Die Tochter von Kopenhagen - Ronald H. Balson - E-Book
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Die Tochter von Kopenhagen E-Book

Ronald H. Balson

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Beschreibung

Er lässt sich als Held feiern, doch sie kennt sein dunkles Geheimnis.

»Verräter« schmiert die 92-jährige Britta Stein an die Fassade eines Restaurants in Chicago. Sie schwört, dass der Besitzer sich im Zweiten Weltkrieg als Nazi-Kollaborateur schuldig gemacht hat. Um die Behauptungen der alten Dame zu beweisen, muss die Anwältin Catherine Lockhart tief in die Vergangenheit eintauchen. Und auch Brittas Enkelin erfährt erstmals die wahre Geschichte ihrer Großmutter ... 

Nach dem Erfolg von »Karolinas Töchter«: der neue Fall von Catherine Lockhart und Liam Taggart.

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Seitenzahl: 509

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Über das Buch

Kopenhagen, 1940: Die junge Britta führt ein glückliches und unbeschwertes Leben, der Krieg fühlt sich weit weg an. Doch dann wird Dänemark von den Deutschen besetzt – und mit einem Mal ist alles anders. Ihre Schwester engagiert sich im dänischen Widerstand, und Brittas Leben ist fortan von Angst beherrscht, denn sie und ihre Familie sind Juden.

Chicago, 2018: Als die Anwältin Catherine Lockhart von einer alten Dame hört, die das Restaurant eines bekannten dänischen Kriegshelden mit wüsten Beschimpfungen besprüht hat, weiß sie zunächst nicht, was sie davon halten soll. Doch als Britta Stein zu ihr kommt und sie um Hilfe bittet, erkennt Catherine schnell, dass ihre Mandantin eine erschütternde Geschichte zu erzählen hat, die unbedingt ans Licht kommen muss.

Über Ronald H. Balson

Ronald H. Balson ist Rechtsanwalt, und seine Fälle führten ihn um die ganze Welt. Die neuen Orte und Fälle inspirierten ihn zu seinen Romanen. Heute lebt und schreibt er in Chicago.

Im Aufbau Taschenbuch liegen seine Romane »Karolinas Töchter«, »Hannah und ihre Brüder«, »Ada, das Mädchen aus Berlin« und »Esthers Verschwinden« vor.

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Ronald H. Balson

Die Tochter von Kopenhagen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Gabriele Weber-Jarić

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Anmerkungen und Dank

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Für die Menschen in Dänemark, die sich der Tyrannei widersetzten und die Prinzipien dänischer Einheit verkörperten.

Und für Monica, mit der ich über die Meere segle.

Kapitel 1

Chicago, 2018

Richter Obadiah Wilson sieht die beiden Anwälte über den Rand seiner Lesebrille hinweg an und schenkt ihnen ein zweideutiges Lächeln. Gleich wird er das Urteil verkünden, und danach wird nur einer der beiden glücklich nach Hause gehen.

Wilsons Urteile sind sorgfältig ausgearbeitet und werden von ihm mit einem leichten osttexanischen Akzent vorgetragen. »Ich muss zugeben«, beginnt er mit seiner sonoren Baritonstimme, »dass Sie mir einiges zu lesen und zu verdauen gegeben haben.« Er deutet auf den Papierstapel auf dem Richtertisch.

Wilson ist ein hervorragender Jurist, der gut vierzig Jahre seines Berufslebens in Bezirksgerichten gearbeitet hat. Sein kräftiger Körper ist mit den Jahren gebeugter geworden, doch seine Haltung besitzt noch immer etwas Majestätisches. Mittlerweile ist er Vorsitzender Richter des Cook County, das im Zentrum der Metropolregion Chicago liegt. »Möchte einer von Ihnen der umfangreichen Akte noch etwas hinzufügen, bevor das Urteil ergeht?«, fragt er.

Catherine Lockhart steht hoch aufgerichtet und selbstsicher da, die Hände vor dem Körper verschränkt und mit dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen. Sie ist achtunddreißig Jahre alt und bereits viele Male vor Richter Wilson erschienen. Sie kennt seine Gepflogenheiten. Seine Frage nach Ergänzungen ist nicht ernst gemeint. Er möchte keine weiteren Diskussionen, sondern das Urteil sprechen, dessen Begründung er, ihrer Erfahrung nach, bereits schriftlich niedergelegt hat. »Nein, Euer Ehren«, erwidert sie. »Die Beklagte stützt sich auf die Schriftsätze.«

Ihr Gegenanwalt ist ein dünner, knochiger Mann namens Coggins, der nervös von einem Bein aufs andere tritt. Bemüht, eine gewisse Autorität auszustrahlen, räuspert er sich, reckt das Kinn und sagt: »Sollte Euer Ehren wünschen, dass ich die beträchtlichen Mängel im Antrag der Gegenpartei erneut hervorhebe, bin ich dazu gern bereit. Im Übrigen gehe ich davon aus, dass ich unseren Standpunkt auf überzeugende und zwingende Weise dargelegt habe und das Urteil unseren Erwartungen entsprechen wird.«

Hochtrabende Worte. Catherines Lächeln wird breiter. Coggins erinnert sie an eine Vogelscheuche im Dreiteiler.

Wilson scheint ein Schmunzeln zu unterdrücken. »Hm«, kommt es tief aus seiner Brust. »Vielleicht nicht ganz so zwingend und überzeugend, wie Sie hoffen, Mr. Coggins.« Sein Blick wandert zu Catherine. »Es ergeht folgendes Urteil: Dem Antrag Ihrer Mandantin wird stattgegeben und die Klage abgewiesen. Meine Begründung liegt abholbereit bei meinem Schriftführer. Der Fall ist hiermit abgeschlossen, die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.«

Nach einem Schlag mit dem Richterhammer steht Wilson auf, nimmt die Stufen der Richterbank nach unten und verlässt den Gerichtssaal.

Catherine kehrt zu ihrem Tisch zurück, sammelt ihre Unterlagen ein und verstaut sie in ihrem Aktenkoffer.

»Gute Arbeit, Ms. Lockhart«, ertönt eine Stimme in ihrem Rücken.

»Hallo, Walter«, erwidert sie, ohne sich umzudrehen. »Mir war doch so, als hätte ich dich dort hinten sitzen sehen. Aber was führt einen bedeutenden Mann wie Walter Jenkins so früh am Morgen hierher?«

Walter ist Gründungspartner der Kanzlei Jenkins and Fairchild und wie immer makellos und elegant gekleidet. Maßgeschneiderter Anzug, Hemd mit Monogramm, teure Krawatte. Seine Schuhe sind so blank poliert, dass man sich darin spiegeln kann, die grauen Haare sind perfekt frisiert. In den juristischen Kreisen Chicagos ist Walter Jenkins eine bedeutende Figur. Darüber hinaus ist er Catherines früherer Chef und ein enger Freund.

»Jedes Mal, wenn ich im Gericht ein wenig Zeit übrig habe«, antwortet er, »schleiche ich mich in Obadiahs Reich. Man weiß nie, welche Perlen der Weisheit aus dem Mund des alten Mannes rollen. Wilson ist einmalig und immer unterhaltsam. Menschen wie er gehören einer aussterbenden Gattung an.« Er seufzt. »Heute allerdings bin ich aus einem bestimmten Grund gekommen. In deiner Kanzlei hat man mir gesagt, dass du hier bist. Es geht um etwas, das für mich sehr dringend ist. Hast du Zeit, mit einem müden alten Prozessanwalt eine Tasse Kaffee zu trinken?«

»Für dich habe ich immer Zeit.«

Sie finden einen kleinen Tisch im Café des Gerichtsgebäudes. Nach ein wenig obligatorischem Smalltalk stellt Walter seine Kaffeetasse ab, und seine Stirn legt sich in tiefe Falten. Catherine ist dieser Gesichtsausdruck vertraut. So sieht Walter aus, wenn er Sorgen hat. »Kennst du das Restaurant The Melancholy Dane?«

Catherine nickt. »Ich glaub schon. Das ist das Restaurant mit Bar oben in Andersonville, oder? Liam und ich waren da ein paarmal. Wenn ich mich recht entsinne, ist es so eine Art Shakespeare-Themenrestaurant; die Wände waren mit Hamlet-Plakaten zugepflastert, und es wirkte, als säße man in einer Taverne aus jener Zeit.«

»Den Laden meine ich. Sind dir auch die alten Schwarz-Weiß-Fotos hinter dem Tresen aufgefallen? Auf ihnen sieht man Ole Henryks, den Mann, dem das Restaurant gehört.«

Catherine zuckt mit den Schultern. »Daran erinnere ich mich nicht, aber ich weiß, wer Ole Henryks ist. Er ist in der örtlichen Gemeinde aktiv und tritt des Öfteren im Lokalfernsehen auf – volles weißes Haar, wirkt immer gut aufgelegt. Ich glaube, als wir da waren, hat er Cocktails gemixt.«

»Das ist er«, bestätigt Walter. »Inzwischen führt sein Sohn Nils den Laden. Aber Ole ist auch noch da. Zwar ist er schon ziemlich in die Jahre gekommen, aber er schaut gelegentlich vorbei, begrüßt Stammgäste, mixt den ein oder anderen Martini. Wie auch immer, hinter dem Tresen hängen drei Fotos von ihm und seiner Familie, die vor rund fünfundsiebzig Jahren in Kopenhagen aufgenommen wurden. Zu der Zeit hielten die Deutschen Dänemark besetzt. Auf einem dieser Fotos stehen Ole, sein Vater und ein weiterer Junge am Hafen vor einem Fischerboot. Und Ole erzählt jedem, der es hören will oder auch nicht, dass er und sein Vater auf diesem Boot damals dänische Juden ins neutrale Schweden gebracht haben, um sie vor der Deportation in die Konzentrationslager der Deutschen zu retten.«

Catherine rührt Milch in ihren Kaffee. »Das wusste ich nicht. Ole ist also ein Held?«

Walter wiegt den Kopf hin und her. »Sagt man. Jedenfalls soll er nächsten Monat in die Ruhmeshalle der Dänisch-Amerikanischen Gesellschaft von Chicago aufgenommen werden, sowohl für sein wohltätiges Engagement in der Gemeinde als auch in Anerkennung seines Heldentums im Zweiten Weltkrieg. In der Presse war bereits einiges darüber zu lesen. Die Chicago Tribune hat Ole einen langen Artikel gewidmet, mitsamt den Fotos, die auch im Melancholy Dane hängen.«

Catherine nimmt einen Schluck Kaffee. »Den Beitrag habe ich gesehen.«

»Ole hat zahlreiche Anhänger. Viele Leute halten große Stücke auf ihn.«

Catherine runzelt die Stirn. »Willst du mir für seine sozialen Anliegen eine Spende abschwatzen?«

Walter lacht auf. »Wohl kaum. Ich bin in einer dringenden Angelegenheit unterwegs. Es geht um einen Rechtsfall, der in dein Fachgebiet fällt. Ole wird von vielen gelobt und gepriesen, aber es gibt zumindest einen Menschen, der nichts Gutes über ihn zu sagen hat. Ganz im Gegenteil. Diese Person hat Oles Restaurant schon mehrfach mit hässlichen Kommentaren über ihn besprüht.«

»Im Ernst?« Catherine wirkt belustigt. »Beleidigungen über den Besitzer eines Themenrestaurants?«

»Es war in den Nachrichten. Hast du es nicht gesehen?«

Sie schüttelt den Kopf. »Muss ich verpasst haben. Warum, was stand da?«

»Lügner. Verräter. Betrüger. Nazikollaborateur.« Walter trinkt seinen Kaffee aus. »Daran ist also überhaupt nichts Lustiges, vielmehr ist es ein Fall von Rufschädigung. Ole glaubt, die Verleumdungen haben mit seiner Aufnahme in die Ruhmeshalle zu tun.«

»Jemand will also dafür sorgen, dass die Mitglieder der Dänisch-Amerikanischen Gesellschaft ihre Meinung ändern?«

»Falls das der Plan ist, wird er nicht funktionieren, die Mitglieder stehen geschlossen hinter ihm. Es sind grausame Beschuldigungen, die Ole enorm zusetzen, wie es heißt. Zumal seine Gesundheit nicht die beste ist. Der Mann ist fünfundneunzig Jahre alt. Gestern habe ich im Fernsehen ein Interview mit ihm gesehen. Er war angeschlagen, im Gesicht eine ungesunde Röte. Hat am ganzen Leib gezittert.«

»Armer Kerl. Hat er einen Verdacht, wer hinter den Diffamierungen steckt?«

Walter zuckt mit den Schultern. »Bisher anscheinend nicht. Dem Fernsehreporter hat Ole erklärt, es handle sich vermutlich um einen alten Wehrmachtssoldaten, der sich an ihm rächen will.«

»Klingt unwahrscheinlich.«

»Sehe ich auch so. Die Verleumdungen werden nachts gesprüht, mit unbeholfener, zittriger Hand. Oles Sohn Nils entdeckt sie immer, wenn er am frühen Nachmittag zur Arbeit kommt. Natürlich entfernt er sie sofort, aber dann ist es meist schon zu spät. Irgendjemand hat bis dahin die Fernsehsender informiert, und die Bilder werden in den Morgennachrichten gezeigt.«

»Gibt es am Restaurant keine Überwachungskamera?«

»Erst seit Kurzem.«

Catherine lehnt sich zurück und sieht Walter fragend an. »Ich weiß weder etwas über Ole noch über seinen Sohn oder The Melancholy Dane. Ich habe auch keine Ahnung, wer diese Gemeinheiten an das Restaurant schmiert. Weshalb also bist du zu mir gekommen? Und in welcher dringenden Angelegenheit?«

»Früher oder später wird man den Sprayer finden und zur Rechenschaft ziehen. Dank der Videoüberwachung dürfte es sogar bald so weit sein. Dann wird es Ole nicht genügen, sie nur wegen geringfügiger Sachbeschädigung zu belangen, denn er will unbedingt, dass sein guter Ruf wiederhergestellt wird.«

»O bitte, ein paar verrückte Beleidigungen an seinem Restaurant werden doch Oles Ansehen nicht schaden. Auf der North Side ist er seit fünfzig Jahren eine bekannte Größe. Ein fröhlicher, jovialer Zeitgenosse.«

Walter schnaubt. »Fröhlich und jovial ist er inzwischen nicht mehr, eher niedergeschlagen und verängstigt. Will sich nicht einmal mehr im Restaurant blicken lassen.«

»Ach je«, seufzt Catherine, »das ist schade, aber durchaus verständlich. Menschen in seinem Alter sind oftmals seelisch fragil. Trotzdem sollte ihm klar sein, dass sein lebenslanger guter Ruf nicht gefährdet ist. Niemand glaubt Bezichtigungen, die mitten in der Nacht an Hausmauern gesprüht werden.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher. Die Anschuldigungen sind so extrem, dreist und krass, dass der ein oder andere geneigt sein könnte, wenigstens etwas davon zu glauben. Das entspricht einfach der menschlichen Natur. Die Leute werden sich fragen, was dahintersteckt und ob Ole womöglich doch ein Kollaborateur der Nazis war. Die Leute lieben Klatsch und Tratsch. Und eine Story wie diese verbreitet sich wie ein Lauffeuer. So denkt Ole jedenfalls, und er weiß nicht, was er gegen die Diffamierungen unternehmen soll.«

Catherine rührt in ihrem Kaffee. »Du hast es selbst gesagt: Der Vandale wird bald gefasst und anschließend bestraft werden. Damit dürfte die Sache erledigt sein.«

Walter wirkt skeptisch. »Nicht unbedingt. Ole und sein Sohn wollen es nicht dabei belassen, ich habe mit Nils gesprochen. Sobald der Sprayer gefasst ist, wird Ole vor Gericht gehen, um seinen Namen reinzuwaschen.«

Catherine nimmt einen letzten Schluck Kaffee und stellt ihre Tasse ab. »Also handelt es sich um eine unglückselige Geschichte, die vermutlich vor Gericht endet. Aber weshalb bist du damit zu mir gekommen?«

Walter schweigt einen Moment, dann sagt er: »Weil ich die Identität des Täters wahrscheinlich kenne.«

»Es ist eine Frau, oder?«

Walter runzelt die Stirn. »Wie kommst du darauf?«

»Du hast vorhin sie gesagt.«

Auf Walters Lippen schleicht sich ein Lächeln, und er klatscht leise Beifall. »Und darum bist du so gut, wenn du jemanden ins Kreuzverhör nimmst – dir entgeht einfach nichts. Bisher habe ich dir die eine Seite der Medaille beschrieben, jetzt kommt die andere.

In meiner Kanzlei arbeitet eine junge Frau namens Emma Fisher. Eine brillante Anwältin, die ihr Studium als Jahrgangsbeste abgeschlossen und vor Kurzem ihre Zulassung erhalten hat. Wir haben sie vor drei Jahren eingestellt, als sie ihr Jurastudium gerade erst begonnen hatte. Schon damals war sie sehr selbstbewusst und hat mir während des Vorstellungsgesprächs erklärt, dass sie praktische Erfahrung sammeln möchte, die ihr im Studium nicht geboten wird. Sie hatte über Jenkins and Fairchild Nachforschungen angestellt und entschieden, dass die Arbeit bei uns ein wesentlicher Baustein ihrer Ausbildung sein könnte.«

Catherine lächelt amüsiert. »Eine kluge Frau.«

»Klug und ehrgeizig. Sie hat mich an dich erinnert. Wie dem auch sei, gestern hat Emma mich um ein Gespräch unter vier Augen gebeten. Und dann hat sie mir im Vertrauen und unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, dass sie ihre Großmutter für diejenige hält, die The Melancholy Dane verschandelt. Eine Frau, wohlgemerkt, von zweiundneunzig Jahren.«

Catherine zieht die Brauen hoch. »Eine Zweiundneunzigjährige beschmiert mitten in der Nacht ein Restaurant? Ist Emma Fisher sich da sicher?«

Walter nickt. »Ziemlich sicher. Sie befürchtet, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis ihre Großmutter festgenommen wird.«

Catherine lacht. »Deine Geschichte wird immer toller, Walter. Hast du vor, Emmas Großmutter vor Gericht zu vertreten?«

Walter beugt sich zu ihr hinüber und senkt die Stimme. »Da hast du den Finger in die Wunde gelegt. Ich würde sie gern vertreten, wirklich gern, aber wir sind seit Jahren die Anwälte von Ole Henryks. Das habe ich auch Emma erklärt und alle weiteren Informationen abgewehrt, trotzdem habe ich mehr erfahren, als ich dürfte. Im Ernstfall könnte es zu einem Interessenkonflikt kommen.«

»Wieso ›könnte‹?«, sagt Catherine. »Wenn du mich fragst, handelt es sich bereits jetzt um einen Interessenkonflikt. Emma hat dir den Namen der Täterin genannt. Ihre Großmutter hat sich deinem Mandanten gegenüber strafbarer Handlungen schuldig gemacht. Sie besprüht Oles Restaurant mit diffamierenden Kommentaren und schädigt seinen Ruf. Bist du nicht verpflichtet, den Namen der Großmutter an deinen Mandanten weiterzugeben?«

Walter hebt die Schultern. »Die Information wurde mir vertraulich mitgeteilt und fällt unter das Rechtsprinzip der privilegierten Kommunikation. Wahrscheinlich spielt es ohnehin keine Rolle, Ole wird die Identität der Täterin auch so herausfinden, falls er es nicht schon getan hat. Trotzdem hast du recht, ich bin im Besitz einer Information, die für meinen Mandanten von Bedeutung ist.«

Catherine lässt sich den Sachverhalt durch den Kopf gehen. »Emma wollte dich um die Verteidigung ihrer Großmutter bitten, oder?«

»Das hatte sie wahrscheinlich vor, nur kam sie nicht dazu, da ich sofort abblockte.«

Catherine ist überrascht, dass ihr ehemaliger Mentor in so eine prekäre Lage geraten konnte. »Emma ist zu dir gekommen, damit du ihre Großmutter im Ernstfall verteidigst, ohne zu wissen, dass Ole Henryks Mandant der Kanzlei ist. Bei eurem Gespräch hat sie dir eine Information geliefert, die du nie hättest erhalten dürfen und die du nicht weitergeben darfst. Also musst du dich vollständig zurückziehen und kannst weder Ole Henryks noch Emmas Großmutter vertreten.«

Walter seufzt. »Das ist mir auch klar.«

»Bist du deshalb zu mir gekommen? Damit ich dir zum Rückzug rate?«

»Ich brauche keinen Rat, ich kenne die Regeln. Das Ganze war ein dummer Zufall.«

»Was willst du dann von mir?«

»Ich habe eine Bitte. Von allen Anwälten, die ich kenne, bist du die Einzige, der ich eine Lösung des Problems zutraue. Ja, ich habe mir von Emma zu viel erzählen lassen, die Geschichte hat mich fasziniert. Emma liebt ihre Großmutter über alles und möchte sie nicht auf der Anklagebank sehen, erst recht nicht, wenn es um eine Angelegenheit geht, die in Chicago einiges an Aufsehen erregen wird. Sie hat gehofft, der Fall ließe sich in einer außergerichtlichen Einigung beilegen. Ich habe überlegt, ob es auch noch einen anderen Kompromiss geben könnte. Wahrscheinlich habe ich ihr deshalb zu lange zugehört.«

Auf Catherines Stirn bildet sich eine steile Falte. »Was für einen Kompromiss? Hast du vorhin nicht gesagt, dass Ole seinen Namen reinwaschen will? Bedeutet das nicht, dass er und sein Sohn auf einem Prozess bestehen werden und möchten, dass Emmas Großmutter bestraft wird? Wahrscheinlich wünschen sie sogar einen publikumswirksamen Prozess, um das Ergebnis zu verbreiten. Wie stellst du dir da einen Kompromiss vor? Worauf sollen die Parteien sich denn noch einigen?«

Walter sieht sie unglücklich an. »Es geht hier um eine alte Frau, die etwas ziemlich Eigentümliches tut. Ich hätte sie vielleicht dazu bringen können, mit der Schmiererei aufzuhören und sich zu entschuldigen. Und Ole hätte ich eine friedliche Lösung vorgeschlagen. Möglicherweise ist Emmas Großmutter geistig nicht mehr ganz klar und weiß nicht, was sie tut. In dem Fall könnte man Ole sicher dazu bewegen, von rechtlichen Schritten abzusehen.«

»Du wolltest also den Friedensstifter spielen. Trotzdem hast du eine Grenze überschritten.«

Walter stößt einen langen Atem aus. »Das weiß ich, Catherine. Vor ein paar Tagen habe ich Emma gebeten herauszufinden, ob ihre Großmutter mit einer gütlichen Einigung einverstanden wäre. In dem Fall hätte ich mich mit allen Beteiligten zusammengesetzt, und jeder hätte sich ausgesprochen.«

»Und?«

Walter schüttelt den Kopf. »Nichts zu machen. Britta Stein, das ist der Name der Großmutter, hat meinen Vorschlag abgelehnt. Klipp und klar. Angeblich weiß sie, was sie tut, will damit auch nicht aufhören und sich erst recht nicht mit einem aufgeblasenen Anwalt treffen, der einen Verbrecher repräsentiert. So ihre Worte.«

Catherine lacht schallend. »Das hat sie gesagt?«

»Ja.«

»Okay, aber was geschieht, wenn man sie anhand der Videoaufnahmen überführt?«

»Nils hat sich bereits mit der Kanzlei in Verbindung gesetzt und gestern mit einem meiner Kollegen gesprochen. Er und sein Vater bestehen auf einem Verfahren.«

Catherine wird wieder ernst. »Also sitzt du in der Tinte. Weißt du schon, wie du vorgehen willst?«

»Nein, verdammt, ich weiß nur, dass ich den Fall nicht übernehmen kann.« Walter vergräbt das Gesicht in den Händen. »Sobald Ole erfährt, dass Mrs. Stein die Täterin ist, wird er mich bitten, ihn zu vertreten. Und ich werde ihn enttäuschen müssen. Jenkins and Fairchild kann nicht gegen Britta Stein vorgehen.«

»Ach, daher weht der Wind. Du möchtest, dass ich das übernehme. Ist das dein Ernst?«

»Nein, das hast du falsch verstanden. Ole wird problemlos einen anderen Anwalt finden. Die Chicagoer Anwälte werden wie Kinder am Eiswagen bei ihm Schlange stehen.«

Catherine sieht ihn verwundert an. »Und weshalb war ich die Einzige, der du eine Lösung des Problems zutraust?«

»Ich möchte, dass du mit Emma sprichst. Und vielleicht in Erwägung ziehst, Britta Stein zu vertreten. Ich weiß nicht viel über diesen Fall, aber ich spüre, dass mehr dahintersteckt. Unter den Beleidigungen köchelt etwas, das es sich möglicherweise zu verteidigen lohnt. Nenn es den sechsten Sinn eines alten Hasen. Auf den ist Verlass, du kennst das aus eigener Erfahrung.«

»Alt? Ich bin nicht alt.«

Walter lächelt. »Natürlich nicht. Aber du hast die Seele eines alten Hasen. Sprich mit Emma, vielleicht auch mit Mrs. Stein. Schau, ob du den gleichen Eindruck gewinnst wie ich.«

»Walter, ich –«

»Sag noch nicht Nein. Emma ist eine kluge junge Frau, und was sie mir über ihre Großmutter erzählt hat, ist … also, es klingt nach einer interessanten Geschichte.« Walter schiebt Catherine eine Visitenkarte hin. »Da steht ihre Telefonnummer.«

»Walter, bitte –«

»Sprich mit Emma. Ich bin sicher, du wirst das Gleiche empfinden wie ich. Außerdem ist dieser Fall genau dein Ding. Hinterher wirst du mir dankbar sein.« Walter steht auf. »Der Kaffee geht auf mich.«

Kapitel 2

Liam Taggart und Ben, Catherines und Liams zweijähriger Sohn, sitzen im Wohnzimmer auf dem Boden und bauen eine Burg aus Lego. Im Fernsehen laufen die lokalen Abendnachrichten. Der Nachrichtensprecher berichtet von einer Festnahme, die am Nachmittag stattgefunden hat.

»Cat, sieh dir das an«, ruft Liam in die Küche. »Die Polizei hat eine Zweiundneunzigjährige festgenommen, die nachts diffamierende Kommentare an eine Mauer gesprüht hat … Ich fasse es nicht, sie haben die alte Frau in Handschellen abgeführt – vor den Augen der Presse. So viel zu unserer Polizei und ihrem Motto ›Wir dienen und beschützen‹. Gott, was bin ich froh, dass wir endlich aufatmen können – die Straßen von Chicago sind wieder sicher, die gemeingefährliche Zweiundneunzigjährige mit ihrer tödlichen Sprühdose befindet sich in Gewahrsam.«

»Nimm das für mich auf«, ruft Catherine zurück.

»Diese Nachricht?«, fragt Liam. »Im Ernst?« Doch er tut wie geheißen.

Catherine betritt das Wohnzimmer mit einem Geschirrtuch in der Hand. »Spul noch mal zurück. Das ist die Frau, von der Walter gesprochen hat.«

Auf dem Bildschirm sind körnige Videoaufnahmen zu sehen. Eine Frau in einem knöchellangen Mantel sprüht »Naziagent« an eine Hausmauer.

Als Nächstes sieht man eine Reporterin. Sie steht vor dem zuständigen Polizeirevier und scheint sich das Lachen verkneifen zu müssen. »Bei der mutmaßlichen Täterin handelt es sich um Britta Stein, eine Frau fortgeschrittenen Alters. Ihr wird ein Verstoß gegen eine städtische Anordnung mit der amtlichen Überschrift ›Sachbeschädigung mittels Farbe‹ vorgeworfen. Nein, das habe ich mir nicht ausgedacht, diese Anordnung gibt es tatsächlich, und die Strafe kann sich auf bis zu 750 Dollar belaufen.«

Liam lacht. »Die haben die alte Frau wegen einer Ordnungswidrigkeit abgeführt? Wegen maximal 750 Dollar?«

»Das wird Mrs. Steins geringste Sorge sein«, entgegnet Catherine.

Auf dem Bildschirm wird nun Sterling Sparks interviewt, der sich als Anwalt des Restaurantbesitzers Ole Henryks zu erkennen gegeben hat. Sparks ist ein Mann, der dramatische Auftritte liebt und von dem es heißt, dass er seine Fälle vorzugsweise in den Sechs-Uhr-Nachrichten verhandelt. Diese Vorliebe hat ihm den Spitznamen »Sechs-Uhr-Sparks« eingebracht. Mit gerunzelter Stirn und geschürzten Lippen starrt er in die Kamera. Seine Antworten kommen in zornigen Schüben.

»Die falschen und verleumderischen Äußerungen, mit denen diese verwirrte Person Mr. Henryks’ Privatbesitz beschmiert hat, haben ihn zutiefst erschüttert. Er fragt sich, warum sich jemand zu derartigen Gemeinheiten hinreißen lässt. Zuerst hatte er Jugendliche im Verdacht, für die das Ganze vielleicht nur ein Spaß war und die nicht wussten, wie verletzend solche böswilligen Verleumdungen sein können. Unglücklicherweise sind diese ekelhaften Ausdrücke aber nicht nur an seinem Restaurant erschienen, sondern auch von gefühllosen Medien in der ganzen Stadt verbreitet worden, wenn nicht im ganzen Land. Mr. Henryks ist ein guter Mann, der einiges ertragen kann, doch er ist fünfundneunzig Jahre alt. Für ihn waren diese Verunglimpfungen wie ein Tritt in den Magen. Sie haben seine Gesundheit so sehr beeinträchtigt, dass er nun unter ärztlicher Aufsicht steht. Wir sprechen von einem Mann, der in seinem Heimatland während des Zweiten Weltkriegs die militärische Besetzung durch die Deutschen erleben musste. Ich hoffe, Sie verstehen, was das bedeutet und –«

Der Reporter unterbricht ihn. »Es ist allgemein bekannt, dass Mr. Henryks nach dem Krieg von Dänemark aus emigriert ist.«

»Sehr schön, dann ist es wohl auch kein Geheimnis, dass er in der dänisch-amerikanischen Gemeinde Chicagos als Kriegsheld gefeiert wird. Darum schmerzen ihn diese Lügen ganz besonders. Und nun haben wir erfahren, dass es sich bei den Sprayern keineswegs um jugendliche Missetäter handelt, sondern um die Kampagne einer erwachsenen Frau, die darauf aus ist, Mr. Henryks’ Ruf zu zerstören. Aber eines kann ich Ihnen jetzt schon versichern: Ganz gleich, was diese Frau beabsichtigt hat, wir werden das unterbinden und dafür sorgen, dass sie sich vor Gericht verantworten muss.«

»Sie sprechen von Mr. Henryks als Kriegsheld«, sagt der Reporter. »Doch das jüngste Graffito bezeichnet ihn als Agenten der Nazis. Was haben Sie dazu zu sagen?«

Mit dieser Frage scheint Sparks gerechnet zu haben. Er holt die Kopie eines Fotos hervor und hält sie in die Kamera. Man erkennt drei Männer, einer groß gewachsen und älter, die beiden anderen kleiner und deutlich jünger. Sie stehen nebeneinander vor einem Fischerboot mit Bugkabine, das, zusammen mit anderen Booten und Kuttern, in einem Handelshafen liegt.

»Sehen Sie das?«, fragt Sparks. »Das ist der Hafen von Kopenhagen im Zweiten Weltkrieg. Das Originalfoto hängt im Melancholy Dane hinter dem Tresen. Und das da sind Ole und sein Vater. Ole Henryks war ein Kriegsheld, das können Sie mir glauben. Er und seine Familie haben Hunderte, vielleicht Tausende Juden vor den Gaskammern bewahrt. Sie haben sie nachts mit ihrem Fischerboot außer Landes gebracht – und dabei ihr Leben riskiert, wenn ich das hinzufügen darf. Ihr Heldentum ist erwiesen.«

Der Reporter nickt vehement. »Lassen wir die Verleumdungen einen Moment beiseite. Soweit wir wissen, wird Mr. Henryks im nächsten Monat von der Dänisch-Amerikanischen Gesellschaft geehrt.«

»Richtig, er wird in die Ruhmeshalle aufgenommen. Ich kann nur hoffen, dass er bis dahin gesundheitlich wieder auf der Höhe ist und an der Ehrung teilnehmen kann.« Sparks’ Gefühle drohen scheinbar, ihn zu überwältigen, er legt eine Pause ein, bevor er weiterspricht. »Es sollte einer der schönsten Augenblicke seines Lebens werden …« Sparks schüttelt den Kopf. »Und dann kommt diese verdorbene Frau daher und versucht, sein Ansehen mit haltlosen Beschuldigungen zu untergraben.« Er macht erneut eine Pause, damit die Zuschauer seine Rede verdauen können. Seine Miene ist die eines zutiefst empörten Menschen. Das ist Sechs-Uhr-Sparks in Reinkultur.

»Kennt Mr. Henryks diese Mrs. Stein?«, fragt der Reporter.

»Woher soll er sie kennen?«, erwidert Sparks mit einer unwirschen Handbewegung. »Er hat sie noch nie gesehen und ahnt nicht einmal ansatzweise, warum sie ihn auf derart bösartige Weise angreift.«

»Und nun wird er vermutlich Anzeige erstatten.«

»Nicht vermutlich, sondern definitiv. Und das ist noch nicht alles. Mr. Henryks’ guter Ruf ist beschädigt worden und muss wiederhergestellt werden. Das kann nur vor Gericht geschehen. Gleich morgen früh werde ich gegen Mrs. Stein eine Klage wegen Verleumdung einreichen und ein Schmerzensgeld in Höhe von fünf Millionen Dollar fordern. Dieser Frau muss eine Lektion erteilt werden.«

»Fünf Millionen?« Der Reporter sieht skeptisch aus. »Ob eine alte Frau so viel Geld besitzt?«

»Darum geht es nicht. Schmerzensgeld bezieht sich auf den Wert eines guten Rufs, nicht auf die finanziellen Mittel des Beklagten. Im Fall von Ole Henryks sind fünf Millionen Dollar nur ein Bruchteil dieses Werts, immerhin hat er sein Ansehen aufgrund eines langen Lebens im Dienst anderer erworben. Vor Gericht wird er rehabilitiert werden, verlassen Sie sich darauf.«

»Vielen Dank für das Gespräch, Mr. Sparks.«

»Und viel Glück bei Ihrer Verteidigung, Mrs. Stein«, ergänzt Liam kopfschüttelnd.

Catherine starrt einen Moment lang auf den Fernseher, lässt dann das Video zurücklaufen und sieht sich das Interview erneut an. »Irgendetwas an der Geschichte ist nicht ganz sauber, Walter hat das ebenfalls gespürt.« Sie holt die Visitenkarte, die Walter ihr gegeben hat, aus der Handtasche und murmelt: »Trotzdem bin ich jetzt wahrscheinlich dabei, etwas sehr Dummes zu tun.« Sie gibt die Telefonnummer in ihr Handy ein. »Ich muss verrückt sein.«

Am anderen Ende meldet sich eine Frauenstimme mit »Hallo?«.

»Spreche ich mit Emma Fisher?«

Nach kurzem Zögern antwortet sie: »Ja, und wer sind Sie?«

»Catherine Lockhart, eine Freundin von Walter Jenkins. Vor ein paar Tagen hat er sich mit mir getroffen und –«

Emma stößt einen Seufzer aus, der sehr erleichtert klingt. »Oh, ich danke Ihnen, ich habe so gehofft, dass Sie anrufen. Mr. Jenkins lobt Sie in den höchsten Tönen und sagt, wenn es jemanden gibt, der meiner Großmutter helfen kann, dann sind Sie es.«

»Ja, Walter ist äußerst redegewandt. Könnten Sie mit Ihrer Großmutter denn morgen in meine Kanzlei kommen? Sagen wir, gegen drei Uhr?«

»Werden Sie ihren Fall übernehmen?«

Catherine weiß, sie ist kurz davor, in ein tiefes, unbekanntes Gewässer zu springen. »Um das zu beantworten, ist es noch zu früh, Emma. Aber Walter ist der Meinung, dass wir uns unterhalten sollten, und ich respektiere sein Urteilsvermögen. Hat man Ihre Großmutter schon freigelassen?«

»Ich wollte sie gerade abholen fahren. Und ja, wir können morgen um drei zu Ihnen kommen. Ich danke Ihnen!«

Nach dem Gespräch fragt Liam: »Was soll das, Cat? Hast du den Verstand verloren?«

Catherine seufzt. »Gut möglich. Oder ich habe die Seele eines alten Hasen.«

Kapitel 3

Catherines Kanzlei liegt in der Clark Street, nur wenige Meilen vom Loop, dem Zentrum Chicagos, entfernt. Es sind vier Räume im Parterre, die zur Straße hinausgehen.

Die Kanzlei ist den Bewohnern des Viertels beim Aufsetzen von Testamenten und Treuhandverträgen, bei Immobiliengeschäften, Strafsachen und anderen Rechtsstreitigkeiten behilflich. Die Arbeit steht im scharfen Kontrast zu der Betreuung hochkarätiger institutioneller Mandanten, die Catherine bei Jenkins and Fairchild vertreten hat.

Um Punkt fünfzehn Uhr betritt eine junge Frau mit dunklem gelocktem Haar und großen ausdrucksvollen braunen Augen Catherines Kanzlei und hält einer alten Dame die Tür auf. Die Dame hat ein perlgraues Kostüm an, trägt ihr weißes Haar in einem modischen Bob und hält sich vollkommen gerade.

»Sie müssen Ms. Fisher und Mrs. Stein sein«, sagt die Empfangsdame. »Ich bin Gladys Valenzuela, Catherines Assistentin, und freue mich, dass Sie gekommen sind. Catherine erwartet Sie bereits.« Sie führt die Besucherinnen in den Besprechungsraum.

Kurz darauf erscheint Catherine und legt eine braune Mappe auf den Tisch. Emma streckt ihr die Hand entgegen. »Ich bin Emma Fisher, und das ist meine Großmutter Britta Stein.«

Catherine schüttelt jeder der beiden Frauen die Hand. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Sie deutet auf die braune Mappe. »Gladys war im Gericht und hat eine Kopie der Klage besorgt, die heute gegen Sie, Mrs. Stein, eingereicht wurde. Vielleicht haben Sie gestern in den Abendnachrichten gesehen, dass Ole Henryks’ Anwalt zügig voranschreiten will.«

Die Frauen lassen sich am Konferenztisch nieder.

Mrs. Stein sitzt hoch aufgerichtet und macht einen gefassten Eindruck. »Ich habe die Klageschrift noch nicht bekommen. Wahrscheinlich klingt alles, was darin steht, überzeugend.«

»Ich fürchte, ja«, entgegnet Catherine. »Es wird behauptet, dass Sie Mr. Henryks’ Privatgrundstück sechs Mal unbefugt betreten haben, um sein Restaurant mit groben Beleidigungen zu verunzieren, und so Mr. Henryks’ Ruf, seinem Geschäft und seiner Gesundheit geschadet haben.«

»Guter Ruf, also wirklich.« Mrs. Stein schnaubt verächtlich.

»Scht, Bubbe«, flüstert Emma. »Lass Ms. Lockhart ausreden.«

»Weiter heißt es, dass Sie diese Diffamierungen vorsätzlich an das Restaurant gesprüht haben, und zwar nach der Bekanntgabe, dass Mr. Henryks von der Dänisch-Amerikanischen Gesellschaft geehrt werden soll.«

»Der Mann verdient keine Ehrung«, erklärt Mrs. Stein mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Und was soll das überhaupt für eine Gesellschaft sein? Für mich ist sie bloß ein Vorwand für einen Haufen Männer, zusammenzukommen und Bier zu trinken. Und dann haben sie sich auch noch hereinlegen lassen und sind bereit, einen Verbrecher zu ehren. Wahrscheinlich kam die Nominierung von den jüngeren Mitgliedern, die es nicht besser wissen können und eine Gelegenheit gesucht haben, um sich mit ihrer Gesellschaft wichtig zu machen und ins Fernsehen zu kommen. Alles Unfug.«

Catherine tippt mit einem Stift auf die Klageschrift. »Lassen Sie uns bei den Klagepunkten bleiben. Sind die Behauptungen korrekt? Haben Sie die herabwürdigenden Ausdrücke vorsätzlich an Mr. Henryks’ Restaurant gesprüht?«

»Ja, natürlich«, erwidert Mrs. Stein gereizt. »Wie hätte ich das denn versehentlich tun können? Aber nichts war falsch oder herabwürdigend. Jedes Wort entsprach der Wahrheit.«

»Und wie sind Sie zu dieser Ansicht gekommen?«

»Ich bin selbst gebürtige Dänin«, erwidert Mrs. Stein. »Und ich kann diese Farce nicht mitansehen. Henryks ist kein Kriegsheld, sondern ein Feigling und Lügner. Nein, noch schlimmer, er ist ein Verräter.«

Catherine blättert in der Klageschrift, bis sie zu der Seite mit den von Mrs. Stein benutzten Ausdrücken kommt, und liest sie vor. »Lügner, Spitzel, Verräter, Nazikollaborateur, Naziagent, Betrüger. Sind das Ihre Worte? Haben Sie all das an Henryks’ Restaurant geschrieben?«

»Ja, und jedes Wort trifft zu. Deshalb bedaure ich nicht im Geringsten, dass nun jedermann in Chicago die Wahrheit kennt.«

»Sie sollten diese Klage nicht auf die leichte Schulter nehmen«, sagt Catherine mit einem Seufzer. »Es geht um Beschimpfungen, die ehrverletzend und somit strafbar sind.«

Mrs. Stein zuckt mit den Schultern und wirkt so unbewegt, als ginge der Fall sie nichts an.

Catherine spricht weiter. »Mit Ihren Bezichtigungen unterstellen Sie Mr. Henryks kriminelles und unmoralisches Verhalten durch die Unterstützung der deutschen Nationalsozialistischen Partei. Die Anschuldigungen allein sind für Mr. Henryks extrem schädlich und Ihre Taten somit justiziabel.« Sie legt den Stift ab. »Mit womöglich sehr ernsten Konsequenzen.«

»Und was ist mit dem ersten Zusatzartikel unserer Verfassung?«, fragt Mrs. Stein. »In dem es um die Redefreiheit geht?«

»Dieser Artikel gilt nicht uneingeschränkt. Niemandem in diesem Land steht es frei, einen anderen zu diffamieren.« Catherine entnimmt der Mappe ein Dokument und legt es auf den Tisch. »Das ist eine einstweilige Verfügung. Sie enthält ein Kontaktverbot, das Richter Wilson heute Morgen erlassen hat. Ab sofort ist es Ihnen untersagt, sich Ole Henryks, dem Apartmentgebäude am Lake Shore Drive, in dem er wohnt, und dem Restaurant The Melancholy Dane auf mehr als fünfundvierzig Meter zu nähern.«

»Und wann war der Gerichtstermin, bei dem das entschieden wurde?«, fragt Mrs. Stein ungehalten. »Wie kann ein Richter ein Kontaktverbot erlassen, ohne vorher mit mir darüber gesprochen zu haben? Ich dachte, jedermann hätte Anspruch auf rechtliches Gehör.«

»Es ist eine einstweilige Verfügung, über die in Ihrer Abwesenheit entschieden wurde. Sterling Sparks, das ist Mr. Henryks’ Anwalt, hat eine Notlage geltend gemacht, um Sie an weiteren Gesetzesverstößen zu hindern. Er bezieht sich auf ein Video, das Sie beim Sprühen Ihrer Bezichtigungen vor Henryks’ Restaurant zeigt. Dieses Video hat er dem Richter präsentiert.«

Mrs. Stein zieht die einstweilige Verfügung zu sich heran, liest sie und verdreht die Augen. »Fünfundvierzig Meter! Das ist doch lächerlich. Was ist, wenn ich in einem Taxi sitze und der Fahrer entscheidet, über den Lake Shore Drive zu fahren? Werden wir dann beide festgenommen? Gehört Ole Henryks etwa auch die Straße? Das ist doch alles Unsinn. Ich werde mich aufhalten, wo ich will. Amerika ist ein freies Land.«

»Bubbe, hör auf Ms. Lockhart.« Emma sieht ihre Großmutter eindringlich an. »Der Verstoß gegen eine einstweilige Verfügung ist strafbar und kann dich ins Gefängnis bringen.«

Catherine nickt. »Ihre Enkelin hat es auf den Punkt gebracht, Mrs. Stein. An Ihrer Stelle würde ich Richter Wilson nicht herausfordern. Mr. Henryks wird mit Sicherheit die Polizei rufen, sobald er Sie in der Nähe seines Restaurants oder seiner Wohnung sieht. Der Verstoß gegen eine einstweilige Verfügung wird mit einer Geld- oder Gefängnisstrafe geahndet. Ich kenne Richter Wilson. Mit ihm ist nicht zu spaßen.«

Emma greift nach der Hand ihrer Großmutter. »Bitte halte dich von Henryks fern. Du musst auch nichts mehr an sein Restaurant schreiben, du hast ja alles gesagt. Inzwischen dürfte der ganze Bundesstaat wissen, was du von Ole Henryks hältst.«

»Er heißt Hendricksen, nicht Henryks«, erklärt ihre Großmutter mit erhobenem Zeigefinger. »Sogar bei seinem Nachnamen hat er gelogen.« Sie wendet sich Catherine zu. »Wenn die Verfügung einstweilig ist, dann gilt sie nur für eine gewisse Zeit, oder? Es gibt nämlich noch so einiges, was ich an sein Restaurant schreiben möchte.«

»Nein!«, sagt Emma scharf. »Du schreibst nichts mehr!«

»Darum bitte ich Sie ebenfalls«, sagt Catherine. »Sie haben genug angerichtet. Mehr als genug. Die Verfügung ist deshalb einstweilig, weil sie in Ihrer Abwesenheit erlassen wurde. Für nächsten Donnerstag hat Richter Wilson eine Anhörung anberaumt, bei der er entscheiden wird, ob die Frist verlängert wird. Was vermutlich der Fall sein wird.«

»Sie gehen doch mit meiner Großmutter zu der Anhörung, oder?«, fragt Emma. »Sie muss einen Anwalt an ihrer Seite haben.«

Catherine hält eine Hand hoch. »So weit sind wir noch nicht. Ich habe Walter Jenkins lediglich zugesagt, mich mit Ihnen zu unterhalten. Zunächst müssen wir klären, wie man in Ihrer Sache am besten vorgeht und ob ich überhaupt die Richtige bin, um Ihre Großmutter zu vertreten. Im Moment kenne ich ja nicht einmal die Hintergründe der Diffamierungen.« Sie sieht Mrs. Stein an. »Sie müssen doch gewusst haben, welche Folgen Ihre Taten nach sich ziehen würden.«

Mrs. Stein presst die Lippen zusammen und schweigt. Schließlich sagt sie: »Was für Folgen? Dass die Leute die Wahrheit über diesen Drecksack erfahren?« Ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Auf diese Folgen habe ich gehofft.«

Emma berührt den Arm ihrer Großmutter. »Ich glaube, Ms. Lockhart hat sich auf die juristischen Folgen bezogen und auf das Schmerzensgeld in Höhe von fünf Millionen Dollar.« Sie sieht Catherine an. »Was raten Sie uns? Was soll meine Großmutter jetzt unternehmen?«

Catherine zuckt die Achseln. »Sie hat kaum eine Wahl. Sie muss sich vor einem Zivilgericht verantworten und die noch festzulegende Strafe annehmen. Ole Henryks und Sterling Sparks werden nicht einfach wieder verschwinden. Henryks will seinen Namen reingewaschen haben. Und er will Rache üben. Dazu hat er in Sparks genau den Richtigen gefunden. Sparks ist aggressiv und auf Schlagzeilen aus. Er wird den Fall teuer machen, auf Anhörungen bestehen, alle möglichen eidesstattlichen Erklärungen verlangen. Wahrscheinlich würde er das Ganze am liebsten als Drama in den Abendnachrichten inszenieren. Er wird so viele Zeugen wie möglich aufrufen, die aussagen werden, dass sie seit der Sprühaktion an Henryks’ Charakter zweifeln. Henryks wird behaupten, dass sein Ruf unwiderruflich geschädigt ist. Sein Arzt wird erklären, dass Henryks zutiefst traumatisiert ist. Es wird ein harter Kampf werden und ein Alptraum für Mrs. Stein.«

»Hast du gehört?«, wendet Emma sich an ihre Großmutter. »Es wird belastend und teuer werden.«

Ihre Großmutter blickt stur geradeaus. »Mit Belastungen komme ich zurecht«, murmelt sie. »Ich habe schon viel Schlimmeres durchgemacht.« Sie öffnet ihre Handtasche, holt ein Scheckbuch heraus und schlägt es auf. »Ich habe nicht viel, Ms. Lockhart. Aber fürs Erste könnte ich Ihnen dreihundert Dollar anbieten.«

Catherine schließt kurz die Augen. Dann schenkt sie der alten Dame ein nachsichtiges Lächeln, als hätte sie ein Kind vor sich, das etwas sehr Liebes, aber auch sehr Einfältiges gesagt hat. Mit sanfter Hand klappt sie das Scheckbuch zu. »Das ist nett von Ihnen, aber um meine Bezahlung geht es im Moment nicht. Ihre Enkelin hat es bereits gesagt, wir müssen die Strapazen für Sie bedenken. Sie sind zweiundneunzig. Ich habe schon sehr viel jüngere Menschen erlebt, die im Verlauf eines anstrengenden Verfahrens gesundheitliche Schäden davongetragen haben. Unterschätzen Sie Mr. Sparks nicht, seine Vorgehensweise ist schonungslos und brutal.«

»Und was schlagen Sie jetzt vor?«, fragt Emma. »Sie haben gesagt, meine Großmutter habe keine andere Wahl, als sich vor Gericht zu verantworten.«

Catherine tätschelt Mrs. Stein die Hand. »Bei dem Verfahren geht es nicht wirklich um das Schmerzensgeld, Mrs. Stein. Niemand erwartet, dass Sie fünf Millionen Dollar besitzen. Vielleicht gibt es einen anderen Weg, die Sache zu regeln. Mr. Henryks könnte zu einer Konsensvereinbarung bereit sein. Vielleicht zieht er die Klage zurück, wenn Sie sich öffentlich entschuldigen, zugeben, dass Sie ihn fälschlicherweise beschuldigt haben, und versprechen, ihn nie wieder zu beleidigen. Oder er gibt sich mit einer geringfügigen Strafe zufrieden, sagen wir, hundert Dollar.«

»Fälschlich?«, wiederholt Britta, und ihr Kinn beginnt zu zittern. »Ich habe ihn nicht fälschlicherweise beschuldigt. Warum sollte ich mich bei Hendricksen dafür entschuldigen, dass ich die Wahrheit verkündet habe? Tut mir leid, aber dazu wird es nicht kommen. Ich bin während des Zweiten Weltkriegs in Dänemark aufgewachsen. Ich war da und weiß, was die Leute getan haben. Und was Hendricksen und seine Familie getrieben haben. Ganz normale Menschen sind zu Helden geworden, aber die Hendricksens nicht. Im Gegenteil. Sie waren nicht besser als die Nazis. Vielleicht sogar noch schlimmer, denn sie haben ihnen geholfen und ihre eigenen Landsleute verraten. Soll Ole Hendricksen doch gegen mich klagen. Dann kann ich ihm zeigen, wie gute Dänen sich in Zeiten der Not verhalten. Gute Dänen wissen, wie man kämpft und sich nicht unterkriegen lässt.«

Emma seufzt schwer. »Ich weiß, was den Dänen und deiner Familie damals widerfahren ist. Es war eine Tragödie, aber niemand kann mehr etwas daran ändern. Ich bewundere deine Entschlossenheit, trotzdem möchte ich nicht, dass du krank wirst. Das ist Henryks nicht wert. Nimm Ms. Lockharts Vorschlag an und lass sie versuchen, mit ihm zu einer Einigung zu gelangen.«

Ihre Großmutter schüttelt den Kopf. »Es geht um die Wahrheit. Ich werde nicht aufgeben und mich auch nicht entschuldigen.« Sie sieht Catherine an. »Selbst wenn das bedeutet, dass Sie meinen Fall nicht übernehmen.«

Gerührt betrachtet Catherine die alte Frau. Es kommt selten vor, dass ihre Mandanten ihre Sache so unerschrocken und standhaft vertreten. »Ich glaube, ich verstehe Sie, Mrs. Stein. Und ich werde Ihren Fall übernehmen. Dazu brauche ich jedoch Ihre Hilfe. Sie müssen mir genau erklären, worauf unsere Verteidigung beruhen soll.«

»Geht es bei einer Verleumdungsklage nicht um die Frage der Wahrheit? Ist es nicht erlaubt, die Wahrheit zu sagen oder zu schreiben, ganz gleich, wie verletzend sie für jemanden ist?«

»Theoretisch schon.«

Mrs. Stein lächelt. »Dann werden wir gewinnen.«

Kapitel 4

»Du hast den Fall übernommen?« Liam kratzt sich am Kopf. »Du hast dich tatsächlich breitschlagen lassen, die alte Dame in einem völlig aussichtlosen Fall zu vertreten? Sehnst du dich heimlich danach, Sterling Sparks als Sandsack zu dienen?«

»Der Fall ist nicht aussichtslos. Mrs. Stein schwört, dass ihre Äußerungen ausnahmslos der Wahrheit entsprechen.«

Liam schließt die Augen. »Natürlich schwört sie das. Verräter! Nazikollaborateur! Naziagent! Ich nehme an, dass du für jeden dieser Vorwürfe Beweise hast. Die alle vor Gericht standhalten.«

»Noch nicht«, erwidert Catherine errötend. »Ich hatte gehofft, dass du mir hilfst.«

»Ach so. Hätte ich mir eigentlich denken können. Nur kann ich dir jetzt schon prophezeien, dass dieser Fall dich auffressen wird. Er wird deine gesamte Zeit beanspruchen und ein Vermögen kosten. Und dein Gegner heißt Sterling Sparks, der nichts Schöneres kennt, als sich vor Fernsehkameras zu produzieren. Er wird dich nicht zur Ruhe kommen lassen, sondern einen Schriftsatz nach dem anderen einreichen. Anträge, Aufforderungen zur Offenlegung der Beweise und eidesstattlichen Aussagen. Selbst der Prozess wird Tage dauern. Kann Mrs. Stein sich überhaupt dein Honorar leisten? Oder allein die Spesen?«

Catherine schaut zur Seite. »Ich glaube, so viel Geld hat sie nicht. Sie hat mir eine Anzahlung von dreihundert Dollar angeboten.«

Liam runzelt die Stirn. »Jetzt mal im Ernst, Cat, hat diese Frau dich verhext? Das wäre der einzige Grund, einen solchen Fall anzunehmen.« Er schüttelt den Kopf. »Klar, sie braucht dringend einen Anwalt, und du hast Mitleid mit ihr. Es ist verständlich, dass du ihr helfen willst. Aber du kannst nicht ernsthaft annehmen, dass du dieses Verfahren erfolgreich durchziehen und gewinnen wirst.«

»Was soll ich denn machen?« Catherine zuckt mit den Schultern. »Mrs. Stein nimmt ihre Äußerungen nicht zurück. Sie ist auch nicht an einer außergerichtlichen Einigung interessiert.«

»Was du machen sollst? Wie wäre es damit, den Fall abzulehnen?«

Catherine schüttelt den Kopf. »Das ist unmöglich, das kann ich Mrs. Stein nicht antun.«

»Dann lass es zu einem Anerkenntnisurteil kommen.« Liam reibt sich die Schläfen. »Und wenn Mrs. Stein zu fünf Millionen Dollar Schmerzensgeld verurteilt wird, was spielt das für eine Rolle? Es ist offensichtlich, dass sie weder Geld noch Vermögenswerte in dieser Höhe besitzt und zahlungsunfähig ist. Warum also eine Verteidigungsstrategie aufbauen? Lass der Sache einfach ihren Lauf.«

»Nein!«, erwidert Catherine scharf. »So jemand bin ich nicht, und das sollte dir inzwischen auch klar sein. Ein Anerkenntnisurteil kommt nicht infrage. Sparks würde alle möglichen Verfahrenstricks anwenden und die alte Frau aus reiner Bosheit in den Bankrott treiben. Das wäre ihr Untergang, egal, wie viel sie an Geld und Vermögenswerten besitzt oder nicht. Wenn wir, trotz all meiner Anstrengungen, verlieren, dann sei’s drum, aber bis dahin werde ich mein Bestes geben.«

Liam nimmt seine Frau in die Arme. »Entschuldige, Cat, ich hätte dir nicht so zusetzen dürfen. Ich will lediglich verhindern, dass du bei der Sache Schaden nimmst.«

»Britta Stein ist ein guter Mensch und steht hinter dem, was sie getan hat. Und ich denke, dass sie einen Grund dazu hat. Vielleicht komme ich dir idiotisch vor, aber du bist ihr nicht begegnet, hast nicht mit ihr gesprochen. Als ich mit Walter Kaffee getrunken habe, hat er uns als alte Hasen bezeichnet, denen ihr Gespür sagt, ob mehr hinter einem Fall steckt. Zudem war er der Meinung, dass dieser Fall genau mein Ding ist, und damit hat er recht.«

Liam lässt sie los. »Ich weiß, wie sehr du Walter und seine Meinung respektierst. Vielleicht hat es dir auch geschmeichelt, dass er dich für einen alten Hasen –«

»Das reicht«, entgegnet Catherine verärgert. »Hier geht es nicht um Schmeicheleien, sondern darum, dass Walter weiß, wie erfolgreich ich Überlebende der Schoah vertreten habe, und dass ich mit Menschen, die die Schrecken und Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs erlebt haben, feinfühlig umgehen kann. Seit dem Treffen mit Mrs. Stein bin ich ebenfalls der Meinung, dass ihr Fall bei mir gut aufgehoben ist. Was, wenn Henryks sich fälschlicherweise rühmt, ein Kriegsheld zu sein? Was, wenn er tatsächlich ein Handlanger der Nazis war?«

»Okay, aber warum hat Mrs. Stein mit ihren Anschuldigungen so lange gewartet? Du hast gesagt, dass sie seit sechzig Jahren in Chicago lebt, und Henryks ist zahllose Male im Fernsehen aufgetreten. Warum geht sie erst jetzt gegen ihn vor?«

»Vielleicht wegen der geplanten Aufnahme in die Ruhmeshalle. Um das zu verhindern, möchte sie das Bild, das wir von Ole Henryks haben, geraderücken. Britta Stein wirkt wie eine Frau mit Prinzipien.«

Liam schüttelt den Kopf. »Eine Zweiundneunzigjährige greift plötzlich einen Fünfundneunzigjährigen an, den jedermann in Chicago schätzt. Nur weil sie etwas richtigstellen will? Klingt absurd.«

Catherine funkelt ihn zornig an. »So ist es aber.«

»Die Leute werden sich fragen, warum sie den alten Mann nicht in Ruhe lässt«, fährt Liam fort. »Soll er doch geehrt werden, was kann das groß schaden?«

»›Die Leute‹ haben aber nicht mit Britta Stein gesprochen, ich habe das getan. Für Mrs. Stein geht es nicht nur darum, das Image von Henryks zu korrigieren. Ihr geht es um mehr, um etwas viel Bedeutenderes. Ich vermute, Henryks hat sich etwas zuschulden kommen lassen, das Mrs. Stein und ihrer Familie großes Leid zugefügt hat.«

»Und was?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber ich wette, hinter ihrer Sprühaktion hat etwas sehr Persönliches gesteckt. Deshalb erträgt sie es nicht, Henryks als Kriegshelden geehrt zu sehen. Vielleicht bietet sich ihr endlich die Möglichkeit, mit ihm abzurechnen. Ich spüre deutlich, dass ihr Vorgehen gute Gründe hatte, und bitte dich, an mich zu glauben und mir zur Seite zu stehen.«

Liam drückt sie an sich. »Natürlich glaube ich an dich. Ich will nur nicht, dass du dir die Finger verbrennst.«

Catherine befreit sich aus seinen Armen. »Du sollst mich nicht beschützen, sondern einfach unterstützen.«

»Mach ich doch, zu hundert Prozent.« Liam überlegt kurz. »Du gehst also davon aus, dass Mrs. Steins Familie damals etwas Furchtbares angetan wurde. Und dass Henryks irgendwie involviert oder vielleicht sogar dafür verantwortlich war.«

Catherine nickt. »Das hat Mrs. Stein zwar nicht gesagt, aber ich habe da so ein Gefühl. Walter hatte den gleichen Eindruck. Abgesehen davon kann ich mir nicht vorstellen, warum jemand sonst aus heiterem Himmel nachts zu einem Restaurant schleichen und es mit Gemeinheiten besprühen würde.«

»So was tut zumindest niemand, der bei Verstand ist.«

»Britta Stein ist bei Verstand. Ihr Verstand ist sogar messerscharf. Wahrscheinlich kennt sie jede Menge Fakten über das, was damals geschehen ist, ich muss ihr nur helfen, die Erinnerungen hervorzuholen. Sie hat davon berichtet, wie nach dem Krieg Tausende Dänen als Kollaborateure festgenommen und angeklagt wurden. Viele von ihnen wurden verurteilt, einige sogar zum Tod. Und Ole Henryks soll einer dieser Kollaborateure gewesen sein.«

»Stand er je vor Gericht?«

Catherine schüttelt den Kopf.

»Warum nicht? Ist er möglicherweise untergetaucht, bevor er in die Staaten ausgewandert ist?«

»Keine Ahnung. Vielleicht wären Nachforschungen diesbezüglich eine schöne Aufgabe für einen gewieften Privatdetektiv. Ach, und noch etwas. Mrs. Stein sagt, Henryks’ richtiger Nachname lautet Hendricksen.«

Liam zuckt die Achseln. »Dann hat er seinen Namen eben ändern lassen.«

»Möglich. Vielleicht war es einfach ein Einwanderungsbeamter auf Ellis Island, der aus Hendricksen Henryks gemacht hat. Oder aber Henryks wollte absichtlich seine wahre Identität verbergen.«

»Die Antworten auf diese Fragen liegen wahrscheinlich dreitausend Meilen von hier in einem Kopenhagener Archiv.«

»Ist anzunehmen.«

»Das heißt, eventuell schickst du mich für diesen Fall ins ferne Kopenhagen«, sagt Liam.

Catherine verdreht die Augen. »So weit wird es hoffentlich nicht kommen.«

»Okay, vielleicht nicht. Wie auch immer, ich werde dir auf jeden Fall helfen, Schatz. Wann geht es los?«

»Am kommenden Donnerstag findet die erste Anhörung statt. Richter Wilson wird über die Verlängerung des Kontaktverbots entscheiden. Ich werde dabei sein, jedoch keinen Einspruch erheben.«

»Warum nicht?«

»Weil dazu eine Beweiserhebung erforderlich wäre. Mrs. Stein müsste aussagen, und Sparks würde sie ins Kreuzverhör nehmen. Wozu? Es steht ja schon fest, dass sie das Restaurant besprüht hat, Sparks hat den Videobeweis. Nein, ich bringe Britta nicht vor Gericht, zumindest noch nicht. Von allem anderen abgesehen müsste sie sich einen Weg durch eine sensationslüsterne Meute von Reportern bahnen. Dieses Theater erspare ich ihr.«

Liam zieht die Brauen hoch. »Eine Meute Reporter bei einer ganz normalen Anhörung?«

»Dafür wird Sterling Sparks schon sorgen, du weißt, wie er ist. An diesem Verfahren wird nichts normal sein, fürchte ich. Jeder Tag wird ein Kampf werden.«

»Okay, ich hab’s verstanden. Sag mir einfach, was ich tun kann.«

»Morgen früh um neun treffe ich mich mit Emma Fisher und ihrer Großmutter wieder in meiner Kanzlei. Wäre schön, wenn du dabei sein könntest. Ich möchte, dass du von Anfang an miteinbezogen wirst, denn wir werden in sehr kurzer Zeit sehr viel bewältigen müssen. Immerhin muss ich beweisen, dass sechs Äußerungen über einen Mann, der als Kriegsheld gilt, keine Verleumdungen sind. Dass es sich um zulässige Äußerungen handelt, weil sie allesamt wahr sind.«

»Das ist alles?«

»Ja, das ist alles«, erwidert Catherine mit einem zuversichtlichen Lächeln.

»Du solltest dich wappnen, der Prozess wird große Aufmerksamkeit erregen.«

Catherine kaut auf ihrer Unterlippe. »Natürlich wird er das, in Chicago wird er der Prozess des Jahres werden. Und ich werde ihn gewinnen.«

Kapitel 5

Am nächsten Morgen finden sich alle in Catherines Besprechungsraum ein. »Es gibt viel zu tun«, sagt Catherine. »Um für Mrs. Stein eine effektive Verteidigungsstrategie aufzubauen, wird jeder von uns hart arbeiten müssen.«

Mrs. Stein hebt die Hand. »Vielleicht fangen wir damit an, dass Sie mich Britta nennen.«

»Gern, danke.« Catherine macht Emma und Britta mit Liam bekannt. »Liam ist nicht nur mein Ehemann, sondern auch ein erfahrener Privatdetektiv. Wenn es Ihnen recht ist, wird er gelegentlich an unseren Treffen teilnehmen und uns tatkräftig zur Seite stehen. Vielleicht brauchen wir ihn früher oder später auch, um für unsere Sicherheit zu sorgen. Der Fall wird die Gemüter erregen, und dann weiß man nie, was passiert.«

»Willkommen an Bord, Mr. Lockhart«, sagt Britta gut gelaunt. »Allein bei Ihrem Anblick fühle ich mich schon sicherer.«

Catherine zwinkert Liam zu. »Ja, willkommen an Bord, Mr. Lockhart.«

Liam holt Luft, um Britta zu erklären, dass sein Nachname Taggart lautet, doch dann überlegt er es sich anders und bleibt stumm.

Catherine spricht weiter. »Sterling Sparks wird vor Gericht zur Eile drängen, was bedeutet, dass wir nur wenig Zeit für die Vorbereitung haben. Deshalb werde ich jetzt die Aufgaben verteilen, und anschließend legen wir sofort los. Wichtig ist, dass wir unsere Fakten so rasch wie möglich zusammentragen.«

»Ich kenne Mr. Sparks aus dem Fernsehen. Auf mich wirkt er nicht wie jemand, der gern hart arbeitet«, meint Britta. »Warum also sollte er auf Eile pochen und sich so selbst unter Druck setzen?«

In Emmas Augen blitzt etwas auf. Die junge Anwältin scheint die Antwort zu kennen.

»Diese Frage lasse ich Ihre Enkelin beantworten«, sagt Catherine.

Emma wendet sich an ihre Großmutter. »Normalerweise liegt die Beweispflicht aufseiten des Klägers. Er muss Zeugen beibringen, Dokumente, Videos oder anderes Beweismaterial vorlegen. Schafft er das nicht, kann die Klage abgewiesen werden. Deshalb braucht er Zeit. In deinem Fall, Bubbe, ist die Beweislast für den Kläger äußert gering. Schließlich kannst du nicht leugnen, dass du die Wörter an Henryks Restaurant gesprüht hast.«

»Das habe ich auch nicht vor.«

»Natürlich nicht. Aber deine Bezichtigungen sind so ernster Natur, dass sie als ehrverletzend gelten und strafbar sind. Und um das zu beweisen, braucht Sparks nichts weiter als dein Geständnis und das Video von der Überwachungskamera.«

Britta runzelt die Stirn. »Aber was ich geschrieben habe, trifft doch zu. Und Catherine meinte, dass es nicht strafbar ist, wenn es der Wahrheit entspricht.«

»›Theoretisch‹, hat sie gesagt. Es ist nur dann nicht strafbar, wenn wir den Wahrheitsgehalt beweisen können. Wir werden also die Klage abweisen und geben deine Sprühaktion zu, versuchen jedoch zu belegen, dass sie gerechtfertigt war. Wenn wir das nicht können, wird das Urteil gegen uns ergehen. Dass unsere Zeit knapp ist, kommt erschwerend hinzu.« Emma sieht Catherine fragend an. »So ist es doch, oder?«

Catherine nickt.

»Das finde ich ungerecht«, sagt Britta. »Können wir nicht dafür sorgen, dass wir genügend Zeit bekommen, um meine Äußerungen zu beweisen?«

Catherine schüttelt den Kopf. »Sparks wird argumentieren, dass Sie die Beweise hätten haben müssen, bevor Sie Ihre Vorwürfe publik gemacht haben.«

»Aber ich bin doch der Beweis. Ich bin eine Augenzeugin, und mein Gedächtnis funktioniert einwandfrei. Ich werde gegen Henryks aussagen.«

»Das ist richtig«, erwidert Catherine. »Aber leider genügen Ihre Erinnerungen nicht, denn Henryks wird alles bestreiten, und dann steht Aussage gegen Aussage. Wenn Sparks die Verhandlung beschleunigen will, werde ich Einspruch erheben, doch angesichts Ihres und Henryks’ Alters wird der Richter Sparks recht geben. Deshalb müssen wir jetzt die Ärmel hochkrempeln und uns an die Arbeit machen. Britta, Sie haben die schwierigste Aufgabe. Sie müssen Ihr Gedächtnis durchforsten und mir alles erzählen, was Sie über Henryks wissen. Dabei kann jedes noch so kleine Detail von Bedeutung sein. Alles, was Sie uns sagen können, kann uns dabei helfen herauszufinden, an welchen Stellen wir Beweismaterial sammeln müssen.«

Britta wirkt entschlossen. »Ich erinnere mich ganz genau. Ich sehe Hendricksen noch vor mir, wie er hinter den Deutschen im Stechschritt über die Fredensgade marschiert ist. Das war im Juni 1940. Er und seine Freunde hatten die Arme zum Hitlergruß ausgestreckt. Das Ganze hat ihm gefallen. Ihm und seiner Familie, die ihm sogar die passenden schwarzen Schaftstiefel besorgt hatte.«

»1940, sagen Sie? Damals war Ole Henryks also siebzehn«, meldet Liam sich zu Wort. »Wir brauchen mehr, als dass er als Jugendlicher hinter der Wehrmacht hermarschiert ist. Das macht ihn noch nicht zum Kollaborateur oder Verräter.«

»Ich habe das nur als Beispiel angeführt«, entgegnet Britta pikiert. »Um Ihnen zu verdeutlichen, dass er von Anfang an dabei war. Seine eigentlichen Verbrechen fanden danach statt. So lange, bis die Deutschen 1945 wieder abgezogen sind.«

»Wir brauchen Zeugen, Fotos, offizielle Unterlagen. Die pedantischen Deutschen haben bekanntlich alles minutiös dokumentiert, wir müssen also in die Archive. Das wird Liams Aufgabe sein.« Catherine dreht sich zu ihrem Mann um. »Schau, dass du so viel wie möglich über dänische Kollaborateure in Erfahrung bringst. Britta hat von Tausenden gesprochen, die nach dem Krieg angeklagt und zum Teil verurteilt wurden. Versuch, an Akten dänischer Gerichte heranzukommen. Und an die Akten alliierter Gerichte. Vielleicht findest du sogar Prozessprotokolle. Dänische Institutionen und Unternehmen, die mit den Deutschen kollaboriert haben, sind ebenfalls interessant. Vielleicht gibt es alte Verzeichnisse ihrer Mitglieder oder Angestellten. Versuch auch, Akten der deutschen Besatzer aufzutreiben.« Sie sieht Britta an. »Wir müssen nach Hendricksen suchen, nehme ich an.«

»Ja. Als Ole Henryks werden Sie ihn nicht finden.«

»Ich muss noch etwas von Ihnen wissen«, wendet Liam sich an Britta. »Ich hoffe, Sie verzeihen mir die Frage. Kann es sein, dass Ole Henryks gar nicht mit Ole Hendricksen identisch ist? Dass es zwei verschiedene Männer sind? Immerhin ist die Zeit der Besatzung über siebzig Jahre her. Sie erinnern sich an einen Siebzehnjährigen, doch Henryks ist heute fünfundneunzig. Wie können Sie sicher sein, dass dieser alte Mann derselbe ist, den Sie als jungen Mann gekannt haben?«

»Er ist es«, entgegnet Britta fest. »1940 war ich dreizehn Jahre alt, und als der Krieg zu Ende ging, war ich neunzehn. Ich war also kein Kind und erinnere mich sehr genau. Außerdem wäre da noch das Foto von Ole und seinem Vater, das in der Tribune zu sehen war und dessen Original er hinter seinem Bartresen aufgehängt hat. Ich kann mir also durchaus sicher sein, Mr. Lockhart.«

»So viel zu Ihren Zweifeln, Mr. Lockhart«, sagt Catherine und lächelt in sich hinein.

»Ja, schon gut. Mein Name lautet übrigens Taggart. Liam Taggart.«

»Oh«, sagt Britta peinlich berührt. »Bitte entschuldigen Sie. Ich war davon ausgegangen, dass …«

Liam winkt ab. »Kein Problem. Ich denke, ich werde als Erstes damit anfangen, Nachforschungen über Mr. Henryks anzustellen. Wie und wann ist er in die Staaten gekommen? Was hat er hier gemacht – nur sein Restaurant betrieben? Wer sind seine Freunde und Bekannten? Und was ist mit der Dänisch-Amerikanischen Gesellschaft von Chicago? Welche Mitglieder haben Henryks’ Aufnahme in die Ruhmeshalle unterstützt? Aus welchem Grund? Falls Sie die Antworten kennen oder eine Ahnung haben, woher ich sie bekommen kann, lassen Sie es mich bitte wissen, Britta.«

Britta runzelt die Stirn. »Ich kenne niemanden aus dieser Gesellschaft, habe nicht die geringste Verbindung zu ihr. Ich weiß nur von Hendricksens Leben in Dänemark. Was er hier in Amerika getrieben hat, kann ich Ihnen nicht sagen.«

»So viel dazu.« Catherine sieht Emma an. »Ich brauche Ihre Hilfe, sowohl bei der Recherche als auch bei der Formulierung unserer Klageerwiderung, mit der wir die Klage abweisen. Walter hat sich freundlicherweise bereit erklärt, Sie uns leihweise zu überlassen. Er schwärmt von Ihren Rechtskenntnissen. Am besten, Sie fangen sofort mit der Recherche an.«

Emmas Wangen röten sich vor Stolz. »Wird gemacht.«

Catherine blickt in die Runde. »Nun hat also jeder seine Aufgabe. Britta und ich werden uns täglich hier treffen und gemeinsam alle Details über Henryks und seine Familie sammeln, an die Britta sich erinnern kann. Und bitte denkt daran, dass jeder im Team über das, was ihr herausfindet, auf dem Laufenden gehalten werden muss. Vielleicht löst etwas davon bei Britta Erinnerungen aus, die tief vergraben liegen.«

Britta schießen auf einmal Tränen in die Augen. Sie kramt ein fein besticktes Taschentuch hervor und tupft die Tränen ab. Mit zittriger Stimme sagt sie: »Es fällt mir stets schwer, meine Gefühle auszudrücken, und ich weiß nicht, wie ich Ihnen dafür danken soll, dass Sie meinen Fall übernehmen, Catherine. Es ist kein einfacher Fall, und ich bin keine einfache Mandantin. Die Herausforderungen sind mir durchaus bewusst, und mir fehlen bedauerlicherweise die Mittel, Sie angemessen zu honorieren. Und doch sind Sie so entschlossen, mir zu helfen, dass ich kaum weiß, was ich dazu sagen soll.«

»Sie müssen nichts sagen«, entgegnet Catherine freundlich. »Manchmal geht es bei einer Rechtssache nicht um Geld. Hin und wieder nehmen Anwälte sich Mandanten an, von denen sie wissen, dass es moralisch richtig ist, sich für sie einzusetzen. Es ist wie bei Ihnen, als Sie sich dazu getrieben fühlten, Henryks’ makellosen Ruf infrage zu stellen.«

»Ja, das stimmt«, sagt Britta und steckt das Taschentuch wieder ein. »Die Vorstellung, dass dieser Verbrecher geehrt werden soll, hat mich angewidert. Es ist mir ein Rätsel, warum die Dänisch-Amerikanische Gesellschaft von Chicago ausgerechnet ihm derart verfallen ist. Während des Kriegs hat es in Dänemark echte Helden gegeben. Mein Vater, meine Schwester und mein Schwager haben zu ihnen gehört. Aber Hendricksen zu ehren ist so, als würde man einem überzeugten Nazi eine Medaille verleihen.«

»Wenn ich morgen aus dem Gericht komme, werden wir über diese wahren Helden sprechen«, sagt Catherine. »Ich möchte mehr erfahren über Ihre Familie und auch über die Verräter und Kollaborateure, die es damals gab.«

Nach der Besprechung behält Catherine Emma zurück und fragt: »Wie gut kennen Sie sich im Diffamierungsrecht aus?«