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Ein Jahr – rund eine halbe Million Minuten – das ist die Zeit, die Jakob Cornels, noch bleibt. Der Mann mit dem Tod im Kalender, fünfzig Jahre alt, Kapitän eines großen Überseefrachters, möchte diese Minuten so intensiv erleben, dass ein zweites Leben daraus wird. Er gibt seinen Beruf auf, geht von Bord. Niemand erfährt, was ihn umtreibt. Es ist die schiere Gier nach Leben und er wählt für das Jahr seines Sterbens einen der vitalsten Plätze der Erde: Mexiko: In den paradiesischen Tropen, will er im Luxushotel Acapulco Royal die 'Süße des Südens', wie er die tropische Vielfalt nennt, genießen. Doch plötzlich die drastische Korrektur, der beinahe faustische Zugriff auf dieses auf Genuss abgestimmte Finale. Die Erkenntnis: So kann ich nicht abtreten. Der Todgeweihte entscheidet sich für die Tat. Er übernimmt noch einmal ein Schiff. Für eine letzte Reise. Und sie wird zum kühnsten und größten Abenteuer dieses Mannes, dessen Leben an Abenteuern reich war. Voll Spannung und Dramatik schildert Hinrich Matthiesen, der lange Zeit in Südamerika gelebt hat, das Schicksal eines Mannes im Wettlauf mit der Zeit. Südamerika und die Karibik bilden den faszinierenden, schillernden Hintergrund zu diesem bewegenden Roman um Leben, Liebe und Tod. Ein großer Roman der den Gehalt von Literatur und zugleich die Spannung des Thrillers hat.
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Seitenzahl: 733
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Hinrich Matthiesen
Jahrgang 1928, auf Sylt geboren, wuchs in Lübeck auf. Die Wehrmacht holte ihn von der Schulbank. Zurück aus der Kriegsgefangenschaft, studierte er und wurde Lehrer, viele Jahre davon an deutschen Auslandsschulen in Chile und Mexico. Hier entdeckte er das Schreiben für sich.
1969 erschien sein erster Roman:MINOU. Dreißig Romane und einige Erzählungen folgten. Die Kritik bescheinigte seinem Werk die glückliche Mischung aus Engagement, Glaubwürdigkeit, Spannung und virtuosem Umgang mit der Sprache. Die Leser belohnten ihn mit hohen Auflagen.
Immer stehen im Mittelpunkt seiner Romane menschliche Schicksale, Menschen in außergewöhnlichen Situationen. Hinrich Matthiesen starb im Juli 2009 auf Sylt, wo er sich Mitte der 1970er Jahre als freier Schriftsteller niedergelassen hatte.
»Zum literarischen Markenzeichen wurde der Name Matthiesen nicht zuletzt durch die Kunst, in eine pralle Handlung Aussagen zu verweben, die außer dem aktuellen stets auch einen davon unabhängigen Bezug haben. Gedankliche Strenge, sprachliche Disziplin und ein offensichtlich unauslotbarer verbaler Fundus lassen Matthiesen zu einem Kompositeur in Prosa werden.«
Deutsche Tagespost
»Matthiesen ist zu beneiden um seine Fähigkeiten: Kompositionstalent, menschliche Einfühlung, scharfe Beobachtungsgabe – und vor allem um seinen Stil«
Deutsche Welle
»Matthiesen ist für seine genauen Recherchen bekannt. Seine Bücher weichen nicht einfach in exotische Abenteuer aus, sondern befassen sich immer wieder mit deutscher Vergangenheit und Gegenwart. Unterhaltsam sind sie allemal. «
FAZ-Magazin
Werkausgabe Romane Band 5
Herausgegeben von Svendine von Loessl
Der Roman
Ein Jahr – rund eine halbe Million Minuten – das ist die Zeit, die Jakob Cornels, noch bleibt. Der Mann mit dem Tod im Kalender, fünfzig Jahre alt, Kapitän eines großen Überseefrachters, möchte diese Minuten so intensiv erleben, dass ein zweites Leben daraus wird. Er gibt seinen Beruf auf, geht von Bord. Niemand erfährt, was ihn umtreibt.
Es ist die schiere Gier nach Leben und er wählt für das Jahr seines Sterbens einen der vitalsten Plätze der Erde: Mexiko: In den paradiesischen Tropen, will er im Luxushotel Acapulco Royal die »Süße des Südens«, wie er die tropische Vielfalt nennt, genießen.
Doch plötzlich die drastische Korrektur, der beinahe faustische Zugriff auf dieses auf Genuss abgestimmte Finale. Die Erkenntnis: So kann ich nicht abtreten. Der Todgeweihte entscheidet sich für die Tat. Er übernimmt noch einmal ein Schiff. Für eine letzte Reise. Und sie wird zum kühnsten und größten Abenteuer dieses Mannes, dessen Leben an Abenteuern reich war.
Voll Spannung und Dramatik schildert Hinrich Matthiesen, der lange Zeit in Südamerika gelebt hat, das Schicksal eines Mannes im Wettlauf mit der Zeit.
Südamerika und die Karibik bilden den faszinierenden, schillernden Hintergrund zu diesem bewegenden Roman um Leben, Liebe und Tod.
Ein großer Roman der den Gehalt von Literatur und zugleich die Spannung des Thrillers hat.
Titelverzeichnis der Werkausgabe in 31 Bänden am Ende des Buches
Hinrich Matthiesen
Acapulco Royal
Roman
:::
Bs
Werkausgabe Romane
Herausgegeben von Svendine von Loessl
Band 5
Inhalt
I. Hamburg/Santos
II. Valparaíso
III. Acapulco
IV. New Orleans/Veracruz
V. Hamburg
Jacob Cornels stand in einer Ecke der Fahrstuhlkabine. Er drückte die Stirn in den Winkel. Aus Kindertagen kannte er diese Position. Bis zu seinem zehnten Lebensjahr hatte er sie ein gutes Dutzend Mal einnehmen müssen. Immer dann, wenn sein strenger Vater es verlangte. Der barsche Zuruf ›Jacob, schäm dich!‹ hatte nicht nur den inneren Vollzug bedeutet, sondern unbeugsam auch den äußeren gefordert, und die Ausweglosigkeit einer Zimmerecke war für den herrischen Mann der rechte Ort der Läuterung gewesen. Jacob Cornels fiel das wieder ein, als er so dastand, leicht vorgebeugt, Hände und Stirn auf das Holz gestützt, und plötzlich empfand er, was er auch schon als Kind in solchen Ecken empfunden hatte: den Trotz. Verrückt, dachte er, es ist verrückt! Da bin ich nun ein halbes Jahrhundert über diese Welt gegangen mit Schritten, die immer fest blieben. Mit Beinen, die niemals nachgaben. Nicht einmal der Rum und der Wodka und der Mescal haben mich jemals kleingekriegt, auch nicht Menschen, mit denen ich mich messen musste, und ebenso wenig vor zwölf Jahren die böse Nachricht, dass unsere alte Mom gestorben war - und nun will alles auf einmal einknicken, die Beine, der Hals, der Leib, der ganze Mann, als hätte ein Bulldozer mich angerempelt.
Er richtete sich wieder auf, nahm die Hände von den Wänden. Ihm fiel ein, dass er noch nicht einmal den Knopf gedrückt hatte. Er trat ans Schaltbrett, setzte die Kabine in Bewegung, und während sie die acht Stockwerke hinabglitt, machte er mit vorgestreckten Armen ein paar Kniebeugen. Er war allein und hatte Platz, und sein Trotz brauchte das. Draußen dann, auf dem Bürgersteig, blieb er nicht stehen, ruhte nicht aus nach der Anstrengung, sondern ging gleich weiter mit forschen Schritten. Nach hundert Metern Mönckebergstraße hatte er seinen normalen Atem wieder. Natürlich ist die Sache mit dieser gymnastischen Einlage nicht beigelegt, dachte er. Man stößt sich nicht einfach ab aus der Ecke, in der man klein und schwach und elend wurde, und ist dann wieder der alte. Nach so etwas nicht. Man spuckt es auch nicht einfach in den nächsten Rinnstein. Ich glaube, man nimmt erst mal einen guten Schluck!
In der Spitalerstraße ging er in ein Lokal. Er schwitzte und wollte etwas Kaltes, bestellte Gin mit Eis und Zitrone. Nach dem ersten Glas fühlte er sich etwas besser. Er bestellte ein zweites und zündete sich eine Zigarette an.
Vielleicht irrt sich Dr. Walliser. Ich glaube, er irrt sich. Er hat die Nullen vergessen. Zehn bis zwanzig, wollte er sagen, zehn bis zwanzig Jahre. Natürlich ist das auch nicht genug, wenn man erst fünfzig ist. Es ist wohl kaum jemals genug, aber zehn, zwanzig, das klingt besser als ein bis zwei.
Er senkte den Kopf, sah zwischen den Revers auf sein beigefarbenes Seidenhemd, knöpfte die Jacke auf, schob die Daumen hinter den Gürtel, zog ein paarmal Gürtel und Hosenbund nach vorn, um für Momente den Leib aus der Einschnürung zu befreien. Dann drückte er sich die Daumenkuppen in die Bauchdecke.
Idiot, sagte er. Er sagte es nicht laut. Er dachte es, und in seinen Gedanken formte er die Worte aus, gab ihnen Tonfall und Nuancen. Idiot! Er redete mit seinem Magen. Ein Jahr gibt er dir noch, ein lächerliches Jahr, der Walliser. Uns. Eins nur, denn das zweite hängte er dran, als er merkte, dass es mich beinahe umwarf. Eins also. Und natürlich hat er die Nullen nicht vergessen. Es gibt sie nicht. Warum lässt du mich im Stich? Warum tust du mir das an? Seit zwanzig Jahren stellst du mir, wo du nur kannst, ein Bein, und schon so manchen Abend hast du mir kaputtgemacht. Denk nur mal an dieses zum Sterben schöne Geschöpf aus Alicante, diese Catalina, die mich acht Tage an der langen Leine hatte, ehe sie sich selbst darin verfing! Und als es dann endlich so weit war, als ich in mühevoller Kleinarbeit ihre katholischen Bedenken ausgeräumt hatte und sie an Bord kam, da wolltest du plötzlich heiße Kompressen, wolltest Natron statt Artischockenbutter. Und Kamillentee statt des Champagners. Oder denk an das Bootsmanöver vor Kristiansand, als uns beinah der Moses draufging! Die Männer hatten das Boot ordnungsgemäß Hand über Hand weggefiert, da reißt einer der Taljenläufer, und dem Moses fliegt der Block um die Ohren. Schwere Gehirnerschütterung, Kristiansand anlaufen, Moses abliefern. Klar, das alles warf uns nicht um, durfte uns nicht umwerfen. Dass der Junge uns leidtat, ist selbstverständlich. Dass er etwas nachbehielt von diesem Malheur, ist schlimm, aber solche Vorfälle bringen dich nicht aus dem Lot und verleiden mir nicht meinen Job. Was dann den Ärger brachte, war die Versicherung. Diese Füchse! Warum gerade dann und dort ein Bootsmanöver? Lächerlich diese Frage! Warum wir das Hebezeug nicht regelmäßig überprüft hätten? Haben wir natürlich. Wie käme ich dazu, das zu unterlassen! Dass wir partout die Schuld haben sollten, wo wir sie nicht hatten, das setzte dir zu, und da ließest du mich wochenlang hängen, ließest mich im Stich. Du hast schon Sachen gemacht! Ich weiß, was du jetzt sagen willst. Tabak und Rum und so weiter. Paprika und Curry und Chilischoten und so weiter. Ich weiß, sei still!
Cornels zahlte seine Drinks, verließ das Lokal, nahm ein Taxi. Während der Fahrt sprach er noch einmal mit seinem Magen, kurz nur, versöhnlicher. Okay, machen wir's noch dieses Jahr, und ich hoffe, du bist fair. Du hast deine große Show am Schluss, und dafür hältst du dich zwölf Monate lang in Grenzen, okay?
Eine Weile ging es durch Gegenden, die er nicht kannte. Als sich das Taxi dem Hafen näherte, erlebte er eine ähnliche Schwäche, wie sie ihn im Lift überfallen hatte, das kleine Stück vom Millerntorplatz bis zum Hafen löste sie aus. In seinem Leben hatte er oft die große Kreuzung überquert, im Auto, im Bus, zu Fuß, dann den Weg durch die Cuxhavener und die Helgoländer Allee fortgesetzt, über die Seewartenstraße hinweg und weiter bis hinunter zu den Landungsbrücken. Plötzlich beunruhigten ihn die vertrauten Dinge, die er entweder vom Auto aus sah oder von deren Nähe er wusste. Die Lichterflut der Reeperbahn, das Bismarck-Denkmal, das Tropeninstitut, die Seefahrtschule, sie erschreckten ihn, waren anders geworden, seit er das letzte Mal an ihnen vorbeigegangen war. Sie kamen ihm bedroht vor, schienen die Selbstverständlichkeit ihres Dauerns eingebüßt zu haben, doch dann sah er die Menschen ringsum, Gruppen, die fröhlich durch die Straßen zogen, lärmend, lachend, und sie korrigierten seinen Irrtum. Die Dinge würden alle weiterhin bestehen, waren nicht bedroht, denn immer würden Menschen da sein, die sie benutzten, pflegten, erneuerten. Und er begriff, dass er es war, den die Bedrohung betraf, er allein, denn nur für ihn würde es dies alles nun bald nicht mehr geben: die Schule auf dem Berg, in der er sich als junger Mann mit sphärischer Trigonometrie befasst hatte, mit dem nautischen Dreieck, mit Hunderten mathematischer Aufgaben aus der Seefahrtkunde; bald würde er nichts davon mehr brauchen. Das Tropeninstitut; in seinen Räumen hatten Ärzte und Schwestern ihm von Zeit zu Zeit die Tauglichkeit für die Reisen in heiße Länder bescheinigt und ihn gegen Cholera, Pocken und Gelbfieber geimpft. Nun war er wieder von einem Arzt gekommen, diesmal jedoch ohne das kleine Papier in der Tasche, das ihm auf Deutsch, englisch und französisch Tauglichkeit für alle Zonen dieser Erde bestätigte. Nun taugte er für nichts mehr. Die Reeperbahn, die sündigste Meile der Welt, auf der Nacht für Nacht die Unversehrtheit der Leiber Trumpf war; die lockenden Lichter machten ihn traurig. Es war, als verhöhnten sie ihn, der diesen Trumpf nicht mehr hatte. Und selbst der steinerne Bismarck bekam für ihn eine erschreckende Bedeutung: auch er ein vergangener Mann.
Der allerorts veränderte Bezug war es, der ihm zu schaffen machte, seine neue Rolle, die Rolle dessen, der zu gehen hatte und nun in jedem Ding das Weiterbestehende sah, das ihn Überdauernde. Und natürlich meldete sich der Egoist Jacob Cornels, der Mensch, dem diese große, schöne Erde streitig gemacht wurde, und in die Trauer mischte sich Neid. Wenn er wüsste, in einem Jahr oder morgen würde ein mächtiger interstellarer Sturm diese geliebte Kugel zu kosmischem Staub zermahlen, er wäre nicht halb so traurig, denn dann würden ohnehin alle Lichter ausgehen, das nautische Dreieck würde seinen Sinn verlieren, was sollte das Kugeldreieck ohne die Kugel? Es gäbe keine Ozeane mehr, keine Schiffe, keine Kapitäne. Cosinus alpha gleich minus cosinus beta mal sinus gamma und so weiter, was sollte das noch? Genauso gut könnte man ›Wurm‹ sagen oder ›Speichelstein‹ oder ›Frühlingswiese‹. Was heißt überhaupt ›sagen‹? Niemand sagte dann mehr etwas, denn nicht nur alle Lichter, auch alle Gedanken und alle Worte wären ausgelöscht. Nie mehr würde Schwester Margret vom Tropeninstitut bei ihm die Nadel ansetzen, sanft, wie sie es immer tat. Aber sie würde das bei keinem mehr tun, das Nie mehr wäre allgemein, denn gleichzeitig würde es das ganze Labor nicht mehr geben, das Haus nicht, die Stadt nicht, die ganze Welt nicht, und der Pförtner des Instituts würde in kleinen Partikeln durchs All sausen. Und es wäre ohne Belang, ob es auf einem Milliarden Lichtjahre entfernten Stern das Gelbe Fieber gäbe oder vielleicht ein grünes oder blaues. Und auch der Kanzler mit dem Schwert in den Händen würde zu Staub geworden sein und in keinem Monument und keinem Geschichtsbuch und keinem Gehirn mehr existieren. Ja, wenn es total wäre, das bevorstehende Blackout, er würde das kosmische Ereignis bedauern um all des Schönen willen, das diese Welt bereithält, aber er wäre frei vom Gefühl des persönlichen Unterliegens, bliebe verschont vom Neid, wie der Schwache ihn empfindet. Doch so lagen die Dinge nun mal nicht. Nicht das alles umfassende kosmische Ereignis! Nicht das Verlöschen aller Lichter, Gedanken und Worte! Nicht Pförtnerpartikel im All! ›Struggle for life‹ galt, und er gehörte zu den Verlierern.
Er bezahlte den Chauffeur mit ungeschickten Bewegungen, stieg aus und schloss die Taxitür in dem Gefühl, es wäre schon das letzte Mal. Noch lange empfand er den Kontakt seiner warmen Hand mit dem kühlen Metallgriff. Ein paar Minuten musste er noch zu Fuß gehen, und jede Wahrnehmung auf diesem Weg war ihm wie etwas nie vorher Erlebtes, so genau registrierte er: den brackigen Lufthauch vom Elbwasser, die schnellen Barkassen in den Hafenbecken, die über den Abendhimmel gezogenen Konturen der Hausgiebel, einen Hund, der etwas aus einem Mülleimer zerrte, Autos, Passanten, die über den stählernen Viadukt ratternde U-Bahn, den Mastenwald vor ihm, die Docks, die Schiffe. Es waren traurige Minuten, denn alles, was er wahrnahm, ob er es nun sah oder hörte, roch oder tastete, bedeutete unsägliche Qual, weil selbst die bislang unvereinbaren Dinge nun etwas gemeinsam hatten, etwas Erdrückendes, dies: dass sie blieben, während er gehen musste.
Erst als er sein Schiff sah, wurde er ruhiger. Die Pier, an der es lag, war dunkel. Er hatte schon tausendmal erlebt, wie groß die Schiffe im Dunkeln sind. So war es auch diesmal. Er ging über die Gangway, sah an der Bordwand nach links und nach rechts, und ihm war, als hätte sein Schiff kein Ende, und dabei war dieHESTIAmit ihren zwölftausend Tonnen nur ein simpler Stückgutfrachter der Mittelklasse.
Die Nachtwache grüßte ihn. Es war Gronert, der Zweimetermann aus Emden; so nannten sie ihn manchmal an Bord, obwohl an den zwei Metern volle zehn Zentimeter fehlten. Er war nicht nur groß, sondern auch schwer, hatte breite Schultern und galt als der stärkste unter den Männern derHESTIA.Er hatte Humor und griff den Scherz auf, als sein Kapitän sagte: »Halten Sie sich lieber mittschiffs auf, sonst kriegen wir Schlagseite!«
»Ich hab die Ladung so getrimmt, dass es nichts ausmacht, wenn ich an Backbord stehe.«
Der Matrose hielt dem Kapitän die Tür auf. Cornels ging gleich hinauf in seine Kajüte, schottete hinter sich ab, hängte seine Jacke im Salon über einen Stuhl, ging durch bis in den Schlafraum und legte sich auf die Koje.
Seit er vor zwanzig Jahren sein erstes Schiff übernommen hatte, war für ihn das Anbordgehen so, als käme er nach Hause. Das lag daran, dass er keine Familie hatte. Es gab da nur noch ein paar entfernte Verwandte in Keitum auf der Insel Sylt, bei denen er gelegentlich einen Besuch machte. Er war allein auf der Welt, hatte zwar zwischen San Francisco und Kalkutta ein paar Freunde, aber zu Hause war er auch bei ihnen nicht, zumal er sie nur alle paar Jahre zu Gesicht bekam. Und bei Frauen wollte er nicht zu Hause sein, sondern immer nur Gast. Das hielt er für ergiebiger als eine lebenslange Bindung. Bei einer allerdings hatte er sich vor vielen Jahren hinreißen lassen, ein paar Nächte lang anders zu denken, aber es waren eben Nächte gewesen, und Nächte sind nicht das Leben. So war es dazu gekommen, dass er in Valparaíso einen Sohn hatte und der ihm fremder war als jeder Mann auf seinem Schiff. Ja, Cornels war an Bord zu Hause, und diesmal war es ein verdammt trauriges Nachhausekommen, denn er hatte niemanden, dem er von der veränderten Lage erzählen konnte. Oder auch: dem er sie verschweigen konnte.
Oft redete er mit seinem Magen, und er fand das ganz normal. Andere haben ihren Gott oder ihren Dämon, wo immer der sich aufhalten mag, und sie reden mit ihm ohne Scheu. Er sprach auch viel mit sich selbst. Das waren lautlose, aber dennoch durchformulierte Vorträge, die ihm tatsächlich bisweilen das Gefühl gaben, jemandem gegenüberzusitzen, einen richtigen Partner zu haben, der sogar einen Streit vom Zaun brechen oder, je nachdem, ihn auch mal aufmuntern konnte.
Wie oft sagt man: Du musst dein Leben in die Hand nehmen! Es klingt gut, vielleicht ein bisschen abgenutzt, aber es verrät, dass das Wichtigste jedenfalls noch da ist, das Leben, und darum klingt es gut. Ich muss nun mein Jahr in die Hand nehmen, und das hört sich nicht gut an. Ein Jahr, wie viel ist das überhaupt? Das sind dreihundertfünfundsechzig Tage, wenn es nicht gerade ein Schaltjahr ist. Das sind..., das sind achttausend, beinah neuntausend Stunden, also rund eine halbe Million Minuten. Eigentlich doch eine ganze Menge, eine halbe Million. Aber sie verbrauchen sich ziemlich schnell, wenn ich zum Beispiel bedenke, dass seit meinem Besuch bei Dr. Walliser schon hundertzwanzig davon weg sind. Und morgen früh, wenn Robert mir den Kaffee und die Eier und den Toast bringt, dann sind weitere siebenhundert verstrichen. Übermorgen laufen wir aus, dann stehe ich auf der Brücke, sehe hinüber zu den Elbufern, zum ersten Mal mit dem neuen Wissen, rede ein paar Takte mit dem Lotsen über seine Kinder oder sein Haus oder seinen Dienst oder auch über den Nebel, falls wir durch Nebel fahren müssen. Dann wird es etwa acht Uhr sein am Morgen, und dann sind, seit ich's weiß, über zweitausend der halben Million vertan. Und wenn wir aus Santos zurück sind, hab ich schon etwa siebzigtausend ausgegeben. Dann bleiben vielleicht noch fünf Reisen. Was bedeutet das? Ein paar Häfen, ein paar Leute, hier ein bisschen Ärger und dort ein bisschen Zufriedenheit, und sehr viel Wasser natürlich, etliche gute Mahlzeiten, dann und wann einen gnädigen Rausch, sechsmal vielleicht, sagen wir lieber acht- oder neunmal wegen der veränderten Lage, aber bestimmt zehnmal so oft Natron oder Buscopan oder auch die totale Entrückung auf den Schwingen einer Dolantin-Spritze. Und immer vergehen sie, die Minuten, zerrinnen mir, und ein paarmal wird es den Schock geben, die plötzliche Erkenntnis, dass von meiner halben Million schon ein ziemlicher Klumpen weggebrochen ist. Dies ist, scheint's mir, eine ganz gemeine Rechnung. Ich glaube, es wird besser sein, nicht die Minuten zu verspritzen, sondern einfach zu baden in dem ganzen Jahr.
Er stand wieder auf, ging in seinen Salon, setzte sich an den Tisch. Da lagen ein paar Papiere; die Musterrolle, eine Ablichtung der Konnossemente, die Post, eine Zeitung. Er schob alles beiseite, drehte sich im Stuhl zum Eisschrank herum, versorgte sich, trank einen Mescal, zwei, drei, zählte nicht mehr. Ihm fiel eine Kindergeschichte ein. Er überlegte nicht, woher sie so plötzlich kam. Sie war da wie der Traum vom Reichtum, der die Armen heimsucht. Die Geschichte von der Scholle. Sie hatten gewettet. Zu viert. Er allein gegen die anderen. Die drei hatten jeder fünf Pfennig auf den Stein gelegt und er fünfzehn dagegen. Und dann waren sie ins Watt hinausgegangen, um mit den Füßen eine Scholle zu fangen. Buttpetten nannten sie das. Es sah ganz einfach aus, aber es gehörte viel Geschicklichkeit dazu. Man hob in dem seichten Wasser den Fuß an, hielt ihn eine Weile ganz ruhig über der flachen eingesandeten Flunder, senkte ihn langsam, trat dann plötzlich zu, und wenn es klappte, konnte man den zappelnden Fisch unter der Sohle hervorziehen. Er hatte Glück. Er war auf der Suche gewesen nach einer besonders kleinen und hatte eine gefunden, die nur ein bisschen größer war als seine Hand, und er war damals erst acht oder neun. Er erwischte sie, ehe die anderen ihm womöglich ein Exemplar von einem halben Kilo hinhielten. Die erste gefangene Scholle sollte es sein, egal, wie groß. Sie setzten sich neben den Stein. Niels übernahm es, die Scholle an dem Stein totzuschlagen und sie dann noch einmal zu waschen, ehe er sie ihm überreichte. Er nahm sie und sah sie sich eine Weile an, erst die raue, graubraune Oberseite mit den roten Flecken, aber dann drehte er sie um, sodass nur das glatte Weiß zu sehen war, und so, das Weiße nach oben, aß er sie auf. Mit Kopf und Schwanz und Flossen und Gräten. Und dann strich er das Geld ein. Damals wusste er noch nichts von Natron.
Er stellte die Mescalflasche zur Seite, auch das halbvolle Glas, knickte leicht ein in seinem Stuhl, schob die Rechte unter das Seidenhemd, auf den nackten Magen, der sich eiskalt anfühlte. Das Signal war da. Es kam zu ungewohnter Zeit. Sonst meldete es sich meistens erst Stunden nach dem Essen oder Trinken. Selten überfiel ihn eine Attacke mitten in einer Mahlzeit oder während er Alkohol trank. Auch das muss mit meiner veränderten Lage Zusammenhängen, dachte er. Mit unserer. Du bist nicht fair, Estómago! Schon vor vielen Jahren hatte er seinem Magen diesen Namen gegeben, hatte einfach, da er gerade die südlichen Golfhäfen befuhr, das spanische Wort für ›Magen‹ verwendet, und längst war es ihm keine Vokabel mehr, sondern der Name des eigenwilligsten Wesens, das er kannte. Estómago, das war nichts mehr aus dem Wörterbuch, nichts, was man buchstabierte oder falsch betonte, sondern es war jemand, den man rief, umwarb, beschimpfte, war ein launischer Liebling, ein Hundsfott, ein Gegner voller Tücken, ein unzuverlässiger Partner, ein Feigling, ein Kind, das in der Nacht schreit, ein Wegelagerer, ein Intimus auf Gedeih und Verderb, oft niederträchtig, manchmal tagelang im Hinterhalt lauernd, bisweilen gegen jede Logik wohlwollend, fast immer unberechenbar; nur in einem einzigen Fall auf Anhieb folgsam, aber dann mit der Folgsamkeit einer Hure: Intravenös gegebenes Dolantin machte ihn weich und warm und bereit.
Cornels ging ins Bad, ließ heiß einlaufen. Beim Hinüberbeugen über den Wannenrand wurde das verhasste hohle Blubbern, mit dem es meistens anfing, stärker. Wenn das Leiden sich einmal eingestellt hatte, war er mit allen Stadien vertraut wie mit den Geräuschen und Vibrationen im Schiffsleib bei laufender Maschine. Für diese Phase, die noch keine Schmerzen brachte, sondern nur Übelkeit und Schüttelfrost, hatte er noch einen halbwegs wohlwollenden Namen. Er nannte sie Estómagos täppischen Versuch, Billard zu spielen. Der Magen rumorte zwar, ließ sich aber meistens noch beschwichtigen durch ein Bad von mindestens zweiundvierzig Grad. Zweiundvierzig, weniger durften es nicht sein, denn bei einer niedrigeren Temperatur hatte das Wasser nicht mehr die Wirkung eines Schocks, und dann ging es mit Sicherheit weiter. Dann fühlte Estómago sich genarrt, hintergangen, dann war er beleidigt und reagierte bösartig, dann rollte er nicht mehr nur drohend mit den Kugeln, sondern stach zu mit der spitzen Seite des Queues.
Der Wasserdruck war schwach. Viel zu langsam füllte sich die Wanne. Cornels ging hin und her, räumte Flasche und Glas vom Tisch, ordnete die herumliegenden Papiere, drehte, obwohl dieser Hamburger Septemberabend Hochsommertemperaturen aufwies, die Heizungen voll auf. Immer wieder glitt seine Hand unter das Hemd, rieb gleichmäßig mit leichtem Druck über die kalte Fläche.
Gleich, Estómago, gleich, ein paar Minuten noch. Stell dich nicht so an! Ich weiß, auch für dich ist die Situation neu, aber was hilft's, wir müssen da hindurch.
Er zog sich aus, langsam, sah an seinem Körper hinunter, der noch gebräunt war von der letzten Reise, während der er oft, nur mit einer Badehose bekleidet, an Oberdeck mit dem Chief-Ingenieur Schach gespielt hatte. Er sah auch auf Estómagos vierzehn Zentimeter lange Narbe, die von einer Jahre zurückliegenden Operation stammte. Er betrachtete sie mit dem Groll dessen, der etwas sehr Teures falsch eingekauft hat, gestand sich aber gleich darauf ein, dass er ohne diesen Eingriff vielleicht schon jetzt nicht mehr lebte.
Er war ein schlanker, großer Mann, dem man an gesunden Tagen seine fünfzig Jahre nicht ansah. Aber in Zeiten des Leidens war sein Gesicht grau und hatte tiefe Falten. Seine Schultern hingen dann, und er wirkte über die Jahre hinaus gealtert und verbraucht.
Weil die Wanne noch nicht gefüllt war, legte er seine Kleidung ordentlich hin, prüfte die Vorhänge an den Bulleyes und las im Stehen in einer zwei Tage alten Zeitung. Er las mit dem zerstreuten Interesse eines Mannes, der noch ein paar Minuten in einem Wartesaal verbringen muss. Von zwei Ereignissen las er. Sie rührten ihn an, wurden aber nur flüchtiger Bestandteil seines Bewusstseins. Das eine war eine neue Geiselnahme, die einen gewissen peripheren Unmut in ihm erzeugte. Das zweite weckte seinen Zorn, aber auch da kam die Resignation schnell, weil einfach nichts zu machen war außer sich zu erregen. An der deutsch-deutschen Grenze hatten sie wieder einen Mann erschossen.
Er faltete die Zeitung zusammen, legte sie aus der Hand, rief Gronert an, der erst auf die Brücke laufen musste, um abzunehmen, sagte ihm, dass er in den nächsten zwei Stunden für niemanden zu sprechen sei, dann ging er ins Bad.
Er legte sich nicht so ohne weiteres in die Wanne, sondern zelebrierte das zentimeterweise Eintauchen, bei dem die Haut brannte und rot wurde und die Nackenhaare sich sträubten.
Gleich, Estómago, gleich. Du sitzt nun mal da oben und bist nicht eher an der Reihe. Schließlich kannst du nicht erwarten, dass ich mir im Liegestütz über der Badewanne die Knochen verbiege, nur damit du den ersten touch kriegst. Warte gefälligst!
Es dauerte fünf Minuten, bis Jacob Cornels ausgestreckt im Wasser lag, und ganz allmählich begann der balsamische Teil des Vorgangs. Das Brennen ließ nach. Eine wohlige Müdigkeit überkam ihn. Seinen Magen spürte er nicht mehr. Er fühlte sich befreit. Ihm war, als sei ein lästiger Besuch gegangen. Die Gedanken waren nicht mehr an die Übelkeit gekettet, sie rückten sogar für eine Weile das Gespenst der Jahresfrist in die Ferne, ja, sie nahmen es von einer ganz anderen, beinah heiteren Seite, als sei nichts Bedrohliches mehr im Spiel.
Jetzt weiß ich's! Ich werde einen langen, langen Urlaub nehmen. Ich habe Geld, und jetzt ist es erwiesen, dass es viel Geld ist, umgeschlagen auf die Tage und Nächte, die mir noch bleiben. Auf je vierundzwanzig Stunden kommen runde tausend Mark. Das ins Blaue Gesparte eines Junggesellen aus einem Vierteljahrhundert. Ich werde gar nicht wissen, wohin damit, und wenn ich's doch weiß, brauche ich mir nicht mehr dazwischenzureden und mir eine Zeit der Gebrechen auszumalen, für die das Geld einmal nötig werden könnte. Ich werde es rauswerfen mit vollen Händen. Ich habe hier in Hamburg auf dem Pöseldorfer Markt einen Laden gesehen, klein, aber attraktiv.VIPheißt er. Ich gehöre zwar nicht zu denVIPs, aber ich werde dort hingehen und mir aus dem Angebot des köstlichen Unsinns oder der unsinnigen Kostbarkeiten einiges aussuchen: Home-Accessoires, magnetische Spiele, Uhren mit ausgefallenem Design, Schachfiguren aus Schrauben. Viel Spleeniges, das Freude macht. Ich werde dem beinlosen Bettler auf der Plaza in Barranquilla, der mir damals den Weg sagte und mich seitdem grüßt wie einen Freund, fünfhundert Mark schenken. Oder dreihundert, denn vielleicht braucht Rita diesmal etwas mehr. Sagen wir, vier für den liebenswerten Krüppel, das ist ein Königreich für ihn. Manches dieser Art wird mir einfallen. Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen. Ich glaube, es könnte viel mehr solcher Königreiche geben, wenn man einfach nicht so gedankenlos wäre.
Ich werde durch Bolivien und Arizona reisen, durch Länder, die keine Küsten, keine Häfen haben, keinen einzigen Hafen. Ich werde Eisenbahn fahren, zehntausend Kilometer. Ich werde die Küsten nicht immer meiden, denn auf jeden Fall möchte ich hundert Tage imACAPULCO ROYALwohnen, in dem Zimmer von damals, das durch die ganze Breite des Hotelgebäudes reicht und zwei Balkons hat, einen zum BoulevardMIGUEL ALEMÁNund einen zum Pazifik. Küste also wird sein, aber abends gehe ich an den Hafen, und man wird mir sagen: Dahinten, der Trawler! Und ich frage: Ein Trawler, was ist das? Und an allen Schiffen gehe ich vorbei, und keines wird mir auch nur die geringste Pflicht einreden.
Ich würde auch Catalina in Alicante besuchen, wenn nicht Estómago, der Halunke, mir damals diesen Streich gespielt hätte. Man kann doch nicht vor eine Frau hintreten und ihr sagen: Ich bin der von damals, der mit den Kompressen und dem Natron, weißt du nicht mehr? Sie würde es dann nur zu gut wissen und über mich lächeln. Nein, nein, Catalina lieber nicht. Myriam in Jaffa vielleicht, aber vielleicht auch sie nicht, denn sie muss nun schon bald so alt sein, wie ich damals war.
Ich könnte natürlich Ramón besuchen, falls ich heilen Gewissens an seiner Mutter vorbeikomme. Ramón, er hätte ein Recht darauf, seinen Erzeuger kennenzulernen, also werde ich nach Chile fahren, doch das erst viel später, vielleicht so um die vierhunderttausendste Minute. Ich glaube, am Anfang sollte dasACAPULCO ROYALstehen, die Suite mit den beiden Balkons, und auf dem pazifischen will ich dann abends sitzen. Ich werde mir das teuerste Prismenglas der Welt kaufen und ausprobieren, ob ich vom Hotel aus den Hafen sehen kann. Und die Schiffe.
Ganz ruhig, ganz entspannt lag Jacob Cornels da. Die Wanne war bis zum Überlaufventil gefüllt. Auch das war eine von Estómagos Marotten. Er wollte nicht nur das heiße, sondern auch das volle Bad, wollte immer die totale Therapie. Es war ähnlich wie mit dem Zeitempfinden. Auch da musste es möglichst die ganze Fülle sein. Eine Stunde zwischen zwei Terminen schaffte keine echte Pause. Zwölf Stunden bis zur nächsten Pflicht, das war ein gutes Maß, vierundzwanzig ein viel besseres, aber so große Intervalle waren natürlich der Luxus, den auf die Dauer nur sehr wenige Berufe gewähren. Sie waren auch für ihn die Ausnahme. Manchmal gab es sie, auf den großen Reisen zum Beispiel, aber meistens hatte er eng aneinandergerückte Termine, bei Skandinavienreisen oder auf Englandfahrten, oder wenn es zu denCOMECON-Häfen ging. Das waren Estómagos ausgesuchte Leidenswege, diese kurzen Routen mit der raschen Aufeinanderfolge von Aus- und Einklarieren, und seine Einstellung dazu war latent böse.
Natürlich wusste Cornels, dass an seinem Magenleiden auch sein Kopf schuld war. Die Ärzte hatten es ihm oft gesagt, und auch ohne ihre Diagnose hätte er erkannt, dass sein Kopf der eigentliche Missetäter war. Sein Hirn war es. Die Nerven agierten und traktierten, und Estómago war derjenige, den es traf und der zurückschlug.
»Bei Ihnen«, so hatte Dr. Walliser gesagt, »ist alles eine Frage der Nerven, auch Ihr Krebs. Er ist aus den Magengeschwüren hervorgegangen, und diese wiederum sind auf Ihr eigenwilliges vegetatives Nervensystem zurückzuführen, das die Durchblutung reguliert. Seelische Vorgänge können den Blutstrom drosseln, auch den im Magenbereich, das führt zu sogenannten Vasoneurosen. In Ihrem Falle ist der Weg von den Nerven über den Blutstrom zum Ulcus und dann weiter zum Karzinom eindeutig. Vor ein paar Jahren hätte man mit Ihnen etwas Phantastisches machen können, was den radikalen Verlauf wahrscheinlich verhindert, bestimmt aber um etliche Jahre, und zwar gute Jahre, hinausgezögert hätte: eine selektive Vagotomie. Man hätte Ihnen ein halbes Dutzend Nerven durchtrennt, nämlich jene Leitungen, die Ihre Emotionseffekte, Ihre Sorgen wie Ihre Freuden, vom Kopf zum Magen transportieren. Diese Operation kommt aus den Staaten. Anfangs war sie nicht ohne Bedenken zu empfehlen, war einfach noch zu grob. Da sägte man dem Patienten kurzerhand den ganzen Strang durch, das ganze Bündel Nerven, und in manchen Fällen gab es dann Spätfolgen. Nieren, Galle, Leber. Weil ja alles mit dranhing an diesem Ast, den man durchsägte. Heute ist die Medizin so weit, dass man genau die sechs oder sieben Nervenfäden findet, auf die es ankommt. Eine großartige Operation. Nur, in Ihrem Falle, Herr Cornels, ist es dafür leider zu spät.«
Cornels ließ heißes Wasser nachlaufen. Er dachte noch einmal an das Gespräch mit dem Arzt, empfand auch die Härte, die darin lag, dass Dr. Walliser ihm die Vorzüge eines so wirkungsvollen Eingriffs aufzählte, für den er aber nicht mehr in Frage kam. Dieses ›zu spät‹ war eine definitive Feststellung, und das Jahr war eine Tatsache, mit der er von nun an zu leben hatte. Wie würde es aussehen, dieses Jahr? Was könnte er daraus machen? Der Urlaub bis ans Ende seiner Tage wäre gewiss eine ganz sinnvolle Kompensation, wahrscheinlich die einzige. Er musste den Schwund an Zeit durch gesteigerte Intensität ausgleichen. Die Frage war nur, ob die Fähigkeit zur Intensität überhaupt noch vorhanden war. Im Augenblick glaubte er sie zu verspüren wie nie zuvor. Er wollte alles, und er wollte es möglichst schnell. Plötzlich empfand er einen Heißhunger auf Leben, ja, eine Gier. Aber durfte er damit rechnen, dass erst ganz am Ende der halben Million Minuten die eine käme und ihm abrupt den Tod brächte? Könnte es nicht ein Jahr des Sterbens werden? Ein Siechtum mit vielen deprimierenden Etappen? Der stufenweise Niedergang, der irgendwann, vielleicht schon bald, vielleicht später, auch den Verzicht auf Intensität bedeutete ? Dann würde die Lust zum Leben früher sterben als er selbst.
Nach der Santos-Reise werde ich von Bord gehen und der Seefahrt Adieu sagen. Ich werde mich nicht krankschreiben lassen, werde nicht den üblichen Weg der amtlich eingeleiteten Verschrottung wählen, nicht um Altersbezüge oder Krankengelder feilschen, denn schon die administrative Zuordnung zu den Frührentnern würde jede Lust auf Acapulco in mir töten. Ich werde gehen wie einer, der nach dreißig Jahren Fahrenszeit einen längeren unbezahlten Urlaub nimmt, sagen wir, zunächst ein Vierteljahr, und danach kann ich ihn verlängern. Nur so. Ungeschlagen will ich diesen Schritt tun, denn wenn ich morgen als todkranker Mann das Schiff verließe, finge übermorgen das Kränzeabliefern an, und sie würden mir nachjagen, diese Kränze, würden sich türmen auf meinem Bett imROYAL,als wär's kein Bett mehr, sondern schon das Grab. Nein, ich werde es ignorieren, dass es der Saboteur Estómago ist, der mich von Bord treibt. Ich werde es ignorieren, dass ich den Anspruch habe, diesen verdammten lähmenden Anspruch auf staatliche Fürsorge. Und ignorieren werde ich auch, dass es statt Acapulco eigentlich Bad Wörishofen oder Bad Orb sein müsste und statt der vitalen Versuchungen einerROYAL
Nach dem langen Bad fühlte er sich besser. Die drohenden Schmerzen waren abgewehrt. Er nahm frische Kleidung aus dem Schrank und zog sich an. Es war halb neun. Er riegelte die Tür auf, läutete nach Robert, dem Steward, und ließ sich ein Abendessen bringen, das Dr. Walliser Teller für Teller aus dem Bulleye geworfen hätte. Um zehn rief er Gronert zu sich.
Der lange Emdener saß Cornels gegenüber. Die beiden mochten sich, vertrauten einander, und über den Rangunterschied hinweg konnten sie miteinander reden als Männer von ähnlichem Zuschnitt. Oft sah Cornels in Gronert den Offizier oder Kapitän, der er vielleicht einmal sein würde, so wie der Emdener in seinem Vorgesetzten den Mann sah, der er selbst einmal sein wollte. Cornels hatte es, von Weihnachtsfeiern und Äquatortaufen abgesehen, immer vermieden, mit seinen Matrosen Alkohol zu trinken. Gronert bildete da keine Ausnahme. Aber die beiden rauchten und tranken Kaffee.
Sie hatten über den Wachplan des nächsten Tages gesprochen und über die bevorstehende Abreise. Vorbach, der Erste Offizier, wollte am nächsten Morgen zurück sein. Kühnke, der Zweite, war schon an Bord, ebenso der Chief. Die Hälfte der Männer fehlte noch. Bis morgen Abend 24 Uhr musste die Besatzung vollzählig an Bord sein. Cornels fand, dass Gronert müde und blass aussah, so als hätte er die Nacht durchzecht und den Schlaf unter Tag nicht nachgeholt.
»Sie sehen ziemlich mitgenommen aus!«
»Ich rauche zu viel.«
»Sonst rauchen Sie genauso viel und sehen besser aus.«
»Ja. Auf See. An der frischen Luft. Das ist ein Unterschied.«
»Auch in den Häfen sehen Sie sonst besser aus.«
»Das Wetter.«
»Ist ausgezeichnet, oder finden Sie nicht? Und außerdem: Als ob Ihnen das Wetter jemals etwas anhaben könnte!«
»Man kommt in die Jahre.«
»So? Ins wievielte?«
»Ins fünfundzwanzigste.«
»Also. Was ist?«
»Nichts.«
»Gut. Behalten Sie's für sich. Dann möchte ich etwas anderes wissen, und wenn das gar nichts anderes ist, sondern auch mit Ihrem erbärmlichen Aussehen zu tun hat, womöglich der einzige Grund ist, dann will ich's, verdammt noch mal, doch wissen! Wir liegen seit vier Tagen in Hamburg. Morgen ist der fünfte, und er steht den Leuten noch ganz zur Verfügung. Bis Mitternacht. Fünf Tage also. Sie sind in Emden zu Haus. Das ist von hier ein Katzensprung. Sie sind verheiratet, haben ein Kind von ein oder zwei Jahren. Einen Jungen?«
»Ein Mädchen. Ein Jahr alt.«
»Ziemlich jung geheiratet. Wie alt waren Sie?« »Dreiundzwanzig.«
»Okay, das wäre geklärt. Also. Sie haben fünf Tage und fünf Nächte Liegezeit, und nicht eine Stunde davon verbringen Sie zu Haus. Sie haben doppelt so viel Wachdienst übernommen, wie Sie laut Plan haben müssten. Rückert und Jansen sind an die Decke gesprungen, als Sie ihnen anboten, einen Teil ihrer Wache mit zu übernehmen. Der Erste hat es mir erzählt. Der Haussegen hängt also schief. Und wenn jemand nach einer vierwöchigen Reise nicht zu seiner Familie fährt, dann hängt der Haussegen verdammt schief. Also?«
Gronert sah seinen Kapitän an. Es war kein verzweifelter Blick, kein hilfesuchender, eher ein aggressiver, und es waren harte Augen, die nicht auswichen.
»Was soll ich Sie damit bepacken!«
»Ach los, sagen Sie's schon!«
»Und dann?«
»Dann weiß ich's.«
»Und wozu sollte das gut sein?«
»Vielleicht wird das gar nicht gut sein. Vielleicht halte ich Sie dann für einen ausgemachten Schuft. Ich kann ja nicht wissen, was Sie angestellt haben.«
»Herr Kapitän, darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«
»Ja. Ich frag Sie das ja auch.«
»Sind Sie Witwer oder geschieden, oder waren Sie nie verheiratet?«
»Ich bin Junggeselle, wenn auch ein schon ziemlich alter. Bin immer Junggeselle gewesen.«
Gronert holte seine Brieftasche heraus, entnahm ihr ein Foto. Er legte es vor Jacob Cornels hin. Der nahm es in die Hand, sah es lange an.
»Aus welcher Zeitschrift haben Sie das?«
»Aus keiner. Das ist sie. Das ist meine Frau.«
»Sie ist zu schön für Sie.«
»Ich glaub das jetzt auch.«
»Ich meine das nicht persönlich. Sie ist zu schön für einen Seemann.«
»Ihr Gesicht ist schön. Ihr Körper auch. Ihre Seele nicht.«
»Das meine ich. Nichts für einen von uns, bei denen das Seelische eine enorme Rolle spielt, weil die Trennung immer länger dauert als das Zusammensein, oft viel länger. Und diese da...«, Cornels legte das Bild auf den Tisch zurück, »erscheint mir zu hübsch, als dass sie ihre Liebe vorwiegend von der Seele her ernähren könnte. Wenn ich ein Lehrbuch über die Frauen schreiben sollte, würde ich zunächst die Theorie aufstellen, dass eine Frau umso weniger Gewähr fürs Treusein bietet, je attraktiver sie ist. Und wer das dann liest, lacht mich aus, weil das eine Binsenweisheit ist. Oder er geht, falls ihm das doch neu sein sollte, erst mal hin und guckt sich seine Frau genau an. Und dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder er beruhigt sich, und das wäre natürlich kein sehr charmanter Zug, oder er bezweifelt meine Theorie. Es ist erstaunlich, wie selten Männer misstrauisch sind.«
»Aber der Grund dafür ist oft ein ganz anderer. Heutzutage.«
»Sie meinen: das Gegenteil, die Aufgeschlossenheit, das Einverständnis? Sie meinen, nach der DeviseSCHÖNER WOHNENoder vielmehrMODERNER LEBENist es überholt, seiner Frau zu verbieten, dass sie durch die Hecke grast?«
»So ähnlich, ja. Und oft läuft so etwas dann auf Gegenseitigkeit hinaus.«
»Ja, Gegenseitigkeit, so heißt es, aber es läuft eben nicht, jedenfalls längst nicht immer, obwohl es auf dem Programm steht. Es bleibt nach wie vor die Ausnahme.«
»Dann bin ich also nicht hinter der Entwicklung zurückgeblieben, reagiere also normal?«
»Dazu müsste ich wissen, was los ist. Ich tippe, sie hat Sie reingelegt. Stimmt's?«
»Ja.«
»Wie sehr?«
»Ganz.«
»Ist es noch Misstrauen oder schon Gewissheit, und was wäre bei Ihnen Gewissheit? Haben Sie einen handfesten Beweis?«
»Es ist bewiesen und eingestanden und bestraft und diskutiert.«
»Und bereut?«
»Das interessiert mich nicht mehr.«
»Bestraft, sagen Sie. Von wem?«
»Von mir.«
»Wie haben Sie das gemacht?«
»Wollen Sie das wirklich wissen?«
»Ich frage selten nach etwas, was ich nicht wirklich wissen will.«
Gronert sah auf seine Hände, hob sie vom Tisch auf, wischte durch die Luft, einmal mit der linken, einmal mit der rechten.
»So«, sagte er.
»So, so«, sagte Cornels. Er sah Gronert an, dachte an dessen Nächte, fragte sich, wie viel Schlaf sie ihm wohl noch einbrächten und ob so etwas zu reparieren sei. Er dachte auch an das Kind. Vor allem aber fragte er sich, wie er selbst in einem solchen Falle gehandelt hätte. Er wusste es nicht, weil er den Status nicht kannte, den Status des verheirateten Seemannes, der alles auf eine Frau setzt, die er bei jeder Abreise zurücklässt, zurückstößt in die Einsamkeit, die er immer von neuem preisgibt, weil er sich einen Beruf ausgesucht hat, der viel eher nach einer Alternative zur Ehe aussieht als nach einer Basis für sie.
»Sie hätten sie nicht schlagen sollen«, sagte er.
»In einem solchen Augenblick fragt man nicht, was zu tun ist und was nicht.« In die Stimme des schwerblütigen Matrosen kam Leidenschaft. »Man tut einfach etwas. Und selbst hinterher fragt man nicht, ob es richtig war. Man untersucht das nicht. Man lebt mit der dumpfen Überzeugung, dass man es tun musste.«
»Haben Sie jemals Ihre Frau betrogen? In einem Ihrer hundert Häfen oder, was weiß ich, wo?«
»Nein. Ich bin einmal in Río mit Witte und Lüdemann im Puff gewesen, aber nur wegen einer Wette. Die beiden behaupteten nämlich, das sei so steil, man könne dann gar nicht anders. Ich hab die Wette gewonnen. Ich liebte meine Frau. Und das schloss alles ein. Kind und Frau und Haus, die drei zusammen, das war der Platz für meine Gedanken. Davon träumte ich, auf See ebenso wie in den Häfen. Vielleicht bin ich doch irgendwo hinter der allgemeinen Entwicklung zurückgeblieben. Vielleicht träumt man heute überhaupt nicht mehr.«
»Doch. Man träumt noch; und nicht etwa schon wieder, sondern noch immer; man hat es nie aufgegeben.«
»Jedenfalls hat sie mein Leben versaut.«
»Wann ist es passiert?«
»Vor zwei Monaten. Wir kamen von Tubarão, und ich versuchte, nachts um eins über Norddeich-Radio meine Frau anzurufen, erreichte sie aber nicht. Witte und Hauser machten gleich eine Story. Der Fall sei doch wohl klar. Aber die beiden haben sowieso eine ziemlich miese Meinung von den Frauen. Witte war dreimal verlobt, und er sagt, Verlobtsein, das bedeutet einfach nur zweimal mehr pro Woche und dann mit Frühstück. Sie kamen mir auch mit demKINSEY-REPORT,lasen sogar daraus vor. Ich ärgerte mich darüber, aber ich wurde auch nervös und unsicher. Es reichte jedenfalls, dass ich meine Frau auf die Probe stellen wollte. Ich fuhr, als wir in Bremerhaven festgemacht hatten, nach Haus, blieb zwei Tage, und dann tat ich so, als müsste ich aufs Schiff zurück, beobachtete aber in der Nacht mein Haus. Ein Scheißspiel ist das, da nachts in den eigenen Hagebuttensträuchern zu hocken und stundenlang die Haustür anzustarren. Aber es lohnte sich. Er kam. Schloss sogar mit einem eigenen Schlüssel auf. Als ich das sah, krempelte sich mir der Magen um. Kennen Sie das? Etwas fährt einem in die Glieder, und man muss spucken. Sie nicken, Sie kennen das also. Nun, eine Viertelstunde später ging ich dann hinein, scheuchte die beiden hoch. Sie sprangen auf wie angeschossene Kaninchen. Ich schlug meine Frau. Zweimal. Ins Gesicht. Und dann nahm ich mein Kind, das sie in die Küche geschoben hatten, einfach so in die Küche, in ihrem Kinderbett. Ich nahm die Kleine hoch und brachte sie zu meiner Mutter. Sieben Wochen später, wir kamen von Tampico und wollten nach Stettin, da kam Margot, also meine Frau, in Brunsbüttel an Bord. Plötzlich stand sie in meinem Logis. Sie erzählte mir, sie hätte sich das Kind wiedergeholt, sagte, die Kleine könnte unmöglich bei meiner Mutter bleiben, die sei ja selbst ein Pflegefall. Sie versuchte zu erklären, wollte mit mir durch den Kanal fahren, aber ich jagte sie zum Teufel, und seitdem hab ich sie nicht mehr gesehen.«
Es fiel Cornels auf, dass Gronert nun nicht mehr so blass und abgespannt aussah.
»Eine lange Geschichte war das«, sagte der Matrose. Es klang, als wollte er sich bei seinem Kapitän dafür entschuldigen.
»Solche Geschichten sind zuerst immer lang«, antwortete Cornels. »Mit den Jahren werden sie kürzer, mit jedem Monat, und eines Tages heißt es dann nur noch: Damals, die Sache mit dem Hausschlüssel oder mit dem Kinderbett in der Küche, und das meint dann schon alles. Die Geschichte schrumpft. Sie verliert ihre Dornen. Und der, der sie erzählt, ist ein anderer Mensch geworden. Was wollen Sie jetzt machen?«
»Fahren. Mein Haus abbezahlen.«
»Für wen?«
»Ich weiß es nicht. Manchmal denke ich, für die Kleine.«
»Fahren ist gut«, sagte Cornels.
»Ich hab auch schon überlegt, ob ich nicht doch lieber an Land gehen und mir da einen Job suchen und dann die Kleine zu mir nehmen sollte.«
»Tun Sie das nicht.«
»Warum nicht?«
»Eine zusätzliche Erschwernis. Zahlen Sie Ihr Haus weiter ab. Lassen Sie Ihre Frau und Ihre Tochter darin wohnen. Aber behalten Sie es. Für später. Jetzt nur zahlen, aber nicht dran denken. Sie müssen sich befreien. Ganz. Das ist es.«
»Witte und Hauser...«
»Haben sie triumphiert?«
»Nein. Im Gegenteil. Sie versuchten, mich zu trösten.«
»Wie machten sie denn das?«
»Sie sagten, es gebe so viele Frauen auf der Welt, bildschöne, unheimlich viele, und die hätte ich nun alle wieder.«
Cornels lachte.
»Ist was dran. Aber Ihr Problem ist umfassender. Sie müssen einen Standort finden, und damit meine ich nicht Hamburg oder Río oder Emden, ich meine auch nicht das Schiff oder einen Posten an Land, nicht das Briefmarkensammeln oder das Gurkenzüchten. Ich meine den inneren Standort, sodass Sie wieder festen Halt finden und in Zukunft wissen, wie Sie den Menschen zu begegnen haben. Den Frauen zum Beispiel. Die Frage ist doch immer, wie viel man investiert. In der Jugend ist man spendabel. Man gibt sich hin, und man gibt sich aus und berauscht sich an der Erwartung, dass es zu einem zurückkommt. Oft kommt es nicht zurück. Im Alter legt man sich eine Rüstung zu, um niemanden an sich heranzulassen. Warum ist das so? Ich glaube, weil es so oft ins Leere fällt, wenn man sich ausgibt. Das schafft Enttäuschungen, reißt Wunden. Aus Wunden werden Narben, und Narben sind verhärtete Haut. Und damit haben Sie sie, die Rüstung. Mein Rat: sie sich früh zulegen! Die Wunden, so gut es geht, überspringen! Das Böse im Menschen von vornherein als gegeben hinnehmen, um möglichst unverwundbar zu sein!«
»Aber wie?«
»So etwa: Nicht auf die Liebe setzen. Der Hass ist viel gebräuchlicher. Leben nach der Devise: Meine Feinde, die Menschen! Mit dem Bösen rechnen, damit es einen nicht überrascht. Dennoch leben mit den Menschen, mit ihnen spielen und immer dem anderen im Ernst seiner Absichten drei Schritte Vorsprung geben. Niemals gleichziehen mit ihm und schon gar nicht ihn überholen. So kann niemand Sie täuschen und also auch niemand Sie enttäuschen.«
»Aber die Freundschaft zum Beispiel. Ich meine nicht Männer wie Witte und Hauser und Lüdemann. Ich meine den, der sich für den anderen die Hand abhacken lässt.«
»Gut. Das zählt. Aber wissen Sie auch, wie selten so etwas ist? Eine Freundschaft ist in den meisten Fällen akademisch oder literarisch oder einfach nur praktisch, ähnlich wie die Liebe. Wo leidet denn schon wirklich jemand um eines Freundes willen? Ich denke jetzt nicht an die fünfzehnjährigen Freunde, das ist etwas anderes, ich denke an die fünfzigjährigen.«
»Kann man überhaupt leben mit einer solchen Meinung von den Menschen?«
»Nur so kann man leben. Es sei denn, es macht einem nichts aus, sich dauernd verschaukeln zu lassen.«
»Dann ist nichts mehr schön. Nichts macht dann mehr Spaß. Da wird man ja innerlich aufgefressen und geht kaputt an seinem eigenen Hass.«
»Nein. Mit Misstrauen und Hass hat man eben schon zu viel investiert. Denken Sie an Ihre Nacht in den Hagebutten! Das hat sie aufgefressen, und das hätte es nicht getan, wenn es nicht die große Liebe gewesen wäre. Kalt sein, das ist es. Das Leben ist eine schöne Sache, wenn man nur seine Seele genügend rückversichert. Frauen zum Beispiel. Warum sollte man sie sich nicht nehmen? Aber sich dabei um Gottes willen nicht verhaken in den Fußangeln der Gefühle!«
»Und der Freund, der echte? Sie räumten ein, dass es ihn gibt.«
»Ja, als Ausnahme. Und wenn man ihn wirklich hat, muss man sich eben die Rüstung zu zweit anlegen und zu zweit gegen die anderen stehen.«
»Und das Träumen! Sie sagten vorhin, die Menschen hätten es nie aufgegeben.«
»Ja, das sagte ich. Aber ich sagte nicht, dass das gut sei.«
»Aber die vielen..., was soll ich sagen, die vielen anderen Dinge im Leben, die wertvollen, Gott zum Beispiel, Christus?«
»Christus ist ein ganz brauchbarer Mann, das ist er seit zweitausend Jahren, immer zur Hand für eine Richtung.«
»Die Gesellschaft.«
»Man muss versuchen, sie zu ertragen. Sie ist das einzige Theater, in dem niemals der Vorhang fällt, dabei aber eine Schmierenbühne, die oft miese Stücke bringt.«
»Man spielt aber doch selbst mit.«
»Schon. Aber man sollte um jeden Preis Komparse bleiben. Nur so kommt man heil durch.«
»So kann ich nicht leben.«
»Natürlich nicht. Sie lassen sich lieber von einer Frau reinlegen und leiden dann vor sich hin und lecken Ihre Wunden. Und genauso lassen Sie sich von anderen reinlegen, von allen. Für Sie mag das schön sein. Für mich wäre es das nicht.«
»Ich werde darüber nachdenken. Über Standorte.«
Der Außenlotse war von Bord. Das kleine, achteraus ins Morgengrau eintauchende Boot gab Jacob Cornels das Gefühl, der letzte Kontakt sei gelöst und das Schiff nun wieder ganz auf sich allein gestellt. Die Reise hatte begonnen.
Immer noch und jedes Mal, obwohl ein weltweites Ortungssystem mit Funk und Radar und Satelliten die Schifffahrt unter ständiger Kontrolle hielt, empfand er den Augenblick, wenn der Lotse von Bord ging, wie das Zerreißen der Nabelschnur. Das passte nicht mehr. Schiffe wurden nicht mehr in die Freiheit entbunden, emanzipierten sich nicht mehr, wenn sie die Häfen verließen. Die Weltmeere hatten ihre abenteuerliche Weite verloren, die Küsten waren einander näher gerückt, ein globales Schifffahrtsstraßennetz und das scharf kalkulierte Timing der Reedereien machten jede Form nautischen Vagabundierens zu Wagnissen der Vergangenheit. Dennoch blieb Jacob Cornels bei seiner Vorstellung von einer durchschnittenen Nabelschnur, wenn das Schiff den Seelotsen entließ. Das mochte mit seiner physiologischen Denkweise zusammenhängen. Zu einem Mann, der für seinen Magen einen Rufnamen erfindet und mit ihm redet wie mit einem Partner, passte es, bei Vergleichen körperliche Vorgänge heranzuziehen. Und noch etwas kam hinzu, das ihn an längst überholten Vorstellungen festhalten ließ. Im Grunde war er ein Kapitän des vergangenen Jahrhunderts, in dem ein Schiffsführer noch Seefahrer, Kaufmann, Richter, Arzt und Seelsorger in einer Person war. Am liebsten bändigte er ein widerspenstiges Schiff von der offenen Brücke aus, mit Augenmaß, mit Südwester auf dem Kopf und Salzwasser im Gesicht. Er war kein Knopfdruck-Kapitän.
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