neben dem Können, dem unbeugsamen Willen und der Fähigkeit zur Selbstorganisation auch Wissen, um in meiner Selbstständigkeit Erfolg zu haben. Allerdings: Zwischen Wissen und Können gebe es noch einen feinen Unterschied. Zwischen beiden Feldern bestehe eine klare Trennung, die sich widerspiegle in der Trennung zwischen Finanzfachwissen und Verkaufskönnen. Der Referent ordnet das Finanzfachwissen dem Feld des Wissens zu und die Verkaufsfähigkeit dem Feld des Könnens. Dabei habe Wissen kaum etwas mit einem verwertbaren Können zu tun und besitze deshalb einen geringeren Wert. Finanzfachwissen steht also unter Verkaufskönnen. Und ich dachte immer, das Finanzfachwissen sei eine unverzichtbare Grundlage einer Beratertätigkeit in dieser Branche. Der Referent sieht das anders: Können entstehe erst durch Praxis und nicht durch Wissen. Dass Wissen und Können sich gegenseitig bedingen und dass das eine aus dem anderen folgt, dazu verliert der ehemalige Marineoffizier kein Wort. Er liefert mit dieser Trennung von Wissen und Können die übliche Diskriminierung der Theorie gegenüber der Praxis. Dadurch bestätigt er das oft gebrauchte Vorurteil, dass grau doch alle Theorie sei. Denn vielerorts gilt nur die Praxis als überzeugend und lebenserhaltend und nicht die Theorie. Die Absicht ist leicht zu durchschauen: Die Diskriminierung des Fachwissens soll den Vermögensberater in seinem Tun als Verkäufer aufwerten, und er selbst soll sich dadurch besser fühlen. Er soll sich sagen: Ich bin gut, weil ich Produkte verkaufen kann, und nicht, weil ich etwas über Finanzen weiß. Als Verbraucher auf der Suche nach der besten Altersvorsorge habe ich jetzt schon fast genug von der Firma. Beratung soll also gar nicht stattfinden. Stattdessen bekomme ich es mit Finanzberatern zu tun, die sich an mir abarbeiten sollen. Denn ein erfolgreicher Verkauf ist ihr Charakternachweis, ein wichtiger Baustein zur Karriere, von der ihre Bedeutung abhängt. So als sei Misserfolg ein Nachweis für einen Charakterdefekt.
Nach diesem Vortrag sind mein Erstkontakt und ich uns einig. Es geht weiter. Er will mich auf einer höheren Karrierestufe einsteigen lassen, als es sonst üblich ist, möglicherweise gleich als hauptberuflicher Agenturleiter. Hier scheint er es eilig zu haben. Dabei sieht es so aus, als besitze er die Macht, das Karrieresystem der Firma willkürlich abzuändern. Normalerweise fängt man ganz unten als Vermögensberater-Assistent an. Er scheint aber der Entscheider zu sein und derartige Weisungsbefugnisse zu besitzen. Für das nächste Mal gibt er mir gleich Schulungsunterlagen mit. Inhalt ist das Produkt Vermögensaufbau und Sicherheitsplan, eine Rentenversicherung mit den Zusatzbausteinen Berufsunfähigkeitsversicherung, Todesfallschutz, Pflegeversicherung und Kapitalaufbau. Ein Multifunktionsprodukt, das ich aus meiner Kundensicht in seiner Kombination aus Sparvertrag, Risikodosierung und Risikoabsicherung nicht wirklich durchblicke. Obwohl es sich bei dem Material eher um eine Werbebroschüre handelt. Denn über Kosten und Erträge und deren Abhängigkeit voneinander steht nichts geschrieben. Soll ich das als Berater nicht wissen? Ein Grund mehr, erst einmal zu klären, wie Altersvorsorge für mich überhaupt möglich sein soll, wenn hier ein Finanzvertrieb die fachliche Unkenntnis zur Tugend erklärt.
ALTERSVORSORGE IN DER HAND VON NARREN
Zum Glück bin ich flexibel. Mein erstes Gespräch über Altersvorsorge findet auf einer Parkbank statt. In irgendeinem Schrebergartengebiet in Stuttgart. Der Ex-Strukturvertriebler Walter Lechner hat das so festgelegt: Gespräch ja, aber nicht nur über das Telefon, sondern ein persönliches Treffen. Die Firma könnte mich ja geschickt haben, um ihm etwas anzuhängen. Die Firma hängt jemandem etwas an? Was könnte das sein? Nun gut, ich tue ihm den Gefallen und versichere ihm zusätzlich, seinen Namen nicht zu nennen. In Stuttgart verweigert er mir den Zugang zu seiner Wohnung oder seinem Büro. Auch gut. Dann eben die neutrale Parkbank. Dort rät er mir völlig unneutral davon ab, Kunde bei der Firma zu werden. Altersvorsorge geht bei denen schon deswegen nicht, findet Lechner, »weil die Vermögensberater fachlich viel zu schlecht sind, um sicher beurteilen zu können, welche Altersvorsorge in Ihrem speziellen Fall genau passend wäre. Zum Erwerb eines Expertenwissens fehlt dem Vermögensberater die Zeit, weil er Provisionen verdienen muss«. Aha, hier bestätigt sich das Gerede vom minderen Wert des Fachwissens. Wie aber lassen sich ohne wesentliche Fachkenntnisse Kunden zufriedenstellen, von denen es mehrere Millionen gibt? Deswegen will ich alles wissen: über seinen Werdegang, das Milieu und den Produktverkauf.
Im Grunde war Lechners dreijährige Arbeit als Vermögensberater der Firma von Anfang an ein Kulturkonflikt. Und zwar zwischen der häufigen Geistlosigkeit des Vertriebs und Lechners Intellektualität. Der Grund: Er kommt aus bildungsbürgerlichem Hause mit humanistisch gebildeten Eltern. In dieser Tradition aufgewachsen liest er viel – vor allem Bücher über Psychologie. Dazu passt, dass er zusätzlich zu seiner kaufmännischen Lehre auch ein Lehramtsstudium abgeschlossen hat, in Englisch und Philosophie, mit großem Staatsexamen und allem Drum und Dran. Aber auf den Regelschuldienst hatte er nicht so viel Lust. In einer Privatschule mit keinen sonderlich guten Verdienstaussichten fing er nebenberuflich an, als Englischlehrer zu arbeiten. Im Hauptberuf war er als Werbekaufmann tätig. Trotzdem schien das noch nicht seine endgültige berufliche Bestimmung gewesen zu sein. Deswegen war Lechner möglicherweise auch empfänglich für das Werben eines seiner Schüler, der Vermögensberater bei der Firma war und meinte, er müsste für seine Kundenkontakte zum Angeben ein bisschen Wirtschaftsenglisch drauf haben. Im Jahr 2006 war das. »Ein ganzes Jahr hatte mein Schüler darin investiert, mir die Sache schmackhaft zu machen, bis ich dazu bereit war, mir die Sache mal anzuschauen.« Vor allem hatte Lechner auch das Renommee der Firma angezogen. Mit dem Image als eine der Top-Adressen der Finanzvertriebe kann die Firma bis heute reichlich wuchern. »Wenn schon Vermögensberater, dann wollte ich auch zum besten Finanzdienstleister. Man darf auch nicht die prestigeträchtigen Partner vergessen.« Und dazu noch das ganze Drumherum. Die vielen Berufsbildungszentren in ganz Deutschland. Überall gibt es Schulungen mit prominenten Referenten. Das machte schon Eindruck auf Lechner.
Kritik am Finanzstrukturvertrieb? Die ist auch Lechner nicht entgangen. »Aber man muss bedenken«, so rechtfertigte er sich, »dass erfolgreiche Unternehmen wie die Firma auch viele Neider haben.« Der Gebrauch dieser billigen Neidkeule als Totschlagargument deutete für mich an, dass Lechner bereits geblendet war von der Aussicht, bei der Nummer eins zu sein: »Hier bei den Besten kann ich mir finanzielle Unabhängigkeit erarbeiten.« So malte er sich das aus. Zumal auch der Einstieg für einen Neuling wie ihn mehr als verführerisch war. »Man kommt in eine Institution, und alle scheinen begeistert zu sein und geben einem das Gefühl: Ich bin wichtig.« Es herrschte eine Atmosphäre des Lächelns. Das Betriebsklima schien wirklich anders zu sein. »Denn in diesem Bereich gibt es kaum vorzeigbare Unternehmen in Deutschland«, gibt Lechner zu bedenken. »Egal in welche Firma Sie gehen und die Leute interviewen: Wie ist das Betriebsklima? Ach scheiße, lass mich in Ruhe!« Trotzdem waren seine anspruchsvollen Eltern dagegen, dass er dort anfing. Lechner hätte auf seine Eltern hören sollen.
In der ersten Testphase schaute sich Lechner vor allem an, wie sein Englischschüler, der nun ironischerweise zu seinem Betreuer wurde, als Vermögensberater arbeitete. Dabei merkte er schnell, dass er fachlich nicht viel zu bieten hatte. Obgleich er schon 20 Jahre in dem Job war. »Das habe ich ihm auch gezeigt. Du müsstest doch eigentlich schon Professor sein. Selbst wenn man einen Esel 20 Jahre durch die Uni treibt, sollte er wenigstens das Bachelor-Niveau erreicht haben.« Dieser Hinweis kränkte den Schüler natürlich. Die Firma sei doch viel mehr als nur das Fachwissen, appellierte Lechners Betreuer. Das ganze Drumherum, der sportliche Ehrgeiz, der Gemeinschaftsgeist oder die Motivation, Karriere zu machen. Jeder solle sich für sich selbst das Passende aussuchen. Und wenn Lechner das Fachliche so wichtig sei, auch dafür gebe es bei der Firma attraktive Bildungsangebote. Doch dieses Zugeständnis stellte Lechner nicht zufrieden: »Was heißt hier für mich? Das Fachliche müsste für jeden wichtig sein. Denn ein Vermögensberater hat die Verantwortung für die Kundengelder.« Das schien für seinen Betreuer jedoch nicht zu gelten.
Lechner war in dieser Phase auch bei einigen Beratungen dabei. »Oh je, oh je«, dachte er sich. Sein Betreuer sei bei den Verständnisfragen der Kunden immer wieder rhetorisch ausgewichen. Kaum eine Detailfrage der Kunden habe er präzise beantwortet. Ihm ging es gar nicht darum, den Kunden genau über das Produkt aufzuklären. Im Gegenteil. Ziel sei allein gewesen, den Kunden durch spezielle Fragetechniken in die Kaufbereitschaft zu lenken. »Zum Beispiel den Kunden durch geschlossene Fragen auf eine Ja-Straße zu bringen«, erklärt Lechner. »Wenn ein Kunde mehrmals hintereinander auf die Fragen des Vermögensberaters mit Ja antwortet, ist sein Unterbewusstsein auf Zustimmung eingestellt.« Lechner blieb trotzdem erst einmal dabei. Doch der Grundkonflikt blieb bestehen. Zum Beispiel bei der Frage: Wie erlerne ich meinen Beruf als Vermögensberater überhaupt? Wie analysiere ich beispielsweise den Vermögensbestand der Kunden und ermittle ihre jeweiligen Bedürfnisse? Der Betreuer hatte dazu nur gesagt, Lechner solle Finanzanalysen von seinen Kontakten machen, und schon gehe es los. »Doch wie funktioniert das?«, fragte Lechner. »Ich kann auch nicht sagen, nun repariere mal ein Auto, das Getriebe hat einen Schaden, wenn du gar nicht weißt, wie ein Getriebe funktioniert.« Als Antwort kam nichts von dem Betreuer. Nur ein knappes: Mach einfach! »Und dann hat er immer einen ganz blöden Spruch gebracht«, erinnert sich Lechner: »Die Intelligenten überlegen, und die Dummen stürmen die Burg.« Was aber ist, wenn es die falsche Burg ist? Doch seine Fragen führten zu nichts. Deshalb verzichtete er auf weitere Diskussionen. »Gib mir das Material und die Bücher, und ich werde mich selbst um alles kümmern.« Aus Neugier rief er aber bei der Zentrale an und fragte nach, wie er sich am besten für seinen Job schulen könne. Dort sagte man ihm nur: Na ja, im Grunde müsste sein Betreuer ihm die Sachen zeigen. Hatte er aber nicht.
Seitdem wurde Lechners ständiges Nachfragen zum Problem.
»Das wurde gebrandmarkt. Ich gehörte damit zum Persönlichkeitstyp, der Zahlen, Daten und Fakten haben möchte. Typ 4 nach der Psychologie von Werner Correll, dessen Einteilung von fünf Persönlichkeiten unter Vertrieblern sehr beliebt ist.7Neben Typ 4 sucht Typ 1 Anerkennung, Typ 2 will Sicherheit, Typ 3 ist der Kumpeltyp und Typ 5 sucht Chancen und Unabhängigkeit. Das Etikett Typ 4 hat man mir in der Firma zugeordnet, aber unterschwellig in negativer Weise.«
Auch Kunden, die dieser Persönlichkeitssorte angehören, würde man eher skeptisch betrachten. Denn dieser Persönlichkeitstyp sei nicht so leicht zu beeinflussen.
»Wenn aber jemand wissbegierig ist und Zahlen, Daten, Fakten braucht, so habe ich es mal in einem Seminar gelernt, dann gib sie ihm. Dann schütte ihn so lang zu, bis er platt ist. Der Spruch, Fachidiot schlägt Kunden tot, gilt auch hier.«
Das klingt in meinen Augen nach einer Erstickungsstrategie, mit der ein Vermögensberater die unliebsamen kritischen Geister unter den Kunden wohl zum Schweigen bringen soll. Kunden sollen funktionieren und nicht informiert werden. Was bedeutet das erst für meine Altersvorsorge!
Möglicherweise erschwerte Lechners Vorliebe für die fachliche Seite sein berufliches Vorankommen ganz anders als bei denjenigen, die gar nicht fachlich interessiert waren – so wie sein Betreuer. Auch die Seminare hatten seinen Hunger nach Informationen und Fachwissen nicht gestillt.
»Bei den Seminaren, bei denen ich war, wurde meistens nichts Verwertbares vermittelt. Ein Großteil des Unterrichts bestand in der Motivation. Auch gab es jede Menge triviale Anleitungen, wie man als Vermögensberater erfolgreich wird. Mit Phrasen wie: Das Erfolgsrezept liegt im Tun. Das Ziel ist ein Riese, Angst ein Zwerg. Kann die Angst überwunden werden, dann bin ich über dem Berg. Auch die Anleitungen für den Umgang mit den Kunden waren häufig trivial. Ich meine Sprüche wie: Lächle mehr als andere. Lobe den Kunden. Denn Lob kommt aus dem Herzen, Schmeichelei kommt aus dem Mund. Oder mache es einfach, sonst geht es einfach nicht. Einfach ist problemlos. Einfache Menschen brauchen einfache Argumente. Einfach gefällt, weil es beruhigt. Wer einfach ist, wird vertrauen. Einfach ist mühelos. Einfache sind in der Mehrheit.«
Ich als Kunde finde das nicht nur trivial. Es zeigt auch, dass ich als Kunde nicht ernst genommen werde. Teilweise wirkt das sogar menschenverachtend. »Ich war jedenfalls verwundert«, ergänzt Lechner, »wie die Nummer eins in Sachen Vermögensberatung oder Vermögensverwaltung so ein primitives Level haben kann. Teilweise waren esoterische Dinge wichtiger als Finanzfachwissen. Gerade deswegen habe ich mehr als einmal gefragt: Wo kann ich Substanz bekommen? Wer ist hierfür der passende Ansprechpartner? Das ist wie bei MLM-Unternehmen wie Herbalife oder Nu Skin. Ich musste mich allein durchkämpfen.« Erst recht, weil bei der Firma eher Typ 3 der Persönlichkeiten, der Kumpeltyp, geschätzt wird; derjenige, der die Nähe zur Gemeinschaft sucht und sich anpasst. Das hat natürlich auch einen Hintergrund, erklärt Lechner. Mit Leuten, die nur wenig hinterfragen, lasse sich eine Gruppe viel leichter kontrollieren.
»Deswegen«, so behauptet er, »kommen zur Firma besonders Menschen aus Berufen, in denen die tiefgreifende Analyse und intellektuelles Format nicht gefragt sind, sondern im Gegenteil eher störend sind. Uns wurde im Seminar beigebracht, dass der Typ 3 vor allem Berufen wie Handwerker, Friseur, Arbeiter und Angestellter nachgeht und dass der Typ 4 die Harmonie in einer Gruppe am meisten gefährdet. Zu sehr gerät Typ 4 mit seiner Selbstbezogenheit mit den Persönlichkeitstypen in Konflikt, die Zugehörigkeit und Anerkennung suchen.«
Beim Verkauf von Produkten konzentrierte sich Lechner zunächst auf die guten Produkte und nicht so sehr auf die provisionsstarken oder auf die leicht verkäuflichen. Zu den provisionsstarken zählte zum Beispiel die Wunschpolice, eine fondsgebundene Rentenversicherung der Aachen Münchener Leben und mit 22 Prozent Grundprovision unter den Spitzenreitern, und zu den leicht verkäuflichen die Vermögenssicherungspolice mit 15 Prozent Grundprovision, eine Bündelversicherung im Sachversicherungsbereich, bei der die Vermögensberater Rabatte geben konnten.8
»Durch den Vertrieb provisionsstarker und leicht verkäuflicher Produkte kommt man schnell hoch«, erklärt Lechner. »So habe ich das in Seminaren gelernt.9Zum Beispiel bei der Vermögenssicherungspolice. Denn wenn man kundenorientiert arbeitet, dann dauert es wesentlich länger, nach oben zu kommen, beziehungsweise es geht einfach nicht. Sie müssten fachlich so viel dazulernen und sich täglich vier Stunden damit befassen. Das ganze System ist darauf ausgerichtet, dass man mit der Ein-Produkt-Strategie schnell nach oben kommt.«
Wegen der Konzentration auf die provisionsstarken und leicht verkäuflichen Produkte läuft die Beratung häufig nach Schema F ab:
»Das heißt, ich erzähle dem Kunden irgendetwas von Individualität und von Zielen, die nehme ich dann auf, ganz aufwendig, und hinterher drücke ich ihm ein Produkt auf wie die Vermögenssicherungspolice oder die Wunschpolice. Das war’s. Aus meiner Sicht sind aber für die Altersvorsorge provisionsstarke Produkte wie die Wunschpolice mager.10Das gibt wenig her. Ich habe versucht, bessere Produkte zu finden.«
Lechner hatte auch nie wahllos bei seinen neu gewonnenen Kunden die alten Finanzprodukte der Konkurrenz rausgeschmissen und anschließend seine Produkte des Strukturvertriebs platziert. So wie das angeblich viele andere Vermögensberater tun, ohne dabei großartig zu analysieren, was das für Folgen für die Kunden hat. »Möglicherweise können die meisten Berater wegen ihrer fachlichen Defizite diese Analyse auch gar nicht vornehmen«, mutmaßt Lechner.
Mit seinem wachsenden Fachwissen fiel Lechner aber auch positiv auf. Mit seiner Redegewandtheit setzte er sich von den meisten anderen Vermögensberatern ab. »Manche haben gesagt, der führt das Schwert im Munde«, erinnert sich Lechner. Ziemlich bald nach seiner Registrierung und einigen Seminaren wurde er in den Referentenkreis für die Schulungen und das dazugehörige Traineeprogramm aufgenommen. Hier zahlte sich sein pädagogisches Vorwissen aus. Auch Regionalgeschäftsstellenleiter wurde er ziemlich schnell. Allerdings war er zunächst offiziell als Vermögensberater gar nicht richtig registriert. »Ich war dabei, mit Gewerbeanmeldung und allem, was dazu gehört, ohne jedoch registriert zu sein. Das war so ein Zwischending. Ich wusste es nicht. Der Betreuer hat mir das nicht gesagt. Erst andere Vermögensberater haben mich aufgeklärt. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass er an mir zusätzlich verdienen wollte, weil die Provision umso höher ist, je größer der Abstand in der Hierarchie ist zwischen dem einzelnen Betreuer und seinem Mitarbeiter. Sofern der Mitarbeiter ein Geschäft schreibt.« Lechners Betreuer jedoch hatte zunächst verhindert, dass Lechner überhaupt eine Provision verdiente. Das Schema war dabei folgendes: »Der registriert dich nicht. Du machst deine Analysen bei deinen Kunden und bringst dem Betreuer den Stapel. Dann macht er die Beratung und gibt dir 50 Euro, und er sackt die Provision ein. Normalerweise bekommt man nichts für die Fertigstellung einer Analyse. Wenn es danach zum Abschluss bei der Vermögensberatung kommt, kommt schon ein bisschen Geld zusammen. In dem Fall bekommt man auch die Provisionseinheiten, um in der Hierarchie klettern zu können.« Da Lechner selbst nicht registriert war, konnte er auch keine Provisionseinheiten für den nächsten Karriereschritt sammeln. »Das ist nicht offiziell, was mein Betreuer gemacht hat, sondern eigentlich schwarz. Und mit den 50 Euro hält er dich eine Weile hin, bis du das Muster durchschaust. Und so machte er das schon 20 Jahre.«
Nach meinem Verständnis schloss der Betreuer Lechner demnach so lange wie möglich aus dem Provisionssystem aus, um so lange wie möglich für das von Lechner ermöglichte Geschäft allein die Provision zu kassieren. Dadurch bleibt Lechner möglichst lange ganz unten auf der Karriereleiter. Normalerweise besteht bei einem Vermögensberater das Provisionssystem darin, die unteren Linien seiner Struktur für sich arbeiten zu lassen und Differenzprovisionen für die Arbeit der anderen zu kassieren. Ein Agenturleiter zum Beispiel bekommt für jede verdiente Karriereeinheit 9 Euro Grundprovision und ein Hauptgeschäftsstellenleiter 12 Euro für seine verdiente Einheit. Darüber hinaus kassiert ein Hauptgeschäftsstellenleiter noch 3 Euro zusätzlich für jede einzelne Karriereeinheit des Agenturleiters seiner Struktur, errechnet aus der Differenz von 12 und 9. Aus diesem Grund will der ranghöhere Vermögensberater den Abstand zum rangniedrigeren auch so lange wie möglich bewahren.11
Weil Lechner schwer zu betreuen war, kam er in andere Direktionen. »Ich war zum Schluss bei einem der erfolgreichsten Vermögensberater, einem der Urgesteine der Firma. Er war damals ED 11.« Das heißt, er war ein Direktionsleiter mit elf Direktionen. »Der hat angeblich fünf selbst aufgebaut und der Rest wurde ihm immer wieder zugeteilt, weil Leute ausgestiegen waren. Das ist auch ein kleiner Vorteil, wenn man durchhält. In dem Fall werden einem immer wieder Mitarbeiter und Direktionsleiter unterstellt.« Und das Urgestein scheint durchgehalten zu haben. Er wurde aber nicht direkt Lechners Betreuer. Den Job übernahm einer der Direktionsleiter, die ihm untergeordnet waren. Den Namen seines neuen Betreuers und Direktionsleiters will Lechner aber nicht preisgeben. »Mein Gewissen lässt das nicht zu«, entschuldigt sich Lechner.
Dieser Direktionsleiter machte Lechner immerhin vor, wie man als Vermögensberater ohne besonderes Finanzfachwissen innerhalb der Firma Geld verdienen kann. Wenn schon nicht im Interesse des Kunden, dann zumindest im eigenen Interesse. Dafür gibt es laut Lechner zwei Wege: »Entweder baue ich eine Direktion auf oder einen Kundenstamm. Entweder bin ich Gruppenleiter oder Eigenumsetzer. So wird das auch in den Lehrmitteln dargestellt. In der gesamten Direktion galt aber die erste Methode als der Königsweg:
»Dementsprechend umfangreich ist dazu mein Schulungsmaterial. Ich kenne Direktionsleiter, die haben sich ihre Direktion aufgebaut, indem sie jedem, den sie rekrutierten, einen 50-Euro-Sparer aufdrückten, eine Wunschpolice. Das kann der Rekrutierte in der Regel immer bedienen. Wenn es einer nicht bedienen kann, dann hat der Gruppenleiter die 50 Euro vorgestreckt, um die neuen Vermögensberater bei der Stange zu halten. Nach dem Motto: finden und binden. Und irgendwann war die Direktion da.«
Was die einen konnten, konnten aber auch andere Vermögensberater, und zum Teil sogar besser. Lechners neuer Direktionsleiter kopierte diese Methode, gleichwohl sehr individuell und in noch größerem Maßstab. Nur wie ging das? Denn gerade er fiel nur durch seine Fachunkenntnis auf. »Dennoch gehörte er zu den Kollegen«, erzählte Lechner, »die jedes Mal mit einem dickeren Wagen vorgefahren sind. Wie kann das sein? Der Typ hat keine Ahnung, er hat keine Endkunden. Er hat nur Mitarbeiter und Struktur und wird reicher und reicher. Er steht immer vorn auf der Bühne bei irgendwelchen Ehrungsmeetings und hat keine Ahnung vom Fach.« Tatsächlich verwendete er im Gegensatz zu anderen Direktionsleitern zum Strukturaufbau häufig Produkte mit einem höheren Volumen von zum Beispiel 400 Euro Sparbeitrag im Monat. Die hätten aber die finanziellen Möglichkeiten mancher neuer Mitarbeiter überfordert. Zum Ausgleich ließ er Verträge stauchen.
»Das bedeutet: Der neu geschlossene Vertrag wird in der Zentrale eingereicht, dann wird er verprovisioniert und dann kommt ein Schreiben hinterher: Bitte für sechs Monate stauchen! Das heißt, der neue Mitarbeiter muss diesen Monatsbeitrag für sechs Monate nicht zahlen. In der Zeit coacht man den Neuling so, bis er selbst wieder neue Leute rekrutiert und Geld verdient und die Zahlung nachholt.«
Diese Stauchungsmethode verstieß nicht gegen die Regeln. Sie war als Notfalllösung anerkannt, sogar als Stornobekämpfungsmaßnahme. Allerdings:
»Mein Direktionsleiter hat diese Notfallmethode zum Prinzip erklärt. Und die Firma hat diese Verträge auch angenommen. Sie hat nicht gesagt, das können wir nicht annehmen. Sie hat nicht gesagt, spart nur 100 Euro an oder 5 Euro.«
War bei dem schnellen Wachstum der Direktion jetzt alles gut? Nein.
»Ich habe dem Direktionsleiter mehrfach gesagt, da wir uns auf den Gruppenaufbau konzentriert hatten, dass wir eine Herde von fachlichen Nieten sind. Hier kann keiner erklären, was ein Fonds ist und wie der funktioniert oder wie eine Rechtsschutzversicherung funktioniert oder eine Berufsunfähigkeitsversicherung. Es kann doch nicht sein, dass man als Vermögensberater für jede Sparte eigentlich einen Fachmann dabei haben müsste bei der Beratung. Was macht das für einen Eindruck bei dem Kunden? Selbst wenn Sie sich ausschließlich mit Versicherungen beschäftigen, brauchen Sie Jahre an Ausbildung, um fachlich sauber beraten zu können. Nach dem Gesetz in Deutschland braucht man als Mindestanforderung die IHK-Prüfung, den Sachkundenachweis zum Versicherungsfachmann IHK. Den braucht jeder, um beraten zu dürfen. Doch es gibt bei der Firma für die vielen Quereinsteiger keine Prüfung, die der IHK-Sachkundeprüfung von der Qualität her entspricht.«
»Deshalb frage ich mich«, legt Lechner nach. »Wie kann es sein, dass wir an den Gesetzesvorgaben vorbeigehen? Und in dem Zusammenhang wäre es vielleicht mal interessant herauszufinden, was die BaFin dazu sagt, (die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht). Bei der Firma gibt es zwar auch Prüfungen. Es gibt die Vermögensberaterassistentenprüfung. Die ist so ähnlich wie die Sachkundeprüfung. Aber sie entspricht vom Niveau eben nicht der IHK-zertifizierten Sachkundeprüfung. Für mich ist das einfach nur ein Imitat, das nicht vollständig ist. Ich bin das beste Beispiel dafür. Um nach meiner Zeit bei der Firma auf dem Markt der Finanzberater konkurrenzfähig zu sein, habe ich bei der IHK die Sachkundeprüfung für Versicherungskaufleute nachgeholt. Und: Ich bin durchgefallen. Nicht etwa knapp, sondern nach Strich und Faden. Das Wissen, das ich bei der Firma erworben hatte, hat nicht ausgereicht.12 Und das kann nicht sein.«
Das kann es sicher nicht, aber man muss zugestehen, dass für Quereinsteiger mittlerweile die Agenturleiterprüfung dazugekommen ist. Obendrein gibt es noch die Vermögensberaterprüfung Stufe 1 für die Regionalgeschäftsstellenleiter und die Vermögensberaterprüfung Stufe 2 für die Geschäftsstellenleiter.13 Und ab Praxisstufe 5 wird ein IHK-Zertifikat verlangt.14 Obendrein muss man sich seit 2015 nach § 34 F einer Sachkundeprüfung für den Verkauf von Finanzanlagen wie Investmentfonds unterziehen. 2016 kam auch noch § 34 i hinzu, wonach ein Berater einen Sachkundenachweis für Darlehensvermittlungen vorweisen muss. Das alles gesteht auch Lechner zu. Dennoch: Die Neutralität und damit die Qualität eines Großteils der Prüfungen scheinen tatsächlich fragwürdig zu sein. Denn wer ist der Vorstandsvorsitzende der Institution welche die Prüfungen abnimmt? Einer, der auch gleichzeitig Aufsichtsratsmitglied der Firma ist. Diese Verflechtung des Vorstandspersonals unterstützt Lechners Eindruck, dass die Firma sich möglicherweise bei der Ausbildung ihres Beratungspersonals eher selbst kontrolliert.
Für mich als Kunden rufen solche Verbindungen Misstrauen hervor. Und bei dem von Lechner beschriebenen Menschen- und Kundenbild denke ich an eine organisierte Unkenntnis. Ein Kunde wie ich hätte beim Aufbau seiner Altersvorsorge nur Nachteile. Wie soll gerade ich 250.000 oder 300.000 Euro für meine Rente ansparen oder zumindest Summen, die dieser Höhe am nächsten kommen? Für Lechner »ist ein Ansparen einer solchen Summe schon wegen der Kostenstruktur der Produkte unmöglich. Nicht zu vergessen die niedrigen Zinsen.« Und die fachlichen Defizite der Vermögensberater verschlimmern das. »Es gibt vielleicht in der Produktpalette der Firma irgendwo bei der DWS Investments, dem Fondslieferanten der Deutschen Bank, ein Produkt, mit dem dies vielleicht möglich ist. Dieses Produkt müssen Sie aber suchen. An der Oberfläche sehen Sie solch ein Produkt nicht. Da es an der Fachkompetenz deutlich fehlt, können auch die meisten Berater solch ein Produkt nicht finden.« Ohnehin sind für Lechner die meisten Produkte schlecht – wenn auch nicht alle. »Ein paar DWS-Fonds waren ganz gut. Die Rechtsschutzversicherungen bei der AdvoCard waren ebenfalls ganz gut.« Warum aber ist der Rest so schlecht? Lechners Antwort bietet einen unerwarteten Zusammenhang: »Weil das Niveau der meisten Berater so schlecht ist. Ein gutes Produkt ist viel anspruchsvoller zu erklären.« Folglich sind die Produkte in ihrer Gestaltungsdichte bei der Firma selten besser als die Berater in der Komplexität ihres Fachwissens. Lechner zählt dazu vor allem Kopplungsgeschäfte, bei denen Produkte miteinander kombiniert werden. Rentenprodukte mit einem Pfändungsschutz zum Beispiel. »Alles außerhalb des Garantiefondsbereichs ist relativ komplex, wenn man es mit einem Rentenprodukt kombiniert.«
Ich muss eingestehen, dass ich nicht genau weiß, wie ein Garantiefonds funktioniert. Deshalb kann ich nicht einschätzen, ob das Produkt anspruchsloser ist als andere. Für Lechner stehen die fachlichen Defizite aber nicht allein. Bei der Firma fehle auch die Ehrlichkeit. Denn dazu kommen noch die ständigen Produktwechsel. Noch ein Grund, warum ich mich als Kunde mit meiner Altersvorsorge von der Firma fernhalten sollte: Auf den ersten Blick betrachtet und unabhängig von den fachlichen Defiziten, findet Lechner das Geschäftsmodell des Strukturvertriebs ziemlich clever und sogar legitim. Das Konzept beruht darauf, zu jenen Leuten zu gehen, die bei der Konkurrenz als Kunden nicht sehr beliebt sind. In Lechners Augen zielen solche Vertriebe wie Banken immer wieder auf die Besserverdiener ab. Aus diesem Grund hat sich die Firma auf den Otto Normalverbraucher konzentriert. »Der hat viele Vorteile«, begründet Lechner. Vorteile, »die der Besserverdienende nicht hat: nämlich zum Beispiel eine einfachere Bildung und weniger Konkurrenz. Die Gefahr ist geringer, dass die Konkurrenz kommt und ihre Produkte platziert. Dafür ist er nicht attraktiv genug.« Wie sieht nämlich seine Einkommenslage aus? »Der Mann verdient 1400 oder 1500 Euro. Die Frau hat einen 400-Euro-Job und ein bisschen Kindergeld, und das war’s. Und dann platziert man dem ein paar Produkte, und er zahlt 100 Euro im Monat. Und die Konkurrenz taucht nicht auf, weil er eben nicht der Besserverdiener ist. Das ist schlau durchdacht.« Doch jetzt kommt für Lechner das große Aber: »Wenn man es sauber durchführen würde. Wenn die Produkte aufeinander abgestimmt wären. Und wenn es hier eine ehrliche Betreuung gäbe. All das fehlt, und deswegen ist der Kunde häufig der Dumme: Was passiert nämlich alle fünf Jahre bei der Firma?«, fragt Lechner rhetorisch. »Ich beobachte das ja immer noch von Weitem. Und ich habe das während meiner Zeit mitbekommen: Nach fünf Jahren trachten die Vermögensberater danach, bei ihren Kunden einen Neuabschluss zu machen und Altverträge aufzulösen, egal ob der Kunde davon etwas hat oder nicht.« Warum tun sie das? »Ja, weil dann der alte Vertrag aus der Stornohaftung raus ist.« Das heißt, der Vermögensberater ist ab diesem Zeitpunkt nicht mehr für gekündigte Verträge haftbar. Er hat sich somit seine Provision für das jeweils verkaufte Produkt verdient. Vorher gab es nur einen Vorschuss von 85 Prozent. Nun kann er seine Kunden dazu beschwatzen, neue Verträge abzuschließen, da er vom Neugeschäft lebt. Er kann folglich zum Umdeckungsverfahren schreiten.
Umdeckung? Ein Begriff, den ich bisher kaum wahrgenommen habe. Vielleicht bin ich mal in einer Zeitung darüber gestolpert. Aber jetzt muss ich mich damit auseinandersetzen, wenn ich verstehen will, wie ein provisionsgesteuerter Finanzvertrieb funktioniert. Zumal Umdeckungen auch Teil der firmeninternen Macht- und Verteilungskämpfe sind, wie Lechner mir erklärt. In diese Konflikte wird der Kunde häufig mit hineingezogen, ohne dass er die Zusammenhänge durchschaut. Ein weiterer Grund, warum die Altersvorsorge bei einem Finanzstrukturvertrieb nicht gut aufgehoben ist. Auch Lechner war von einem dieser Kämpfe betroffen. Zu diesem Zweck erklärt er mir das System der Stornohaftung als wesentlichen Knackpunkt dieser Konflikte. Für jeden Vermögensberater richtet das Unternehmen ein Versicherungskonto ein. Darauf werden dann 10 Prozent aller Provisionen eingezahlt und als Haftungsausgleich für denkbare Storni verwendet. Eigentlich eine gute Idee, glaubt Lechner, »gerade weil der Vermögensberater fünf Jahre lang für alle Stornierungen der Verträge haften muss«. Uneigentlich aber gilt diese Haftungsverpflichtung so lange, bis die Haftungszeit für das Letzte von ihm verkaufte Finanzprodukt nach fünf Jahren abgelaufen ist. Selbst wenn er nicht mehr für die Firma tätig ist. Das Versicherungskonto oder auch Rückstellungskonto gerät ins Minus, wenn die Haftungsverpflichtungen das angesammelte Rückstellungsvolumen übersteigen, weil zu viele Kunden ihre Verträge stornieren. Die Stornierung eines Vertrages ist keine Seltenheit, und sie ist sozusagen bei den Kosten einkalkuliert. Auch wenn es keine offiziellen Statistiken gibt, sprechen Insider in verschiedenen Foren von Stornoquoten von 20 Prozent und höher.15