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Ronald H. Balson

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Beschreibung

Der Musik verdanken sie Ihre Liebe – bis sie grausam getrennt werden ...

Die Anwältin Catherine Lockhart und ihr Ehemann Liam Taggart sollen in der Toskana der betagten Gabriella Vincenzo helfen, die von ihrem Weingut vertrieben werden soll. Allein ein Manuskript aus den dreißiger Jahren könnte Gründe liefern, das zu verhindern. Ada, eine begnadete Geigerin, erzählt darin, wie sie als Jüdin trotz der Fürsprache des berühmten Konzertmeisters Furtwängler und ihrer Jugendliebe Kurt in immer größere Gefahr gerät und schließlich in Italien Zuflucht sucht. Doch wie hängt Adas Schicksal mit Gabriellas zusammen?

Die tragische Liebesgeschichte einer brillanten Geigerin – und ihre Auswirkungen bis in unsere Zeit. Ein weiterer Teil der Erfolgsserie mit Catherine Lockhart und Liam Taggart.

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Über Ronald H. Balson

Ronald H. Balson ist Rechtsanwalt, und seine Fälle führten ihn um die ganze Welt, unter anderem nach Polen. Die Geschichte des Landes im Zweiten Weltkrieg inspirierte ihn zu diesem Roman, der ein internationaler Bestseller war. Heute lebt und schreibt Ronald H. Balson in Chicago.

Im Aufbau Taschenbuch liegen seine Romane »Karolinas Töchter« und »Hannah und ihre Brüder« vor.

Gabriele Weber-Jarić lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie übertrug u. a. Mary Morris, Mary Basson, Kristin Hannah und Imogen Kealey ins Deutsche.

Informationen zum Buch

Der Musik verdanken sie Ihre Liebe – bis sie grausam getrennt werden.

Die Anwältin Catherine Lockhart und ihr Ehemann Liam Taggart sollen in der Toskana der betagten Gabriella Vincenzo helfen, die von ihrem Weingut vertrieben werden soll. Allein ein Manuskript aus den dreißiger Jahren könnte Gründe liefern, das zu verhindern. Ada, eine begnadete Geigerin, erzählt darin, wie sie als Jüdin trotz der Fürsprache des berühmten Konzertmeisters Furtwängler und ihrer Jugendliebe Kurt in immer größere Gefahr gerät und schließlich in Italien Zuflucht sucht. Doch wie hängt Adas Schicksal mit Gabriellas zusammen?

Die tragische Liebesgeschichte einer brillanten Geigerin – und ihre Auswirkungen bis in unsere Zeit.

Ein neuer Teil der Erfolgsserie mit Catherine Lockhart und Liam Taggart

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Ronald H. Balson

Ada, das Mädchen aus Berlin

Roman

Aus dem Amerikanischen von Gabriele Weber-Jarić

Inhaltsübersicht

Über Ronald H. Balson

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Dank

Impressum

In liebender Erinnerung an Sara Titlebaum,

großartige Konzertpianistin, Lehrerin

und Solistin des Detroit Symphony Orchestra,

die mir ihre Liebe zur Oper vermacht hat.

Und für meine Frau,

aus so vielen Gründen,

dass ich sie gar nicht alle aufzählen kann.

Kapitel 1

Pienza, Juli2017

Die Sonne brannte heiß über den sanft gewellten Hügelketten der Toskana. Selbst in Lenzinis silberfarbenem Alfa Romeo war es viel zu warm, die Klimaanlage kam schon seit Montalcino nicht mehr mit. Lenzini schob seine Sonnenbrille hoch, blinzelte im grellen Licht und wischte sich Schweißtropfen aus dem Gesicht. In Pienza hielt er an und besorgte sich ein kaltes Getränk, bevor er weiterfuhr.

Allerdings war das Wetter nicht das Einzige, was ihm zu schaffen machte. In seinem Aktenkoffer befand sich ein Räumungsbefehl, und er, Lorenzo Lenzini, seines Zeichens Rechtsanwalt, war auf dem Weg zur Villa Vincenzo, um ihn zuzustellen.

Einen anderen Menschen um Haus und Hof zu bringen war für ihn kein Problem, er hatte es oft genug getan. Auch dass die Bewohnerin in diesem Fall schon älter und nicht mehr bei bester Gesundheit war, berührte ihn nicht. Das Einzige, was ihm übel aufstieß, war, dass diese nervtötende Frau es irgendwie geschafft hatte, die hiesige Bevölkerung auf ihre Seite zu bringen. Er dagegen war seinem Mandanten verpflichtet und gezwungen, die Rolle des Bösewichts zu spielen. Dadurch war sein Ruf in Gefahr, sonst wäre ihm auch das einerlei gewesen.

Die Villa Vincenzo lag an einem Hang. Zu ihren Füßen erstreckten sich schattige Olivenhaine und Weingärten voll von saftigen Reben. Es war ein Anwesen, das für die Toskana typisch war – das Haus aus ockerfarbenem Naturstein, das Dach aus Terrakotta, grüne Fensterläden und auf der Terrasse üppig bepflanzte Blumentöpfe. Was andere daran so besonders fanden, war Lenzini unerfindlich. Für ihn waren diese Häuser eines wie das andere.

Er parkte seinen Wagen vor der Villa, griff nach seinem Aktenkoffer und setzte seinen Panamahut auf. Dann stieg er aus. Draußen zog er die Jacke seines cremefarbenen Anzugs glatt, straffte die Schultern und begab sich entschlossenen Schritts zur Eingangstür.

Bevor er den Türklopfer betätigte, ließ er seinen Blick über die Umgebung wandern, diesen fruchtbaren Landstrich aus sanften Grün- und Brauntönen. Beinah alles, was er sah, war im Besitz seines Mandanten, der VinCo S.p.A., einer der größten Weinproduzenten Italiens. Nur die Villa Vincenzo und das dazugehörige Land, auf dem er in diesem Moment stand, gehörte nicht dazu und stellte somit ein Problem dar.

Das Ganze war ein Störfaktor inmitten des VinCo-Gebiets, ein Schandfleck. Monatelang hatte Lenzini versucht, Signora Vincenzo zu einem Vergleich zu bewegen, ihr erklärt, wie umständlich es für seinen Mandanten sei, den Wein um ihr Land herum anzubauen, und dass sie die Symmetrie der ebenmäßigen Rebenreihen der VinCo störe. All das sei eine Anomalie, hatte er gesagt, und müsse deshalb fort.

Ein Dutzend Mal hatte er Signora Vincenzo das Angebot der VinCo unterbreitet, ein überaus faires Angebot, wie Lenzini fand. Es beinhaltete die kostenlose Umsiedlung in eine schöne, bequem zu erreichende Mietwohnung unten im Ort und einen ansehnlichen Geldbetrag. Signora Vincenzos Weigerung, das Angebot anzunehmen, war dumm und nicht nachvollziehbar. VinCo war immerhin die Eigentümerin des Lands und hätte im Grunde gar kein Entgegenkommen zeigen müssen.

Lenzini nahm an, dass die Signora sich diesem Fleck auf ungesunde Weise verbunden fühlte. Nur so konnte er sich erklären, dass eine alte, kranke Frau sich zwanghaft an ein Haus und ein Stück Land klammerte. Alles, was nun geschah, hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Er hatte lediglich die rechtlichen Schritte unternommen und den Gerichtsbeschluss erwirkt, nach dem Signora Vincenzo Haus und Grundstück innerhalb der nächsten sechzig Tage zu räumen hatte. Pech für sie, aber so war der Lauf der Dinge.

Lenzini atmete tief durch und klopfte an die Eingangstür.

Floria, die junge Betreuerin von Signora Vincenzo, ebenso unfreundlich wie die alte Dame selbst, öffnete ihm und fragte: »Was ist jetzt schon wieder?«

»Bitte holen Sie die Signora. Ich habe einen Gerichtsbeschluss in der Tasche.«

»Das interessiert mich nicht, Signor Lenzini. Die Signora hat Ihnen und Ihrem raffgierigen Mandanten mehrfach erklärt, dass sie an Ihren Angeboten nicht interessiert ist. Dieses Land gehört ihr, und sie lebt hier seit vielen Jahren. Deshalb schlage ich vor, dass Sie kehrtmachen und verschwinden.«

Lenzini zog den Räumungsbefehl aus dem Aktenkoffer und schwenkte das Dokument vor der Nase dieser unverschämten Person. »Das ist ein Räumungsbefehl. Und der beinhaltet, dass Sie und die Signora diejenigen sind, die von hier verschwinden werden, nicht ich. Dazu steht Ihnen eine Frist von sechzig Tagen zu. Sollten Sie danach noch hier sein, komme ich mit der Polizei zurück und werde mit Freude zusehen, wie man Sie mit Gewalt vertreibt.«

»Gehen Sie, gehen Sie!«, ertönte es aus dem Haus. Es war die Stimme von Signora Vincenzo, die mit unsicheren Schritten näherkam. Das Alter hatte sie gebeugt, und es war offenkundig, dass ihr das Gehen Mühe bereitete. Sie drohte Lenzini mit ihrem Stock. »Machen Sie, dass Sie fortkommen. Los, verschwinden Sie von meinem Land!«

Lenzini wich zurück und hielt den Räumungsbefehl hoch. »Sie haben sechzig Tage, um auszuziehen. Keinen Tag länger.« Er warf das Dokument in den Flur und lief zu seinem Wagen.

Floria legte einen Arm um die Signora und führte sie wieder ins Haus.

Kapitel 2

Chicago, Juli2017

Liam und Catherine waren auf dem Weg zu einem ihrer Lieblingsrestaurants. Kurz vor dem Eingang blieb Catherine stehen und fragte: »Was war noch mal der Grund, weshalb wir mitten in der Woche ins Sorrento essen gehen?«

»Ich habe Lust auf die Piccata Milanese«, antwortete Liam.

»Und deshalb musste ich von jetzt auf gleich einen Babysitter besorgen? Weil du heute Abend in Parmesan gebackene Kalbsschnitzel essen willst? Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Also gut.« Liam zuckte mit den Achseln. »Tony hat uns eingeladen.«

»Ach.« Catherine zog die Brauen hoch. »Und wann war das?«

»Heute Nachmittag. Er hat mich angerufen.«

»Und warum lädt er uns ein?«

»Das weiß ich nicht. Kann sein, dass er etwas auf dem Herzen hat. So hörte er sich jedenfalls an.«

Catherines Blick wurde bohrend. »Was hat er auf dem Herzen?«

»Ich glaube, es ging um ein kleines Rechtsproblem.«

Catherine seufzte. »Ich dachte, für solche Probleme hätte ich eine Kanzlei. Seit wann bespreche ich Rechtsprobleme in Restaurants?«

Liam legte eine Hand auf Catherines Rücken und schob sie weiter. »Vielleicht dreht es sich nur um einen Strafzettel oder eine Frage hinsichtlich der Schankerlaubnis. Tony arbeitet von morgens bis abends in seinem Restaurant. Er hat keine Zeit, zu dir zu kommen.«

Liam öffnete die Eingangstür.

Im Vorraum des Restaurants standen die Leute Schlange, und im Gastraum schienen alle Tische besetzt zu sein. Liam wollte sich schon an den Oberkellner wenden, als Tony Vincenzo selbst mit ausgebreiteten Armen auf sie zukam. Er küsste Catherine auf beide Wangen und schüttelte Liams Hand. »Buonasera und danke, dass ihr gekommen seid.«

Unter den missmutigen Blicken der wartenden Gäste lotste er Liam und Catherine zu einem freien Tisch und nahm das Schild »Reserviert« herunter. »Bitte, nehmt Platz.« Den Kellner, der mit zwei Speisekarten herbeieilte, winkte er fort und erklärte: »Für euch habe ich mir ein ganz besonderes Menü ausgedacht.«

Nach dem Aperitif, der Vorspeise und zwei Gläsern sündhaft teurem Rotwein beugte Catherine sich zu Liam vor und flüsterte: »Es ist alles vom Feinsten. Wetten, dass es um mehr als ein kleines Rechtsproblem geht?«

Liam lachte. »Vielleicht hat Tony jemanden umgebracht.«

Gegen zweiundzwanzig Uhr, nach gegrilltem Seebarsch, Pecaneis, Kaffee und Grappa verabschiedete Tony die letzten Gäste. Wenig später setzte er sich zu Liam und Catherine, legte eine Aktenmappe auf den Tisch und fragte, ob es ihnen geschmeckt habe.

Liam lächelte glücklich und strich sich über den Bauch.

»Es war wundervoll«, antwortete Catherine.

»Das freut mich.« Tony schlug die Mappe auf und wandte sich Catherine zu. »Hat Liam dir gesagt, dass es in meiner Familie ein Riesenproblem gibt?«

Catherine warf ihrem Mann einen strafenden Blick zu. »Er hat es etwas anders ausgedrückt.«

Tony lehnte sich zurück. »Es geht um meine Tante Gabriella, die in Italien lebt. Eine liebe alte Dame, leider schon etwas gebrechlich. Aber sie ist ein wunderbarer Mensch, jeder, der sie kennt, wird das bestätigen.« Er nickte vor sich hin und schien sich in seinen Gedanken zu verlieren.

Liam wartete einen Moment, dann fragte er: »Und weiter?«

Tony straffte sich. »Und nun kommt so ein – ein Stronzo – daher und will sie aus ihrem Haus werfen. Eine Frau von achtundsiebzig Jahren, um deren Gesundheit es nicht zum Besten steht. Es ist nicht zu fassen.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Seit ich denken kann, hat meine Tante auf ihrem Grundstück und in ihrem Haus gelebt, und nun soll sie es innerhalb von sechzig Tagen räumen.«

»Mit welcher Begründung will dieser – Stronzo sie auf die Straße setzen?«, fragte Catherine.

»Pah.« Tony schnaubte. »Wenn es nur um ihn ginge, würde ich euch mit der Sache gar nicht erst behelligen. Das würde ich mit dem Scheißkerl von Mann zu Mann regeln. Doch er ist bloß der Anwalt. Hinter ihm verbirgt sich VinCo, ein großer Weinproduzent. Dort behauptet man, Eigentümer des Grundstücks zu sein.«

»Wie seltsam«, sagte Catherine. »Hat deine Tante diesem Unternehmen ihre Rechte an Haus und Grundstück abgetreten? Ist es denkbar, dass sie etwas in der Art unterschrieben hat?«

Tony schüttelte den Kopf. »Niemals. Sie ist körperlich nicht mehr ganz auf der Höhe, aber geistig ist sie topfit. Sie sagt, dass sie die Grundstücksurkunde besitzt, die auf ihren Namen ausgestellt wurde, und auf das, was sie sagt, ist Verlass.«

Tony winkte einen Kellner herbei, der den Tisch abräumte und darüberwischte. Dann breitete er eine Landkarte der Toskana aus und tippte auf einen Fleck in der Mitte. »Hier liegen die Villa Vincenzo und das beinah dreißig Hektar große Grundstück mit Olivenbäumen, Gemüsegärten und Weingärten. Das Gemüse meiner Tante ist ein Gedicht, solche Zucchini habt ihr noch nicht gegessen. Ich wünschte, so etwas gäbe es auch in Chicago.« Tony malte mit dem Finger einen großen Kringel auf die Landkarte. »Das Land ringsum gehört VinCo. Das Management dieses Unternehmens hasst Tante Gabriella. Ihr Stückchen Land ist ihnen ein Dorn im Auge. Seit Monaten versuchen sie alles Mögliche, um meine Tante zu verjagen, bieten ihr lächerliche Abfindungen an – behaupten, das Land gehöre ihr nicht. Aber sie bleibt standhaft. Und nun haben sie ihr einen ihrer zwielichtigen Anwälte auf den Hals gehetzt. Er soll dafür sorgen, dass sie verschwindet.«

»Hat deine Tante selbst keinen Anwalt engagiert?«, fragte Catherine.

»Doch, zwei sogar. Einen aus Pienza, das ist der Ort, zu dem die Villa Vincenzo gehört, und einen aus Siena. Für beide habe ich tief in die Tasche gegriffen.«

»Und, können sie ihr nicht helfen?«

Tony lachte auf. »Sie behaupten, das Recht stünde auf der Seite von VinCo.«

»Mit welcher Begründung?«, fragte Liam.

Tony entnahm der Aktenmappe Unterlagen. »Das sind die Dokumente, die man mir geschickt hat.«

Catherine griff danach und blätterte durch die Seiten. »Was steht da? Ich kann kein Italienisch.«

Tony zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, für mich ist das bloß Kauderwelsch. So etwas verstehen nur Anwälte.« Er griff nach Catherines Hand. »Hilf du meiner Tante, Catherine, du bist die beste Anwältin, die ich kenne, du kannst es mit diesen Leuten aufnehmen.«

Catherine entzog ihm ihre Hand. »Dein Vertrauen ehrt mich, aber ich weiß nicht, ob es in diesem Fall angebracht ist. Mit italienischen Gesetzen kenne ich mich nicht aus, in Italien bin ich nicht zugelassen, und Italienisch kann ich auch nicht. Du brauchst einen guten italienischen Anwalt.«

Tony seufzte. »Damit VinCo den auch noch schmiert und er dasselbe wie seine Vorgänger behauptet?«

Catherine deutete auf die Unterlagen. »Wie soll ich dir helfen, wenn ich das nicht lesen kann?«

»Ich lasse die Seiten übersetzen. Und dann fliegst du nach Italien und redest mit den Anwälten. Zwing sie, Englisch zu sprechen.« Tony legte eine Hand auf sein Herz. »Du wirst meine Tante lieben.«

Catherine betrachtete ihren Freund kopfschüttelnd. »Schick mir die übersetzten Unterlagen in die Kanzlei. Ich sehe sie mir an, und dann sage ich dir, was ich von der Angelegenheit halte.«

Tony drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Grazie. Und dann fliegst du mit Liam nach Italien und sorgst dafür, dass meine Tante ihr Eigentum behält.«

»Eins nach dem anderen, Tony. Von einer Reise nach Italien kann noch nicht die Rede sein.«

»Fantastico.« Tony drehte sich zu dem Kellner um, der die Nachbartische abräumte. »Guido, drei Limoncelli, bitte.«

*

Catherines Kanzlei lag an der Clark Street im Chicagoer Viertel Lincoln Park. Vor fünf Jahren hatte sie sich selbstständig gemacht und vertrat die Bewohner von Lincoln Park und Umgebung in ihren Rechtsangelegenheiten. Im Vergleich zu früher, als sie als Anwältin einer großen Kanzlei täglich unter Hochdruck stand, verlief ihr Leben nun in ruhigeren Bahnen. Damals hatte ihr Chef sie vor die Wahl gestellt, einen Mandanten aus politischen Gründen fallen zu lassen oder zu gehen. Sie war gegangen und hatte es nicht eine Sekunde lang bereut.

Einige Tage nach dem Abendessen im Sorrento saßen sie und Liam frühmorgens im Besprechungszimmer der Kanzlei und warteten auf Tony Vincenzo. Wenig später wurde er von Catherines Empfangsdame hereingeführt.

Gleich nach der Begrüßung fragte er, ob Catherine gute Nachrichten für ihn habe.

Catherine schüttelte den Kopf. »Die Unterlagen sind zwar nicht so vollständig, wie ich es mir wünschte, aber soweit ich sehe, scheinen die italienischen Anwälte recht zu haben. Die Firma VinCo hat die Villa Vincenzo und die dazugehörigen dreißig Hektar im Jahr zweitausendfünfzehn aus einem Nachlass erworben. Der Vertrag wurde von einem Notar in Siena beglaubigt und aktenkundig gemacht.«

Tony sah sie perplex an. »Was für ein Nachlass? Meine Tante lebt doch noch.«

Catherine konsultierte ihre Unterlagen. »Vertragspartner der VinCo war der Nachlassverwalter einer Deutschen namens Gerda Fruhmann. Sie war die Eigentümerin der Firma Quercia, der die dreißig Hektar plus Haus gehörten.«

Tony schüttelte den Kopf. »Das muss ein Irrtum sein. Von einer Gerda Fruhmann und einer Firma Quercia habe ich noch nie gehört. Ich weiß nicht, wie oft ich bei meiner Tante zu Besuch war, aber diese Namen sind mir nie untergekommen.«

Catherine zog ein Dokument aus den Unterlagen hervor. »Das ist ein Gerichtsbeschluss, der die Firma VinCo zur Eigentümerin der Villa Vincenzo und des umliegenden Lands erklärt. Er wurde nach einer Anhörung ausgestellt. Es wurde vermerkt, dass weder deine Tante noch einer ihrer Anwälte zu dieser Anhörung erschienen ist.«

»Ihre Anwälte standen auf der Seite von VinCo. Meine Tante wird sie gefeuert haben.« Tony hob die Schultern. »Sie kann sehr impulsiv sein.«

Catherine seufzte. »Der Richter hat entschieden, dass der Anspruch deiner Tante ungültig ist. In der Rechtekette taucht ihr Name nicht auf.«

»Welcher Rechtekette?«

»Sie listet die Eigentümer einer Immobilie auf und belegt, wie diese von einer Hand in die andere gelangt ist. Die Rechtekette findest du im Grundbuch. Wie es aussieht, hat deine Tante ihre Urkunde von jemandem erhalten, dem weder Land noch Haus gehörte.«

»Und wer soll das gewesen sein?«

Wieder schaute Catherine in die Unterlagen. »Das war ein Carlo Vanucci, der deiner Tante die Immobilie im Jahr neunzehnhundertfünfundneunzig übertragen hat.«

»Kenne ich nicht.« Tony krauste die Stirn. »Aber das war immerhin zwanzig Jahre, bevor VinCo angeblich alles erworben hat.«

»Wenn das Gericht entschieden hat, dass diesem Vanucci das Land nicht gehörte, spielt der Zeitpunkt, wann VinCo gekauft hat, keine Rolle«, sagte Catherine bedauernd. »Falls es in Italien wie bei uns ist, wird bei einem Grundbucheintrag nicht geprüft, ob ein Anspruch berechtigt ist, sondern nur die Angaben zu Eigentum und Eigentümer. Kommt es später zu Streitigkeiten, entscheidet das Gericht. Und im Fall deiner Tante hat das Gericht gegen sie entschieden.«

Tony sprang auf. »Das ist alles ein einziger Betrug.« Er fuchtelte mit den Armen. »Meine Tante lebt seit ewigen Zeiten in der Villa Vincenzo. Schon als kleiner Junge habe ich sie besucht, und nie habe ich von einer Gerda Fruhmann, einer Firma Quercia oder einem Carlo Vanucci gehört. Das ist alles fingiert, dahinter steckt kein anderer als VinCo.« Er ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen und atmete aus. »Ihr müsst nach Italien fliegen und den Fall klären. Tante Gabriella darf ihr Land nicht verlieren, es wäre ihr Tod.«

»Tony«, sagte Liam in beschwichtigendem Tonfall, »Catherine kann in Italien nichts ausrichten. Du brauchst einen Anwalt, der sich vor Ort auskennt und …«

»Von der Sorte hatten wir schon zwei«, unterbrach Tony ihn. »Die haben sich auf die Gegenseite geschlagen.«

»Und was ist, wenn sie recht hatten und der Anspruch deiner Tante ungültig ist?«

»Unsinn.« Tony tippte auf seine Brust. »Du kennst mich, Liam, und wenn ich dir sage, das Ganze stinkt zum Himmel, dann ist das so. Ihr fliegt nach Italien und regelt das. Catherine sieht sich die rechtliche Seite an, und du findest heraus, wer Gerda Fruhmann, die Firma Quercia und dieser Vanucci sind. Ich komme für alles auf und zahle auch Catherines Honorar. Wohnen könnt ihr im Haus meiner Tante. Und selbst wenn ihr nichts erreichen solltet, habt ihr wenigstens ein paar schöne Tage in der Toskana verlebt.«

»Klingt verlockend«, sagte Catherine. »Ich habe bloß Angst, dass du dein Geld für nichts und wieder nichts ausgibst.«

»Es ist mein Geld, ich kann damit machen, was ich will.«

Catherine und Liam tauschten einen Blick und standen auf. »Liam und ich müssten uns kurz unter vier Augen unterhalten«, sagte Catherine zu Tony. »Bist du damit einverstanden?«

»Ich mache alles, was ihr wollt«, erwiderte Tony.

Liam und Catherine zogen sich in Catherines Büro zurück und sahen sich an.

»Sollen wir das wirklich tun?«, fragte Catherine. »Auch wenn es für nichts und wieder nichts ist?«

Liam nickte. »Ich möchte Tony nicht enttäuschen, er gehört zu meinen ältesten Freunden. Und was ist, wenn es tatsächlich um einen Betrug geht, den wir aufdecken können? Ein paar Tage in der Toskana wären auch nicht schlecht.«

»Und was ist mit unserem Kind?«

»Nehmen wir mit. Ben liebt italienisches Essen.«

»Liam, bitte, wir können doch kein zweijähriges Kind mitnehmen, wie stellst du dir das vor?« Catherine legte die Stirn in Falten. »Ich könnte höchstens meine Schwester fragen, ob er für ein paar Tage bei ihr bleiben darf. Deirdre würde sich freuen, und er wäre in guten Händen.«

Liam strahlte. »Wir fahren also.«

Catherine wirkte unschlüssig. »Wir sind schon seit Langem nicht mehr verreist … aber einfach so in die Toskana fliegen, ohne zu wissen, ob wir dort etwas erreichen? Und ohne Kind?«

Liam gab ihr einen Kuss. »Ich bin sicher, dass wir etwas erreichen.«

Als sie ins Besprechungszimmer zurückkehrten, blickte Tony sie erwartungsvoll an. »Und, wie lautet das Urteil?«

»Wir fahren«, antwortete Catherine. »Aber ohne Erfolgsgarantie und frühestens in zwei Tagen. So lange brauche ich, um meine Termine zu verschieben.«

»Grazie.« Mit feuchten Augen schloss Tony zuerst sie und dann Liam in die Arme. »Meine Tante wird überglücklich sein.«

Kapitel 3

Pienza, Juli2017

Vor über fünfhundert Jahren hatte Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., die Gründung von Pienza in Auftrag gegeben und den Ort so anlegen lassen, dass man auf allen Seiten einen Blick über die liebliche Landschaft des Val d’Orcia hatte.

Nun lag im Zentrum des Ortes die große Piazza Pio II., umgeben von der Kathedrale Santa Maria Assunta, dem Palazzo Piccolomini und dem Bischofspalast oder Palazzo Borgia, den Papst Pius II. seinem engen Mitarbeiter Rodrigo Borgia errichten ließ, dem späteren Papst Alexander VI.

Auf der Piazza fand an jedem Sonntag ein Markt statt, ein kunterbuntes Gemisch aus Farben und Gerüchen. Touristen wie Einheimische drängten sich an den Ständen, wo Früchte, Gemüse, Wurst, Käse, Teigwaren, Kleidung und Kunsthandwerk angeboten wurden.

Gabriella Vincenzo wurde von Floria im Rollstuhl durch die Gassen des Markts geschoben. Sie kannte die Verkäufer seit vielen Jahren, befühlte die Früchte, kostete hier eine Erdbeere, da eine Kirsche.

Bei einem Mann namens Piero erstand sie schließlich eine Schale Erdbeeren und eine Tüte Aprikosen.

Piero schenkte ihr ein Lächeln und legte noch eine Handvoll Kirschen dazu. »Süß wie eine schöne Frau«, sagte er augenzwinkernd und reichte Floria den Einkauf. Dann beugte er sich zu Gabriella hinab. »Wie läuft es mit Lenzini und den Verbrechern, die er vertritt? Sind Sie ihn losgeworden?«

»Lenzini soll in der Hölle schmoren«, antwortete Gabriella. »Er hat mir einen Räumungsbefehl zugestellt, mit einer Frist von sechzig Tagen.«

»Wie bitte?« Piero fuhr zurück. »Das ist nicht wahr – das ist ein Skandal.« Er schüttelte den Kopf. »Unglaublich. Lenzini sollte man in eine Jauchegrube werfen, da gehört er hin.« Wieder beugte er sich vor. »Aber keine Sorge, sollte es wirklich dazu kommen, sind Sie und Floria herzlich eingeladen, bei mir zu wohnen.« Er breitete die Arme aus. »Jedes Haus in Pienza wird Ihnen offen stehen.«

»Danke, Piero«, sagte Gabriella, »aber noch hoffe ich, dass mein Neffe in Amerika mir hilft. Er kennt eine Anwältin, die mit allen Wassern gewaschen ist. In einer Woche kommt sie hierher.«

»Eine Italienerin?«

Gabriella schnaubte ein Lachen hervor. »Nein, eine Amerikanerin, die sich von VinCo nicht kaufen lassen wird. Sie hat sich den Fall angeschaut und weiß schon, warum der Richter gegen mich entschieden hat.«

Piero zog die Brauen hoch. »Und was war der Grund?«

Gabriella zuckte mit den Schultern. »Es hatte irgendetwas mit einer Rechtekette zu tun. Der Kuckuck mag wissen, was das bedeutet.«

Piero legte die Stirn in Falten. »Vielleicht, dass Sie Ihr Land und das Haus nicht vom rechtmäßigen Eigentümer erworben haben?«

Gabriella zog die Brauen zusammen. »Natürlich habe ich das Land rechtmäßig bekommen.«

Piero lächelte beruhigend. »Ihre amerikanische Anwältin wird sicherlich alles regeln. Und falls Sie meine Hilfe brauchen, sagen Sie Bescheid.«

Auf dem Weg zum Auto sagte Gabriella zu ihrer Betreuerin: »Mir ist gerade eine Idee gekommen. Wir holen die Ledermappe mit dem Manuskript aus meinem Schrank. Weißt du, welche ich meine?«

Floria nickte. »Adas Geschichte.«

»Richtig. Bring sie zu jemandem, der vom Deutschen ins Englische übersetzt. Und dann müssen wir alles per Express nach Amerika schicken.«

»Es ist eine lange Geschichte, und Ihr Neffe ist ein vielbeschäftigter Mann. Ich weiß nicht, ob er es schafft, die …«

»Nicht er soll die Geschichte lesen«, unterbrach Gabriella sie ungeduldig. »Die ist für die amerikanische Anwältin.«

Kapitel 4

Chicago, Juli2017

Liam stand im Flur des Stadthauses, das er mit Catherine bewohnte, und kratzte sich am Kopf. Vor ihm türmten sich drei Koffer, eine Aktentasche und eine Computertasche auf. »Wie sollen wir das alles zum Flughafen schaffen?«, rief er die Treppe hinauf.

»Ich habe ein Großraumtaxi bestellt«, schallte es von oben zurück. »Weißt du, wo mein Pass ist?«

»Den hast du mir vor zehn Minuten gegeben. Hast du für Italien auch einen großen Wagen gemietet?«

»Ja.«

»Und einen kräftigen Gepäckträger, der die Sachen in Rom von der Gepäckausgabe zur Autovermietung schleppt?«

»Der bist du.«

Es klingelte an der Eingangstür. Liam umrundete den Gepäckberg und zog die Tür auf.

Tony trat ein, mit einer Tüte in der Hand und einer Ledermappe unter dem Arm. Als er die Koffer sah, fing er an zu lachen.

»Das ist deine Schuld«, sagte Liam.

»Du wirst ein gutes Werk tun«, antwortete Tony belustigt. »Sei froh, dass ich dir die Gelegenheit dazu biete.« Er schlängelte sich an dem Gepäck vorbei. »Ich habe etwas für dich und Catherine.«

»Großartig«, sagte Liam. »Noch mehr Zeug.«

»Stell dich nicht an. Meine Tante hat mir Unterlagen für ›die amerikanische Anwältin‹ geschickt, die wirst du ja wohl noch tragen können.«

Liam wollte nach der Ledermappe greifen, doch Tony schlug seine Hand fort. »Bist du die amerikanische Anwältin?«

Catherine kam die Treppe hinunter. »Sprecht ihr von mir?«

»Ja.« Tony umarmte sie und überreichte ihr die Mappe. »Das sind Unterlagen von meiner Tante, die du lesen sollst.«

»Sag nicht, dass sie auf Italienisch sind.«

Tony schüttelte den Kopf. »Es ist alles auf Englisch.«

Catherine schlug die Mappe auf. Ihr Blick fiel auf die Titelseite mit der Überschrift: Meditation– Ein Stückfür Solovioline. »Ist das ein Manuskript?«

Tony zuckte mit den Schultern. »Ich habe es mir nicht angeschaut. Meine Tante hat nur geschrieben, dass du es lesen sollst.«

»Und warum?«

»Keine Ahnung. Es muss ihr aber wichtig sein, sie hat für eine Kuriersendung gezahlt.«

»Okay«, sagte Catherine mit einem Seufzer. »Und was ist in der Tüte?«

Tony lächelte. »Kleine italienische Spezialitäten für Liam. Er mag das Flugzeugessen nicht.«

Kapitel 5

02.00Uhr, irgendwo über dem Atlantik

Als das Licht im Flugzeug ausgegangen war und nur noch eine kleine Notbeleuchtung brannte, schlief Liam ein. Catherine öffnete die Ledermappe, entnahm ihr das Manuskript, das Tonys Tante ihr geschickt hatte, und begann mit der Lektüre.

Meditation

Ein Stück für Solovioline

Mein Name ist Ada Baumgarten. In der Zeit, die mir noch bleibt, möchte ich all das aus meinem Leben niederschreiben, das von Bedeutung war. Das tue ich für jemanden, der mir sehr am Herzen liegt. Glücklicherweise sind meine Erinnerungen noch sehr lebendig. Ich sehe die Personen, die in meinem Leben eine Rolle spielten, vor mir, habe ihre Stimmen im Ohr und höre unsere Gespräche, als hätten sie gestern stattgefunden.

Trotz meiner Lebensumstände bedauere ich nichts. In vieler Hinsicht habe ich ein reiches und schönes Leben geführt. Doch ich muss von vorn anfangen …

Ich war noch ein kleines Kind, als mein Vater zum ersten Mal sagte, dass Gott mir eine besondere Gabe in die Wiege gelegt habe. Vielleicht hatte er recht. Auch ich kann mir mein musikalisches Talent nicht anders erklären. Ihm verdanke ich, dass ich in namhaften Orchestern mitwirken konnte, als Solistin auftreten durfte und von meinem Publikum verehrt wurde.

Darüber hinaus war es mir vergönnt, zu lieben und geliebt zu werden.

Alles, was Gott noch für mich vorgesehen hat, werde ich ertragen. Doch nun zu meiner Geschichte.

*

Berlin 1918

Ich wurde am 11.November 1918 in Berlin geboren. Es war der Tag, als nach dem Großen Krieg im Wald von Compiègne der Waffenstillstand unterzeichnet wurde.

Meine Eltern hießen Jakob und Friede Baumgarten. Mein Vater war Violinist, aber nicht irgendein x-Beliebiger: Jakob Baumgarten war der Konzertmeister eines der besten Orchester der Welt, sprich, des Berliner Philharmonischen Orchesters.

Als ich zur Welt kam, war Arthur Nikisch Chefdirigent der Philharmoniker, doch am Tag meiner Geburt musste er auf seinen Konzertmeister verzichten. Mein Vater lief im Flur eines Krankenhauses auf und ab und wartete auf die frohe Botschaft, dass sein erstes Kind das Licht der Welt erblickt habe. Er hatte mit einem Jungen gerechnet. War er enttäuscht, als sich herausstellte, dass es ein Mädchen war? Wenn ja, dann schlug dieses Gefühl so rasch in Stolz und Freude um, dass er die Zigarren, die er eigentlich für seine Musikerkollegen in der Philharmonie vorgesehen hatte, voller Überschwang schon im Krankenhaus verteilte.

Mein Vater war ein sanftmütiger und freundlicher Mann, der nichts so sehr liebte wie seine Familie und seine Musik. Die praktischen Dinge des Lebens überließ er meiner Mutter. Sie führte den Haushalt, überwachte die Dienstboten, kümmerte sich um unsere Geldangelegenheiten und entschied, mit wem wir verkehrten. Und sie sorgte für meine Erziehung. Aber ganz gleich, was sie beschloss, mein Vater war mit allem einverstanden.

Das Vorbild für unser Heim war das Elternhaus meiner Mutter. Meine Großeltern waren Ostjuden, zwar nicht reich, aber doch recht gut situiert.

Meinem Großvater gehörte ein Juweliergeschäft in der Oranienburger Straße nahe dem Hackeschen Markt in Berlin. Er war ein zartgebauter Mann mit einem großen Herzen, der mich über die Maßen liebte. Zu meinem zehnten Geburtstag schenkte er mir eine Kette mit einem von einer Kamee geschmückten Medaillon als Anhänger. Sie war mein kostbarster Besitz, zumal mein Großvater gesagt hatte, der Anhänger habe Zauberkraft.

Als Geschäftsmann wusste er sich durchzusetzen, doch in seinem Privatleben war es wie bei uns, dort hatte seine Frau das Sagen. Sie und meine Mutter hatten etwas Bestimmendes und gehörten zu den Menschen, die den Wert von Ordnung und festen Regeln betonten. Das Gefühlvolle innerhalb des Familienlebens überließen sie ihren Ehemännern.

Meine Mutter war eine schöne Frau, mit dunklen Augen und langem schwarzem Haar, das sie am Abend ausgiebig bürstete, um seinen Glanz zu bewahren. Obwohl sie sich nie als Dame der Gesellschaft betrachtete – den Begriff sogar als abwertend empfand –, fiel es ihr leicht, sich in den gehobenen Berliner Kreisen zu bewegen. Es machte ihr Freude, Gäste zu empfangen, ganz gleich, ob es sich dabei um ein elegantes Abendessen, ein Gartenfest oder meine Geburtstagsfeier handelte. Sie hatte auch ein sicheres Gespür für die Auswahl der Gäste und wusste, wen man nicht zusammen einladen sollte. Manche Menschen seien wie Feuer und Wasser, erklärte sie häufig, und wehe, man setzte die einen zu den anderen.

Ich wuchs zu Zeiten der Weimarer Republik auf. Damals war Berlin der glanzvolle Mittelpunkt von Kunst, Wissenschaft und Kultur in Deutschland. Für die deutschen Juden waren das die besten Jahre. Max Liebermann schuf seine wunderbaren Gemälde mit der lichten Farbgebung des Impressionismus, Otto Klemperer und Bruno Walter waren als herausragende Dirigenten bekannt, Erich Fromm galt als einflussreicher Denker auf dem Gebiet der Psychoanalyse, Arnold Schönberg und Kurt Weill waren wegweisende Komponisten. Und Albert Einstein war sicherlich der bedeutendste Physiker seiner Zeit. Fast alle waren sie bei uns zu Gast, nur Einstein kam nicht, obwohl meine Mutter ihn mehrmals eingeladen hatte.

Wir wohnten nicht weit vom Tiergarten entfernt, dem großen Berliner Stadtpark mit den kleinen Seen, Wasserläufen, Wiesen und Bäumen, in dem ich leidenschaftlich gern spielte, am liebsten zusammen mit meinem Pudel Mitzi.

Ich erinnere mich noch gut an die vorwurfsvolle Miene meiner Mutter, wenn ich abends zu spät nach Hause kam. Mit vor der Brust verschränkten Armen empfing sie mich dann und fragte, ob ich wisse, wie viel Uhr es sei, welche Sorgen sie sich gemacht habe und ob ich in Zukunft nicht ein wenig rücksichtsvoller sein könne. Ich gelobte jedes Mal Besserung, doch dann kam wieder ein schöner Tag, an dem ich bei Spielen im Park die Zeit vergaß und mich abends bei meiner Mutter entschuldigen musste.

Es war also meine Mutter, die dafür sorgte, dass ich zu einer halbwegs manierlichen Person heranwuchs, doch meinem Vater verdankte ich meine erste große Liebe – die zur Geige –, und sie währte mein Leben lang.

Es war immer klar gewesen, dass ich dieses Instrument spielen und mein Vater mein Lehrer sein würde, die Frage war höchstens, wann er mit dem Geigenunterricht beginnen würde.

Ich erhielt meine erste Geige, als ich fünf Jahre alt war. Zuvor, so hatte mein Vater erklärt, seien meine Finger noch nicht spielbereit.

Es geschah während eines Sonntagsessens, bei dem Wilhelm Furtwängler zu Gast war, der Arthur Nikisch nach dessen frühem Tod als Chefdirigent der Philharmoniker gefolgt war. Mein Vater und Furtwängler waren gute Freunde; ich mochte »Onkel Wilhelm« ebenfalls.

Als der Kaffee serviert wurde, überreichte mein Vater mir ein klobiges, in mehrere Lagen Papier eingeschlagenes Paket. Ich jauchzte, als ich es auspackte und feststellte, dass darin ein Geigenkasten samt Geige war. Die Geige war kleiner und leichter als die meines Vaters, aber wunderschön geformt und glänzend. Ein Geigenbauer hatte sie nach den Maßgaben meines Vaters angefertigt.

Mein Vater legte die Geige in meinen linken Arm, die Finger auf das Griffbrett und den Bogen in meine rechte Hand. Aufgeregt zog ich den Bogen über die Saiten und produzierte Töne, die man nur als Katzenmusik bezeichnen konnte.

Mein Vater applaudierte, und Furtwängler nickte wohlwollend. »Das ist eine wunderbare Geige, Ada«, sagte er. »Sie wird dir zeigen, was in ihr steckt.«

Als Furtwängler gegangen war, zog mein Vater mich zu sich heran und zeigte mir, wie man die Geige richtig hielt und den Bogen so führte, dass schöne Töne entstanden. »Ich werde dich unterrichten«, sagte er. »Und schon ganz bald wirst du mit deiner Geige eng befreundet sein.«

Von diesem Datum an hatte ich bei ihm jeden Tag eine Stunde Geigenunterricht, nur dann nicht, wenn die Philharmoniker auf Konzertreise waren. Und es kam, wie er es gesagt hatte: Die Geige und ich wurden die besten Freunde.

*

Berlin, November1929

In diesem Jahr war es vorzeitig Winter geworden. Bereits im November fiel der erste Schnee und bestäubte die Bäume mit einer feinen weißen Puderschicht.

Eines Morgens waren Mitzi und ich so früh im Tiergarten, dass wir auf den verschneiten Wiesen und Wegen die ersten Spuren hinterließen. Ich hatte vor Aufregung nicht mehr schlafen können, denn an diesem Tag würde ich mich um die Aufnahme im Jugendorchester der Philharmoniker bewerben, das hohes Ansehen genoss.

Normalerweise wurde man dort frühestens mit zwölf Jahren angenommen, und ich hatte Angst, dass ich mit meinen elf Jahren als zu jung abgelehnt werden würde. Doch mein Vater hatte dem Leiter – einem Mann namens Kritzer – erklärt, dass ich die Geige beherrschte, und ihn gebeten, es mit mir zu versuchen. Er erinnerte ihn daran, dass Nathan Milstein als Elfjähriger sein erstes Violinkonzert gegeben hatte und im Sankt Petersburger Konservatorium angenommen worden war. Und dass Yehudi Menuhin im Alter von sieben mit dem San Francisco Symphony Orchestra aufgetreten war und als Zwölfjähriger mit den Berliner Philharmonikern.

»Meine Tochter ist ein Naturtalent«, sagte mein Vater. Es war das Lob eines stolzen Vaters, doch darüber hinaus war er Konzertmeister der Philharmoniker, und Kritzer wusste, dass er sich auf sein Urteil verlassen konnte.

Kritzer erklärte lediglich, dass ich vermutlich noch mindestens ein Jahr brauche, um mit dem Orchester auftreten zu können. Mein Vater und ich waren sicher, dass ich auch in dem Punkt schon so weit war.

Vor sechs Jahren hatte mein Vater mir die erste Geige geschenkt und mich beinahe täglich unterrichtet. Darüber hinaus hatte ich im Stern’schen Konservatorium Geigenunterricht gehabt. Allerdings war mein Vater der beste Lehrer von allen gewesen. Bei ihm machte das Lernen Spaß, und am Ende einer jeden Stunde erklärte er mir, was mir gut gelungen war. Sein Lob war immer aufrichtig, abgesehen davon war er ein viel zu liebenswürdiger Mensch, um einen Schüler durch eine scharfe Kritik zu entmutigen.

Aber ich übte auch fleißig und ohne dass man mich dazu anhalten musste. Mitunter war es sogar mein Vater, der darauf bestand, dass ich die Geige zur Seite legte und nachmittags wie früher durch den Tiergarten tobte.

Meine Geige lockte mich jedoch immerzu, und die Fortschritte, die ich machte, beflügelten mich. Meine Mutter sagte stets, dass ich mich auf die Geige stürzte wie Mitzi auf ihr Fressen.

Alle, die sich um die Aufnahme ins Jugendorchester bewarben, mussten in den Probenräumen der Philharmonie in der Bernburger Straße vorspielen. Wir waren etwa dreißig Jugendliche und wurden nach unseren Instrumenten in Blechbläser, Streicher, Holzbläser und Schlagwerker unterteilt. Bei den Streichern waren wir zu neunt.

Da ich meinen Vater oft in die Philharmonie begleitet und bei den Proben zugehört hatte, war das Gebäude für mich wie ein zweites Zuhause. Die anderen Bewerber wurden jedoch von der Pracht der Räumlichkeiten eingeschüchtert und wirkten befangen.

Das Jugendorchester stand sowohl Jungen als auch Mädchen offen, im Gegensatz zu den Philharmonikern, zu denen nicht eine einzige Frau gehörte. Einmal fragte ich meinen Vater nach dem Grund und meinte, Frauen seien schließlich ebenso gute Musiker wie Männer, wenn nicht sogar die gefühlvolleren.

»Dafür gibt es keine vernünftige Erklärung«, antwortete mein Vater. »In den großen Orchestern der Welt findet man keine Musikerinnen, und das ist seit ewigen Zeiten so. Das bedeutet nicht, dass Frauen nicht gut genug sind, sie spielen in Streichquartetten, Musikensembles, Kammerorchestern, in kleinen Orchestern und Opernorchestern. Als Solistinnen sind Frauen in den namhaften Spielstätten der Welt aufgetreten. Denk an Clara Schumann, die in Europa mit allen großen Orchestern spielte, oder an Myra Hess im New Symphony Orchestra unter Beecham.«

»Aber sie sind unregelmäßig aufgetreten«, erwiderte ich. »Ich möchte eines Tages das feste Mitglied eines Orchesters sein.«

Mein Vater strich mir über den Kopf. »Die Zeiten werden sich ändern, und dann wirst du sicherlich zu einem guten Orchester gehören.«

»Ich möchte zusammen mit dir bei den Berliner Philharmonikern spielen«, antwortete ich fest. »Als erste Frau in diesem Orchester.«

Bei dem Aufnahmewettbewerb der Streicher spielte zuerst eine vielleicht sechzehnjährige Cellistin vor. Sie war so aufgeregt, dass sie zwei Mal ansetzen musste, und man sah, dass ihre Hände zitterten. Als sie abtrat, hatte sie Tränen in den Augen. Nach ihr kam ein groß gewachsenes Mädchen mit dem Kontrabass an die Reihe, dem mehrere Patzer unterliefen. Nach den beiden gab es eine kleine Pause. Der Junge, der neben mir saß und eine Geige dabeihatte, drehte sich zu mir um.

»Welches Stück wirst du vorspielen?«, fragte er, und man hörte, dass er im Stimmbruch war. Ich sah ihn mir etwas genauer an. Er trug eine Nickelbrille, und sein blondes Haar hing ihm in die Stirn. Seine Arme waren so lang und dünn, als wüchsen sie schneller als der Rest. Doch sein Gesicht gefiel mir, ohne dass ich hätte sagen können, warum.

»Ich werde eine Caprice von Paganini vortragen«, antwortete ich.

Er riss die Augen auf. »Etwa die Nummer vierundzwanzig? Die schwierigste von allen, mit den parallelen Oktaven, den Doppel- und Tripelgriffen und dem linkshändigen Pizzicato? Die willst du vorspielen? Bist du verrückt oder ein Genie?«

Ich musste lachen. »Die Nummer vierundzwanzig kann ich noch nicht. Ich spiele die Nummer neun, die ist nicht so kompliziert.«

»Nicht so kompliziert?« Der Junge schnaubte ein Lachen hervor. »Ich könnte Paganini üben, bis mir die Finger abfallen, trotzdem bekäme ich keine seiner Capricen gut genug hin, um mich beim Vorspielen daran zu wagen. Ich werde eine einfache kleine Sonate von Mozart vortragen, und die habe ich wie ein Irrer geübt.« Er betrachtete mich stirnrunzelnd. »Stimmt es, dass du Baumgartens Tochter bist?«

Ich nickte. »Aber ich bin erst elf Jahre alt.«

»Wenn du begabt bist, spielt dein Alter keine Rolle. Oder glaubst du, mir nützt es etwas, schon vierzehn zu sein?« Er lächelte scheu. »Mein Name ist übrigens Kurt – Kurt König.«

»Ich heiße Ada. Ist dein Vater auch Musiker?«

Kurt schüttelte den Kopf. »Er ist beim Militär. Oder besser, er war dort, inzwischen arbeitet er als Verkäufer. Alle Männer in meiner Familie waren beim Militär. Das wäre auch mein Schicksal gewesen, aber nun ist Deutschland ja nur noch eine kleine Berufsarmee erlaubt, und ich darf mir einen anderen Beruf aussuchen.«

Nach der Pause wurde ich aufgerufen. Ich trat vor, verneigte mich vor dem Aufnahmekomitee und kündigte an, dass ich Paganinis Caprice Nummer neun spielen würde. Einige Juroren zogen die Brauen hoch, doch einer sagte: »Sehr schön. Fang an, wenn du so weit bist, und hab keine Angst.«

Fast hätte ich gelacht. Mit der Geige unter dem Kinn kannte ich weder Angst noch Nervosität, und das Stück von Paganini fiel mir ohnehin leicht. Ich mochte die gefällige Melodie und die verspielte Art, Flöten und Hörner zu imitieren, die dazu geführt hatte, dass man die Caprice auch mit dem Untertitel »Die Jagd« bezeichnete.

Sowie ich begonnen hatte, bewegten meine Finger sich von allein. Ich vergaß meine Umgebung und spielte einfach das Stück, das ich liebte. Ehe ich mich versah, hatte ich meinen Vortrag beendet und verneigte mich wieder. Die Juroren nickten einander zu.

Vor dem Abendessen erfuhr ich von meinem Vater, dass ich angenommen worden war. Ich jubelte und tanzte um den Esstisch herum. Meine Mutter sah mir lachend und kopfschüttelnd zu.

Dann fiel mir etwas ein. »Weißt du, ob auch ein Junge namens Kurt die Aufnahmeprüfung bestanden hat? Kurt König? Ich habe ihn spielen hören. Er war ziemlich gut.«

Das wusste mein Vater natürlich nicht.

Meine Mutter, die vor mir von meinem Erfolg erfahren hatte, hatte ein kleines Festessen zubereitet. Und wie so oft hatten wir dazu einen Gast. Diesmal handelte es sich um den Bankier Alfred Gross.

Anfänglich durfte ich noch von meinem Vorspielen erzählen, doch dann begannen die Erwachsenen über die jüngsten wirtschaftlichen Entwicklungen zu reden. Sie sprachen über den Einbruch der New Yorker Börse, und ich verstand nicht, was das mit uns in Deutschland zu tun hatte. Ich wusste nur, dass es in Berlin viele Menschen gab, die Not litten, aber Gross erzählte, dass es noch viel schlimmer kommen werde. Mein Vater wirkte ebenfalls sorgenvoll und sagte, dass die harten Zeiten sich auch auf die Philharmoniker auswirken würden.

Kapitel 6

03.15Uhr, irgendwo über dem Atlantik

Liam wurde wach und streckte sich. »Was liest du da?«, fragte er. »Warum schläfst du nicht?«

»Du weißt doch, dass ich im Flugzeug nicht schlafen kann«, antwortete Catherine. »Ich lese das Manuskript von Tonys Tante.«

»Steht darin, wem die Villa Vincenzo gehört?«

»Bisher nicht. Noch geht es um ein Mädchen namens Ada Baumgarten im Berlin der zwanziger Jahre. Anscheinend war sie so etwas wie ein musikalisches Wunderkind.«

»Und warum sollst du über dieses Mädchen lesen? Heißt Gabriella Vincenzo in Wahrheit Ada Baumgarten, oder was?«

»Nein. Ada wurde im Jahr neunzehnhundertachtzehn geboren und wäre heute neunundneunzig Jahre alt. Tonys Tante ist achtundsiebzig.«

»Vielleicht ist diese Ada ihre Mutter.«

Catherine zuckte mit den Schultern. »Ich bin erst an der Stelle, als sie elf Jahre alt ist und Geige spielt.«

»Und was ist daran so wichtig, dass Tante Gabriella alles mit einem Kurier geschickt hat?«

»Keine Ahnung.« Catherine drückte ihren Rücken durch. »Ich wünschte, wir hätten Tonys Angebot nicht angenommen. Ich habe mich von der Reise verlocken lassen, und das war falsch. Wenn sich herausstellt, dass ich Tonys Tante nicht helfen kann, werde ich mich ewig schuldig fühlen.«

Liam zog die Brauen hoch. »Und diese Bedenken kommen dir jetzt mitten über dem Atlantik?«

»Nein, die hatte ich von Anfang an. Wenn wir wenigstens selbst für unsere Flüge bezahlt hätten.«

»Wenn es dich beruhigt, geben wir Tony das Geld für die Flüge zurück.«

»Es geht nicht nur um das Geld. Tony und seine Tante setzen ihre Hoffnung auf uns und stellen sich vor, dass wir die Räumung verhindern werden. Ich wünschte, ich hätte Tony deutlicher gemacht, dass diese Hoffnung auf wackligen Beinen steht. Nun komme ich mir verantwortungslos vor.«

»Catherine, bitte.« Liam seufzte. »Tony hatte niemanden außer uns, an den er sich wenden konnte. Natürlich hofft er, dass wir Erfolg haben, aber wir haben ihm nichts versprochen, und das hat er auch so verstanden. Warum bist du plötzlich so pessimistisch? Es kann doch sein, dass du für seine Tante vor Gericht zumindest einen Vergleich herausholen kannst.«

Catherine schüttelte den Kopf.

Liam klopfte das kleine Kissen der Fluggesellschaft auf und gab seiner Frau einen Kuss. »Das Flugzeug wird nicht mehr umkehren, und wir werden sehen, was wir erreichen können.« Er schob das Kissen unter seinen Kopf und schloss die Augen.

Catherine starrte eine Zeitlang vor sich hin. Dann nahm sie ihre Lektüre wieder auf.

*

Berlin, November1931– Mai1932

Es kam, wie Gross vorhergesagt hatte. Der Börsensturz in New York führte zu einer Weltwirtschaftskrise, die auch für Deutschland verheerende Folgen hatte. In wenigen Monaten verloren Millionen Menschen ihr Geld und ihre Arbeit, Banken brachen zusammen. Gross kam zu uns, um sich zu verabschieden. Seine Bank hatte im April schließen müssen und war von aufgebrachten Kunden mit Steinen beworfen und Hassparolen beschmiert worden. Gross hatte sich entschieden, zu Verwandten nach Philadelphia zu ziehen.

»Wenn du klug bist«, sagte er zu meinem Vater, »dann verlässt du Deutschland jetzt auch mit deiner Familie. Die Lage wird sich so schnell nicht bessern, und die Philharmoniker werden ihre Subventionen verlieren. Such dir drüben eine neue Stelle – in New York, Philadelphia, Boston oder Chicago.«

Mein Vater schüttelte den Kopf. »Wir werden weiterhin gefördert. Vielleicht sind unsere Konzerte nicht mehr so gut besucht, wie sie es einmal waren, aber das kann sich auch wieder ändern.«

Gross runzelte die Stirn. »Ich rede nicht nur von der wirtschaftlichen Lage. Das politische Klima ist ebenfalls dabei, sich zu verschlechtern. In schweren Zeiten bekommen rechtsgerichtete Kreise Oberwasser, du hast es im letzten Herbst bei der Reichstagswahl erlebt. Die NSDAP ist heute die zweitstärkste Fraktion im Parlament, und schon haben die ersten Übergriffe gegen uns Juden begonnen. Wie wird das erst aussehen, wenn Hitler bei der nächsten Wahl noch mehr Stimmen gewinnt?«

Mein Vater tat seine Worte mit einem Schulterzucken ab. Politik interessierte ihn nicht. »Ich glaube, das siehst du falsch. Die Nazis haben bei der Wahl gerade mal zwanzig Prozent erreicht.«

Gross betrachtete ihn kopfschüttelnd. »Und bei der Wahl davor hatten sie zwei Prozent. Sagt dir das nichts? Wir leben in schwierigen Zeiten, und die Menschen suchen nach einfachen Erklärungen. Die liefern die Nazis ihnen. Die Industrie steht auch hinter dieser Partei. Aber am schlimmsten ist, dass die Nazis die Juden hassen. Du solltest Mein Kampf lesen, da hat Hitler sich sehr unmissverständlich ausgedrückt. Denk darüber nach, Jakob, und informiere dich über deine Möglichkeiten in Amerika.«

Ich hörte ihnen zu und hoffte, dass wir in Berlin blieben. Ich war gerade dreizehn Jahre alt geworden und kannte nicht viel mehr als unsere Stadt. Außerdem gefiel es mir in unserem Haus und in meiner Schule. Ich liebte den Tiergarten und hing an den Freunden, die ich im Jugendorchester gefunden hatte. Gerade bereiteten wir ein Konzert vor, das wir im Winter aufführen wollten – Haydns Symphonie Nummer 82 und Mendelssohns Symphonie Nummer 4. Außerdem war ich im Orchester aufgestiegen, saß bei den ersten Geigen am ersten Notenpult, und Kurt hatte seinen Platz direkt hinter mir, was ich wunderbar fand.

Kurt war ein guter Geiger, aber wir waren auch Freunde geworden. Vor den Proben trafen wir uns in der Kantine der Philharmonie, plauderten und teilten uns mitunter eine Limonade. Lustig war Kurt außerdem. Wenn wir probten, stieß er mich manchmal leicht von hinten an, doch wenn ich mich umdrehte, setzte er eine Unschuldsmiene auf und fragte: »Ist was?« Dann versuchte ich, ihn böse anzusehen, aber meistens musste ich lachen.

Ende November erzählte Kurt, dass es bei ihnen zu Hause finanzielle Schwierigkeiten gebe. Sein Vater war arbeitslos geworden und hatte davon gesprochen, dass er das Geld für Kurts Busfahrten zu den Proben nicht mehr aufbringen könne. Ich sagte Kurt, dass mein Vater ihn vielleicht mitnähme, wenn er mich abends abholte.

Als ich meinen Vater fragte, ob er Kurt künftig nach Adlershof fahren könne, reagierte er verhalten und wies mich darauf hin, dass es ein großer Umweg sei. Ich fing an zu betteln, schilderte ihm, wie gut Kurt Geige spiele und dass er ohne unsere Hilfe das Orchester verlassen müsse. Und außerdem sei er mein Freund.

»Du willst mich einwickeln«, sagte mein Vater lächelnd, erklärte sich jedoch bereit, Kurt nach den Proben nach Hause zu fahren.

Ich erzählte Kurt, dass wir ihn abends mitnehmen würden, doch wie sich herausstellte, war sein Vater dagegen und ließ uns ausrichten, dass er sich nicht an den Benzinkosten beteiligen könne. Erst als er erfuhr, dass wir kein Geld erwarteten, gab er nach.

Doch als wir Kurt zum ersten Mal an dem Miethaus, in dem er wohnte, absetzten, kam sein Vater heraus und sah uns unfreundlich an.

»Wir haben nicht um Ihre Hilfe gebeten«, sagte er zu meinem Vater. »Meine Arbeitslosigkeit und unsere Geldsorgen sind nur vorübergehend. Für einen Konzertmeister sieht die wirtschaftliche Lage sicherlich anders aus, aber uns einfachen Arbeitern und Angestellten setzt die Krise zu.« Er warf einen Blick auf seinen Sohn, der verlegen zu Boden sah. »Trotzdem vielen Dank.«

»Es ist nicht der Rede wert«, antwortete mein Vater freundlich.

»Die Zeiten werden sich bald ändern«, schloss Kurts Vater und betrachtete uns stirnrunzelnd. »Dann nimmt mein Sohn wieder den Bus.«

»Wie Sie wünschen.« Mein Vater verabschiedete sich und setzte den Wagen in Gang.

Von da an saßen Kurt und ich nach den Proben auf dem Rücksitz unseres Wagens, redeten über Musik, über Techniken beim Geigenspielen und lästerten über die anderen Musiker des Orchesters. Nach einer Weile gingen wir dazu über, heimlich unsere kleinen Finger ineinanderzuhaken.

Ich war mir sicher, dass mein Vater nichts davon mitbekam, doch er musste auch hinten im Kopf Augen haben, denn es dauerte nicht lang, bis er mich bat, damit aufzuhören, und mich daran erinnerte, dass ich erst dreizehn war.

Im Januar 1932 erfuhr ich von Kurt, dass sein Vater in die SA eingetreten war und auf den Versammlungen und Parteikundgebungen der NSDAP für Ordnung und Sicherheit sorgte. Ich dachte mir nicht viel dabei oder wenn, dann höchstens, dass Herr König wahrscheinlich froh war, wieder eine Uniform tragen zu können.

Vor der Reichstagswahl im April trat die SA mit ihren Aufmärschen deutlicher als zuvor in Erscheinung, und es hieß, dass sie fast eine halbe Million Mitglieder gewonnen habe. Auch sonst war sie nun in den Straßen immerzu sichtbar und wirkte in ihren braunen Uniformen bald übermächtig.

Mein Vater und seine Freunde zeigten sich jedoch wenig beeindruckt. Sie lächelten über die vollmundigen Wahlversprechen der NSDAP, Deutschland erneut zu einer Großmachtstellung zu verhelfen und die Arbeitslosigkeit abzuschaffen, und hielten Hitler für einen aufgeblasenen Schwätzer, den Hindenburg in die Schranken weisen würde. Und dann, so ihre Überzeugung, werde auch die SA wieder verschwinden.

Ich traf im Februar mit einer Gruppe Braunhemden zusammen, an einem Nachmittag, als ich Mitzi im Tiergarten ausführte. Sie kamen uns entgegen und sangen ihr Kampflied »Die Fahne hoch«. Mitzi bellte sie an. Ein SA-Mann sprang aus der Reihe und tat, als wolle er sich meinen Hund schnappen. Mitzi wich zurück und quiekte vor Angst. Der Mann lachte und reihte sich wieder ein.

Ich erzählte meinem Vater davon. Er trug mir auf, mich von den Braunhemden fernzuhalten, es sei ein widerlicher, brutaler Verein. »Hitler wird die nächste Wahl verlieren, und dann werden diese Schläger verboten werden«, schloss er. »Aber bis dahin gehst du ihnen bitte aus dem Weg.«

Am selben Abend nahmen meine Eltern mich mit zu einem Konzert in die Philharmonie. Oskar Fried war Gastdirigent, und Sergei Prokofjew trat als Solist auf. Gespielt wurde sein Klavierkonzert Nr.3. Es war ein unglaubliches Erlebnis, und ich wunderte mich, dass es so viele freie Plätze gab.

Nach dem Konzert ging mein Vater mit mir hinter die Bühne, um mich Prokofjew vorzustellen.

»Das ist also der aufgehende Stern am Geigenhimmel, der zurzeit im Jugendorchester Furore macht«, sagte Prokofjew lächelnd. »Ich hoffe, dass du demnächst einmal mit mir in Moskau auftrittst.«

Ich errötete und wusste nicht, was ich antworten sollte. Mein Vater zwinkerte mir zu.

Kapitel 7

Berlin, Januar 1933

Bei keiner der Reichstagswahlen des Jahres 1932 war eine regierungsfähige Mehrheit zustande gekommen, und wir hatten in nur einem Jahr drei Kanzler – Brüning, von Papen und von Schleicher. Im Januar 1933 ernannte Hindenburg dann Hitler zum Reichskanzler. Und zum ersten Mal, seit ich denken konnte, regte mein Vater sich über eine politische Entwicklung auf und sagte, Hindenburg wisse offenbar nicht mehr, was er tue.

Auch Furtwängler war über Hindenburgs Entscheidung nicht glücklich. Er hatte Hitler als »Marktschreier« bezeichnet, und Hitlers Kampfgenossen waren für ihn eine rassistische Straßenbande. »Der Mann und seine Partei werden sich nicht lange halten«, erklärte er eines Abends bei uns. »Und sollte Hitler sich in die Belange der Philharmonie einmischen, trete ich zurück und nehme ein Dirigat im Ausland an. Das habe ich auch seinem Propagandaleiter Goebbels deutlich gemacht.«

Doch das Leben ging weiter. Im Januar durfte ich ein Konzert der Philharmoniker besuchen, bei dem Jascha Heifetz, einer der berühmtesten Geiger der Welt, als Solist auftrat. Mein Vater hatte sich seit Wochen auf diesen Abend gefreut und erzählte, dass Heifetz elf Jahre alt war, als er ihn zuletzt in Berlin gehört hatte. »Damals spielte er Tschaikowskys Violinkonzert dermaßen brillant, dass er von den Musikern, einschließlich Nikisch, stehende Ovationen erhielt. Georg Kreisler sagte damals, jetzt könnten alle anderen ihren Geigenbogen über dem Knie zerbrechen.« Mein Vater tätschelte meine Wange. »Und heute Abend darfst du ihn erleben.«

Heifetz und die Philharmoniker gaben das Violinkonzert von Brahms, und ich konnte sehen, wie tief beeindruckt mein Vater und die anderen Streicher waren. Heifetz’ technisches Können, seine Leidenschaft beim Spiel und seine persönliche Ausstrahlung waren einzigartig. Auch diesmal erhielt er stehende Ovationen. Nach dem Konzert durfte ich sogar an dem Empfang für ihn teilnehmen.

Mein Vater stellte mich Heifetz vor. Als er mich begrüßte, wunderte ich mich, wie weich seine Hand für einen Geiger war. Er lächelte freundlich und erkundigte sich nach meinem Geigenspiel, wollte wissen, wie viele Stunden am Tag ich ihm widmete, wer meine Lieblingskomponisten waren und wie oft ich die Tonleitern übte.

»Ich übe jeden Nachmittag. Sogar die Tonleitern.«

Meine Antwort schien ihn nicht zufriedenzustellen. »Du musst die Tonleitern aus dem Effeff beherrschen, das ist das Allerwichtigste, wenn du gut sein willst. Sie sind mehr als eine kleine Vorspeise vor dem großen Mahl. Tonleitern, Dreiklänge, Arpeggien, sie bilden deine Grundlage.« Sein Blick wurde durchdringend. »Du darfst nie mit dir zufrieden sein oder glauben, du seist über irgendetwas erhaben. Ein wahrer Künstler weiß, dass er selbst in den vermeintlich kleinen Dingen niemals auslernen wird.«

Ich hatte den Tonleitern nie viel Bedeutung beigemessen, doch ich versprach ihm kleinlaut, mich zu bessern.

»Wir haben etwas gemeinsam«, sagte Heifetz sanfter und mit einem Blick auf meinen Vater. »Auch ich wurde früher von meinem Vater unterrichtet.«

Anschließend unterhielt er sich mit meinem Vater, und ich hörte, wie er sagte: »Noch geht es Ihnen hier gut, aber man müsste schon blind sein, wenn man nicht sähe, wie sich Deutschland entwickelt. Hitler ist gefährlich und ein Feind der Juden. Das hat er schon Anfang der zwanziger Jahre verkündet, als er seine Reden noch vor zwanzig Gleichgesinnten im Münchner Bürgerbräukeller geschwungen hat.«

Mein Vater zuckte mit den Schultern. »Wir leben in Krisenzeiten. Wenn sie sich bessern, wird kein Hahn mehr nach ihm krähen.«

»Ich glaube, Sie irren sich«, antwortete Heifetz. »Überlegen Sie sich, ob Sie nicht nach Amerika übersiedeln möchten. Ich war mit sechzehn zum ersten Mal drüben und wusste sofort, dass ich dort leben wollte. Beruflich würden Sie sofort unterkommen, zumal sich die wirtschaftliche Lage drüben stetig bessert. Roosevelt ist ein fähiger Mann. Denken Sie an Ihre Tochter.«

Mein Vater schüttelte den Kopf. »Vielleicht wird Ada eines Tages in Amerika leben, aber ich bin und bleibe Berliner. Außerdem möchte ich Wilhelm und das Orchester nicht im Stich lassen. Abgesehen davon geht es uns Juden gut.«

Heifetz seufzte. »Ihre Treue ist lobenswert, aber ich fürchte, dass Sie die Richtung verkennen, die Deutschland eingeschlagen hat.«

*

An einem Tag im März betrat ich die Kantine, um mich vor der Probe mit Kurt zu treffen, und stellte fest, dass er nicht da war. Bei der Probe fehlte er ebenfalls. Zudem fiel mir auf, dass wir bei den Streichern einen Neuzugang hatten, statt Kurt saß nun ein anderer Junge hinter mir.

In der Pause fragte ich Kritzer, ob er wisse, warum Kurt nicht gekommen war. Ich erfuhr, dass Kurt das Orchester von einem Tag auf den anderen verlassen hatte. Den Grund kannte Kritzer nicht, er sagte jedoch, er sei ebenso enttäuscht wie ich.

Ich war nicht enttäuscht, sondern niedergeschmettert. Kurt war mein bester Freund, wie konnte er einfach sang- und klanglos verschwinden? Ich entschuldigte mich bei Kritzer und zog mich auf die Toilette zurück. Ich wollte allein sein. Nach der Pause war ich unkonzentriert, machte Fehler, vergaß, die Seite im Notenheft umzuschlagen. Kritzer sagte nichts dazu, schüttelte nur den Kopf. Er wusste, wo ich mit den Gedanken war.

Als mein Vater mich abholte, schüttete ich ihm mein Herz aus. »Irgendetwas muss passiert sein, sonst wäre Kurt nicht einfach ausgeschieden. Er hat das Orchester geliebt. Und er würde es auch nicht verlassen, ohne mir vorher etwas zu sagen. Vielleicht ist sein Vater schuld, er wollte ja früher schon, dass Kurt aufhört.« Ich fasste den Arm meines Vaters. »Bitte, sprich du mit Herrn König. Sag ihm, dass er Kurt im Jugendorchester lassen muss.«