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Im Coaching fragen oft die Klienten, wie sie ihre Ressourcen, ihr Potenzial, ihre eigene Kreativität erkennen und nutzen können. Wie können sie sich vor Burn-out schützen und erfolgreich sein? Wie können sie Zufriedenheit erlangen?
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Seitenzahl: 197
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Günther Mohr
ACHTSAMKEITSCOACHING
EHP – PRAXIS
Hg. Andreas Kohlhage
Der Autor:
Günther Mohr (Jg. 1956) integriert als Volkswirt und Psychologe in seiner Arbeit zwei wesentliche Aspekte des Wirtschafts- und Organisationslebens: die ökonomischen Ziele und Notwendigkeiten sowie die persönliche und die Beziehungsperspektive. Gleichzeitig praktiziert er seit vielen Jahren Meditation und beschäftigt sich mit Weisheitslehren aus allen Kulturen. Er begann seine Berufslaufbahn als Psychotherapeut und ist mittlerweile als Coach und Ausbilder von Coaches tätig. In 25 Jahren Praxiserfahrung unterstützt er Menschen in ihrer beruflichen wie persönlichen Entwicklung.
Er ist Autor von zahlreichen Büchern zur Organisationsentwicklung (Lebendige Unternehmen führen 2000, Systemische Organisationsentwicklung 2006, Growth and Change for Organizations 2006), zu Beratung und Coaching (Coaching und Selbstcoaching mit Organisationsanalyse 2008, Workbook Coaching und Organisationsentwicklung 2010) sowie zu Transaktionsanalyse (Individual and Organisational TA for the 21st Century 2011) und Wirtschaft (Wirtschaftskrise und neue Orientierung 2009).
Günther Mohr
ACHTSAMKEITSCOACHING
Das Kunstwerk des Lebens gestalten
– EHP 2014 –
© 2014 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Bergisch Gladbachwww.ehp-koeln.com
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationabibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich
Redaktion: Nina Zimmermann, Sabine Hedewig-Mohr
Umschlagentwurf: Uwe Giese
Satz: MarktTransparenz Uwe Giese, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher.
print-ISBN 978-3-89797-109-7
epub-ISBN 978-3-89797-574-3
pdf-ISBN 978-3-89797-575-0
eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de
Inhalt
Vorwort
I. Aufmerksamkeit und Achtsamkeit Aufmerksamkeit und Achtsamkeit Aufmerksamkeit und Achtsamkeit
1. Die Treppe der Aufmerksamkeit
2. Achtsamkeit – Was sie ist und was sie nicht ist
Übung: The first appointment of the day
Übung: Innehalten
3. Die Vorteile der Perspektive der Aufmerksamkeitsebenen
Übung: Wie man die eigene Aufmerksamkeit erfasst
4. Achtsamkeit entwickeln
5. Bewusstes, Unbewusstes und Aufmerksamkeit
6. Die westliche und die östliche Weisheit
7. Die Beziehung der Bewusstseinsebenen
8. Vom Umgang mit anderen
Übung: Wie man die eigene Aufmerksamkeit erfasst
II. Achtsamkeit auf der Körperebene
1. Körperliche Aufmerksamkeit in ihrer heutigen Dynamik
Übung: Wechselatmung
2. Ganzheitliche Aufmerksamkeit für den Körper
Übung: Laufen
Übung: Fasten
III. Achtsamkeit auf der Gefühlsebene
1. Sich besser fühlen
Übung: Reize fernhalten
2. Die acht interkulturell wahrnehmbaren Grundgefühle
Übung: Gefühle spüren
Übung: Lieblingsgefühle und Ersatzgefühle
3. Gefühle und Verhalten
4. Gefühle wahrnehmen und reagieren
Übung: Mitgefühl
IV. Achtsamkeit auf der Denkebene
1. Die Errungenschaft des Denkens
2. Positives Denken?
3. Zahlenmenschen, Logik und Dilemmata
4. Denken als Korrektiv
Übung: Herkunft der Gedanken
Übung: Der Verstand in einem kleinen Kasten
Übung: Direkte Erfahrung nach Byron Katies »The Work«
V. Achtsamkeit auf der Ich-Konstrukt-Ebene
1. Vom Denken zum Ich
2. Wie entsteht das Ich?
3. Das Ich-Konstrukt
4. Das Lebensskript
Übung: Begegnung mit Personen
Übung: Ereignisse und Erfahrungen
Übung: Innere Leitbilder
Übung: Skriptmanifestierungen
5. Ankommen in jedem Alter
Übung: Selbstergründung
Übung: Das Bezugsrahmen-Interview
Übung: Fragen zum Lebensskript
6. Die Ich-Zustände
7. Das Ich als Rollenset
Übung: Für mich – was wirklich zählt
Übung: Persönlichkeitskostüm
Übung: Die andere Person
VI. Achtsamkeit auf der transgenerationalen Ebene
1. Das gesamte Erbe der Menschheit
Übung: Mein Vermächtnis
2. Transgenerationale Kraft
3. Leben nach Buchenwald
4. Reinkarnation als Erfahrung
5. Transgenerationale Bahnen
Übung: Eine Person aus deiner Familie
Übung: Mitgefühl
6. Die transgenerationale Sichtweise einbeziehen
Übung: Kunstwerk
VII. Achtsamkeit auf der nondualen Ebene
1. Eine Übung zur Einstimmung
2. Der Spalt zwischen den Gedanken
Übung: Der Spalt zwischen den Gedanken
3. Meditation wirkt
4. Zugangswege zur nondualen Aufmerksamkeit
Übung: Innehalten
5. Die zehn Stufen der Meditation
6. Zen-Koans auf dem nondualen Pfad
7. Aufkeimendes Interesse an nondualer Aufmerksamkeit
8. Nonduale Aufmerksamkeit im Alltag
9. Kein Managementweg
Übung: Ermöglichen
Übung: Beitrag
Übung: Imagination einer Gehirnreise
Übung: Wer ist das?
Übung: Der innere Platz, an dem sich alles auflöst
VIII. Schritte zur integrierten Achtsamkeit
1. Die Haltung der integrierten Achtsamkeit anzielen
2. Für Schutz und Unterstützung sorgen
3. Das Leben als Geschenk verstehen
4. Innehalten und Meditation üben
5. Du musst dein Leben (nicht) ändern!
6. Die neue Identifikation finden
7. Dich selbst erkennen und nicht vergleichen
8. Sich von sich selbst nicht alles gefallen lassen
9. Hingabe lernen
10. Die Wege der Weisheit nutzen
11. Berufungen vorsichtig nützen
12. Sich an das Wesentliche erinnern
IX. Antworten auf spezielle Fragen
1. Wie lerne ich meine Persönlichkeit kennen?
2. Was ist von Persönlichkeitstests zu halten?
3. Wie kann man seiner Persönlichkeit auf die Spur kommen?
4. Ist man auf einen Typ festgelegt?
5. Mit welchen Übungen kann man seine Wahrnehmung schärfen?
6. Welche Herausforderungen verlangt die heutige Zeit?
7. Sind das angesichts von Hunger und Krieg Luxusprobleme?
8. Gibt es überhaupt eine Entwicklung der Menschheit?
9. Welche Rolle spielen Religionen für den Weg?
10. Kann ein Atheist den Weg zur integrativen Achtsamkeit finden?
11. Welchen Wert haben spirituelle Weisheitslehrer?
12. Welche Rolle spielt die Seele des Menschen?
13. Wie sind die Begriffe Erwachen und Erleuchtung einzuordnen?
14. Woher nimmt man die Antriebsfeder für Veränderung?
Fragebogen zur Aufmerksamkeit
Literatur
Abbildungsverzeichnis
Dank
Von meiner Herkunft bin ich Moselaner, das heißt ich stamme aus einer Region, die immer wieder zwischen Frankreich und Deutschland hin und her geschoben wurde. So ist mir wahrscheinlich schon eine gewisse Distanz zu zufälligen, rein äußerlichen Formaten wie Nationalität und Staatenzugehörigkeit in die Wiege gelegt. Man lernte, Aufmerksamkeit auf das Wesentliche des Menschseins zu lenken.
Die sozial geöffnete Bildungslandschaft im Deutschland der 1970er- und 1980er-Jahre ermöglichte es mir, Ökonomie und Psychologie zu studieren. Mein Dank gilt diesem gesellschaftlichen Geschenk. Achtsamkeit bezüglich Wirtschaft und Geist umfasst wesentliche Seiten des menschlichen Lebens.
Meine Vorstandstätigkeit in einer internationalen Organisation ließ mich dann die Begegnung unterschiedlichster Kulturen hautnah erleben. Dank auch dafür.
Für die ganz konkrete Unterstützung bei diesem Buch danke ich für konstruktiv-kritisches Feedback Dr. Bernhard Kohlenbach, Dolores Lenz, Gabriele Engelke und Susanne van Lessen. Insbesondere aber wäre es nie entstanden ohne die redaktionelle Arbeit von Sabine Hedewig-Mohr.
Vorwort
Achtsamkeit fußt auf der Begeisterung für das Kunstwerk des Lebens und der Bereitschaft, daran zu bauen, es zu erweitern, Zeit darin zu investieren. Achtsamkeit geht über die pure Wahrnehmung hinaus. Sie macht das Wesentliche in uns und um uns präsent. Wie man ihr auf die Spur kommt, kann man lernen. Man kann sich selbst coachen, um zur Achtsamkeit zu finden. Mit dem vorliegenden Buch erhalten Sie eine Unterstützung auf dem Weg Ihrer persönlichen Entwicklung. Es lehrt die Haltung der Achtsamkeit auf der Basis eines praktischen Persönlichkeitsbildes. Viele Menschen kommen irgendwann an einen Punkt, an dem sie ihr wirkliches Potenzial kennen lernen und entfalten wollen. Im Coaching fragen mich meine Klienten, wie sie ihre Ressourcen, ihr Potenzial, ihre eigene Genialität erkennen und nutzen können. Wie können sie sich vor Burn-out schützen? Wie können sie Zufriedenheit erlangen? Um an dieser Stelle Unterstützung zu geben, habe ich dieses Buch geschrieben. Ansprechen möchte ich Menschen, die sich in einem Entwicklungs- und Veränderungsprozess befinden, sowie Berater und Coaches, die mit ihren Klienten an diesen Themen arbeiten. Coaching wird als eine Haltung der intelligenten und ganzheitlichen Begleitung anderer Menschen verstanden. Dies fußt in erster Linie auf einer guten Selbstachtsamkeit und Selbstbegleitung. Das Coaching anderer baut darauf auf. Ich kann andere nur gut begleiten, wenn ich mich selbst erkennen und achten kann. Die Selbstbegleitung ist dabei keinesfalls trivial, wie es der Psychotherapeut und KZ-Überlebende Viktor Frankl einmal auf den Punkt gebracht hat: »Ich muss mir doch nicht alles von mir gefallen lassen.« Sie ist auch eine deutliche Abkehr von der Einstellung, wie sie Udo Lindenberg besingt: »Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur viel zu selten dazu.« Wenn man immer die Umstände und andere verantwortlich macht, ist man zwar gut beschäftigt, bleibt aber in der Opferhaltung. Wenn man sich selbst allerdings mit den anstehenden Themen konfrontiert und auseinandersetzt, findet Entwicklung im Persönlichen statt. Im Mittelpunkt des hier dargestellten Konzeptes steht die Treppe der Aufmerksamkeit. Wer sich auf allen Stufen den aufkommenden Fragen stellt und Aufmerksamkeit in Achtsamkeit verwandelt, findet seinen Weg. Darin kommt der systemische Ansatz zum Tragen, der davon ausgeht, dass wir durch die Lenkung unserer Aufmerksamkeit unser Leben steuern können.
Das Buch vermittelt eine Haltung der Achtsamkeit, der ein praktisches Persönlichkeitsbild zugrunde liegt, und füllt damit eine aktuelle Lücke zwischen den eher wissenschaftlich orientierten und den mehr im Therapeutischen oder Buddhistischen verwurzelten Beiträgen zur Achtsamkeit.
Günther Mohr, Oktober 2013
I. Aufmerksamkeit und Achtsamkeit
Der Mensch ist Aufmerksamkeit, vom ersten Augenblick seines Lebens an. Aufmerksamkeit war da, bevor sie uns bewusst wurde. Unsere Sinnesorgane sind von Anfang an auf Empfang gestellt. Wir haben unser Leben in einer gemeinsamen Aufmerksamkeit mit anderen Menschen, meist unseren Eltern, begonnen und waren sogar einige Jahre absolut von deren Aufmerksamkeit abhängig. Erst langsam haben wir gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen und uns individuell zu spüren und zu steuern. Aufmerksamkeit ist das kostbarste Gut des Menschen. So hat es der Philosoph Wilhelm Schmid formuliert (Schmid 2007). Aber sie stellt keine Eigenschaft oder besondere Fähigkeit dar. Sie ist ständig vorhanden, ob man will oder nicht. Aufmerksamkeit ist die Grundeinheit der Lenkung der mentalen und aktionsbezogenen Kräfte des Menschen (Mohr 2006). Dort, wo die Aufmerksamkeit hingelenkt wird, findet die Welt für einen Menschen statt.
Achtsamkeit ist das Gewahrwerden der Aufmerksamkeit ohne Wertung bei gleichzeitig gutem und sinnvollem Steuern. Steuern bedeutet ein Einladen und Schaffen von Bedingungen, die Achtsamkeit ermöglichen. Achtsamkeit wird dadurch zum Schritt auf dem Weg zur inneren Ruhe und zu einem integrativen Selbst. Die Erkenntnisse westlicher Wissenschaft sowie östlicher und westlicher Weisheitslehren lassen ein Konzept entstehen, das insgesamt sechs Perspektiven der Aufmerksamkeit unterscheidet. Es übt den Blick auf das Zusammenwirken dieser verschiedenen Ebenen und lässt sie in guter Weise nützlich werden. Vor allem der »nondualen« (nicht trennenden, nicht wertenden, sondern verbindenden) Ebene der Aufmerksamkeit, auf der die Gedanken ruhen und innere Stille entsteht, kommt vor dem Hintergrund einer immer stressigeren und komplexeren Lebensgestaltung eine zentrale Bedeutung zu. Sie birgt entscheidende Kräfte wie Kreativität und Lösungsstärke. Und sie lässt die körperliche Aufmerksamkeit, die Gefühle, das Denken, das eigene Persönlichkeitsselbstbild ebenso wie die transgenerationale Ebene, die familiären, kultur- und milieubezogenen Wurzeln, zur guten Entfaltung kommen. Das Wissen um die verschiedenen Ebenen hilft Menschen, ihre Persönlichkeit zu erkennen und Wege zur Veränderung zu finden.
1. Die Treppe der Aufmerksamkeit
Abb. 1: Die Treppe der Aufmerksamkeit
Ich möchte die Ebenen der Treppe der Aufmerksamkeit kurz von unten nach oben erläutern, da sie sich in der menschlichen Entwicklung normalerweise in dieser Reihenfolge zunehmend offenbaren und damit der stetigen Erweiterung der Bewusstseinsperspektive dienen. Später im Buch werden die Möglichkeiten der einzelnen Ebenen detailliert dargestellt.
Das körperliche Bewusstsein ist entwicklungspsychologisch die erste Wahrnehmung im Leben eines Menschen. Dieses Bewusstsein bleibt in der Regel das ganze Leben lang erhalten. Vielleicht unterscheiden wir zunächst nur kalt und warm, schmerzhaft und schmerzlos, hungrig und satt. Das körperliche Bewusstsein differenziert sich weiter aus und begleitet uns unser ganzes Leben.
Körperliche Aufmerksamkeit
Aufwachsen, Ernährung, körperliches Befinden, Krankheiten, Schmerzen, Sport, Altern, …
Der Körper ist die biologische Grundlage des menschlichen Lebens und damit wesentliche Voraussetzung für Aufmerksamkeit. Der Körper ist vor allem am Beginn und am Ende des Lebens sehr zentral. Und die gesamte Art, wie die Spezies Mensch ihre Welt erfasst, ist durch ihre spezifischen Sinnessorgane und die typische Informationsverarbeitung des Gehirns, beides körperliche Bedingungen, bestimmt. Unsere Welt existiert in dieser Form nur für uns Menschen.
Emotionale Aufmerksamkeit
Differenzierung der Gefühle, Stimmungen aus persönlichen, biografischen Erlebnissen, aktuelle Gefühlsreaktionen, …
Als zweites folgt die emotionale Aufmerksamkeit, die Gefühle. Aus der anfänglich noch von der körperlichen Verfassung bestimmten Einordnung »angenehm« und »unangenehm« differenziert sich die weitere Aufmerksamkeitsebene, die der Gefühle wie Freude, Trauer und Ärger heraus. Einzelne davon werden uns mehr vertraut als andere. Dies macht bald einen Teil des Typischen im Ausdruck des jeweiligen Menschen aus.
Denkerische Aufmerksamkeit
Logik und Regeln, Rollenebene, Auftreten auf den Alltagsbühnen des Lebens wie Beruf, Partnerschaft oder Erziehung nach deren jeweiligen Spielregeln, …
Mit der Sprache entwickelt sich rationale, denkerische Kompetenz. Denken ist dann die Verknüpfung einzelner Ereignisse und Aspekte miteinander. Das Verbinden gemachter Erfahrungen mit aktuell anstehenden Aufgaben bildet den Kern dieser Aufmerksamkeitsebene.
Ich-Konstrukt-Aufmerksamkeit
Selbstbild, Persönlichkeitsausdruck, Bezugsrahmen, Lebensskript, …
Durch wachsende Erfahrung mit sich selbst und mit dem, wie andere auf einen reagieren, werden bald Schlussfolgerungen über das Leben gezogen. Der Ich-Gedanke ist die große Zäsur. Die Eltern freuen sich, wenn das Kind nicht mehr in der dritten Person von sich spricht, sondern »Ich« sagt. Es beginnt der entscheidende Prozess der Schlussfolgerungen über die eigene Person und andere. Der kleine Mensch macht sich einen fundamentalen Reim auf die Welt, auf alles, was er erlebt. Alfred Adler spricht von der »Lebensleitlinie« (Adler 1966), Eric Berne vom Lebensskript (Berne 1972). Das erste Ich-Konstrukt entsteht. Dies geschieht zunächst emotional durch die bedingungslose Liebe zu denen, die ihm das Leben ermöglichen, in der Regel zu den Eltern, und kognitiv mit den kindlichen Fähigkeiten, die noch anders sind als bei Erwachsenen. Sie sind durch vielerlei kind-typische Wahrnehmungs- und Verarbeitungsformen wie das magische Denken geprägt, wie der Entwicklungspsychologe Jean Piaget es hervorragend beschrieben hat (Piaget 1948). Es entstehen Grundlagen einer Selbstbildprägung, die dem Menschen für sein gesamtes Leben ein Strukturmuster für die eigene Person geben: ein erstes Ich, das sich weiterentwickelt und Teile im Unbewussten parkt. Dieses Ich ist eine Konstruktion, ein Lernergebnis, noch strenger ausgedrückt ein Konditionierungsergebnis, und entsteht aus dem Erleben häufiger Zusammentreffen bestimmter körperlicher, emotionaler, denkerischer Reaktionen und der Kommentierung durch die anderen. Somit ist es ein Gewohnheitsergebnis. Man erkennt sich jeden Morgen beim Blick in den Spiegel wieder. Daraus etwas Besonderes, die eigene Identität Beschreibendes zu konstruieren, ist verständlich, aber eigentlich nicht zwingend. Denn die Eltern kennen das Kind genauso wenig wie es sich selbst kennt. Das Geniale, Einzigartige wird häufig unter Schablonen des Funktionierens verborgen. Die Eltern definieren mit dem, was ihnen als Vergleich zur Verfügung steht, eher wild herum und das Kind hört zu. Denn das Ich-Konstrukt befriedigt das Strukturbedürfnis des Menschen (Berne 1963), bleibt aber ein Provisorium, das später achtsame Überprüfung braucht.
Transgenerationale Aufmerksamkeit
Aus der eigenen Sippe, der Kultur, der Familie übernommene Aufträge im Leben, Archetypen, Bezug zu früheren Generationen und nachfolgenden, Kindern, Enkeln, …
Die nächste Aufmerksamkeitsebene geht über das eigene Ich hinaus, ich nenne sie die transgenerationale Ebene. Sie enthüllt sich einem Menschen erst bewusst, wenn er sich aktiv mit ihr beschäftigt. Das Interesse, die Achtsamkeit für diese Ebene kommt den meisten erst in der zweiten Lebenshälfte. Natürlich ist sie von Anfang an virulent, weil die Eltern und andere Familienangehörige sie verkörpern und vermitteln. Sie ist aber meist unterschwellig von Beginn an wirksam. Sie besteht aus Impulsen und tieferen Prägungselementen aus der eigenen Familie, der Sippe (Weber 1993), dem Milieu (Schmid 2011) und der Kultur, wie die indische Wissenschaftlerin Pearl Drego und der italienische Arzt Marco Mazzetti belegen (Drego 2005; Mazzetti 2010). Selbst wenn Menschen sich von ihrer Familie abwenden und deren Werte ablehnen, ist diese mehrgenerationale Ebene vorhanden. Die Ergebnisse der modernen Familienforschung zeigen dies. Die Therapeuten Iván Boszormenyi-Nagy und Geraldine Spark (1973) nehmen eine Art »Hauptbuch der Familie« an, in dem durch Unrecht und Nichtbeachtung immer wieder buchhalterisch offene Posten entstehen, die von späteren Generationen ausgeglichen werden. Der Psychiater Helm Stierlin (1978) prägte die Vorstellung der »Delegate« in den Familien, der emotionalen Vermächtnisse, die über die Generationen weitergegeben werden. Der wegen seiner wenig einfühlsamen Ansprachen umstrittene Familientherapeut Bert Hellinger (2003) und seine Schüler konnten eindrucksvoll die Kraft des Mehrgenerationalen zeigen. Jeder Mensch besitzt ein tiefes Bewusstsein über Familiensysteme, das sich in der teilhabenden Beobachtung in den Familienaufstellungen beweist. Die Mexikanerin Gloria Noriega (2004) belegte die psychische Wirksamkeit der Themen der vorvorgehenden Generation in ihren Studien. In asiatischen Ländern wird dieses Bewusstsein noch um ein weiteres Element ergänzt, das über Familie, Sippe und Kultur hinausgeht, den Glauben an die Reinkarnation (Lama Govinda 2007; Ricard 2007). Reinkarnation ist etwa in Indien ein ganz selbstverständlicher Bestandteil des kollektiven und individuellen Bewusstseins. Konfrontiert mit den Zweifeln der westlichen Welt findet Tendzin Gyatsho, der 14. Dalai Lama, allerdings genauso viele Belege für die Reinkarnation wie er Argumente gegen die Existenz dieses Phänomens sieht (Tendzin Gyatsho, 14. Dalai Lama, 2009).
Nonduale Aufmerksamkeit
Erfahren der Verbindung von Allem, Erfahren der Einheit von Allem, Erfahren der »Leerheit« aller Formen, …
Die oberste Treppenstufe ist die nonduale Aufmerksamkeit. Nondual heißt »nicht zwei« und ist die Aufmerksamkeitsstufe, in der man die Welt stimmig, integriert, nicht mehr in irgendwelche Kategorien getrennt erlebt. Sie zeigt sich den Menschen auf sehr unterschiedlichen Wegen, manchmal in der Meditation, aber auch in der Tiefenentspannung, nach intensiver körperlicher Betätigung, durch Musik, durch die Wirkung einer Landschaft oder eines Gebäudes, aber auch in mancher Alltagsversunkenheit in einem Tagtraum oder im Gebet. Normalerweise führen die Menschen die nonduale Aufmerksamkeit auf das Äußere zurück. Es ist aber nicht das Äußere, sondern das, was in dem Moment innen zur Resonanz kommt. Der Begriff »nondual« vermeidet das Wort »spirituell«, das explizit oder implizit mit bestimmten Religionsvorstellungen assoziiert wird. Denn es geht um eine erfahrbare Ebene und nicht um die Glaubens- (= Denk-) Konstrukte von Religionen. Sicher bemühen sich die mystischen Richtungen aller Religionen, genau diese Ebene zu trainieren. Der Weisheitslehrer Willigis Jäger sieht im Nondualen den übergreifenden, essenziellen Bezug zum großen Ganzen, den alle Weisheitslehren und Religionen auch enthalten. Er unterscheidet dies aber deutlich von den beiden anderen Ebenen der Religion, der um Emotion bemühten Volksreligion sowie der im Denken verwurzelten Theologie und Theodizee (Jäger 2005). So zeigt die nonduale Erfahrungsebene das, worum sich alle Weisheitslehren bemüht haben: diejenigen, die auf einem Gott aufbauen, die, die ohne ihn auskommen und sogar die, für die er tot ist (z. B. Nietzsche), was aber hieße, dass er schon mal gelebt haben müsste. Pragmatisch kann man im erfahrbaren Teil des Nondualen auch die Verbindung zum Strom des Lebens insgesamt sehen, wie ich es in »Coaching und Selbstcoaching« (Mohr 2008) beschrieben habe. Ohne die Einbeziehung der nondualen Aufmerksamkeit gibt es keine Achtsamkeit und keine innere Ruhe. Diese Ebene ist aber zugegebenermaßen nicht so leicht zu beschreiben, weil sie jenseits der Formenwahrnehmung liegt und eher durch längere Übung – etwa in der Meditation – zum Vorschein kommt. Jede Beschreibung stellt bereits eine Form dar, lässt ein inneres Bild entstehen. Sie zeigt sich auch im Alltagsleben, wenn auch nicht laut, sondern eher als zarte Regung und wird dadurch oft nicht bemerkt.
2. Achtsamkeit – Was sie ist und was sie nicht ist
Achtsamkeit ist keine bloße Verlängerung oder Vertiefung der Sinneswahrnehmung, wie sie in zahlreichen Übungen trainiert werden kann. Sie umfasst mehr. »Mindfulness«, wie Achtsamkeit im Englischen heißt, bedeutet, mit dem ganzen Geist (»Mind«) etwas zu erfassen. Dies betrifft das Wesen einer Person, ihre Eigenart, ihren Genius, die oft überhaupt nicht auf der Hand liegen. Insofern ist Achtsam-Werden eine sehr individuelle und für jeden Einzelnen spezifische Aufgabe.
Achtsamkeit
Für Achtsamkeit findet man verschiedene Definitionen. Der Erfinder des MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction), John Kabat Zinn, nennt sie
»offenes, nichturteilendes Gewahrsein von Augenblick zu Augenblick« (Kabat-Zinn 2006, S.35, zit. nach Weiss et al. 2010)
Die »rechte Achtsamkeit« im buddhistischen »edlen achtfachen Pfad« lässt sich nach Auffassung von Weiss et al. (2010) sehen als
»das aufmerksame und unvoreingenommene Beobachten aller Phänomene, um sie wahrzunehmen und zu erfahren, wie sie in Wirklichkeit sind, ohne sie emotional oder intellektuell zu verzerren« (Sole-Leris 1994, S. 26, zit. nach Weis et al. 2010)
Weiss et al. unterscheiden einige Komponenten von Achtsamkeit:
1. Verbunden mit einem bestimmten Modus des Seins
–
Rezeptives Beobachten und Gewahrsein. Innere und äußere Reize werden bewusst bemerkt und wahrgenommen
–
Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment
–
Automatische Reaktionen auf innere und äußere Erfahrungen werden unterlassen, im Gegensatz zum »Autopilotenmodus« (Kabat-Zinn 2006)
2. Eine bestimmte Haltung Erfahrungen gegenüber
–
Akzeptanz: Erfahrungen so akzeptieren, wie sie sind
–
Nicht-Bewertung: kein gut oder schlecht
–
Kein konzeptionelles Denken: keine Einordnung der aktuellen Erfahrungen in bestehende Konzepte, auch nicht in vergangene Erfahrungen
–
Anfängergeist: Dinge betrachten, als würden man sie zum ersten Mal sehen
–
Zulassen und Erlauben als Gegensatz zu Vermeidung und Unterdrückung von Erfahrungen
–
Kein Veränderungswunsch
–
Intentionalität: vorhandene Absicht, achtsam zu sein
3. Techniken
–
Konzentration und Fokussierung zu innerer Ruhe als Voraussetzung für Achtsamkeit
–
Etikettieren – Benennen der Erfahrung in einfachen Worte, nicht Konzeptionen
4. Ziele und Wirkungen
–
Einsicht und Klarheit – Wahrnehmung der Welt
–
Ruhe, innerer Frieden und Gleichmut
–
Entwicklung von Freiheit; Befreiung von Leid im umfassenden Sinne
–
Entwicklung von liebender Güte, Mitgefühl und Mitfreude
–
Selbstregulation
–
Präsenz
–
Ermöglichung neuer Erfahrungen.
(Weiss et al. 2010, S. 20 ff.)
Manche Menschen erreichen plötzlich Achtsamkeit, ohne viel geübt zu haben. Bei anderen ist es mühsamer, wie es die Zen-Geschichte des großen Meisters Akoshi verdeutlicht.
Er hatte als Zen-Schüler 15 Jahre lang jedes Koan (Rätsel zur Schulung der Geisteskraft) gelöst und während dieser ganzen Zeit asketisch gelebt. Er galt als Vorbild aller Übenden. Allerdings spürte er, dass er die Erleuchtung nicht erreicht hatte. Dies musste auch sein Meister konstatieren. So beschlossen sie, dass er das Kloster verlassen sollte. Er fühlte sich, als wäre er gescheitert. Als er den Klosterbezirk, der direkt neben dem Bordellviertel lag, verließ, dachte er, jetzt komme es auch nicht mehr drauf an und ging zu einer der schönen Frauen, die sich dort anboten. Und als er mit der Frau zusammen war, fühlte er die Erleuchtung. Er wurde ein großer Meister.
Achtsamkeit kennt also viele Wege und sie ist individuell. Achtsamkeit wird sehr unterschiedlich erlebt. Für den einen ist sie tatsächlich Beruhigung, Entspannung, innere Ruhe, und den anderen kratzt sie auf, er bekommt endlich die Energie, seiner Berufung zu folgen. Achtsamkeit ist kein Wellnessprogramm, das auf die bürgerliche Sicherheit aufgesetzt wird. Im Beruf sind wir erfolgreich, die Kinder sind aus dem Haus, das Haus ist abbezahlt, jetzt besorgen wir uns noch Achtsamkeit. Achtsamkeit ist keine Fortsetzung eines unendlichen Entspannungsprogramms. Es ist nicht das permanente »Om« auf den Lippen. Denn der skurrile Auftritt, den manche mit Achtsamkeit verwechseln, trennt von anderen Menschen und lässt so ein wesentliches Moment von Achtsamkeit, die Beziehung zu anderen Menschen, außer Acht.
Achtsamkeit besteht nicht in einem Rückzug aus der Welt. Der Mensch ist ein grundlegend soziales Wesen. Achtsamkeit ist von Mitgefühl oder dem christlichen Begriff »Nächstenliebe« nicht zu trennen. Zur Achtsamkeit gehört die Erkenntnis, dass ausgeprägter Individualismus eine sich zwar verbreitende, aber merkwürdige und unrealistische Sichtweise ist. Ohne andere Menschen, ohne die Beiträge früherer Generationen und auch ohne unsere Umwelt wären wir nichts. Deshalb bedeutet Achtsamkeit auch achtsames Eingreifen in die Welt, jedoch aus einer ›geläuterten‹ Perspektive heraus, die weder gedankenlos noch blind oder etwa hysterisch durch die emotionale Ebene getrieben agiert.
Ab dem mittleren Erwachsenenalter interessieren sich viele Menschen für Spiritualität oder Religion. Vielleicht ist der näher rückende Tod für diese Hinwendung verantwortlich. Das ist in allen Kulturen so. In der traditionell sehr spirituell geprägten Kultur Indiens widmen sich gläubige Hindus nach einem erfolgreichen Berufsleben im dritten Lebensdrittel der Spiritualität. Achtsamkeit ist aber auch hier die intensive Auseinandersetzung mit den kindlich geprägten religiösen Vorstellungen. Da ist vieles auszusortieren, was noch ungeprüft im Unbewussten als wirksame Vorstellung schlummert.
Nach allen Erklärungen, was Achtsamkeit nicht ist, kann man sie viel knapper folgendermaßen beschreiben: Achtsamkeit ist ein ganzheitlicher, bewusster Einsatz der Aufmerksamkeitsebenen. Mit seinem ›inneren Beobachter‹ oder ›inneren Zeugen‹ sieht man das gute Zusammenwirken seiner Aufmerksamkeitsebenen zu einer integrierten Achtsamkeit. Achtsamkeit ist mehr Akzeptanz als Bewertung und Veränderung. Aber akzeptiert man sich erst einmal so wie man ist, entstehen Entwicklung und Veränderung sehr viel leichter. Man hält sich dann nicht mehr mit überlagernden Mustern auf. Der Mensch erfährt seinen individuellen Weg.
Achtsamkeit ist gerade heute ein Weg gegen Burn-out. Achtsamkeit steht dem Sich-Verlieren in der totalen Reizwelt der vielen Pseudoannehmlichkeiten und vermeintlichen Sachzwänge gegenüber.
Übung: »The first appointment of the day«
Mach den ersten Termin morgens mit dir und deiner Aufmerksamkeit. Hol’ dich selbst für den Tag ab. Nimm dir mindestens eine halbe Stunde Zeit, um mit deinem Innersten in Kontakt zu kommen und dich zu zentrieren. Du kannst die verschiedenen Aufmerksamkeitsebenen zu Wort kommen lassen.