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Einst liebten sie einander wie Geschwister. Nun stehen sie sich als Todfeinde gegenüber.
Bei einer Gala wird ein angesehener jüdischer Bürger Chicagos vom hochbetagten Ben Solomon bedroht und beschuldigt, ein SS-Offizier zu sein. Obwohl alles auf eine Verwechslung hinweist, engagiert Ben die Anwältin Catherine Lockhart und ihren Ermittler Liam Taggart – er ist sich sicher, seinen Ziehbruder zu erkennen, der einst Bens Familie und seine Geliebte Hannah verriet.
Bei ihrer Recherche stoßen Catherine und Liam auf das Schicksal dreier Kinder im kriegszerrütteten Polen, die wie Geschwister aufwachsen und einander als Feinde wiederbegegnen. Aber beschuldigt Ben den Richtigen?
Ein hochspannender Roman über eine Familie, die in Zeiten des Krieges zerstört zu werden droht, und zwei Liebende, die um ihr Glück ringen.
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Seitenzahl: 540
Ronald H. Balson ist Rechtsanwalt, und seine Fälle führten ihn um die ganze Welt, unter anderem nach Polen. Die Geschichte des Landes im Zweiten Weltkrieg inspirierte ihn zu diesem Roman, der ein internationaler Bestseller war. Heute lebt und schreibt Ronald H. Balson in Chicago.
Bei atb liegt von ihm außerdem »Karolinas Töchter« vor, ein weiterer Roman der Serie über die Anwältin Catherine Lockhart und ihren Ermittler Liam Taggart.
Einst liebten sie einander wie Geschwister.
Nun stehen sie sich als Todfeinde gegenüber.
Bei einer Gala wird ein angesehener jüdischer Bürger Chicagos vom hochbetagten Ben Solomon bedroht und beschuldigt, ein SS-Offizier zu sein. Obwohl alles auf eine Verwechslung hinweist, engagiert Ben die Anwältin Catherine Lockhart und ihren Ermittler Liam Taggart – er ist sich sicher, seinen Ziehbruder zu erkennen, der einst Bens Familie und seine Geliebte Hannah verriet. Bei ihrer Recherche stoßen Catherine und Liam auf das Schicksal dreier Kinder im kriegszerrütteten Polen, die wie Geschwister aufwachsen und einander als Feinde wiederbegegnen. Aber beschuldigt Ben den Richtigen?
Ein hochspannender Roman über eine Familie, die in Zeiten des Krieges zerstört zu werden droht, und zwei Liebende, die um ihr Glück ringen.
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Ronald H. Balson
Hannah und ihre Bruder
Roman
Aus dem Amerikanischen von Gabriele Weber-Jarić
Inhaltsübersicht
Über Ronald H. Balson
Informationen zum Buch
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I Die Konfrontation
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
II Ben Solomons Geschichte
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
III Das Verfahren
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Epilog
Dank
Impressum
Für Monica, meine Frau,
mit der ich durchs Leben tanze
Chicago, September2004
Ben Solomon band seine Fliege vor dem Spiegel im Bad. Es bereitete ihm ein wenig Mühe, immerhin war er ein alter Mann von dreiundachtzig Jahren, der sich kaum noch daran erinnern konnte, wann er zum letzten Mal Smoking und Fliege getragen hatte. Doch für die Stunde der großen Abrechnung war Abendgarderobe Pflicht.
Er sagte dem Mann im Spiegel etwas Aufmunterndes auf Polnisch und begutachtete noch einmal die Opernkarte, bevor er sie einsteckte. Die Karte hatte ihn fünfhundert Dollar gekostet, für einen Rentner wie ihn war das kein Klacks.
Lyric Opera of Chicago. Eröffnungsgala, 26.September 2004. Die Macht des Schicksals. Parkett, Gang2, Reihe kk, Platz103. Es war ein Platz, den er nicht einnehmen würde, glücklicherweise hatte er sich noch nie viel aus Opernmusik gemacht.
Er schob den Ärmel seines Hemds zurück, warf einen Blick auf seine Uhr, eine Citizen mit Silberarmband, die ihm die Parkverwaltung von Chicago zum Abschied geschenkt hatte. Es war halb fünf, noch zwei Stunden, bevor die Pforten der Oper sich öffnen würden. Er verließ das Bad.
Die Fenster seiner bescheidenen Zweizimmerwohnung gingen nach Osten hinaus, mit Blick auf den Lake Michigan und die Wohntürme, die sich wie eine Reihe Maiskolben vom Loop bis zur Thorndake Avenue zogen. In der späten Nachmittagssonne fielen die ersten Schatten auf den Lake Shore Drive und auf das satte Grün des Golfplatzes, wo er beinah vierzig Jahre lang als Aufsicht gearbeitet hatte. Rechter Hand, in der ruhigen Spiegelfläche des Belmont Harbor, lagen die Luxuskreuzer vertäut. Ben betrachtete die Szenerie, die er liebte, und dachte, dass er sie vielleicht zum letzten Mal sah.
Noch einmal kontrollierte er sein Aussehen im Spiegel, fragte auch Hannah, ob er so gehen könne. Ob er elegant genug sei. Er wünschte, sie wäre da und würde ihm antworten.
In der untersten Schublade seiner Kommode lag unter seinen Pullovern die Zigarrenkiste aus Pappkarton. Er stellte sie auf die Kommode, klappte den Deckel auf und entnahm ihr eine deutsche Luger P08 aus dem Zweiten Weltkrieg. Dennoch sah sie wie neu aus. Für tausendzweihundertfünfzig Dollar hatte er sie auf einer Waffensammlerbörse erstanden, ein weiterer Schlag ins Kontor. Er steckte die Pistole unter den Gürtel, den er unter dem Kummerbund trug.
Fünf Uhr. Nun konnte er unten an der Straßenecke ein Taxi herbeiwinken, sich in der Oper unter die Prominenz der Stadt mischen und sich auf den »Höhepunkt der Opernsaison« einstellen, wie der Abend in der Presse annonciert worden war.
Elliot Rosenzweig hatte sich im Schlafzimmer auf dem Bett niedergelassen und versuchte, die Manschettenknöpfe an seinem Hemd zu befestigen. Das Schlafzimmer befand sich in einer Villa in Winnetka, auf einem anderthalb Hektar großen Grundstück und an einem Hang gelegen, von dem aus man über den Lake Michigan blickte. »Jennifer«, rief er. »Ich brauche deine Hilfe.«
Jennifer war seine Enkelin, eine junge Medizinstudentin, die das Schlafzimmer in einem silbrig schimmernden Abendkleid betrat.
»Wenn wir nicht zu spät kommen wollen, müssen wir uns sputen«, sagte sie.
Rosenzweig sah zu, wie sie die goldenen Schmuckknöpfe mit zwei Handgriffen durch die Lochungen der Manschetten steckte und schloss. Wie jung ihre Hände noch waren, fuhr es ihm durch den Sinn. Wie geschickt. Bald wären es die Hände einer Chirurgin.
»Fertig«, sagte sie.
Er betrachtete sie liebevoll, stand auf und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich bin stolz auf dich.«
»Weil ich dir die Manschettenknöpfe festgemacht habe?«
»Weil du ein so wunderbarer Mensch geworden bist.«
»Ich habe dich auch lieb. Wie gefällt dir mein Kleid?« Jennifer drehte sich vor ihrem Großvater.
»Es ist phantastisch.«
Jennifer trat an seinen Kleiderschrank. »Das freut mich. Dieses Kleid gibt es nämlich nur ein einziges Mal, und es hat dich ein Vermögen gekostet. Großmama hat es mir bei Saks gekauft. Kommt sie heute Abend mit?«
»Ich fürchte, nein. Sie hat Kopfschmerzen.« Rosenzweig lachte. »In Wahrheit hasst sie solche Veranstaltungen.«
Jennifer nahm die Smoking-Jacke vom Kleiderbügel und half ihrem Großvater hinein. Sie strich das Revers glatt und trat einen Schritt zurück.
»Du siehst großartig aus.« Sie küsste ihn auf die Wange. »Und jetzt müssen wir los. Deine Freunde warten schon.«
Hand in Hand stiegen sie die Treppe hinunter und gesellten sich zu der Gruppe, die unter dem rosafarbenen Säuleneingang des Hauses auf sie wartete. Zusammen verteilten sie sich auf zwei weiße Limousinen, die sie zur Oper bringen würden. Unten an der Auffahrt schwang das große Tor auf, die Limousinen fuhren hindurch und steuerten die Innenstadt Chicagos an.
Das Foyer des Opernhauses war im Stil des Art déco gehalten, doch an diesem Abend ergossen sich Fahnen mit dem Bildmotiv der »Macht des Schicksals« über die Pfeiler, und über die Balustrade an der Stirnseite zogen sich bunte Wimpel. Ebenso festlich wie das Gebäude waren die Gäste der Gala, die sich im Foyer versammelten, geschmückt. Die Bediensteten wiederum trugen historische Kostüme und boten von Silbertabletts Champagner und Häppchen an. In einer Ecke spielten Musiker des Lyric Orchestra ein Potpourri bekannter Opernmelodien.
Jennifer sah ihren Großvater an und hob die Stimme, um sich trotz des Geräuschpegels Gehör zu verschaffen. »Was schätzt du, seit wie vielen Jahren du schon zu den Eröffnungsgalas der Oper erscheinst?« Höflich lächelnd nahm sie eine winzige, mit Lachs belegte Brotscheibe von dem Tablett, das ihr ein Bediensteter im Kostüm einer elisabethanischen Palastwache reichte.
»Seit 1958, mein Schatz. Aber seinerzeit habe ich noch nicht so viel Aufsehen erregt.«
»Vielleicht weil du da noch nicht einer der wichtigsten Sponsoren warst.«
»Das sicher nicht, doch die schönen Künste habe ich von Anfang an gefördert. Im Rahmen meiner Möglichkeiten, aber …« Er brach ab. Der künstlerische Leiter der Oper bahnte sich einen Weg zu ihm, in seinem Gefolge John Burton, der Bürgermeister von Chicago, nebst Ehefrau.
Rosenzweig nickte dem künstlerischen Leiter zu, bevor er sich dem Bürgermeister zuwandte.
»Wie schön, dich zu sehen, Elliot«, sagte dieser. »Du siehst gut aus.«
Rosenzweig lächelte einnehmend. »Vielen Dank, Herr Bürgermeister. Guten Abend, Edith. Wie immer ist es mir ein Vergnügen, euch zu sehen.« Er legte einen Arm um Jennifer. »Meine Enkelin Jennifer kennt ihr schon, oder?«
Burton nickte. »Und wieder verdanken wir Ihrem Großvater und dem Förderverein der Oper eine wunderbare Eröffnungsgala«, sagte er zu Jennifer. Er richtete seinen Blick erneut auf Rosenzweig. »Die Stadt steht tief in deiner Schuld, Elliot. Du bist für uns von unschätzbarem Wert.«
»Nicht unschätzbar, John. Wenn du möchtest, kann ich dir die genaue Summe meiner Spendengelder nennen.« Die beiden Männer lachten.
Während ihres Geplänkels schlängelte sich Ben Solomon durch die Menge. Er hörte weder die Musik, noch bekam er von den Gesprächen ringsum etwas mit, er hatte nur ein einziges Ziel vor Augen. Er ignorierte das Tablett mit den Champagnergläsern, das ihm eine junge Frau im Gewand einer italienischen Bäuerin des siebzehnten Jahrhunderts darbot, und tastete nach der Luger unter Kummerbund und Gürtel. Das kleine Orchester in der Ecke war bei der spritzigen Ouvertüre der »Diebischen Elster« angelangt.
Ben wartete, bis das Bürgermeisterpaar sich zum nächsten Grüppchen bewegte, und ging dann mit hämmerndem Herzen direkt auf Rosenzweig zu.
Als er vor ihm stand, beugte Ben sich vor und fragte: »Was hast du mit den Wertsachen gemacht?«
»Wie bitte?« Rosenzweig fuhr zurück, und einen Moment lang fragte er sich, ob das eine scherzhafte Einlage sein könnte, ein Gag, der auf irgendeine Weise bereits zur Aufführung gehörte. Er lächelte gezwungen. Doch als er sich umschaute, erkannte er auf keinem der Gesichter Anzeichen von Heiterkeit.
»Es interessiert mich wirklich«, sprach Solomon weiter. »Es war eine Kiste voller Uhren, Gold, Brillantarmbänder. Perlenketten waren ebenso darin wie Eheringe und ein Silberleuchter. Die Sachen kannst du doch unmöglich vergessen haben.«
Rosenzweig sah seine Enkelin an und zuckte mit den Schultern. Sein Blick kehrte zu Solomon zurück.
»Ich weiß leider nicht, wovon Sie reden.«
Solomon zog die Luger und drückte die Waffe fest auf Rosenzweigs Stirn. Man hörte den Aufschrei einer Frau. Die Menge wich zurück.
Jennifer griff nach der Hand ihres Großvaters.
»Erkennst du die Waffe, Otto? Einem alten Nazi wie dir müsste sie eigentlich vertraut sein.« Mit dem freien Arm winkte Solomon die Umstehenden weiter zurück. »Sieh mich an, Otto. Ich bin es, Ben Solomon. Wir sind wieder vereint, so wie wir es als Kinder waren.« Er lachte ein wenig. »Hauptscharführer Piontek! Wahrscheinlich dachtest du, du würdest mich nie wiedersehen.«
Es wurde so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
Rosenzweig hob die Hände und sagte ruhig: »Sie irren sich, mein Herr. Mein Name lautet weder Otto noch Piontek, sondern Elliot Rosenzweig. Ich war als Häftling in einem Konzentrationslager und ganz gewiss kein Nazi.«
Langsam streckte er seinen linken Arm aus. »Jennifer, bitte schlag den Ärmel zurück.«
Mit zittrigen Händen entblößte Jennifer seinen Unterarm und offenbarte die tätowierte Kennzeichnung A93554.
Solomon warf einen Blick auf die Nummer und lächelte spöttisch. Dann wurde er wieder ernst. »Du bist ein Mörder und ein Lügner, Hauptscharführer Piontek, und ich sehe die Panik in deinen Augen. Warum flehst du nicht um Gnade, so wie die Menschen, die damals vor dir gekniet haben – Eltern, Großeltern und Kinder –, Menschen, die, anders als du, niemandem etwas zuleide getan hatten.« Er deutete auf die schreckensstarren Operngäste rundum. »Erzähl ihnen, wer du wirklich bist. Ich bin sicher, dass dir jeder fasziniert zuhören wird. Sag ihnen, dass deine Maskerade beendet ist.«
Starke Arme packten Solomon von hinten und warfen ihn zu Boden. Die Waffe entglitt seiner Hand und schlitterte über die Marmorfliesen. Solomon rollte sich zusammen und barg sein Gesicht in den Händen.
Gleich darauf waren Sicherheitskräfte da und rissen ihn hoch. Solomons Gesicht war tränennass. Er deutete auf Rosenzweig. »Er war in der SS, und er ist ein Mörder. Er ist Otto Piontek.« Als man ihn abführte, weinte er. »Rosenzweig ist Otto Piontek«, sagte er immer wieder.
Im Lauf der Jahre hatte Elliot Rosenzweig viele Fernsehinterviews gegeben, das letzte erst vor ein paar Wochen, als er ankündigte, dass er den Austausch junger amerikanischer und chinesischer Musiker fördern wolle.
Am Montag nach dem Zwischenfall in der Oper erklärte er sich bereit, dazu live in einem Bericht der NBC Stellung zu nehmen. Nun filmten ihn drei Kameras in seiner holzvertäfelten Bibliothek, wo er auf einem Ledersessel am Kamin Platz genommen hatte. Für einen Mann über achtzig machte er einen äußerst rüstigen Eindruck. Er war zwar nicht mehr so schlank wie früher, doch er hielt sich gerade, die Schultern waren gestrafft, und dank seiner zahlreichen Urlaubsreisen war er sonnengebräunt.
Vor Rosenzweig stand ein Tischchen mit Kaffeetassen, auf der anderen Seite des Sessels umrandete ein bleiverglastes Erkerfenster eine gepflegte Rasenfläche und die glitzernde Fläche des Lake Michigan. Es war ein schöner Anblick.
Nach einem Kameraschwenk sah man ein Regal voller Bücher und Erinnerungsstücke, gerahmte Fotos von Rosenzweig und namhaften Vertretern der Öffentlichkeit, Geschenke ausländischer Würdenträger, und in der Mitte, in einem weiteren Rahmen, den Stadtschlüssel von Chicago, der ihm vor Jahren von Bürgermeister und Stadtrat überreicht worden war. Religiöse Symbole gab es nicht. Rosenzweig hatte erklärt, dass er Gott aufgegeben habe, als Er ihn im KZ verließ, und dass er seitdem keinen Glauben mehr praktiziere.
Die Fernsehreporterin ergriff das Wort. »Mr Rosenzweig, wir danken Ihnen, dass wir Sie in unserer Sendung begrüßen dürfen. Erst recht nach dem furchtbaren Erlebnis, das Sie am Samstagabend hatten. Ich war nicht weit von Ihnen entfernt, und ich muss gestehen, dass ich Angst hatte.«
»In der Tat, Carol, es war ziemlich übel.« Eine Kamera richtete sich auf das Erkerfenster und zeigte sinnigerweise die kabbeligen Wellen des Sees und die geblähten Segel der Boote, die sich im Wind zur Seite neigten. »Ich habe um das Leben meiner Enkelin gebangt, sie stand direkt neben mir.«
»Können Sie sich irgendeinen Reim auf das Verhalten Ihres Angreifers machen? Und auf seine verrückten Anschuldigungen?«
»Nein, das kann ich nicht einmal ansatzweise. Der arme, verwirrte Mann muss mich mit jemandem verwechselt haben. Offenbar mit jemandem namens Otto, der Nazi war oder noch ist.«
Carols Miene wurde mitfühlend. »Wir haben erfahren, dass dieser Mann – ein Mr Solomon – Häftling in einem Konzentrationslager war. Wir wissen, dass Sie das gleiche Schicksal erlitten haben, trotzdem war es ein Schock, Ihre Tätowierung zu sehen. Es scheint, dass Sie jene Phase ihres Lebens nie hervorgehoben haben.«
»So ist es. Nach der Befreiung wollte ich nicht mehr darüber reden. Es war Vergangenheit. Und nun ist Chicago seit sechsundfünfzig Jahren meine Heimat. Ich habe mir hier ein neues Leben aufgebaut, ein Unternehmen gegründet, bin von meiner Familie umgeben. Ich habe viele Gründe, dankbar zu sein.«
»Sagt Ihnen der Name Otto Piontek etwas?«
»Den Namen habe ich vorgestern zum ersten Mal gehört.«
»Sie sind nach dem Zweiten Weltkrieg als Vertriebener in die Vereinigten Staaten gekommen und nun seit vielen Jahren ein prominenter Bürger Chicagos. Sie sitzen im Vorstand zahlreicher gemeinnütziger Institutionen. Haben Sie nie daran gedacht, ein Buch zu schreiben? Ich bin sicher, dass es vielen Menschen Mut machen würde.«
»Nie.« Rosenzweig lachte. »Und jetzt bin ich für so etwas zu alt, schließlich werde ich im nächsten Monat dreiundachtzig.« Er nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. »Ich hatte Glück, habe mich von fähigen Menschen beraten lassen und mein Geld klug investiert. Aber auch, wenn ich jünger wäre, würde ich nicht schreiben. Wer interessiert sich schon für ein Buch über Wirtschaftsthemen, erst recht, wenn sie das Versicherungswesen betreffen? Oder würden Sie über Zusammenschlüsse von Versicherern lesen wollen? Ich fürchte, so ein Buch würde ein Flop.«
»Wissen Sie, was mit Mr Solomon geschehen wird? Hat man Ihnen das gesagt?«
Rosenzweig schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich würde meinen, der Mann braucht professionelle Hilfe. Er ist zutiefst verstört.«
»Soweit ich weiß, wird er des versuchten Mordes beschuldigt.«
Rosenzweig schien bekümmert. »Das überlasse ich der Polizei und der Staatsanwaltschaft. Mir tut der arme Mann leid. Ich kann nur hoffen, dass er die notwendige Hilfe erhält.«
Carol wirkte überwältigt. »Mr Rosenzweig, ich danke Ihnen, dass Sie sich heute Morgen Zeit für uns genommen haben. Wir sind froh, dass Ihnen vorgestern Abend nichts zugestoßen ist.«
»Gern geschehen, Carol.« Rosenzweig löste das Mikrofon vom Kragen seines Hemds.
*
Als das Fernsehteam verschwunden war, ließ Rosenzweig den Sekretär kommen, der ihm seit zwanzig Jahren treue Dienste leistete. Brian war ein hochgewachsener Mann, dessen Haar sich an den Schläfen grau färbte. Wie an fast allen Tagen trug er einen dunklen Nadelstreifenanzug, ein schneeweißes Hemd und auf Hochglanz polierte Budapester Schuhe.
»Was kann ich für Sie tun, Sir?«
»Wissen Sie irgendetwas über diesen Otto Piontek?«, fragte Rosenzweig. »Wer er ist, woher er kommt?«
»Nein, Sir.«
»Dann geht es Ihnen wie mir, nur dass man mir vorgeworfen hat, dieser Mann zu sein.« Rosenzweig deutete auf den Sessel ihm gegenüber. »Setzen Sie sich.«
Brian ließ sich nieder, schlug die Beine übereinander und platzierte seinen Notizblock auf dem oberen Schenkel. »Niemand glaubt diesem Irren. Jeder hält ihn für verrückt. Auch die Presse.«
Rosenzweig furchte die Stirn. »Trotzdem – der Mann schien davon überzeugt, recht zu haben. Und seine Anschuldigung steht im Raum. Sie wirft einen Schatten auf meinen guten Namen. Möglicherweise gibt es Menschen, sogar Freunde von mir, die sich nun insgeheim fragen, ob ich nicht doch Nazi gewesen sein könnte.«
»Ausgeschlossen«, sagte Brian fest.
Rosenzweig wiegte den Kopf hin und her. »Da bin ich mir nicht so sicher. Es wäre ein reizvolles Partythema. Die Leute lieben Gerüchte.« Er beugte sich vor und schlug mit der Faust in seine Hand. »Ich will dieses Gerücht im Keim ersticken. Und das sofort und endgültig. Finden Sie heraus, wer Otto Piontek ist – oder war.«
Brian machte sich eine Notiz.
»Setzen Sie sich mit Regency in Verbindung. Das ist die Detektei, die uns im vergangenen Jahr über die Finanzen des Industrieparks Auskunft gegeben hat. Da war ein Bursche, der in der Stadt jede Menge Kontakte hatte.«
»Carl Wuld? Er ist der Chef der Detektei.«
»Genau der.«
»Darf ich fragen, warum Sie jemanden mit hiesigen Kontakten wünschen?«
»Ich halte es für möglich, dass Mr Solomon über diesen Piontek Nachforschungen angestellt hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, dass er in Chicago lebt. Falls das zutrifft, wird Wuld es herausfinden.«
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« Brians Stift schwebte über dem Block.
Rosenzweig überlegte. »Ja, stellen Sie Nachforschungen über diesen Solomon an. Wuld soll Ihnen helfen. Ich möchte wissen, wieso er ausgerechnet auf mich verfallen ist.«
»Vielleicht hat er Hintergedanken.«
»Was denn, etwa Geld zu fordern?«
Brian zuckte mit den Schultern.
»Nein.« Rosenzweig schüttelte den Kopf. »Er hat direkt vor mir gestanden, ich habe den Ausdruck seiner Augen gesehen. Sie haben vor Zorn geglüht, etwas anderes war da nicht.«
Brian stand auf.
»Das Ganze bleibt unter uns, Brian, und jede Information kommt zuerst zu mir. Sie verfahren bitte mit allergrößtem Geschick und achten darauf, dass nichts durchsickert. Wenn es eine Erkenntnis gibt, möchte ich derjenige sein, der sie an die Presse weiterleitet. Wenn wir Glück haben und den wahren Piontek entdecken, werde ich das selbst verkünden. Damit wäre jeder Zweifel an meiner Person beseitigt.«
Brian nickte und verabschiedete sich.
Auf einem überladenen Schreibtisch der Chicagoer Anwaltskanzlei Jenkins & Fairchild ging das Telefon. Catherine Lockhart schob einen Stapel Berufungsentscheidungen zur Seite und nahm den Hörer ab.
»Mr Taggart auf Leitung drei für Sie.«
»Hallo Liam, hast du Crosby gefunden?«
»Noch nicht, er arbeitet nicht mehr in der Bank. Aber deshalb rufe ich nicht an.«
»Hatten wir sonst noch etwas am Laufen?«
»Ja, in meinen Träumen.«
Catherine lachte. »Nicht, wenn du mich sehen könntest. Außer Crosby haben wir also nichts mehr?«
»Doch, ich wollte wissen, ob du heute Nachmittag Zeit für mich hast.«
»Leider nicht. Bei mir ist Land unter, ich habe in der ganzen Woche keine freie Minute. Warum sagst du mir nicht, um was –«
»Es ist eine Privatangelegenheit«, unterbrach Liam sie. »Ich brauche nicht lange.«
»Liam, das ist nicht –«
»Wie wäre es heute um halb drei?«
»Na schön.« Catherine seufzte. »Bis dann.« Sie legte den Hörer auf und hoffte, dass ihr Freund nicht in Schwierigkeiten steckte und deshalb einen Anwalt brauchte.
*
Punkt halb drei erschien Liam in ihrem Büro, in den Händen zwei Becher Kaffee und eine gefüllte Papiertüte. Sein Blick wanderte über Regale, Aktenschränke und Schreibtisch, wo sich Akten, Unterlagen, gelbe Notizblöcke und aufgeschlagene Fallsammlungen auftürmten, dazwischen leere Wasserflaschen. Auf dem Fußboden stapelten sich Ordner-Container mit Aktenbündeln, aus denen bunte Reiter herausragten.
Liam schüttelte den Kopf. »Du hast nicht übertrieben.«
Catherine zuckte hilflos mit den Schultern. Einige blonde Strähnen hatten sich aus ihrer Haarspange im Nacken gelöst, die Ärmel ihrer Bluse waren hochgekrempelt. Sie sah müde aus, unter ihren Augen waren dunkle Ränder. Liam stellte einen Kaffeebecher auf ihren Schreibtisch. »Hier, ein Wachmacher.«
»Den kann ich gebrauchen.« Catherine zog den Deckel ab und nahm einen Schluck. Dann musterte sie Liam. »Welche Privatsache hast du vorhin gemeint?«
»Ich hatte heute Morgen Besuch.« Liam räumte den Stuhl ihr gegenüber frei und ließ sich nieder. »Erinnerst du dich an Adele Silver?«
»Nein.«
»Solltest du aber, vor ein paar Jahren hast du sie vertreten. Eine reizende alte Dame, die bei mir um die Ecke wohnt. In dem kleinen Bungalow aus Ziegelstein. Weißt du jetzt, wen ich meine?«
Catherine schüttelte den Kopf.
»Vor Jahren hatte sie einen Hund, der ständig aus ihrem Garten entwischt ist. Ich habe ihr manchmal geholfen, ihn einzufangen. Zum Dank hat sie mir dann Kuchen oder Butterplätzchen gebacken. Als ihr Mann starb, bin ich mit ihr zu dir gekommen. Du hast sie vor dem Nachlassgericht vertreten.« Liam machte eine Pause. »Klingelt bei dir immer noch nichts? Damals warst du noch bei Drexel und …« Er brach ab und wirkte leicht betreten. »Es war vor gut drei Jahren. Kurz bevor du Drexel verlassen hast.«
Er öffnete die Tüte und holte ein Puten-Sandwich heraus. »Möchtest du etwas davon?«
»Nein, danke.« Catherine legte die Stirn in Falten. »Ich erinnere mich an die Butterplätzchen. Hieß ihr Mann mit Vornamen Lawrence?«
Liam nickte und biss in das Sandwich.
»Damals hatte ich viel um die Ohren«, sagte Catherine gedankenverloren.
Liam holte eine Papierserviette aus der Tüte und wischte sich Mayonnaise aus dem Mundwinkel. »Adele war heute in meinem Büro. Sie braucht Hilfe.«
»Von einem Privatdetektiv?«
»Genau genommen sucht sie jemanden, der Ben Solomon hilft.«
Catherine zog die Brauen hoch. »Ben Solomon? Ist das nicht der Irre, der versucht hat, Elliot Rosenzweig umzubringen?«
»So war das nicht.«
»Er hat Rosenzweig mit einer Pistole bedroht und wurde der schweren Körperverletzung und des versuchten Mordes beschuldigt. So steht es jedenfalls in der Zeitung. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht einer der Operngäste dazwischengegangen wäre.«
»In der Pistole waren keine Kugeln.«
»Du weißt, dass das keine Rolle spielt.«
»Die Pistole war ein Sammlerstück ohne Zündstift.«
Catherine verdrehte die Augen. »Wie verrückt ist das denn.«
Liam schlang den letzten Bissen hinunter. »Adele schwört, dass Solomon alles andere als verrückt ist. Sie möchte, dass ich mit ihm rede.«
Catherine lehnte sich zurück. »Und was genau hat das mit mir zu tun?«
»Er hat noch keinen Anwalt.«
»O nein!« Catherine wedelte mit der Hand über die Aktenberge in ihrem Büro hinweg. »Sieht das für dich aus, als bräuchte ich noch Mandanten? Außerdem betreuen wir nur Firmen. Für Strafsachen von Privatpersonen sind wir nicht zuständig.«
Liam knüllte die Papiertüte zusammen und sah sich nach einem Papierkorb um. »Könntest du mich wenigstens ins Gefängnis begleiten? Wenn ich eine Anwältin dabeihabe, stellt man uns einen Besprechungsraum zur Verfügung.« Er stand auf und quetschte die Tüte in einen überquellenden Papierkorb. »Adele hat mich angefleht, Ben Solomon zu helfen. Sie kennt ihn seit Jahren und schwört, dass er so normal ist wie du und ich.« Er griff in seine Jackentasche und wedelte mit einer kleinen Tüte. »Schokoladenplätzchen. Die hat sie für mich gebacken. Möchtest du eins?«
»Im Moment nicht.« Catherine seufzte. »Zig Opernbesucher haben gesehen, wie dieser alte Mann Rosenzweig eine Waffe an die Stirn gehalten hat. Ich wüsste wirklich nicht, was ich noch für ihn tun kann.«
Liam aß ein Plätzchen. »Ihm zuhören. Und mir Zutritt zu einem Besprechungszimmer verschaffen.«
»Also gut.« Catherine rieb ihre Schläfen. »Ich frage mich, warum ich mich darauf einlasse.«
»Weil du meinem irischen Charme nicht widerstehen kannst.«
Kopfschüttelnd betrachtete Catherine ihren Freund. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass er immer für sie da war und in einer Zeit, als sie weder aus noch ein gewusst hatte, treu an ihrer Seite gestanden hatte. Lässig saß er auf seinem Stuhl, in ausgebleichten Jeans und grasgrünem Rugby-Shirt. Sein Gesicht verriet, dass er einiges erlebt hatte, mehr als für einen Mann von einundvierzig Jahren üblich. Das ehedem kupferrote Haar war nur noch ein blasses Rostrot, doch die Tolle, die ihm in die Stirn fiel, verlieh ihm einen jugendlichen Anstrich.
»Auch wenn ich mitkomme«, sagte sie, »den Fall übernehme ich nicht.«
Im Gefängnis des Cook County, in dem Ben Solomon einsaß, wurde Catherine und Liam ein fensterloser Raum mit einem ausgetretenen Linoleumfußboden, einem ramponierten Metalltisch und vier unbequemen Stühlen zugewiesen. Während sie auf Solomon warteten, trommelte Catherine mit den Fingern auf den Tisch und rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl herum.
Dann hörten sie draußen Schritte und das Klimpern eines Schlüsselbunds. Gleich darauf öffnete eine Gefängniswärterin die Tür und führte Solomon herein, einen schmächtigen alten Mann in orangerotem Gefängnisoverall. Sie nahm ihm die Handschellen ab und bedeutete ihm, am Tisch Platz zu nehmen.
»Ich warte vor der Tür«, erklärte sie Catherine und Liam. »Sie melden sich, wenn Sie fertig sind.« Sie wies auf das Wandtelefon und verließ den Raum.
Liam stand auf und reichte Solomon die Hand. »Mein Name ist Liam Taggart. Ich bin Privatdetektiv. Und das ist Catherine Lockhart. Sie ist Anwältin.« Er setzte sich wieder. »Adele Silver hat uns geschickt.«
Solomon schaute von ihm zu Catherine und wieder zurück. »Ich habe kein Geld.«
»Habe ich etwas von Geld gesagt?«, fragte Liam.
»Nein, aber Anwälte und Detektive arbeiten in der Regel nicht gratis.«
»Das nicht, aber Miss Lockhart begleitet mich lediglich. Und ich bin Adele zuliebe hier. Keiner von uns beiden hat sich verpflichtet, etwas für Sie zu tun, und deshalb läuft auch keine Uhr. Wir sind nur gekommen, um mit Ihnen zu reden.«
Solomon betrachtete Liam abwägend. Schließlich nickte er. »Gut, in Ordnung. Eins aber sage ich Ihnen jetzt schon, Elliot Rosenzweig ist Otto Piontek. Und er war ein Nazi, gehörte zur SS.«
Catherine lachte. »Man kann Ihnen wirklich nicht nachsagen, dass Sie sich mit kleinen Fischen abgeben. Elliot Rosenzweig ist eines der angesehensten Mitglieder der Chicagoer Gesellschaft. Wie um alles in der Welt kommen Sie darauf, dass er ein Nazi war? Und wer soll bereit sein, Ihnen zu glauben? Er gehört zu den großzügigsten Sponsoren unserer Stadt.«
Solomon zuckte mit den Schultern. »Je größer die Lüge, desto mehr Menschen folgen ihr.«
Catherine zog die Brauen hoch. »Sind Sie sicher?«
»Ja. Wissen Sie, von wem dieser Spruch stammt?«
»Nein.«
»Von Adolf Hitler. Chicagos großer Geldgeber, Mister Wohltätig in Person, ist ein Schwindler. Ich hätte ihn erschießen sollen.«
»Mit einer Pistole, die nicht geladen war?«
Solomon betrachtete die schmierigen grünen Wände, die abgegriffene Platte des Tischs, die Zimmerdecke. Seine Lippen bewegten sich, als spräche er mit jemandem.
»Wer sind diese jungen Leute, Hannah?«, fragte er leise. »Es war nie ihr Kampf. Für sie ist es Geschichte. So lange vergangen wie die Pharaonen. Warum sollten sie sich dafür interessieren? Hinzu kommt, dass Otto seine Spuren sehr geschickt verwischt hat.«
Liam und Catherine wechselten einen Blick. »Ben, mit wem sprechen Sie?«, fragte Catherine.
Solomon sah wieder sie an. »Am Mittwoch wird die Anklageschrift verlesen. Ich werde des versuchten Mordes angeklagt und weiß nicht, was ich dagegen tun kann. Ich denke, am besten bekenne ich mich schuldig. Die Würfel sind gefallen. Vor der Verurteilung werde ich eine Stellungnahme abgeben. Sie wird von den Zeitungen und vom Fernsehen aufgenommen werden, und man wird die Wahrheit über Elliot Rosenzweig erfahren.«
»Es gibt Möglichkeiten, die Rechtsschuld auszuschließen«, sagte Catherine. »Vielleicht waren Sie nicht in der Lage, sich die Konsequenzen Ihrer Handlung vor Augen zu führen.«
Solomon runzelte die Stirn. »Sie meinen, ich soll auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren? Tun, als wäre ich wahnsinnig?« Er lachte abfällig. »Ich bin sicher, Sie wissen nicht einmal im Ansatz, was Wahnsinn bedeutet. Ich aber habe ihn erlebt. Und ich weiß, dass er wiederkehren kann. Dann, wenn das moralische Gewebe der Menschheit reißt. Dann kriechen die Abgesandten des Bösen – des wahrhaft Bösen – durch den Riss, und wir erleben ein Auschwitz, Kambodscha, Bosnien oder Darfur. Dann lernen wir die Himmler, Pol Pot und Milošević dieser Welt kennen und erleben eine nächste Aktion Reinhardt.«
Solomon stand auf und schlurfte zur Tür. »Geschehen ist geschehen, nichts ist mehr zu ändern.« Er klopfte an die Tür. Die Gefängniswärterin kam herein, legte ihm die Handschellen an. Solomon drehte sich noch einmal um. »Danke, dass Sie gekommen sind. Sagen Sie Adele, dass ich ihre Sorge zu schätzen weiß.«
*
»Und, was hältst du davon?«, fragte Liam auf dem Rückweg ins Zentrum von Chicago.
Catherine zuckte mit den Schultern. »Wenn er auf schuldig plädiert, verbringt er den Rest seines Lebens im Gefängnis. Plädiert er auf Unzurechnungsfähigkeit, verbringt er ihn in einer Klinik. So oder so kommt er nicht mehr frei. Er tut mir leid, aber Chicago ist sicherer, wenn er hinter Schloss und Riegel ist.«
»Ben Solomon ist harmlos, Cat. Seine Waffe war unbrauchbar. Er lebt seit über fünfzig Jahren in Chicago und hat in der Zeit keiner Fliege etwas zuleide getan. Warum sollte Chicago sicherer sein, wenn man ihn wegsperrt?«
»Vielleicht hat er bisher noch niemandem geschadet, aber in meinen Augen ist er der Prototyp des Stalkers. Abgesehen davon könnte ich ohnehin nichts für ihn tun. Er wird sich schuldig bekennen und schien auf unsere Hilfe keinen Wert zu legen.«
»Cat, ich bin’s, Liam. Hast du heute Morgen die Zeitungen gesehen?«
»Nein, gab es etwas zu sehen?«
Catherine klemmte sich wie gewöhnlich den Hörer zwischen Wange und Schulter und blätterte nebenbei in den Unterlagen auf ihrem Schreibtisch.
»Ben Solomon wurde entlassen. Die Anklage wurde zurückgezogen.«
Catherine hörte auf zu hantieren. »Mit welcher Begründung? Das war doch ein glasklarer Fall.«
»Rosenzweig hat den Staatsanwalt gebeten, die Klage fallenzulassen. Er hat erklärt, Solomon habe in seinem Leben genug gelitten, sei in einem Konzentrationslager gewesen und solle nicht noch einmal eingesperrt werden. Und dass er selbst nicht gegen ihn aussagen werde. Dank seiner Intervention ist die Klage vom Tisch.«
»Ich fasse es nicht.« Catherine nahm den Hörer in die Hand und setzte sich zurück. »Rosenzweig muss ein Heiliger sein. Solomon hat ihn vor ich weiß nicht wie vielen Augenzeugen bedroht.«
»Und jetzt ist er wieder auf freiem Fuß. Rosenzweig hat gesagt, er erwarte keine weiteren Angriffe und gehe davon aus, dass Solomon ihn verwechselt habe.«
Catherine lachte auf. »Solomon schien mir aber nicht zu glauben, dass er ihn verwechselt hat.«
Stille. Dann sagte Liam: »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«
»O nein.« Catherine schüttelte den Kopf. »Darauf falle ich nicht herein.«
»Könnte ich heute Nachmittag mit Adele zu dir kommen?«
»Nein, Liam. Du weißt, wie es in meinem Büro aussieht. Ich stehe ohnehin schon so unter Druck und möchte mit dem Fall Solomon nichts zu tun haben. Was wollt ihr überhaupt von mir?«
»Adele möchte mit dir reden. Sie glaubt, dass du die beste Anwältin Chicagos bist.«
»Das hast du ihr eingeflüstert.«
»Ich habe es vielleicht einmal erwähnt.«
»Solomon ist frei, was gibt es da noch zu bereden?«
»Das soll Adele dir lieber selbst erklären.«
»Herrgott noch mal, Liam, ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Ich habe keine Zeit, pro bono zu arbeiten. Die Partner beobachten mich wie Geier. Wenn ich in diesem Monat nicht mindestens zweihundert fakturierbare Stunden nachweise, kommt Jenkins und hält mir einen Vortrag über die Finanzen der Kanzlei.«
Stille.
»Du würdest mir einen Riesengefallen tun. Ich würde dich auch zum Essen einladen. Ganz gleich, wo.«
»Das ist nicht fair.« Catherine seufzte und betrachtete die Papierberge auf ihrem Schreibtisch. »Okay. Heute um drei in meinem Büro. Und vergiss die Essenseinladung.«
»Cat?«
»Ja?«
»Es könnte sein, dass Adele Ben Solomon mitbringt.«
»Gut, in dem Fall ändere ich meine Meinung und möchte ins Ambria eingeladen werden.«
»Alles klar, Essen im Ambria. Und wir sehen uns um drei.«
*
Das Marquette Building, eine der Sehenswürdigkeiten Chicagos, war im Jahr 1895 aus Sandstein, Glas und Terrakotta errichtet worden und lag dem Gerichtsgebäude der Stadt schräg gegenüber. Über dem Eingang befanden sich Bronzetafeln, auf denen das Leben Jacques Marquettes dargestellt war, des französischen Jesuitenpaters und Missionars, der die Gegend des westlichen Michigansees im Jahr 1674 erkundet hatte. In der runden Eingangshalle war die Begegnung Marquettes mit den Illinois-Indianern in farbenprächtigen Mosaiken von Tiffany illustriert.
Von den sechzehn Stockwerken des Marquette belegte die Kanzlei Jenkins & Fairchild die oberen drei.
Kurz vor fünfzehn Uhr traten Liam, Adele Silver und Ben Solomon aus dem Aufzug in den Empfangsbereich von Jenkins & Fairchild. Solomon trug eine beige Jacke aus Popeline, ein beiges Poloshirt und eine khakifarbene Hose. Er wirkte unauffällig, hätte einer der zahlreichen Rentner sein können, die auf der North Avenue Beach auf einen freien Platz an den Schachtischen warteten.
Catherines Sekretärin führte die kleine Gruppe in einen Besprechungsraum, wo Catherine sie nach einer kurzen Begrüßung bat, Platz zu nehmen.
»Schön, Sie wiederzusehen, Mr Solomon«, sagte sie mit einem etwas gezwungen wirkenden Lächeln. »Wie ich höre, ist die Klage gegen Sie zurückgezogen worden.«
Solomon nickte und faltete die Hände auf dem Tisch.
Danach schwiegen alle.
Catherine warf Liam einen unsicheren Blick zu. Dann wandte sie sich wieder an Solomon. »Was kann ich für Sie tun, Mr Solomon?«
Solomon betrachtete seine gefalteten Hände und schien nach den richtigen Worten zu suchen.
»Vielleicht fange ich mal an«, schlug Mrs Silver vor. »Ist dir das recht, Ben?«
Er zuckte mit den Schultern. Dann nickte er.
Mrs Silver holte tief Luft. »Also, ich kenne Ben schon seit vielen Jahren. Er ist ein angesehenes Mitglied unserer Synagoge, sehr belesen und gebildet. Seit ich ihn kenne, hat er sich nie irrational verhalten. Er hat seine Eigenheiten, aber wer hat die nicht.«
»Ich möchte Rosenzweig vor Gericht bringen«, sagte Solomon.
Catherine musterte den alten Mann mit den eingefallenen Wangen und dem dünnen weißen Haar. »In der Zeitung stand, dass das Strafverfahren gegen Sie eingestellt wurde. Das bedeutet, dass gegen Sie nicht weiter ermittelt wird. Wenn Sie nun gegen Mr Rosenzweig vorgehen, ganz gleich aus welchen Gründen, kann es sein, dass die Klage erneut aufgenommen und ihnen wieder schwere Körperverletzung und versuchter Mord vorgeworfen werden. Nehmen Sie das in Kauf?«
Solomon schnaubte verächtlich. »Der sogenannte Mr Rosenzweig wird nie in den Zeugenstand treten und gegen mich aussagen. Nur deshalb hat er die Klage zurückgezogen.«
»Und was, wenn dem nicht so ist? Sollten Sie ihn tatsächlich verklagen, könnte ich mir vorstellen, dass er sich dann weniger nachsichtig zeigen wird als jetzt. Er wird allein deshalb aussagen, weil er seinen guten Ruf zu verteidigen hat.«
»Rosenzweig ist nicht nachsichtig.« Solomon lachte. »Er hat Angst. Und er wird nicht vor Gericht erscheinen, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
»Mr Solomon«, sagte Catherine so ruhig wie möglich. »Ich weiß nicht, wie viele Opernbesucher gesehen haben, dass Sie Mr Rosenzweig eine Waffe an die Stirn gedrückt haben. Vielleicht ist es Ihnen nicht bewusst, aber jeder von ihnen könnte gegen Sie aussagen.«
»Die Waffe war nicht geladen.«
»Das spielt keine Rolle, man könnte Sie immer noch zu einer Gefängnisstrafe verurteilen. Und apropos Waffe, darf ich fragen, warum Sie Mr Rosenzweig mit einer nicht geladenen Waffe bedroht haben?«
Solomon zog die Brauen zusammen. »Nein, dürfen Sie nicht.«
Catherine stand auf. »Es tut mir leid, Mr Solomon. Aber dann weiß ich beim besten Willen nicht, wie ich Ihnen helfen kann.«
Tränen traten in Solomons Augen. Er senkte den Kopf und murmelte etwas vor sich hin.
»Miss Lockhart, bitte setzen Sie sich wieder«, sagte Mrs Silver. »Ich kenne Bens Geschichte. Hören Sie ihm einfach noch ein wenig zu.«
Catherine stieß einen tiefen Seufzer aus und ließ sich zurücksinken. »Ich bin durchaus bereit, Mr Solomon zuzuhören, mir scheint jedoch, dass er nicht bereit ist, mit mir zu reden. Und ich wüsste auch nicht, auf welcher rechtlichen Grundlage ein Zivilprozess gegen Mr Rosenzweig möglich sein sollte. Auch wenn er als Nazi gemordet hat, wie Mr Solomon behauptet, frage ich mich, welcher Klageanspruch heute noch Geltung haben sollte. In den Rechtsansprüchen der Holocaust-Überlebenden kenne ich mich zwar nicht aus, würde aber vermuten, dass sie inzwischen verjährt sind.«
Solomon hob den Kopf. »Der Gegenstand meiner Klage ist nicht verjährt. Würde ich Deutschland verklagen oder die Firmen, die mit den Nazis Geschäfte gemacht haben, dann wäre meine Klage tatsächlich hinfällig. Auch wenn ich wegen meiner Zeit im KZ auf Schadenersatz klagen würde oder weil ich dort gefoltert wurde, käme ich nicht weit. Solche Themen wurden durch Verträge und Zahlungsausgleiche geregelt. Da geht nichts mehr.« Er lächelte ein wenig. »Wie Sie sehen, habe ich mich schlaugemacht.«
»Jetzt bin ich verwirrt«, sagte Catherine. »Denn wenn Sie das alles wissen, würde ich gern erfahren, wie Sie sich Ihre Klage gegen Rosenzweig vorstellen?«
»Rosenzweig soll für seine Sünden büßen«, entgegnete Solomon grimmig.
Catherine schüttelte den Kopf. »Ich werde mich nicht auf einen Fall einlassen, dessen einziges Ziel es ist, jemanden anzuschwärzen oder zu quälen. Und das nach so langer Zeit. Und warum ausgerechnet Elliot Rosenzweig?«
Mrs Silver legte ihre Hand auf Catherines Hand. »Catherine«, sagte sie sanft, »lassen Sie mich Ihnen erklären, warum Ben und ich hier sind.« Sie zog ihre Hand zurück. »Ben kam im Jahr 1949 nach Amerika. Als er in Chicago –«
»Nein, Adele«, fiel Solomon ihr ins Wort. »Wenn es um meine Geschichte geht, sollte ich sie auch erzählen.« Er schwieg. Dann schien sein Blick sich nach innen zu richten.
»Elliot Rosenzweig ist ein Schwindler«, begann er schließlich. »Sein richtiger Name ist Otto Piontek, und vor vielen Jahren war er mein bester Freund, mehr als das, er war mir ein Bruder. Wir wuchsen zusammen in Polen auf, und wir waren damals zu dritt, eine Einheit, bestehend aus drei Teilen: Otto, ich und Hannah. Nichts konnte uns trennen, wir waren einander so nah wie Geschwister. Ich wusste nicht, dass er den Krieg überlebt hat, das habe ich erst vor wenigen Monaten erfahren, als ich ihn im Fernsehen sah. Ich glaube, es war Hannahs Idee, dass ich an jenem Abend einen Kultursender einschaltete. Es ging um Kunstmäzene. Und da war auf einmal Otto – saß in seinem vornehmen Arbeitszimmer und nannte sich Elliot Rosenzweig.«
»Könnte es nicht sein, dass Sie sich geirrt haben?«, fragte Catherine. »Der Zweite Weltkrieg liegt schon lange zurück. Vielleicht ähnelt Mr Rosenzweig Ihrem alten Freund Otto, Menschen verändern sich im Alter mitunter stark.«
»Ich irre mich nicht im Geringsten. Ich habe ihn deutlich erkannt, sogar seine Stimme. Gesichter verändern sich, nicht aber Stimmen. Als die Kamera ihn in Großaufnahme gezeigt hat, bin ich sofort aufgesprungen und zum Fernseher gestürzt. Den Rest der Sendung habe ich mit dem Gesicht dicht vor dem Bildschirm verbracht. Es gibt keinen Zweifel, und es ist mir auch einerlei, wie viele Jahre inzwischen vergangen sind. Rosenzweig ist und bleibt Piontek.«
Adele nickte, wie um zu sagen, dass sie derselben Ansicht sei.
»Es gibt Doppelgänger«, sagte Catherine. »Ich bin auch schon mit anderen Frauen verwechselt worden.«
»Mag sein«, erwiderte Solomon, »aber der Mann im Fernsehen war eindeutig Otto Piontek. Am Tag nach der Sendung bin ich in die nächste Bücherei gelaufen und habe Zeitungsartikel über ihn gelesen, mir die Fotos angeschaut. Er ist Otto. Ich habe gelesen, dass er nach dem Krieg nach Chicago kam. Als KZ-Überlebender, der keinen Cent in der Tasche hatte. Woher nimmt so jemand das Geld, ein Versicherungsunternehmen auf die Beine zu stellen, das heute etliche Hundert Millionen wert ist?«
»Hat er im Fernsehen nicht erklärt, dass er die richtigen Leute kennengelernt und klug investiert hat?«
»O ja!« Solomon lachte rau auf. »Aber diese Leute hat er in Polen kennengelernt. Er hat ihnen alles genommen, was sie besaßen.«
Er breitete die Arme aus. »Und jetzt ist dieser Nazi ein Multimillionär, besitzt ein teures Anwesen in Winnetka und hüllt sich in das Gewand der Respektabilität.«
»Sie leben schon so lange in Chicago«, sagte Liam. »Wie kommt es, dass er Ihnen vorher nie aufgefallen ist?«
»Ich hatte von ihm gehört«, antwortete Solomon. »Jeder in unserer Stadt kennt den wunderbaren Mr Rosenzweig. Aber weiter habe ich nie über ihn nachgedacht. Warum auch? Und natürlich bin ich ihm auch nie begegnet, wir bewegen uns nicht gerade in denselben Kreisen. Ich hatte einen kleinen Posten auf einem städtischen Golfplatz, den Rosenzweig nie betreten hat. Falls er Golf spielt, wird er es in teuren Privatclubs tun.
Dann habe ich in der Zeitung gelesen, dass er bei der Eröffnungsgala der Lyric Opera erwartet wird, zum Vorstand ihres Freundeskreises gehört und einer ihrer größten Förderer ist, wenn nicht der größte. Und plötzlich nahm in meinem Kopf ein Plan Gestalt an. Ich besorgte mir eine deutsche Luger, die alte Standardausrüstung der SS, die Otto sehr gut kennt. Ich ging in die Oper, um ihn in aller Öffentlichkeit zu konfrontieren. Ich erinnerte mich daran, dass Otto sich damals in Polen als Feigling herausgestellt hatte und wahrscheinlich noch immer einer ist. Ich dachte, wenn er um sein Leben bangt, wird er die Wahrheit gestehen. Wahrscheinlich gibt es niemanden, den er so fürchtet wie mich. Ich malte mir den Schock aus, wenn er mich plötzlich vor sich sähe, und wie er zugeben würde, dass er Otto Piontek ist. Wenn dieser Muskelprotz mich nicht von hinten gepackt hätte, wäre es vielleicht sogar dazu gekommen.«
»Warum haben Sie nicht Klage erhoben?«, fragte Catherine. »Unsere Justiz hat die Pflicht, Anzeigen gegen NS-Kriegsverbrecher nachzugehen. Für solche Fälle gibt es keine Verjährung. Falls Rosenzweig sich solcher Verbrechen schuldig gemacht hat, wird er ausgewiesen und vermutlich einem polnischen Gericht überstellt.«
Solomon schüttelte den Kopf. »Otto ist gerissen, hat Geld und gehört zur besten Gesellschaft Chicagos. Wie hoch schätzen Sie die Chance ein, dass eine Justizbehörde dieser Stadt dem Wort eines kleinen Rentners glaubt? Die Anzeige würde überflogen und zu den Akten gelegt.«
»Und doch möchten Sie Rosenzweig vor ein Zivilgericht bringen.«
»Ja. Ich will, dass er seine Verbrechen gesteht und verurteilt wird. Nicht wegen seiner Zeit in der SS, das würde zu nichts führen, sondern weil er meine Familie bestohlen hat. Meine Eltern haben ihm ihre Wertsachen anvertraut, um sie vor den Nazis zu retten. Otto versprach ihnen, sie zu verstecken und nach dem Krieg zurückzugeben. Es geht um den Schmuck meiner Mutter, um Gold und unser Silber. Und um Geld.«
Solomons bleiche Wangen hatten sich gerötet. Er atmete mehrmals tief durch. »Ich fordere die Rückgabe des Gestohlenen oder eine Entschädigung, das heißt, die Erstattung der gestohlenen Gegenstände in Form von Geld. Auch in solchen Fällen gibt es keine Verjährung.«
Catherine nickte anerkennend. »Sie haben sich tatsächlich schlaugemacht.«
»Es gibt jede Menge Präzedenzfälle. Bei den meisten geht es um die Raubkunst der Nazis und um erfolgreiche Klagen auf Rückerstattung oder Entschädigung. Ich erinnere mich an eine Klage gegen ein Kunstmuseum und gegen Sotheby’s. Auch gegen eine New Yorker Galerie wurde geklagt. Da ging es um die Herausgabe eines Chagalls. Solange man nicht gegen einen Staat klagt, hat man durchaus Aussichten auf Erfolg.«
Catherine lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin beeindruckt.«
Ein Lächeln huschte über Solomons Lippen.
»Aber selbst wenn sich herausstellt, dass Sie im Recht sind, könnten die Kosten des Rechtsstreits weit über dem Streitwert liegen.«
Solomon zuckte mit den Schultern.
»Ihnen geht es gar nicht um die Rückerstattung, oder?«
»Nein. Ich will Gerechtigkeit. Rosenzweig soll entlarvt werden, und jeder soll erkennen, dass er einmal ein Mitglied der SS und ein eiskalter Mörder war. Ich möchte ihn im Zeugenstand sehen und hören, wie er seine Taten bekennt.«
Catherine wiegte den Kopf hin und her. »Ich verstehe Ihren Wunsch nach Gerechtigkeit. Trotzdem, die Kanzlei Jenkins & Fairchild wird Ihnen kaum weiterhelfen können. Wir vertreten ausschließlich Unternehmen, allen voran Finanzeinrichtungen und Kliniken, keine Privatpersonen.«
»Aber Sie sind doch Anwältin, oder? Adele sagt, Sie gehören zu den besten. Sie treten vor Gericht auf, oder etwa nicht?«
»Sicher, aber nicht in Fällen, wie Ihrer einer wäre.«
Solomon schaute zum Fenster. Auf der anderen Straßenseite erhoben sich die Dirksen und Kluczynski Federal Buildings, zwei Wolkenkratzer aus Glas und Stahl von Mies van der Rohe, die eine Ecke des zubetonierten Federal Plaza markierten.
»Das war eine Sackgasse, Hannah«, murmelte er. »Es war falsch von mir, uns Hoffnungen zu machen.«
Mühsam stand er auf. »Vielen Dank, Miss Lockhart«, verabschiedete er sich und verließ den Besprechungsraum.
Die schweren dunklen Vorhänge an den Fenstern des Ambria wurden von Goldkordeln gerafft und säumten den Blick auf die Bäume des Lincoln Park, deren buntes Herbstlaub im Licht der Laternen schimmerte. Auf den Tischen standen kleine Asternsträuße und Lämpchen mit gelben Seidenschirmen. Catherine überflog die Speisekarte. »Ich bin froh, dass aus dem Fall Solomon nichts wird.«
»Das ist nicht nett«, sagte Liam. »Mir tut der alte Mann leid.«
»Sicher, das tut er mir auch.«
Liam legte seine Speisekarte zur Seite. »Was ist, wenn er recht hat und Rosenzweig tatsächlich dieser Otto Piontek ist?«
Catherine schüttelte den Kopf. »Ich halte es für eine Wahnvorstellung. Hast du nicht gesehen, dass er sich mit imaginären Personen unterhält?«
»Doch.«
»Kein Mensch nimmt ihm die verrückte Geschichte ab – außer Adele Silver vielleicht. Die Zeitungen und das Fernsehen gehen von den Phantastereien eines Irren aus. Sie haben die Geschichte nicht einmal weiterverfolgt.«
Ein Sommelier brachte ihnen den Wein, den Liam bestellt hatte, und schenkte ihm einen Schluck ein. Liam schwenkte den Wein im Glas, kostete und bedeutete dem Mann mit einem Nicken, die Gläser zu füllen.
Als sie wieder allein waren, sagte er: »Ich bin nicht der Meinung, dass Solomon verrückt ist. Inzwischen habe ich nämlich ein bisschen herumgeschnüffelt.«
Catherine seufzte. »Hätte ich mir denken können.«
»Adele hat mich mit Leuten bekannt gemacht, die Solomon kennen. Er nimmt aktiv am Gemeindeleben der Synagoge teil, zu der Adele und er gehören, betreut die Bibliothek, betreibt intensiv Bibelstudien. Dienstagabends gibt er einen Kurs über den Sohar.«
»Wer oder was ist der Sohar?«
»Wie man mir erklärt hat, ist es ein zentrales Werk der Kabbala, die wiederum zur mystischen Tradition des Judentums gehört.«
Catherine musterte ihn misstrauisch. »Der Fall ist für mich erledigt, Liam.«
»Das weiß ich.«
»Und ich werde meine Meinung nicht mehr ändern.«
»Klar. Alle Menschen, mit denen ich gesprochen habe, mögen Solomon. Jeder achtet ihn.«
»Interessiert mich nicht.«
»Natürlich nicht.«
Ihnen wurden Pastetchen aus Räucherlachs und Jakobsmuscheln serviert. Catherine betrachtete sie anerkennend und griff nach ihrer Gabel. Eine Zeitlang aßen sie schweigend.
Dann sagte Catherine: »Mit wem bist du eigentlich zusammen? Immer noch mit Donna?«
»Ich bin nicht mit ihr zusammen. Wir treffen uns nur ab und zu. Sie ist nett und hat Humor … aber es ist nichts Festes.«
Catherine brach eine Scheibe Brot entzwei und bestrich eine Hälfte dünn mit Butter. Sie nahm einen Schluck Wein. »Was meinst du, was los wäre, wenn jemand gegen Rosenzweig vorginge und ihn beschuldigte, ein Nazi gewesen zu sein und Verbrechen begangen zu haben.«
»Warum fragst du, du hast die Sache doch abgehakt.«
»Genau.« Catherine knabberte an ihrem Stück Brot. »Warum setzt du dich so für Solomon ein?«
Liam legte seine Gabel ab.
»Adele und Ben gehören zu den Guten. Adele ist eine alte Dame, die sich um ihre Nachbarn kümmert und ihnen Suppe bringt, wenn sie krank sind. Die Kindern ohne Taschengeld einen Vierteldollar gibt, wenn sie ihr die Zeitung besorgen. Die für jeden ein freundliches Wort hat, wenn sie den Bürgersteig vor ihrem Haus fegt. Ben hat mit seiner Frau ein kleines, bescheidenes Leben geführt. Menschen wie er und Adele haben keinen Zugang zu Anwälten, und sie wissen auch nicht, wie man ein Verfahren anstrengt. Prozessanwälte wie du gehören nicht zu ihrem Bekanntenkreis. Solche Leute brauchen Beistand.« Liam nahm seine Gabel wieder auf.
»Die Anwaltshonorare und anderen Kosten würden sich auf weit über hunderttausend Dollar belaufen. Rosenzweig würde ein ganzes Anwaltsteam engagieren. Selbst wenn man mich den Fall übernehmen ließe, was so gut wie ausgeschlossen ist, hätte ich nicht genügend Leute, um mithalten zu können.«
»Ich dachte, du entscheidest, welche Fälle du annimmst.«
Catherine lachte. »Machst du Witze? Ich bin erst seit anderthalb Jahren bei Jenkins & Fairchild. Ich bin nicht einmal Juniorpartnerin, nur eine angestellte Anwältin. Und du kennst meine Vergangenheit.«
Liam wich ihrem Blick aus. »Ja und?«
»Wenn der Fall für mich in Frage käme, müsste ich ihn dem Leiter meiner Praxisgruppe vorlegen und ihn um Genehmigung bitten. Er entscheidet als Erster, welche Fälle angenommen und welche mir zugewiesen werden. Hinzu kommt, dass wir uns nur für große Unternehmen engagieren. Für Bank X gegen Person oder Unternehmen Y.Für Fabrik A, die eine Baugenehmigung für ein Grundstück wünscht, auf dem sie niemals bauen sollte. Wir schlagen Schlachten für Versicherungsriesen, bei denen es um die Verluste ihrer Versicherten nach einem Tornado geht. Unsere Mandanten sind Unternehmen, die bei einem Stundenhonorar von neunhundert Dollar nicht mit der Wimper zucken. Fälle wie die eines Ben Solomon gegen einen der prominentesten Bürger Chicagos müssten sogar von der Geschäftsleitung genehmigt werden – vorausgesetzt, der Leiter meiner Praxisgruppe hätte seine Zustimmung gegeben.
Mandanten wie Adele Silver und Ben Solomon sind bei uns nicht erwünscht, Liam. Das passt mir zwar nicht, aber so sind die Regeln der Kanzlei.«
»Warum bleibst du?«
»Weil ich eine Zeitlang pausiert habe und Jenkins mich trotzdem eingestellt hat. Das weißt du doch.« Sie nahm einen Schluck Wein. »Und mein Gehalt ist nicht schlecht.«
»Natürlich hat Jenkins dich eingestellt. Er wird sich gefreut haben, eine Anwältin deines Kalibers zu bekommen, die noch einmal von unten anfängt.«
»Liam, ich war Ausschussware.«
Liam biss in eine Jakobsmuschel. »Hast du dir mal überlegt, wie ein Überlebender eines Konzentrationslagers nach dem Krieg ohne einen Cent in der Tasche nach Amerika kommen und schon bald einer der reichsten Männer Chicagos werden kann?«
Catherine schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich weiß, was du damit sagen willst.«
»Was wäre, wenn Solomon beweisen kann, dass Rosenzweig seine Familie bestohlen hat?«
»Was soll er denn für Beweise haben? Nach all den Jahren.«
Liam zuckte mit den Schultern.
»Selbst, wenn es diese Beweise gäbe, würde Jenkins & Fairchild mir nicht gestatten, den Fall zu bearbeiten. Sich mit jemandem wie Rosenzweig anzulegen wäre in Chicago gesellschaftlicher und geschäftlicher Selbstmord. Solomon braucht einen brillanten Kreuzritter der Anwaltschaft, den das alles nicht schert. Jemand, der sich gegen die Anträge, die von Rosenzweigs Seite kommen werden, durchsetzen kann. Jemand, der genügend Geld hat und gewillt ist, pro bono zu arbeiten. Oder Solomon wendet sich an ausgewiesene Jurastudenten, denen es gestattet ist, als Rechtsberater tätig zu werden. Junge Leute sind nicht ängstlich. Ich dagegen könnte meinen Job verlieren.«
»Und welche Beweise müsste Solomon beibringen?«
Catherine zählte sie an den Fingern ab. »Erstens muss er nachweisen, dass Otto Piontek tatsächlich existierte und für das Naziregime Verbrechen begangen hat. Zweitens braucht er so etwas wie Belege über das, was seiner Familie gestohlen wurde. Drittens muss er beweisen können, dass Piontek diese Wertsachen einbehalten und/oder veräußert hat. Und dann muss er beweisen, dass Elliot Rosenzweig niemand anderes als Otto Piontek ist.«
Liam schenkte Catherine Wein nach. »Darf ich noch einmal mit Ben zu dir kommen?«
Catherine sah ihn entnervt an. »Habe ich dir nicht gerade lang und breit erklärt, dass wir seinen Fall nicht übernehmen werden?«
»Doch, aber darum geht es nicht. Ich möchte, dass du ihm deine Einschätzung vermittelst und vielleicht einen Anwalt empfiehlst, der ihn vertreten kann.«
Catherine stöhnte. »Warum machst du es mir so schwer, Liam? Ich habe einen Job und Vorgesetzte, vor denen ich mich rechtfertigen muss. Jeden Abend gebe ich meinen Stundennachweis ab. Wie bitte soll ich die Stunden, die ich mit Ben Solomon verbringe, erklären?«
»Gut.« Ben seufzte. »Wir vergessen es.«
Zwei Kellner rollten einen Servierwagen heran, lupften beide gleichzeitig die großen Silberhauben über den Gerichten und enthüllten für Liam ein mit Mandeln gespicktes Lammkarree und für Catherine gebackene Wolfsbarschfilets. »Bon appétit«, sagten sie wie aus einem Mund.
Nach nur wenigen Bissen sagte Catherine: »Schmeckt himmlisch.« Sie schaute Liam an und stellte fest, dass er sein Essen nicht angerührt hatte.
»Denkst du immer noch an Ben Solomon?«
»Ja, und ich weiß nicht einmal, warum. Vielleicht weil er zu den kleinen Leuten gehört und sich nicht wehren kann oder weil ich glaube, dass er die Wahrheit sagt und ihm niemand zuhören will. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand sich eine Geschichte wie seine aus den Fingern saugt. Aber das ist nur ein Gefühl. Ach, egal.«
»Warum lasse ich mir so etwas antun?« Catherine legte ihre Gabel ab. »Und guck mich nicht an wie ein gescholtenes Hündchen. Ich rede noch mal mit ihm, okay? Bring ihn am kommenden Mittwochnachmittag in mein Büro, dann sprechen wir noch einmal ausführlicher über den Fall. Falls ich zu dem Schluss komme, dass etwas an der Sache ist, rufe ich einen Freund in der Justiz an und lasse mir Jurastudenten empfehlen, die weit genug sind, um Ben beraten zu können. Unterm Strich heißt das, dass Solomon mir am Mittwoch Beweise liefern muss. Stichhaltige Beweise. Solche, die vor Gericht bestehen können.«
Liam strahlte und griff nach seiner Gabel. »Danke, Cat.«
Zamość, 1933
»Zu Beginn der 1930er Jahre war ich noch ein Junge und lebte im südöstlichen Teil Polens in einer Stadt namens Zamość. Meine Eltern waren warmherzige und liebevolle Menschen. Der Vorname meines Vaters lautete Abraham, der meiner Mutter Leah. Gott sei ihren Seelen gnädig. Wir hatten ein Haus im jüdischen Viertel der Stadt.«
Ben saß am Kopfende des Konferenztisches und schloss seine Hände um einen dampfenden Becher Tee. Liam, Catherine und Mrs Silver hatten sich an den Seiten niedergelassen. Catherine machte sich auf einem großen gelben Schreibblock Notizen.
»Vor dem Zweiten Weltkrieg war Zamość ein Juwel, eine malerische kleine Stadt, die gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts nach den Entwürfen eines italienischen Baumeisters namens Bernardo Morando errichtet wurde, mit wunderschönen pastellfarbenen Häusern, im Stil der Renaissance. Man bezeichnete Zamość als das Padua des Nordens, und tatsächlich konnte man glauben, irgendwo in der Nähe Venedigs zu sein.«
Catherine schaute von ihren Notizen auf. »Das klingt wunderbar, Ben, doch vor allem müsste ich von Ihnen erfahren, welche Wertsachen Mr Rosenzweig Ihnen gestohlen hat und wie Sie beweisen wollen, dass sie Ihrer Familie gehört haben.«
Ben ging darüber hinweg. »Mein Vater hatte Wirtschaftswissenschaften studiert, er war ein gebildeter Mann. Doch nach seinem Studium musste er in der Glasfabrik unserer Familie zunächst einmal als Lehrling anfangen und das Handwerk eines Graveurs von der Pike auf erlernen. Mein Urgroßvater hatte diese Fabrik im Jahr 1861 gegründet. Es wurden alle Arten Trinkgläser gefertigt, auch Vasen, Kerzenständer, Schalen und Schüsseln, alle aus Bleikristall und hochwertig. Als ich geboren wurde, leitete mein Vater die Fabrik, und die Ware – Produkte traditioneller polnischer Glaskunst – wurde in ganz Europa vertrieben.
Mein Vater war für uns alle wie ein Fels, ein Mann von großer innerer Stärke. Und er gab mir so viel Liebe. Manchmal nahm er mich mit in die Fabrik, führte mich herum und fragte die Arbeiter, ob sie jemals einen hübscheren Jungen gesehen hätten.« Ben lachte kopfschüttelnd.
»Er wurde geachtet. In Zamość kamen die Leute zu uns, um ihn um Rat zu fragen. Ich weiß nicht, wie oft er abends mit Besuchern im Wohnzimmer saß und Tee trank und ich auf seinem Schoß einschlief, den Kopf an seiner Brust.«
Catherine legte ihren Stift ab, stützte die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf ihre gefalteten Hände.
»Meine Mutter war eine schöne Frau. Sanftmütig. Sie besaß die Eleganz des alten Europas und war dennoch bescheiden. Aber sie konnte sehr bestimmt sein. Ihr Leben drehte sich um ihr Heim und ihre Kinder … Hören Sie mir eigentlich zu, Miss Lockhart?«
Catherines Block und Stift lagen unangetastet auf dem Tisch. »Ja, Ben.«
»Meine Mutter hatte eine große Aussteuer mit in die Ehe gebracht, und sie pflegte die Sachen mit Hingabe, ganz gleich, ob es Wäsche, Silberbesteck oder Möbelstücke waren. All diese Gegenstände waren für sie von Bedeutung. Damals war es nicht wie heute, wo die Menschen auf Kredit Massenware kaufen, die sie nach kurzer Zeit in den Müll werfen. Meine Mutter liebte das, was wir besaßen, darunter Stücke, die sie von ihren Großeltern geerbt hatte und an ihre eigenen Kinder weitergeben wollte. All das gehörte zu ihrem Wesen. Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will, Miss Lockhart?«
»Bitte nicht in diesem gereizten Ton, Ben. Wir sind keine gegnerischen Parteien. Ich sitze hier sehr geduldig und warte darauf, dass wir auf Ihren Rechtsanspruch gegenüber Mr Rosenzweig zu sprechen kommen. Ich bin sicher, dass Ihre Eltern ganz außergewöhnliche Menschen waren, wäre Ihnen jedoch dankbar, wenn wir uns dem Thema der gestohlenen Wertgegenstände zuwenden könnten. Denn um die handelt es sich in Ihrem Fall.«
Ben runzelte die Stirn. »Ich bin zwar kein Jurist, aber nach meiner Auffassung besteht die Rolle eines Anwalts darin, Mandanten zu vertreten, ihren Interessen eine Stimme zu verleihen und ihre Ansprüche durchzusetzen. Oder sehe ich das falsch?«
»Nein, das sehen Sie absolut richtig. Aber Anwälte haben auch eine Verpflichtung gegenüber ihrer Kanzlei und sollten den ethischen Regeln des Anwaltsstands gehorchen. Und diese verlangen, dass wir einen Anspruch prüfen, bevor wir damit vor Gericht gehen.«
»Dann sind wir uns ja einig.« Ben wirkte noch immer nicht besänftigt. »Ich bin lediglich dabei, Ihnen die Hintergründe meines Falls zu schildern. Wenn mich jemand vertritt, muss er wissen, woher ich komme, wer ich bin und woraus sich mein Anspruch ergibt. Bitte versuchen Sie nicht, auf eine Kurzfassung zu dringen.«
Catherine bemühte sich um ein Lächeln. »Natürlich nicht. Machen Sie weiter.«
»Ich hatte eine Schwester. Sie hieß Beka und war der Augapfel meiner Mutter. Beka hatte das Glück, ebenso schön wie meine Mutter zu sein – mit dem gleichen dunklen Lockenhaar, ihren grünen Augen und klassischen Gesichtszügen. Klug war sie außerdem.
Vor dem Zweiten Weltkrieg fand man in Zamość ein buntes Völkergemisch – Polen, Juden, Armenier, Ungarn, Russen, sogar Italiener. Sie lebten zwar überwiegend in eigenen Vierteln, aber man kam miteinander aus und respektierte die anderen Kulturen. Vierzig Prozent der Bewohner waren Juden.
Auch was die Lage betraf, war Zamość gesegnet. Die Landschaft rund um die Stadt sah aus wie von einem Impressionisten entworfen, mit dichten Wäldern, sanft gewellten Hügeln und glasklaren Flüssen. Es war zum großen Teil Agrarland, Sie können sich sicher vorstellen, wie idyllisch es war. Jedenfalls bis zu dem Tag, als die Deutschen kamen, uns zu Untermenschen erklärten und sich daranmachten, uns wie eine Ameisenpest auszurotten.
Mein Onkel Josef lebte in Wien, doch er hatte eine Hütte in den Karpaten, das ist das Gebirge, das Sie im Süden von Zamość finden. Die Hütte lag in einem Tal, umgeben von den Bergen der Hohen Tatra. Dort traf sich unsere Familie ein oder zwei Mal im Jahr – Onkel, Tanten, Vettern und Cousinen.«
Ben verstummte, sein Blick wanderte in die Ferne. Erst nach einer Weile sprach er weiter. »Ich sehe das Tal vor mir, Wiesen voller Himmelschlüssel, hohe Tannen, Wacholdersträucher, ein Wildbach. Wenn wir im Sommer ankamen, rannten Beka und ich als Erstes über die Wiesen und tauchten unsere Zehen in das eiskalte Wasser des Bachs.« Ben lächelte liebevoll. »Das Lachen meiner Schwester war ansteckend. Es waren frohe, unbeschwerte Tage, insbesondere für uns Kinder.«
Seine Augen wurden feucht. Er nahm einen Schluck Tee.
»Bitte, entschuldigen Sie, Ben«, sagte Catherine, »ich will Sie wirklich nicht drängen, aber ich habe heute noch ein Meeting. Haben Sie neulich nicht davon gesprochen, dass Sie eine Einheit, bestehend aus drei Teilen, waren und dass Otto so etwas wie Ihr Bruder war? Aber da war doch noch jemand.«
»Hannah.«
»Bens Ehefrau«, soufflierte Adele.
Ben fuhr sich über die Augen. »Seit der Schulzeit waren wir beste Freunde, mehr als das.« Er senkte den Blick und schien sich fassen zu müssen. »Bisher habe ich mit kaum jemandem über meine Geschichte gesprochen.« Er räusperte sich. »Die Erinnerung ist schmerzhaft.«
Wieder schwieg er eine Weile. Dann bat er um Entschuldigung, stand auf und trat ans Fenster.