Die Vermessung der Elite - Malte Krüger - E-Book

Die Vermessung der Elite E-Book

Malte Krüger

4,9

Beschreibung

Seit Jahren gibt es nur noch Krisen: Banken erpressen Staaten, Deutschlands Wirtschaftskraft erdrückt Europa, die Parlamente verlieren zunehmend an Macht, inmitten von Wohlstand gibt es immer mehr Armut und der Sozialstaat steht vor dem Bankrott. Kein Problem ist bisher gelöst. Das liegt auch daran, dass es eine Krise der Elite gibt, der Meinungselite. Denn Deutschlands prominente Meinungsmacher wie Hans-Olaf Henkel, Richard David Precht oder Hans-Ulrich Jörges sind eingeklemmt in einer geistigen Zwangsjacke. Fast ausnahmslos sind sie Mitglied eines Machtzentrums wie einer Partei oder einer Lobbyorganisation und damit befangene Interessenvertreter. Daraus ergibt sich eine soziale Verantwortungslosigkeit, mit der die Meinungsmacherprominenz die eigentlichen Ursachen der Krisen verschweigt. Leider bekommt man gegen diese Meinungsmacht kaum unabhängige Geister zu hören, geschweige denn Denker mit einem ganzheitlichen Blick. Deutschlands Intellektuelle bleiben beschränkt auf ihre kleine Teilöffentlichkeit. Wegen dieser Verflachung des politischen Diskurses stellt »Die Vermessung der Elite« die Medienredner auf den rhetorischen Prüfstand. Dabei führt das Buch vor, welche Krisenanalytiker in den politischen Talkshows am deutlichsten an den Krisen vorbeireden. Dieses Prüfverfahren führt zum Schluss zu einer pessimistischen Prognose: Trotz der weitverbreiteten Sehnsucht nach Orientierung würde man unabhängige Intellektuelle und ihre Einmischungen in der Mainstreamöffentlichkeit heutzutage kaum noch dulden. Der erhobene Zeigefinger von intellektuellen Zeitdeutern passt nicht mehr in den postmodernen Zeitgeist. Wer aber füllt das Loch der fehlenden Wertedebatte aus? Eine Antwort auf dieses Dilemma hat bisher noch niemand gefunden. Deshalb werden die Debatten des Mainstreams weiter verflachen. Das macht die Krisenbewältigung umso schwerer.

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Inhalt

Einführung: Die Krise der Elite

Der Maßstab: Ciceros ars dicendi

Heiner Geißler-Der Kuschel-Kapitalist

Hans-Ulrich Jörges – Der Meutejournalist

Hans-Olaf Henkel – Der Unbelehrbare

Ursula von der Leyen – Die Performance-Politikerin

Michel Friedman – Der Selbstbespiegelungsredner

Arnulf Baring – Der Poltergeist

Gertrud Höhler – Die Hohepriesterin

Richard David Precht – Der Bürgermoralprediger

Marie-Christine Ostermann – Die Wehleidige

Nikolaus Blome – Der BILD-Zeitung-Zyniker

Gregor Gysi – Der Nachlassverwalter

Fazit: Gestatten Elite? – Von wegen Elite

Danksagung

Anmerkungen

Literatur

Zum Autor

1 Einführung: Die Krise der Elite

Dieses Buch ist eine Streitschrift über Medienköpfe: über die prominente Meinungselite, die seit Jahren im Fernsehen über die Krisen dieser Welt quatscht. Sie tut das fast jeden Tag und zwar in Talkshows; dort, wo die Fernsehdebatte für uns Otto Normalverbraucher zu einer der bestimmenden Meinungsbildungsinstitutionen geworden ist. Egal ob Günther Jauch, Hart aber fair, Maybrit Illner, Presseclub, Studio Friedman, Phoenix Runde, nachtstudio oder Unter den Linden, die Formate sind zahlreich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen oder in privaten Spartenkanälen.

In diesem Ersatzparlament der deutschen Mediendemokratie diskutiert stets eine kleine Auswahl von bekannten Denkern die diversen Krisenereignisse: Sei es der Wahnsinn der Finanzkrise, die unzähligen Spar- und Rettungspakete für Griechenland, die Politikerverdrossenheit in Deutschland, der Verfall der repräsentativen Demokratie, die Verteilungsungerechtigkeit oder sei es die Abstiegsangst des Mittelstandes. Kein Problem ist davon bisher gelöst, und in der Summe ergibt sich daraus die aktuelle Kapitalismuskrise. Meistens sind es immer die gleichen Nutzer des gepflegten oder weniger gepflegten Wortes, die für uns Zuschauer das jeweilige Problem sortieren, erklären und bewerten sollen. Zum Teil wie bei einer geschlossenen Gesellschaft mit Leuten wie Richard David Precht, Hans-Ulrich Jörges, Gertrud Höhler, Hans-Olaf Henkel, Marie-Christine Ostermann oder Michel Friedman.

Allerdings haben diese Fernsehredner ihre Meinungsmacht mehrheitlich nur ihrem Prominentenstatus zu verdanken. Und nicht so sehr ihrer intellektuellen Brillanz. Viel zu oft nämlich bieten Deutschlands mediale Wortführer nur wertloses Gelaber. Im Fernsehen geht es nun einmal überwiegend um Entertainment und nur selten um Bildung oder um die Vermittlung von Erkenntnissen. Die Unterhaltungszwänge des Fernsehens machen da vor keinem noch so bedeutenden Thema Halt. »Denken kommt auf dem Bildschirm nicht gut an«, analysierte einst der amerikanische Medienwissenschaftler Neil Postman in seinem Buch »Wir amüsieren uns zu Tode«.1

Doch das ist nicht der einzige Grund, warum man sich den Durchblick mehrheitlich woanders suchen muss. Hauptsächlich tragen die meisten Fernsehredner eine geistige Zwangsjacke. Denn fast alle des Krisendeutungspersonals treten als Vertreter eines Machtzentrums auf; Zentren wie Parteien, Think Tanks, Lobbyorganisationen, Unternehmerverbände oder Medienkonzerne. Folglich können sie bei ihren öffentlichen Stellungnahmen die Interessen ihrer jeweiligen Institution gar nicht ignorieren. Unabhängige Geister findet man dagegen nur selten auch unter den Schreiberlingen bei den großen Zeitungen. Und noch weniger findet man Denker mit einem ganzheitlichen Blick. Deswegen muss man heute nicht nur von einer Krise des Kapitalismus sprechen, sondern auch von einer Krise der Elite.

Diese Elitenkrise wird augenscheinlich, wenn zum Beispiel professionelle Lobbyisten wie Hans-Olaf Henkel aus ideologischer Verblendung die europäische Staatsverschuldungskrise von der Bankenkrise abkoppeln oder Griechenland mit verkürzten Parolen zum alleinigen Sündenbock der Euro-Krise erklären.

Das Dumme ist nur: Mit solchen verkürzten Formeln wie die von Henkel wird zum großen Teil der Mainstream geformt: Der Blick der Mehrheitsgesellschaft auf das Krisengeschehen, ihre Werte und ihr Themenarsenal und die dazu gehörigen Sprachregeln. Das, was man öffentliche Meinung nennt oder auch Diskurs. Ganz im Sinne der Medienlogik des Soziologen Niklas Luhmann: »Was wir von der Gesellschaft wissen, wissen wir durch die Massenmedien.«2

Die Einflussnahme auf den Mainstream ist möglich, weil die Zuschauer das Entertainment so leicht mit dem realen Leben verwechseln können. Zu ähnlich sind die Gespräche der Talkshow mit den Gesprächen, die die Zuschauer aus ihrer Lebens- und Arbeitswelt kennen, erklärt der Erziehungssoziologe Klaus Plake.3

Gegen all diese elitäre Verdummungsrhetorik muss es jedoch rhetorisches Gegenfeuer geben. Aus guten Grund: Je geschlossener die Elite der Meinungsmacher ist, desto ausgeschlossener bleibt das Publikum. Und je oberflächlicher die Fernsehrederei inszeniert wird, desto weniger üben die verantwortlichen Medien die Funktion aus, die zu ihren wichtigsten Aufgaben gehört: die Kontroll-, Kritik- und Orientierungsfunktion. Als Gegenfeuer dient hierfür ein rhetorischer Leistungscheck, eine Vermessung der Elite. Es gilt vorzuführen, wie weit diese Meinungselite mit ihren Sprach- und Argumentationsblüten an den diversen Krisen vorbeiredet und dadurch den an sich so vielfältigen Krisenmeinungsmarkt mit intellektueller Billigware überflutet.

Diese Verflachung des politischen Diskurses ist umso bedenklicher, weil die deutsche Gesellschaft in diesen Krisenzeiten vor großen Konflikten steht. Das sind soziale, politische und ökonomische Konflikte. Als erstes sind da die sozialen Konflikte: weil die Leistungsgesellschaft zum großen Teil nur noch eine Illusion ist. Aus diesem Grund ermöglicht Leistung für immer weniger Menschen die Chance auf sozialen Aufstieg. Immer deutlicher entscheidet die Herkunft über den gesellschaftlichen Status. Und immer seltener wird harte Arbeit angemessen entlohnt, die auch noch für die Gesellschaft einen sozialen Nutzen hat. Das führt dazu, dass immer weniger Menschen, egal ob arm oder reich, das Risiko einer langfristigen Investition auf sich nehmen, die Fleiß und Ausdauer erfordert. Die einen haben resigniert, und die anderen haben es nicht mehr nötig.

Als zweites bestehen politische Konflikte: weil die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik ausgehöhlt ist durch eine Verfilzungskultur zwischen Politikern und Lobbyisten. Dieser Missstand passt jedoch nicht mehr zu den zahlreichen Teilhabemöglichkeiten, die das Internet den Menschen bietet.

Dadurch ergibt sich eine Politikerverdrossenheit, die sich vervielfacht, weil das politische Personal wiederholt den Eindruck erweckt, es würde die komplexe Weltlage nicht mehr verstehen. Denn es setzt sich immer mehr aus Technokraten der eigenen Berufsinteressen zusammen, die kaum noch Gestaltungskompetenz besitzen, geschweige denn Gestaltungsmacht. Das zeigt sich bei den diversen Bankenrettungen. Die Steuerzahler in Deutschland wollen dafür nicht länger in Kollektivhaftung genommen werden. Werden sie aber, weil ihre Volksvertreter nur Statisten sind. Es ist die Bankenlobby wie das Institute of International Finance, die entscheidet, welche Ressourcen die europäischen Steuerzahler für die Bankenrettungen aufzubringen haben.4 Das alles passiert, weil irgendjemand mal erfolgreich den Mythos verbreitet hat: Der Markt wird schon alles richten.

Damit verknüpft ist der ökonomische Konflikt: weil die Alleinherrschaft des Marktes eine Finanzkrise zu verantworten hat, die das traditionelle Schuldgeldsystem in eine Existenzkrise gerückt hat. So kommen zum Beispiel die größten europäischen Krisenstaaten auf 3500 Milliarden Euro Schulden und deren Banken auf 9400 Milliarden Euro Schulden (Stand März 2013).5 Das ist Geld, das nie zurückgezahlt werden kann. Deshalb kann die Exportfixierung der deutschen Wirtschaft kaum nachhaltig für Wachstum sein, solange sie sich auf die Verschuldungsbereitschaft ihrer Abnehmer stützt. Obgleich die Ökonomen erbittert darüber streiten, wo die Verschuldungsgrenzen liegen könnten. Doch selbst wenn es der deutschen Exportwirtschaft gelingt, die Absatzausfälle in Europa und auch in Nordamerika durch Markteroberungen zum Beispiel in Asien auszugleichen, haben viel zu wenig Leute an dem Wohlstand in Deutschland Anteil. Der Grund dafür: Die Wettbewerbsvorteile der deutschen Produkte wurden und werden vorzugsweise auch durch die Lohndämpfungspolitik möglich. Allerdings bestehen Konjunktur und Wohlstandsgewinne einer Volkswirtschaft nicht nur aus dem Export.

Trotz alledem sehen immer noch viel zu viele Krisendeuter in der ordnenden Kraft des Marktes die einzige Lösung für die Euro-, Schulden- und Finanzkrise.

Inmitten dieser Konflikte und einer ständig steigenden Informationsflut fehlen jedoch die großen Leitlinien des Handelns und Denkens. Es fehlen die großen Meistererzählungen. Und dann ist kaum einer da, der einem verlässlich die Welt erklärt. Schon gar nicht unter der Meinungselite.

All das macht die Meinungsbildung nur noch komplizierter. Deshalb muss man fragen: Welche Krisenanalytiker haben am meisten zur Krisenverwirrung beigetragen? Wer müsste die meisten Euros als Geschwätzigkeitsbuße ins Phrasenschwein stecken? Oder gibt es trotz aller Unterhaltungszwänge und trotz aller geistigen Zwangsjacken Redner, von denen man sich intellektuelle Orientierung erhoffen kann?

2 Der Maßstab: Ciceros ars dicendi

Für eine rhetorische Vermessung der Elite wie in diesem Buch ist selbstverständlich ein Maßstab notwendig. Doch was soll das für einer sein? Ohne ein verbindliches Prinzip des Denkens. In diesen postmodernen Zeiten wird Kritik immer beliebiger. Folglich gibt es auch keine übergeordnete Idee des Schönen mehr – erst recht keine übergeordnete Idee der schönen Rede. Sofern es sie je gegeben hat; außer vielleicht in Friedrich Hegels Theorie der Ästhetik und seiner Idee von dem Urbild des Schönen.6 In den 1920er Jahren bestimmten zumindest die Kultur- und Literaturkritiker Karl Kraus oder Alfred Kerr mit Absolutheit, was guter Geschmack und was Geschmacklosigkeit sei. Doch die beiden Herren waren sich nicht einmal untereinander über ihr Geschmacksideal einig. Immerhin besaßen Kraus und Kerr eine Autorität, die heutige Kritiker nicht aufweisen weder Literatur- noch Sprach- noch Medienkritiker. Das Seminar für Allgemeine Rhetorik in Tübingen zum Beispiel, das seit 1998 den Preis Rede des Jahres vergibt, hat kaum Einfluss auf den Sprachgebrauch in der Öffentlichkeit.7

Für eine Redekritik muss deshalb schon einer der prägendsten Redner der Weltgeschichte als Maßstab herhalten: nämlich Marcus Tullius Cicero, seinerzeit Philosoph, Schriftsteller, Politiker, Rechtsgelehrter und Sprachlehrer im alten Rom. Warum ist aber ausgerechnet der Rückgriff auf diesen Redner des Altertums als Vorschlag für ein Rednerideal geeignet? Die Antwort darauf erfordert einen kurzen Blick zurück auf das alte Rom:

Sein Leben (106 bis 43 v. Chr.) fällt in die Zeit, als Rom eine Republik war und die öffentlichen Räume im alten Rom, der Senat, das Gericht oder die Volksversammlung, den einzelnen Römern die Möglichkeit boten, durch rhetorisches Talent öffentliche Geltung zu erwerben. Vor allem für den Politiker Cicero selbst. Zu seinem politischen Nachteil entstammte er nicht einer der bedeutenden Adelsfamilien, die wie die Scipionen viele Generationen hindurch die Politik in Rom bestimmten. Er verfügte auch nicht über ein Vermögen wie Crassus, um sich politischen Einfluss zu kaufen. Genauso wenig konnte Cicero als Feldherr wie Caesar mit einer Armee in seinem Rücken die Politik an sich reißen. Sein einziges Kapital war seine rednerische Gabe.

Aus diesem Grund hat Cicero gerade für das öffentliche Wort im politischen Diskurs das Ideal eines Redners entworfen: den orator perfectus, den vollendeten Redner.

In seinen Lehrschriften »De oratore« (Über den Redner) und »Orator« (Der Redner) hat Cicero sein Idealbild vom orator perfectus festgehalten: Die Aufgabe eines Redners ist es zunächst, die Überzeugungen seiner Zuhörer zu formen. Dabei konzentriert er sich auf drei Faktoren: den Beweis seiner Standpunkte, den Gewinn der Publikumssympathie und die Einflussnahme auf die Gefühle seiner Zuhörer.8 Allerdings muss für Cicero ein Redner gleichzeitig imstande sein, verantwortungsvoll mit den Gefühlen seiner Zuhörer umzugehen. So muss jeder Redner, der es versteht, die Herzen seiner Zuhörer zu entflammen, die Brände in den Herzen auch wieder löschen können.9

An dieser Stelle ist ein Redner auch dazu verpflichtet, ein Philosoph zu sein. Es ist nur derjenige zu einem verantwortungsvollen Umgang mit den Gefühlen seiner Zuhörer imstande, »der mit seinem Blick das Wesen aller Dinge, die Sitten und Prinzipien der Menschen tief durchdrungen habe«.10 Durch derartige Kenntnisse erwirbt ein Redner Deutungskompetenz, die Kompetenz, Menschen zu entschlüsseln.

Dieses philosophische Wissen ist jedoch nur der Anfang: Ein vollendeter Redner muss auf allen für das Leben des Menschen wichtigen Gebieten bewandert sein. Warum? Weil ein Redner verhindern muss, zu einem Schwätzer zu werden. Dafür braucht er Stoff zum Reden. Und je mehr Stoff er besitzt, desto gehaltvoller wird das Gesagte. Sofern er den Stoff beherrscht:

»Nach meiner Meinung könnte jedenfalls kein Redner den Gipfel allen Ruhmes erreichen, ohne sämtliche bedeutende Gebiete und Disziplinen zu beherrschen; denn aus dem Wissen um die Sache muss die Rede in Glanz und Fülle des Ausdrucks erwachsen. Hat sich der Redner die Sache nicht ganz angeeignet, so bietet seine Rede nur leeres und beinahe kindisches Geschwätz.«11

Dadurch wird Rhetorik zur Kunst, etwas zu sagen zu haben. Allerdings erklärte für Cicero die Pflicht zum umfassenden Bildungserwerb auch den Mangel an guten Rednern zu seiner Zeit. Zu viele scheiterten daran, die Mühen der Rednerarbeit auf sich zu nehmen. Doch nicht nur der Erwerb von Wissen überforderte viele. Sie scheiterten auch daran, den treffenden Ausdruck zu finden, die eigenen Gedanken klar anzuordnen und Stil und Ton der jeweiligen Redesituation anzupassen.12

Wahrscheinlich gibt es deswegen auch heute noch viel zu wenig gute Redner. Die Meinungsbildung ist meistens viel zu aufwendig. Und viele Redner beschränken sich darauf, im Scheinwerferlicht gute Performer zu sein. Dadurch vergrößert sich der Abstand zwischen dem Präsentationsvolumen und dem Gehalt der Rede. Aus diesem Grund wurde auch der einstige Medienstar unter den Politikern in seinen rhetorischen Fähigkeiten während des Hypes um seine Person völlig überschätzt: Gemeint ist Karl Theodor zu Guttenberg. Die meisten seiner Auftritte waren bestimmt von der Absicht, eine Pose vorzuführen. Jeder Satz aus dem Mund dieses Performance-Politikers diente dem Kalkül, das Image des aus der Art geschlagenen, weil glamourösen Politikers zu transportieren. Ein durchdachtes und eigens erarbeitetes Weltbild war hinter seinen geleckten Worten nicht zu entdeckten. Deswegen war zu Guttenberg auch nicht als Überzeugungstäter erkennbar wie zum Beispiel ein Norbert Blüm. Auch sein Auftritt in der Schmuddel-Talkshow von Johannes B. Kerner anlässlich des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr hatte nur einen Zweck: sein Image zu pflegen. Das Image des heldenhaften Verteidigungsministers, der es ganz dick mit seinen Soldaten hat. Politisch hingegen lieferte zu Guttenberg in der Kerner-Show nichts Erklärendes.13 Das machte zu Guttenberg zu einem Verführer, der seine Betroffenheitsrhetorik gegenüber den Soldaten nur missbrauchte.

Dementsprechend war es Cicero bewusst, dass die Rhetorik als Verführungsmittel missbraucht werden kann. Vor allem von Rednern, die die ethische Verantwortung für die Gefühle ihres Publikums nicht übernehmen wollen. Deshalb warnt er in »De oratore«: »Je größer diese Kraft ist, umso mehr gilt es, sie mit Rechtschaffenheit und höchster Klugheit zu verbinden. Wenn wir die Macht der Rede Leuten zur Verfügung stellen, die diese Eigenschaften nicht besitzen, so machen wir sie nicht zu Rednern, sondern geben Rasenden gewissermaßen Waffen in die Hand.«14

Ciceros Forderung nach der ethischen Verantwortung eines Redners war geprägt durch die politischen Unruhen seiner Zeit. Sein Wirken als Emporkömmling fiel in die Krisenzeit der römischen Republik. Damals strebten einzelne Persönlichkeiten wie Catilina, Pompeius, Crassus, Caesar und auch Augustus nach der Alleinherrschaft und bedrohten so das freie Gemeinwesen, die libera res publica. Dadurch wandelte sich der freie Staat zu einem Privatbesitz eines Einzelnen, zur res privata.15

Deshalb politisierte Cicero die Redekunst: Nicht allein die Wirkungsmacht auf sein Publikum machte für Cicero die Qualität eines idealen Redners aus. Vielmehr sollte ein orator perfectus von dem guten Willen bestimmt sein, die Gerechtigkeit in einem Staat zu fördern. Diese Gerechtigkeit bestand für Cicero darin, dass jeder Einzelne an dem Gemeinwesen politisch teilhaben darf. Je nach seiner persönlichen Würde. Zu diesem Zweck verlangte Cicero von einem idealen politischen Redner, von einem Staatsmann, ein Mensch von tadelloser Sittlichkeit zu sein.

In seiner staatspolitischen Schrift »De re publica« (Vom Gemeinwesen) bezeichnet Cicero diesen sittlichen Staatsmann als vir bonus, ein Staatsmann, der seine egoistischen Machttriebe zu beherrschen weiß.16 Diese Triebe definieren für Cicero die Natur aller Lebewesen, weil Mensch wie Tier den eigenen Nutzen als Ziel haben. Doch ein vir bonus setzt sich mehr für den Nutzen des Volkes ein, als dass er danach trachtet, den eigenen Willen durchzusetzen.17 Mit Hilfe seiner erworbenen Universalbildung ist er zu dieser Selbstbeherrschung fähig.

Der vir bonus versteht es, eine ethische Vernunft in sich selbst zu verwirklichen, und wird dadurch zum Vorbild für das gesamte Gemeinwesen. Er lebt das an Ethik vor, was in einem freien Gemeinwesen verwirklicht werden soll. Deshalb war für Cicero das Gemeinwesen vor allem eine ethische Idee und dann erst eine politische.18 Die ständige Selbstprüfung verleiht dem sittlichen Staatsmann als vir bonus jene Weisheit, mit der er die notwendige Gerechtigkeit erkennt und hervorbringt. Der freie Staat ist das Produkt der Teilnahme aller und nur die Gemeinnützigkeit ermöglicht diesem Gemeinwesen eine dauerhafte Existenz. Egoismus und Zügellosigkeit gefährden den Staat, egal in welcher Staatsform, und rufen Verfall hervor. Deswegen ist es für Cicero die Aufgabe eines sittlichen Staatsmannes bei der »Lenkung des Gemeinwesens« alle Bedrohungen für das Gemeinwesen zu kennen und sie vorauszusehen, »wenn sie drohen«.19

Für Cicero ist zuallererst der Mensch die entscheidende Instanz, die Gerechtigkeit ermöglicht, und nicht so sehr die Staatsform. Der Grund dafür ist simpel: Aus Ciceros Sicht kann nur der Mensch der Träger eines ethischen Bewusstseins sein.

Im Dienste der Gerechtigkeit vereint ein Redner als politischer Akteur Politik und Ethik und somit Rhetorik und Ethik. Zu diesem Zweck muss er sich in den Dienst der Wahrheit stellen. Cicero nennt diesen wahrheitstreuen Redner auf lateinisch einen actor veritatis, der die Bestechung seines Publikums durch seine Worte niemals im Sinn hat. Denn »ohne Zweifel übertrifft die Wirklichkeit die Nachahmung in jedem Punkt«, legt Cicero fest.20 Zwar ist ein Redner auch ein Darsteller, aber die Rolle, die er spielt, ist seine eigene, und die Emotionen, die er bei seiner Rede ausdrückt, sind seine eigenen und keine aufgesetzten.

Ist Ciceros Rednerideal noch zeitgemäß?

Cicero hat sicherlich nicht ohne Eigennutz derart leidenschaftlich für das freie Wort gekämpft. Als ehrgeiziger Machtpolitiker ist er darauf angewiesen gewesen, dass er seine rednerischen Qualitäten als sein einziges Kapital für seinen Aufstieg auch frei einsetzen konnte. In einer Diktatur ist das für ihn nicht möglich gewesen. Dennoch ist er selbst seinem eigenen Ideal vom perfekten Redner nicht gerecht geworden. Zu oft musste er aus politischem Kalkül seine Wortgewalt im Interesse seiner Machtpolitik für die Interessen der falschen Leute einsetzen. Also hat Cicero geklüngelt, bestochen und intrigiert.

Kann man trotzdem bei Ciceros unerfüllbarem Rednerideal von einem tauglichen Maßstab für die heutige Redepraxis sprechen? Man kann:

Cicero hat mit seinem Bildungsbegriff die heutige Vorstellung von Allgemeinbildung, ja sogar vom Intellektuellentum wesentlich geprägt. Vor allem aber tun guter Wille, Selbstbeherrschung, Ehrlichkeit, Deutungskompetenz, punktgenaue Formulierungen, der Dienst am Gemeinwesen und soziale Verantwortung auch in der heutigen Zeit der Überzeugungskraft eines Redners mehr als gut und darum der Meinungsbildung seiner Zuhörer. Das beweisen die zum Teil vernichtenden Reaktionen der deutschen Presse21 und der Internetuser22 zum verkrampften Fernsehinterview des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff bei ARD und ZDF vom 04.01.2012. Dort sollte er die Kredit- und Medienaffäre um seine Person aufklären, was ziemlich eindeutig misslang.23 Von Fremdschämen, Peinlichkeit, Uneinsichtigkeit, Selbst- und Amtsbeschädigung und Ratlosigkeit ist da in Kommentaren über Wulff die Rede. Zumal Wulff alle ciceronischen Tugenden vermissen ließ. Stattdessen gab er sich uneinsichtig, indem er versuchte, seine Verstrickungen in der Hannover-Connection zu verharmlosen. Mit Sätzen wie: »Man wird doch noch Freunde haben dürfen.«

All diese ciceronischen Werte soll heutzutage der CICERO Rednerpreis als Maßstab für die Redekultur in Deutschland fördern.24 Der kaum bekannte Verlag für die Deutsche Wirtschaft AG schreibt diesen Preis jedes Jahr aus. Das Ziel des Preises kollidiert jedoch mit der Realität der Performance-Kultur, die sich mehr und mehr ausbreitet.

Kennzeichen dieser Performance-Kultur ist, dass es immer wichtiger wird, sich gekonnt zu präsentieren, anstatt gehaltvoll zu argumentieren. Das macht zum großen Teil den Erfolg der hier behandelten Medienköpfe aus. Deswegen darf zum Beispiel Gregor Gysi in einer Talkshow Kapitalismuskritik versprühen, weil er unabhängig von aller Fachkenntnis besonders publikumswirksamen Witz verbreitet. Deswegen boomt auch die Weiterbildungsindustrie mit ihren Rhetorikschulungen. Und die Stars unter den Rhetoriktrainern wie Rolf H. Ruhleder liefern bei ihren Schulungen für Talkshow-Auftritte in der Regel nur Performance-Trainings.25 Nicht zuletzt sind deswegen Meinungsmacher wie Richard David Precht, Hans-Ulrich Jörges oder Michel Friedman in erster Linie Performer und weniger Redner. Mit dem Oberflächenreiz ihrer Rhetorik unterhalten sie zuallererst ihr Publikum, oder aber sie manipulieren oder verblöden es einfach nur. Vielleicht ist das der Grund, warum ausnahmslos alle prominenten Meinungsmacher sich bereitwillig der Dramaturgie einer Talkshow unterordnen. Keiner fällt aus seiner Rolle. Nach dieser Dramaturgie ist der Streit in einer Talkshow wie Anne Will zuallererst ein Selbstzweck genauso wie die dazugehörigen Emotionen. Dagegen hat die Findung einer Wahrheit im Konzept einer Debattenshow meistens kein Platz. Obgleich die verschiedenen Talkformate nicht alle gleich funktionieren und unterschiedliche Unterhaltungsgrade besitzen.

Die Auswahl der Meinungsmacher in diesem Buch richtet sich danach, welche Persönlichkeiten besonders häufig auf dem Bildschirm präsent sind, und deswegen mit ihren Argumentations- und Sprachblüten umso mehr die Krisendebatte in den letzten Jahren seit 2008 auf dem Bildschirm prägen konnten. Trotzdem ist die Auswahl hier unwissenschaftlich und willkürlich zusammengestellt worden; so willkürlich wie eine Ratingagentur die Kreditwürdigkeit eines Landes herabsetzt. Sie stellt nur eine Meinung dar.

Dabei soll die Analyse offenlegen, dass die meisten Medienköpfe hier Teil einer Pseudo-Elite sind, eines Kabinetts des Blödsinns. Diese Pseudo-Elite führt vor, dass die Undurchschaubarkeit der Krisenwelt nicht nur an der Komplexität der Sachverhalte selbst liegt, sondern auch an der Unzulänglichkeit der professionellen Interpreten. Unsere tägliche Desinformation, über die der bekannte Sprachlehrer und Autor Wolf Schneider in seinem gleichnamigen Buch geschrieben hat26, ist folglich nicht nur ein Produkt einer strukturellen Gewalt, eines Dispositivs der Macht, wie es der Philosoph Michel Foucault genannt hat.27 Sie ist nicht nur Teil eines anonymen Panoptikums der Macht, das wir Zuschauer bestätigen, weil wir uns darauf einlassen und so deren Wirkungskraft erst möglich machen.28 So wie Josef K. in Franz Kafkas »Der Prozess« seine Verhaftung und die Kontrolle einer anonymen Machtmaschinerie über ihn bestätigt, indem er sich darauf einlässt.29 Unsere tägliche Desinformation hat vielmehr trotz aller Strukturzwänge auch verantwortliche Gesichter, und die gilt es bloßzustellen.

Gewiss: Es gibt unter der Medienelite auch Ausnahmen, die zur Krisenorientierung verwertbares Wissen abliefern, halbwegs unabhängig erscheinen und helfen, das Weltgeschehen ein bisschen zu ordnen. Mehr oder weniger zahlreich treten sie auch in Talkshows auf. Leute wie Peter Bofinger, Jutta Ditfurth, Heribert Prantl oder der eben bereits erwähnte Wolf Schneider. Sie sind Ausnahmen, weil sie überwiegend ohne Brüche verlässlich für ein stets wiedererkennbares Denkgebäude stehen. Bofinger mit seiner Kritik an der neoliberalen Staatsverteufelung, Prantl als rechtsstaatliches Gewissen, Ditfurth als Stimme des politischen Zorns und Schneider als Hüter des anspruchsvollen und aufgeklärten Journalismus. Deshalb tauchen auch alle vier an manchen Stellen als Gegenbeispiel auf.

Allerdings sucht man nach Ausnahmen dieser Qualität fast vergeblich unter der Riege der aktiven Spitzenpolitiker, die auch zum Stammpersonal der Talkshows zählen. Dafür gibt es zwei Gründe:

1. Die aktiven Spitzenpolitiker sitzen mehrheitlich in einem Sprachgefängnis der Beliebigkeit und gleichen sich sprachlich immer mehr einander an. In der heutigen Zeit fehlen schlichtweg die ideologischen Kämpfe. Derartige Kontroversen bestimmten noch die parteipolitischen Konflikte zwischen CDU und SPD in den fünfziger und sechziger Jahren oder die Richtungskämpfe zwischen Fundis und Realos bei den Grünen in den achtziger Jahren. Bei diesen Kontroversen lernten viele Politiker, ihr Profil zu schärfen, und mussten zu diesem Zweck an ihren rednerischen Fähigkeiten umso mehr arbeiten.30 Heute aber suchen alle Parteien Zugang zur gesellschaftlichen Mitte. Auch das Führungspersonal der Linkspartei sucht dort ihren Platz. Das beweist das Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft der früheren Außenseiterin Sahra Wagenknecht.31 Folglich verliert das politische Personal immer mehr an rhetorischer Schärfe und Substanz. Deswegen sind die meisten Politiker austauschbar.

2. Manche Politiker definieren sich überhaupt nicht als Redner. Nicht so wie sich Helmut Schmidt, Herbert Wehner oder Richard von Weizsäcker definiert haben. Dazu zählt zum Beispiel der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach mit seiner bürgernahen Rhetoriklosigkeit. Und dazu zählt ausdrücklich Kanzlerin Angela Merkel. Deswegen tritt Merkel seit Beginn ihrer Kanzlerschaft nur sehr selten in Talkshows auf. Ein Gastspiel bei Günther Jauch32, noch eines bei Anne Will33, das war es im Wesentlichen. Und diese Auftritte glichen auch mehr einer Kanzlerinnenaudienz als einem ernstzunehmenden Gespräch auf Augenhöhe.

Merkel ist vielmehr der Beweis, dass es nicht auf geschliffene und wirkungsmächtige Worte ankommen muss, um politische Macht zu erwerben. Zwar besitzt Angela Merkel eine sichtbare Durchsetzungskraft. Nicht umsonst hat sie sich mit bemerkenswerter Beharrlichkeit und fast geräuschloser Diskretion gegen ihre Parteirivalen wie Friedrich Merz und Roland Koch behaupten können. Andere Konkurrenzkämpfe sind viel lauter und wortreicher entschieden worden. Wie zum Beispiel das Duell zwischen Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder. Dagegen ist Angela Merkel durch ihre Worte kaum fassbar. Für eine konkrete Greifbarkeit teilt sie zu selten etwas mit. Zugegeben: Merkel hat sich in den letzten Jahren in ihrer Rhetorik spürbar verbessert. Insbesondere stimmlich weiß sie auf Parteitagen viel mehr Klangvariationen anzubieten, um ihr Publikum zu steuern. Dabei gewinnt sie speziell in den Situationen staatsfrauliche Dominanz, in denen sie ihre Klangfarbe guttural nachdunkelt.

Dennoch bleibt ihre Rednergabe zumindest in technischer Hinsicht begrenzt. Zu den großen globalen Herausforderungen dieser Tage wie der Euro-, Finanz- und Bankenkrise fasst Merkel kaum etwas Erklärendes in Worte. Deswegen fühlen sich beispielsweise die meisten Staatsbürger darin überfordert, die Schulden-und Rettungspläne zu verstehen, die Merkel einen nach dem anderen für die südeuropäischen Staaten ausgehandelt hat. Dafür gibt es drei Erklärungsmöglichkeiten: Als erstes könnte man denken, die Welt ist tatsächlich zu komplex und sprachlich unzugänglich, wie viele Chronisten sagen. So wie der Journalist und Ex-Kulturstaatsminister Michael Naumann in einem Presseclub behauptete: Die Zusammenhänge der Finanzkrise seien beispielsweise für die Masse nicht in staatstragenden Reden erklärbar, da nicht einmal »die Bankherren im Land« den genauen Durchblick hätten.34 Als zweites ist denkbar, dass sich Angela Merkel gar nicht sprachlich mitteilen möchte, um nicht durch klare Standpunkte angreifbar zu sein. Obwohl sich die Schlüsselthemen durchaus durch Worte erfassen und erklären lassen. Zuletzt und als drittes könnte Merkels Sprachlosigkeit Ciceros Ansicht belegen, dass Beredsamkeit hauptsächlich eine Naturanlage sei. Deshalb ist sie nur geringfügig durch Technik zu vermitteln: »Denn es muss eine ganz geschwinde Beweglichkeit des Geistes gegeben sein, um im Ersinnen Scharfsinn, in der Erklärung und Ausschmückung reiche Fülle und im Gedächtnis Festigkeit und Dauer zu beweisen. Wenn dabei jemand glaubt, diese Voraussetzungen seien mit Hilfe einer Technik zu erlangen – doch das stimmt nicht;«35

Mal schauen, ob irgendeiner der folgenden Meinungsmacher diese Naturbegabung bei seiner Krisenrhetorik beweisen konnte in den letzten Jahren.

3 Heiner Geißler – Der Kuschel-Kapitalist

Was macht ein Star-Ökonom wie Michael Hüther, wenn ihm bei einem Streitgespräch die Argumente ausgehen? Er verliert die Nerven und jammert mit übertriebener Theatralik. In einer Ausgabe von Unter den Linden hat sich das erwiesen. Anlass war der Ausbruch der Finanzkrise von 2008: als der Immobilien-markt in den USA zusammenbrach, die Pleite der Lehman Bank den Interbankenhandel lahmlegte und die Staaten mit Steuergeldern die Banken stützen mussten, um die Liquiditätskrise der Banken zu überwinden.36

Aus diesem Grund duellieren sich Wirtschaftsprofessor Michael Hüther und CDU-Politiker Heiner Geißler zur Zukunft des Wirtschaftssystems. Der eine, ein profiliertes Sprachrohr der Lobbyorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Der andere, das alte Schlachtross der CDU, dem häufig unterstellt wird, er hätte eine Wandlung zum Altersunweisen durchgemacht. Vom Spiritus Rector der geistig-moralischen Wende Deutschlands durch Helmut Kohl hin zum kapitalismuskritischen Ketzer. In dieser Rolle würde er ausgerechnet gegen das System wettern, dem er seinen Aufstieg verdankt.37

Streitpunkt zwischen Hüther und Geißler ist die Frage: Benötigt Deutschland ein neues Gesellschaftsmodell? Ja, sagt Geißler wegen der Exzesse der Finanzwirtschaft. Nein, sagt Hüther, weil es ausreicht, an die Moral der Banker und Spekulanten zu appellieren.

Doch reichen Appelle wirklich aus? Kurzfristiges Quartalsdenken und Gier auf dem unregulierten Finanzmarkt hatten den amerikanischen Immobilienmarkt aufgebläht: US-Banken und Hypothekenfinanzierungsinstitute hatten Kredite an Leute vergeben, die ohne Einkommen, ohne Job und ohne Kapital ihre Kredite gar nicht zurückzahlen konnten. Die Banker im Hypothekengeschäft hatten sich dann diese kranken Kredite besorgt, in komplexe Pakete verpackt und dann an ahnungslose Leute verkauft, wie zum Beispiel in Gestalt von sogenannten CDOs, den Collateralized Debts Obligations. Zu den Ahnungslosen zählten auch die deutschen Landesbanken, die nicht wussten, dass ihre Anbieter wie die Deutsche Bank auch gleichzeitig gegen sie gewettet hatten.38 Das ganze Geschäft wurde gepusht durch die hohen Bonitätsnoten der Ratingagenturen, die von den Banken gekauft wurden. Bis dann das groteske Geldkartenhaus zusammenkrachte.

Deswegen nützen für Geißler Appelle an die Moral der Banker nichts, weil im Kapitalismus die Moral gar nicht vorgesehen ist. Erst recht nicht im Kasinokapitalismus:

»Ich habe als Generalsekretär der CDU zwölf Jahre lang die freiheitliche Demokratie gegen den Kommunismus wirklich verteidigt. Das habe ich getan, Ich würde es heute gegenüber jedem anderen System [wieder tun]. Aber ich sage Ihnen genauso: Der Kapitalismus, so wie wir ihn heute erleben, ist genauso falsch wie der Kommunismus. Genauso falsch.«

Aber ist er das wirklich? »Wir haben eine Markwirtschaft mit 30 Prozent Sozialleistungen«, klagt Hüther. Geißler hält dagegen: »Das hat doch damit gar nichts zu tun.« Womit denn dann? Der Kapitalismus ist falsch, »weil wir keine Regeln haben«.

»Wo haben wir denn keine Regeln?«, fragt Hüther, als er die Beherrschung verliert. »Wir haben eine Wettbewerbsaufsicht! Wir haben ein Kreditwesengesetz! Wir haben eine Finanzaufsicht! Wir haben ein Kartellamt! Was wollen Sie denn regeln? Sagen Sie es doch mal ganz konkret! Was wollen Sie regeln!«

Hüther unterlegt sein Stakkato von Wir-Sätzen mit empörter Weinerlichkeit und wedelndem Zeigefinger. Doch sein Gegenüber ist gestählt durch Hunderte von Streitgesprächen und durch diverse Wahlkämpfe. Deshalb lächelt Geißler verschmitzt – so wie immer – und lässt die Aufzählungskaskade seines schwäch-elnden Gesprächsgegners in den Furchen seines zerknitterten Gesichts ungerührt versickern. Ein alter Fuchs eben, der weiß, dass er mit der folgenden Antwort Hüther da hat, wo er ihn haben will: im argumentativen Notstand.

Hüthers Aufzählung kann gar kein Argument sein. Die Erklärung dazu lieferte Geißler bereits 1998 in einem Streitgespräch mit Gregor Gysi in der Reihe Horizonte kontrovers: Wirtschaft und Kapital »haben sich aus dem nationalstaatlichen Ordnungsrahmen emanzipiert«. Stattdessen »vagabundiert« Kapital un-reguliert umher. Deshalb müssen Regeln her. Eine Ordnung und zwar im globalen Maßstab. Diese Ordnung gibt es noch nicht. Deswegen wird trotz Finanzkrise weiter gezockt. Folglich nützen die nationalstaatlichen Institutionen wie das Kartellamt gar nichts. Bundeskartellamt, Kartellgesetzgebung, Fusionskontrolle, alles notwendige Einrichtungen. »Aber auf der Welt« werden die gebraucht. Warum? Das belegt Geißler mit Sätzen, die zum festen Repertoire seiner Kapitalismuskritik gehören: »Ohne jede Kontrolle fließt Kapital als spekulative Blase um den Globus. Wir haben heute einen börsentäglichen Umsatz von zwei Billionen Dollar jeden Tag auf den Börsen dieser Erde. Das reicht gar nicht. Innerhalb von 24 Stunden werden immer noch Hunderte von Milliarden hin und her geschoben. Ein großer Teil davon wird steuerfrei geparkt in den Off-Shore-Centern, in den Steueroasen, Kanalinseln und Schweiz, Liechtenstein, mitten in Europa. Man sollte es gar nicht für möglich halten. Und dann wird das Geld an anderen Tagen in das Global Gambling eingespeist, ohne jede Kontrolle und daraus baut sich eine Finanzindustrie auf von 140 Billionen Dollar, schätzt die Weltbank. Das reale Bruttosozialprodukt auf der Welt, das Weltbruttoinlandsprodukt, beträgt 54 Billionen. Der Rest ist spekulative Blase.« Das kann man nur ändern, »indem man eine Börsenumsatzsteuer einführt, indem die Off-Shore-Center geschlossen werden«.

Doch all das ist bisher nicht passiert. Weder gibt es eine Finanztransaktionssteuer, noch sind die Steueroasen trockengelegt, noch hat die Politik eine internationale Bankenaufsicht bisher einrichten können.

Von Kohls Kampfhund zum Globalisierungskritiker

Trotz seiner Systemkritik hat sich Geißler gar nicht so sehr gewandelt. Er ist nach wie vor fest in der CDU verankert und gibt seiner Partei mit seiner Kapitalismuskritik eine soziale Färbung. Geißler hat allenfalls die Verschmitztheit alter Männer gewonnen, die er in der Kohl-Ära noch nicht besaß. Damals hat er als Generalsekretär die Rolle des unerbittlichen rabulistischen Kampfhundes gespielt und die Erfüllungspolitik der CDU für das große Geld durch seine Wahlkämpfe mit ermöglicht. Nach dem Muster: »Meine Freunde die Millionäre«, wie der Publizist Bernt Engelmann einmal pointiert schrieb39. Gleichzeitig aber arbeitete Geißler als das soziale Gewissen seiner Partei im Verbund mit Norbert Blüm und Ulf Fink als Mitglied der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), eher bekannt als die CDU-Sozialausschüsse. Deshalb muss sich Geißler von seinen Gegnern heute vorwerfen lassen, er habe mitgewirkt, die CDU zu sozialdemokratisieren. So schreibt es beispielsweise der Zeithistoriker Arnulf Baring in seiner Schrift »Scheitert Deutschland?«.40

Im Unterschied zur Kohl-Zeit spielt Geißler heute seine Rolle nur lauter, weil sich im Gegensatz zu ihm die politische Realität der bundesrepublikanischen Gesellschaft viel eher gewandelt hat. Deswegen funktioniert er in Talkshows auch so gut. Es scheint so, als muss er als Kämpfer für die soziale Gerechtigkeit auf niemanden Rücksicht nehmen. Trotzdem wählt Geißler als Alternative nicht den Rückgriff auf den Kommunismus. Stattdessen will er den Kapitalismus humanisieren. Dadurch erweckt er jedoch regelmäßig die fragwürdige Vorstellung, als gebe es eine heile Welt des Kapitalismus.

Immerhin ist Geißlers Standpunkt in der Regel viel durchdachter als der seiner Gesprächsgegner wie zum Beispiel Hüther. Denn er ist im ciceronischen Sinne meistens viel gebildeter als seine Kontrahenten. Dazu trägt er seine Systemkritik vor mit der Dominanz eines selbstgewissen Zeitzeugen der Geschichte der Bundesrepublik nach 1945. Deswegen kann es sich Geißler leisten, den Einsatz rhetorischer Kniffe auf das Notwendigste zu beschränken und auf Wortakrobatik zu verzichten.

Ciceronische Klarheit zeichnet Geißler aus. Zum Beispiel bei der Frage: Warum ist der Einfluss der deregulierten Finanzwirtschaft auf den Einzelnen so verheerend? Seine Antwort: Weil das Kapital nicht mehr dem Menschen dient. Das Vagabundentum des Kapitals im unregulierten globalen Milieu hat das Shareholder-Value-System als absoluten Wert durchgesetzt. Danach wird alles dem Markt zugeführt und zur Ware gemacht. Bei seiner Argumentation liefert Geißler als routinierter Redner hierzu meistens den klassischen Dreischritt nach dem Muster: Was ist los? Was sollte sein? Wo wird das enden?41

Los ist, dass »unser System besagt, das Kapital beherrscht die Menschen und die Menschen haben den Kapitalinteressen zu dienen bis hin zur Vernichtung ihrer ökonomischen Existenz. Das ist der Grundfehler dessen, was sich in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten durchgesetzt hat. Von Amerika ausgehend, aber auch bei uns.«

Was sollte stattdessen gelten? Die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft: »Die Soziale Marktwirtschaft hatte ein ganz anderes Ziel nach 1945. Die Soziale Marktwirtschaft ist ein ethisches Bündnis gewesen. Und Ludwig Erhard hat ein Buch geschrieben mit dem Titel: »Wohlstand für Alle!«. Und die (die Macher der Sozialen Marktwirtschaft) haben das sogar so gemeint. Und nun stellen Sie sich einmal vor, es würde heute einer auf die Idee kommen, Arbeitgeberverband oder sogar die Gewerkschaften oder politische Parteien, und die würden sagen, also wir propagieren jetzt für die Bundestagswahl den Slogan Wohlstand für Alle! Also ich sehe die Leute hier in Berlin herumlaufen, die würden sich vor Lachen auf die Schenkel hauen darüber, wie man so etwas machen kann. Nur die Frage: Was ist denn das Ziel der Politik und der Ökonomie? Wenn es nicht Wohlstand für alle sein darf. Wenn wir uns abfinden mit einem Prekariat von zehn Millionen Menschen.«

Dass sich die Leute auf die Schenkel klopfen würden, zeigt für Geißler, wie sehr sich die Zeiten verändert haben. »Es wird nicht mehr als selbstverständlich angesehen, dass es Wohlstand für alle gibt.« Obgleich die CDU mit dieser Parole so manche Bundestagswahl »glatt gewonnen hat«. Stattdessen findet man sich ab mit einer Vier-Fünftel- oder Zwei-Drittel-Gesellschaft. Der Rest wird als Unterschicht ausgesperrt.

Und wo wird diese Spaltung der Gesellschaft enden? »Wenn wir nicht wieder dahin zurückkommen, dass wir uns ernsthaft bemühen, die Ökonomie, die Arbeitgeber, die Gewerkschaften und Politik, wieder wirklich Wohlstand für alle anzustreben, dann ist die Demokratie in Gefahr.«

Was sagt jedoch Geißler zu dem typischen Gegenargument von Leuten wie Hüther, dass man es sich zu leicht mache, wenn man behaupte, die Funktion des Kapitals sei pervertiert worden. Man müsse vielmehr schauen, wer hinter diesem Kapital stehe, das die Finanzkrise verschuldet habe. Waren das nicht die Landesbanken? Und wer stand hinter den öffentlich-rechtlichen Landesbanken und hat sie angetrieben, am großen Rad der Spekulation zu drehen? War das nicht die Politik? Wer hat als Anleger auch mitgemacht? War das nicht auch die Politik? Deshalb sei die Dämonisierung von Kapital nicht zulässig. Zumal wir alle schließlich Teil von Staat und Politik seien.

Bei solchen Einwänden verweist Geißler zu Recht darauf, dass es nicht darum gehen kann, staatliche Institutionen gegen private auszuspielen. Sowohl Märkte als auch Staaten sind unvollkommen. Es kommt darauf an, die Praxis der neoliberalen Wirtschaftsphilosophie zu ächten:

»Die Süddeutsche Zeitung hat früher einmal getitelt: Unglücksbotschaften am Arbeitsmarkt sind Siegesbotschaften an der Wall Street«. Das ist genau die Situation. Das heißt ein Wirtschaftssystem, das sich selbst so definiert, dass der Börsenwert eines Unternehmens umso mehr ansteigt, je mehr Leute wegrationalisiert werden, ein solches System ist krank. Es ist unsittlich und es ist vor allem nicht konsensfähig. Das ist die Situation.«

Wie kann man unter diesen Umständen die fehlende Haftung bei Bankern noch vermitteln? Oder die Bonuszahlungen für Finanzakrobaten, finanziert durch Steuergelder?

Für Geißler gar nicht; und bei solchen Gelegenheiten weiß er, geschickt zu emotionalisieren, indem er die Ohnmachtsgefühle der Zuschauer anspricht und ihre Verlust- und Zukunftsängste. Es ist der Staat, der seine Bürger im Stich lässt. Er lässt die millionenschweren Finanzkonzerne schalten und walten und ihre leitenden Angestellten selbst bei schlechter Leistung mit Boni ausstatten:

»Der Staat kann das nicht ändern, streitet aber mit Hartz IV-Empfängern um zwei Euro oder drei Euro, und in den Schulzimmern bei uns kriecht der Schimmel die Wände hoch, und wir haben nicht genügend Kindergartenplätze. Das kapieren die Leute nicht mehr! Das heißt, das System, in dem wir heute leben, ist nicht mehr in Ordnung im Sinne von Aristoteles, ist nicht mehr in Ordnung. Und wir müssen es wieder in Ordnung bringen. Das ist die Aufgabe, die wir haben. Nicht den Markt abschaffen! Ich bin ein absoluter Anhänger des Marktes! Aber wir brauchen den geordneten Wettbewerb. Das war das Kriterium der Sozialen Marktwirtschaft, der geordnete Wettbewerb und nicht der ungeordnete.«

Die fehlende Regulierung der Finanzmärkte und die kurzfristigen Unternehmensstrategien ausgerichtet auf den augenblicklichen Börsenerfolg haben nach Geißler den Rheinischen Kapitalismus der Bonner Republik, die Soziale Marktwirtschaft, zerschlagen. Doch genau diese Soziale Marktwirtschaft ist Geißlers Meistererzählung, nach der sich die Regulierung der Finanzwirtschaft ausrichten soll. Nicht nur weil sie für Geißler die bisher erfolgreichste Wirtschafts- und Sozialphilosophie der gesamten Wirtschaftsgeschichte ist. Sondern vor allem weil die Soziale Marktwirtschaft auf einem ethischen Fundament beruhte. Dies erklärt er in der Sendung sonntags anlässlich des Katholikentages 2008:42

Die Soziale Marktwirtschaft »war eigentlich ein geistiges Bündnis zwischen dem Ordo-Liberalismus der Freiburger Schule, Walter Eucken, Wilhelm Röpke und anderen, und der katholischen Soziallehre. Aber das System der Sozialen Marktwirtschaft kannte eben ein Prinzip, nämlich den geordneten Wettbewerb, und kannte keine Ausgrenzung, also sie trat nicht ein für Zwei-Drittel-Gesellschaften oder Vier-Fünftel-Gesellschaften, sondern wollte alle mitnehmen. Diese Soziale Marktwirtschaft gibt es heute nicht mehr. Das ist die Folge der Globalisierung. Weil die Ökonomie global aufgestellt ist, und die Politik ist nach wie vor national organisiert. Dabei ist klar, wer am längeren Hebel sitzt.«

An dem Verfall der Sozialen Marktwirtschaft haben sich für Geißler auch die Kirchen mitschuldig gemacht. Zwar sind die Kirchen im diakonischen und karitativen Bereich unverzichtbar. »Wenn es die Caritas nicht gäbe oder die evangelische Diakonie, dann würde, man könnte sagen, unser Sozialstaat zusammenbrechen. Er wäre nicht praktikabel.«

Doch Geißler schränkt selbst ein: »Aber die Kirche fällt heute aus – im Gegensatz zum Beispiel vor 60 Jahren – wenn es darum geht, einen wichtigen geistigen Beitrag zu leisten für eine Veränderung unserer Wirtschaftswelt. Darunter leiden wir. Die Probleme, die wir heute haben, sind Produkte, sind Ergebnisse eines falschen Wirtschaftssystems, nämlich eines puren Kapitalismus. Die Kirche müsste eigentlich vom evangelischen Auftrag her klar sagen, dass der Mensch wichtiger ist als die Kapitalinteressen und dass der Kapitalismus dem Evangelium diametral widerspricht. Und das tut sie nicht.«

Warum aber tut sie das nicht? Doch nicht etwa, weil sie theoretisch überfordert ist oder weil die Ökonomie am längeren Hebel sitzt? Nicht für Geißler. Sie tut das nicht, weil sie genauso jener Lehre anheimgefallen ist, die die Deregulierung der Wirtschaft, das Ideal der freien Unternehmerinitiative und den Sozialstaatsabbau vorbetet: der neoliberalen Lehre, der Meistererzählung des entfesselten Finanzmarktes. Vor allem die katholische Kirche leistet keinen geistigen Beitrag. Das beweist für Geißler der Hirtenbrief der katholischen Bischofskonferenz vom Dezember 2003. Mit ihrem Impulspapier »Das Soziale neu denken« hat sich die katholische Kirche an die neoliberale Umgestaltung des Sozialstaates in den letzten Jahren angepasst.43

Was Geißler an dieser Stelle versäumt, sind Details zu dem besagten Positionspapier zu nennen. Darin fordert die Bischofskonferenz zum Beispiel dazu auf, man müsse sich bei der Rentenversicherung von der Lebensstandardsicherung verabschieden.44 Stattdessen müsse es eher darum gehen, sich einer Grundsicherung für alle zuzuwenden und die solidarische Alterssicherung im Umlageverfahren abzuschaffen. Die üppigen Sozialleistungen hätten in der Bevölkerung angeblich gemein-schaftsgefährdende Vollversorgungsansprüche geweckt. Die Bischofskonferenz ist folglich ganz auf Linie des neoliberalen Sozialabbaus und predigt den Leuten, ihren Lebensstandard abzuspecken, analysiert der Gesellschaftsethiker Friedhelm Hengstbach.45

In den folgenden Jahren hat die katholische Kirche diese neoliberale Linie fortgesetzt. Deswegen verfasste die Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz 2011 den Impulstext »Chancengerechte Gesellschaft«. In diesem Papier fordert die Kommission, jeder müsse die Chance erhalten, die Freiheitsmöglichkeiten in der bundesrepublikanischen Gesellschaft für den persönlichen Aufstieg auch nutzen zu können.46 Dieser Text leugnet jedoch zum größten Teil, dass in der deutschen Gesellschaft »Freiheiten bedroht und umkämpft sind«, kritisieren Sozialethiker wie Bernhard Emunds. Es gibt angeblich auch keine Ausgrenzungsund Spaltungsprozesse und wenn, dann werden sie wie die Zunahme der prekären Beschäftigung nicht »darauf zurückgeführt, dass es an Chancen mangele, sondern hauptsächlich darauf, dass vorhandene Chancen zum Aufstieg von den Betroffenen nicht wahrgenommen werden«.47 Wer es also nicht schafft, ist selber schuld.

Bleibt noch die evangelische Kirche: Auch die hat mit ihrer Unternehmerdenkschrift des Rates der EKD von 2008 mit der neoliberalen Wirtschaftsideologie geflirtet, indem sie den Unternehmer als unentbehrliche soziale Figur feiert. Der Unternehmer sei der zukunftsoffene und dynamische Gegenpol »eines strukturkonservativen Bewahrens« des Unselbstständigen. Deshalb erfahre er auch eine herausgehobene christliche Würdigung.48 Die Schrift zeigt jedoch nur »ein idealisierendes Bild unternehmerischen Handelns« und des »gottgefälligen Unternehmers«, kritisiert der Journalist Thomas Wagner.49 Die Unternehmerdenkschrift verschweigt »die kapitalistischen Zwänge« und diskutiert nicht, dass unternehmerisches Handeln auch soziale Verpflichtungen hat. Der sozialethische Imperativ Vorrang der Arbeit vor dem Kapital findet aus diesem Grund keinen Platz. Obgleich die Realität des deregulierten Kapitalismus gezeigt hat, dass der individuelle Wettlauf um höchstmögliche Rendite »blind ist für die sozialen, ökologischen und volkswirtschaftlichen Folgen«. Ein paar »Fairnessempfehlungen« an die Unternehmer das reicht aus der Sicht Wagners jedoch nicht, um den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital zu lösen. Folglich scheint für die Denkschrift die Ausdehnung des Niedriglohnsektors nur eine »schicksalhafte Folge der Globalisierung« zu sein.

Auch auf Grund solcher Töne sieht Geißler die Kirche in der Pflicht, dem Grundsatzartikel 14, »Eigentum verpflichtet!«, mehr Geltung zu verschaffen. Sein Gebrauch soll zum Wohl der Allgemeinheit dienen. Nur wie kann man das, wenn der Unterschied zwischen Arm und Reich immer massiver wird und die Mittelschicht wegbröckelt?

»Ich könnte mir schon vorstellen, dass auf einem Katholikentag die Katholiken mal die Forderung erheben, warum sollen eigentlich diejenigen, die an der Börse jeden Tag eine Billion Umsatz machen, dafür nicht auch mal eine Steuer bezahlen.“

Nicht Geißler hat sich verändert, sondern die Bundesrepublik

Schon wieder also die Finanztransaktionssteuer. Der Ruf nach dieser Steuer ist ein wichtiger Bestandteil des kapitalismuskritischen Mantras, mit dem Geißler seit ein paar Jahren durch die Talkshow-Landschaft zieht. Genauso sein Hinweis, die regellose und ungeordnete globale Wirtschaft sei nicht mehr konsensfähig, das ethische Bündnis der Sozialen Marktwirtschaft sei zerbrochen, das Kapital diene nicht mehr dem Menschen und das Gebot kurzfristiger Börsengewinne gehe zu Lasten langfristiger Investitionen.

Von der bundesrepublikanischen Ordnung ist also tatsächlich nicht mehr viel übrig geblieben: seitdem der Kapitalismus nicht mehr mit dem Sozialismus konkurrieren muss, seitdem der Kapitalverkehr frei fließen darf, und seitdem die Ökonomie nicht mehr durch ein nationalstaatliches Ordnungsgefüge diszipliniert wird. Verknüpft mit der Revolution in der Kommunikationstechnologie, ist das Geld in einer globalisierten Hightech-Welt nicht mehr an einen Ort gefesselt. Dazu ist es auch nicht mehr an die traditionellen Quellen der Wertschöpfung gebunden wie Güter und Dienstleistungen. Das Geld ist vielmehr selbst zum Produkt geworden, das mit Geld gekauft wird.

Dadurch ist eine globale Jagd nach den bestmöglichen Renditen in Lichtgeschwindigkeit entstanden, die 24 Stunden am Tag andauert und längst über den Zinsstand entscheidet auf dem deutschen Kapitalmarkt und anderswo. So hat der Verzicht auf Grenzkontrollen im Kapitalverkehr die Souveränität der Nationalstaaten eingeschränkt, Staaten ihrer Steuerhoheit beraubt und Regierungen erpressbar gemacht, wie die Journalisten Harald Schumann und Hans-Peter Martin in »Die Globalisierungsfalle« darlegen.50 Die Staaten lassen sich deshalb ein auf einen Unter-bietungswettbewerb um die günstigsten Standortbedingungen – auch die deutsche Regierung. Auf Druck der organisierten Finanzindustrie ließen sich die Regierungen dazu erpressen, die Steuern auf Vermögen und Kapitalanlagen zu senken, alle Finanzdienstleistungen zu deregulieren, die staatlichen Dienstleistungen wie Telefon, Strom- und Wasserversorgung, Luftfahrt und Eisenbahn zu privatisieren und bei sozialen Leistungen die Ausgaben zu kürzen.

Unterdessen hat Deutschland leichter den Zugang zu dem internationalen Finanzsystem gefunden und sich dadurch weit höher verschulden können. »Auch die deutsche Einheit wäre ohne das Geld ausländischer Käufer von Bundesanleihen nicht finanzierbar gewesen.« So erklären es Schuman und Martin.51 Gleichzeitig aber haben auch die Ratingagenturen wie Moody's Investors Service mehr Einfluss gewonnen.

Die Verschuldung war notwendig, damit der Staat weiter leistungsfähig bleibt. Zum einen weil die Massenarbeitslosigkeit die Sozialkassen immer mehr belastet und immer weniger Steuerzahler zur Verfügung stehen. Zum anderen weil nicht nur ausländische Marktkräfte Druck auf die Regierung ausüben. Auch inländische Vermögensbesitzer folgen der Logik des unregulierten Marktes. Deshalb tragen die großen Konzerne mit ihren Steuern immer weniger zum Gemeinwohl bei. Mit kreativer Buchführung, gedeckt durch die Gesetze, praktizieren sie eine Steuervermeidung, die die Kommunen ausbluten lässt. Folglich wird der Anteil der Steuern auf Gewinn- und Vermögenseinkommen immer geringer und der Anteil der Steuern auf Löhne und Gehälter immer höher.52

Warum das alles? Wegen »des Tanzes um das goldene Kalb«, erklärt Geißler selbst in dem besagten Horizonte-Streitgespräch mit Gysi.53 Dieses Kalb besteht für Geißler darin, das Kapital als solches zu verabsolutieren. Kapital wird dadurch zur Idee des Guten. Habe ich als Unternehmer Kapital angesammelt, habe ich alles richtig gemacht. Deshalb gilt: alles für den Shareholder Value als das leitende Prinzip der Konzerne, Aktiengesellschaften, Banken und Investmentfonds. Das heißt, sie wollen die Rendite für ihre Shareholder, also für ihre Anteilseigner, erhöhen um jeden Preis. Dagegen bleiben Werte wie Demokratie, Ethik und ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit auf der Strecke. In dieser Logik wird alles, was zur Ware und zu Kapital gemacht werden kann, dem Markt zugeführt. Und dieser Vorgang erfasst immer mehr Lebensbereiche. Durch diese Ökonomisierung aller Lebensbereiche wird der Mensch zum Kostenfaktor.

Der Mensch als Kostenfaktor? Noch ein Kernbegriff im kapitalismuskritischen Vokabular Geißlers.

Wenn aber die Menschen zunehmend zu Kostenfaktoren reduziert werden, dann ist für Geißler in Deutschland »die Achtung der Menschenwürde gefährdet«. Doch gerade diese Achtung gehört zum ethischen Fundament der Sozialen Marktwirtschaft. Deshalb fordert Geißler im nachtstudio bei Volker Panzer eine zweite Aufklärung, einen neuen Gesellschaftsvertrag, der allgemeinverbindlich sicherstellt, dass »die Menschenwürde zu schützen ist«.54

Geißlers Aufklärungsaufruf ist nicht neu. Schon der Medienwissenschaftler Neil Postman hatte zur Jahrtausendwende eine zweite Aufklärung gefordert, und Geißler sollte seinen Appell um Postmans Beweggründe ergänzen. Postman hält die zweite Aufklärung für notwendig, weil er eine selbstzweckhafte Fortschrittsgläubigkeit beobachtet, die religiöse Züge angenommen hat. Genährt wird sie von dem Hype um die postmoderne Informationsgesellschaft. Dieser Hype geht jedoch einher mit einer allgegenwärtigen Verunsicherung der Menschen: Keine Meistererzählung ist zur Hand, an der sich die Menschen orientieren können. Die Postmodernisten haben alle Gesetzmäßigkeiten der Realität dekonstruiert. Alles ist relativ und Wissen ist kaum noch überprüfbar. Deshalb kann man die Realität gar nicht durch transzendentale Erzählungen wiedergeben. Folglich fällt der Blick nach vorne umso sturer aus. Allerdings hält es Postman besonders aus diesem Grund für außerordentlich wichtig, eine Einkehr zu finden. »Um das zu tun, müssen wir zurückblicken und eine Bestandsaufnahme der uns verfügbaren guten Ideen machen.« Dafür ist der Blick nach hinten unvermeidlich, um die humanen Ideen zu suchen, mit denen man eine Zukunft gestalten kann: »Leute, die fordern, dass wir nach vorne blicken sollen, sind mir verdächtig. Ich weiß buchstäblich nicht, was sie damit meinen, wenn sie sagen: Wir müssen nach vorne schauen, damit wir sehen, wohin wir gehen. Worauf sollen wir denn blicken?«55

Was dann auf dem Teller der Bestandsaufnahme landet, ist vielleicht eine Meistererzählung wie die Soziale Marktwirtschaft, die man dem System der allumfassenden Ökonomisierung entgegenhalten kann.

Von der Ökonomisierung aller Lebensbereiche spricht Geißler nicht erst seit der Finanzkrise 2008. Seine Dauerpräsenz begann bereits vor dem Platzen der Immobilienblase. Das belegt, dass die Finanzkrise kein unvorhergesehenes Verhängnis gewesen ist. So wie es Geißler in der Diskussion mit Hüther betont:

»Das, was heute passiert, auch in der Finanzindustrie, hätte man schon längst beseitigen können. Das hat man gewusst, das mit den Börsen. Das hat man alles genau gewusst, dass diese Blase einmal platzen muss. Das war zu manifest. Aber niemand hat es beseitigt, Ihr Institut nicht (Hüthers Institut), die Politik nicht, genauso, die ist hinterher gelaufen. Ich habe das seit über vierzehn Jahren gesagt.«56

Das hat Geißler tatsächlich. Zusammen mit vielen anderen wie dem Soziologen Jean Ziegler57, dem Universalgelehrten Noam Chomsky58, der Soziologin Maria Mies59 oder dem Journalisten Klaus Werner-Lobo60. Aus diesem Grund deutet Geißler zu Recht an, wie sehr der Ausbruch der Krise das Scheitern vieler Wirtschaftsexperten und Politiker belegt. Nach Geißlers Logik war die Masse der Wirtschaftsexperten und Politiker entweder zu unempfindlich, oder sie haben sich zum Komplizen der neoliberalen Macht- und Geldelite gemacht. Sowohl die eine Möglichkeit als auch die andere würde ein vernichtendes Urteil darstellen.

Allerdings zeigt Geißlers Dauerpräsenz auch, wie folgenlos sein immer gleiches kapitalismuskritisches Mantra geblieben ist. Und darum wie überflüssig. Zwar ist Geißlers professionelle Sicherheit im Wortvortrag ein intellektuelles Arbeitsergebnis im ciceronischen Sinne und der Nachweis eines fertigen Weltbildes. Hunderte Male durchgesprochen und in unzähligen Redeschlachten durchgefochten. Dadurch haben sich seine Formulierungen zu Schlagsätzen eingeschliffen. Trotzdem ist nichts passiert. Schon gar nicht in seiner CDU. Deshalb stellt sich die Frage, warum Geißler nicht einmal aus der Rolle fällt und bei einem seiner Auftritte öffentlich erklärt, wie nutzlos jeder von ihm gesprochene Beitrag geblieben ist. Nutzlos, weil er nur Teil einer Fernsehinszenierung ist. Nutzlos, weil das Machtzentrum, dem er angehört, die CDU, etwas ganze Anderes will. Doch seine Eitelkeit hält ihn möglicherweise davon ab. Oder das Wissen, dass er seine Privilegien als Gesicht des Fernsehens dann verlieren würde.

Es ist bezeichnend, dass bei Geißler manches wegen diverser Wiederholung zur Phrase verkommt: Zum Beispiel wenn sich Geißler nicht darauf festlegen lassen will, ein Linker zu sein. »Links und rechts«, sagt er zum Beispiel bei Anne Will, »das sind Begriffe, die stammen aus dem vorletzten Jahrhundert. Für Rechtsradikale ist ja einer schon links, wenn er eine berufstätige Frau hat. Für Linksradikale ist jemand rechtsradikal, wenn er morgens pünktlich zur Arbeit kommt. Das sind ja alles Begriffe, die sind total überholt. Es kommt darauf an, ob etwas richtig ist.«61

Hartz IV – ein beispielloser Flop der Sozialpolitik

Wie abgedroschen seine Systemkritik zuweilen klingt oder seine Sprüche vom Bruch des ethischen Bündnisses und der Ökonomisierung der Gesellschaft, beweist auch Geißlers regelmäßige Teilnahme an der Hartz-IV-Debatte. Für Geißler liegt Hartz IV derselben Ideologie zugrunde, die die Menschen zu Kostenfaktoren reduziert und ihre Menschenwürde verletzt. Wie zum Beispiel im Gesundheitswesen, wo »der Patient zum Kunden wird. Als ob das Gesundheitswesen ein Kartoffelmarkt wäre. Der Arzt wird zum Fallpauschalenjongleur, der die richtige Fallpauschale finden muss, die der Geschäftsführerin des Krankenhauses passt. Das Krankenhaus wird zu einem an der Gewinnmaximierung orientierten Unternehmen.« Bei Hartz IV gelten die gleichen Verfahren:

»Der Mensch gilt umso mehr, je weniger er kostet, und er gilt umso weniger, je mehr er kostet«, klagt Geißler bei Menschen bei Maischberger an.62 Und seine Begründung dafür liefert er regelmäßig mit der gleichen Formel wie zum Beispiel bei Anne Will:63 »Hartz IV ist die staatliche in Paragraphen gefasste Missachtung der Lebensleistung dieser Menschen.“

Bei aller Anschaulichkeit seiner Schlagsätze, einmal misslingt Geißler die Wahl eines Bildes, als er die fehlende Verhältnismäßigkeit in der Hartz-IV-Debatte aufdecken will. Bei Menschen bei Maischberger