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Aus Verzweiflung gab sie einst ein Versprechen - nun ist es an der Zeit, es zu erfüllen. Chicago, 2013: Die hochbetagte Lena macht sich auf die Suche nach den Töchtern ihrer Freundin, die seit dem Zweiten Weltkrieg verschwunden sein sollen. Doch warum beginnt sie ihre Suche erst jetzt? Was für ein Geheimnis verbirgt sie? Polen, 1939: Lenas Vater kämpft gegen die deutschen Besatzer – bis er mit der ganzen Familie verhaftet wird. Nur die Tochter Lena bleibt zurück, gemeinsam mit ihrer Freundin Karolina kämpft sie fortan im Ghetto ums Überleben. Doch während Lena sich dem Widerstand anschließt, verliebt sich Karolina – in einen Deutschen... »Leser, die auf mehr Bücher wie Kristin Hannahs 'Die Nachtigall' warten, werden begeistert sein.« Booklist.
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Seitenzahl: 514
Ronald H. Balson ist Rechtsanwalt, und seine Fälle führten ihn um die ganze Welt. Heute lebt und schreibt er in Chicago. Sein erster Roman »Once We Were Brothers« war ein internationaler Bestseller.
Max Stadler lebt in Berlin und Ostafrika. Zu den von ihm ins Deutsche übertragenen Autoren gehören DBC Pierre, Camilla Läckberg und Matias Faldbakken.
Aus Verzweiflung gab sie einst ein Versprechen. Nun ist es an der Zeit, es zu erfüllen.
Chicago, 2013: Die hochbetagte Lena macht sich auf die Suche nach den Töchtern ihrer Freundin, die seit dem Zweiten Weltkrieg verschwunden sein sollen. Doch warum beginnt sie ihre Suche erst jetzt? Was für ein Geheimnis verbirgt sie?
Polen, 1939: Lenas Vater kämpft gegen die deutschen Besatzer – bis er mit der ganzen Familie verhaftet wird. Nur die Tochter Lena bleibt zurück, gemeinsam mit ihrer Freundin Karolina kämpft sie fortan im Ghetto ums Überleben. Doch während Lena sich dem Widerstand anschließt, verliebt sich Karolina – in einen Deutschen.
»Leser, die auf mehr Bücher wie Kristin Hannahs Die Nachtigall warten, werden begeistert sein.« Booklist
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Ronald H. Balson
Karolinas Töchter
Roman
Aus dem Amerikanischen von Max Stadler
Inhaltsübersicht
Über Ronald H. Balson
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Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
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Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
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Kapitel 38
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Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Dank
Impressum
Leseprobe aus: Kristin Hannah – Die Nachtigall
Gewidmet dem Andenken an Fay Scharf Waldman, der bemerkenswerten, mutigen Frau, die mich zu dieser Geschichte inspirierte.
Und meiner Frau Monica, die mich jeden Tag inspiriert.
Der Schriftzug auf der milchverglasten Tür lautete schlicht ERMITTLUNGEN. Im zweiten Stock eines altmodischen Gebäudes ohne Fahrstuhl wickelte ein breitschultriger Mann in einem Rugbyshirt ein Sandwich aus und schlug die Sportkolumne der Chicago Tribune auf. Sein ein wenig schütteres, an den Schläfen graumeliertes Haar war kurz geschoren. Das Gesicht zollte den fünfundzwanzig Jahren in diesem Job Tribut.
Er hatte gerade einen kräftigen Bissen von dem Sandwich genommen, als das Telefon klingelte. »Verdammt«, murmelte er. Nachdem er hinuntergeschluckt hatte, sagte er laut:
»Liam Taggart.«
»Mein Name ist Lena Woodward.« Die Stimme war dünn und klang betagt. »Spreche ich mit dem Privatdetektiv?«
»Ja, Ma’am, so ist es. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich würde gern einen Termin vereinbaren.«
»Darf ich erfahren, worum es geht, Miss Woodward?«
»Mrs. Woodward, bitte. Ich möchte, dass Sie mir helfen, jemanden zu finden. Besser gesagt, zwei Personen.«
»Sind diese Personen mit Ihnen verwandt?«
Es herrschte kurz Stille in der Leitung.
»Nein. Könnte ich bitte einen Termin bekommen? Dann werde ich Ihnen alles erzählen.«
»Ich hätte heute Nachmittag Zeit. Möchten Sie nachher vorbeikommen?«
»Morgen früh wäre besser«, sagte sie. »Aber ich brauche Sie und Miss Lockhart. Sie beide.«
»Catherine ist Anwältin, keine Detektivin. Geht es um einen Gerichtsfall?«
»Nein.«
»Dann würde ich vorschlagen, wir treffen uns morgen, und sollten Sie rechtlichen Beistand benötigen, können wir Catherine später immer noch hinzuziehen.«
»Bei allem Respekt, ich muss auf Miss Lockharts Anwesenheit bestehen, Mr. Taggart. Würden Sie nachsehen, ob sie verfügbar ist?«
»Mrs. Woodward, sie ist eine vielbeschäftigte Anwältin und hat morgen früh einen wichtigen Gerichtstermin. Und ihre Zeit hat ihren Preis …«
»Dann um drei Uhr morgen Nachmittag, und bitte, Mr. Taggart, behandeln Sie mich nicht herablassend. Ich kenne mich mit Anwaltskosten aus. Ich kann es mir leisten, sollte ich mich entscheiden, Sie zu engagieren.«
»Könnten Sie mir nicht trotzdem ein paar genauere Informationen geben, irgendeinen Hinweis? Warum wollen Sie diese Leute finden? Welche Verbindung haben Sie zu ihnen? Leben sie im Umkreis Chicagos?« Eine weitere Pause. »Mrs. Woodward?«
»Das werde ich Ihnen morgen erzählen. Um drei?« Liam seufzte. »Ich kenne Catherines Terminkalender nicht, aber ich werde mich erkundigen, ob sie Zeit hat. Dürfte ich eine Telefonnummer haben, unter der ich Sie erreichen kann?« Nachdem er die Informationen notiert hatte, beendete er das Gespräch und grübelte eine Weile darüber, warum es diese Frau für nötig hielt, Catherine in eine simple Personensuche einzubeziehen. Er zuckte die Achseln und griff nach dem Hörer seines Telefons.
»Anwaltsbüro von Catherine Lockhart.«
»Gladys, was macht Catherine morgen Nachmittag?«
»Sie bereitet sich für eine Anhörung am Montagmorgen vor.«
»Okay, würdest du mich für fünfzehn Uhr eintragen? Wir werden eine Dame namens Lena Woodward treffen.«
»Worum geht es?«
»Ich weiß es nicht.«
In einem dreistöckigen Ziegelbau auf der West Belden Avenue, zwei Blocks westlich von Chicagos Lincoln Park, trank Liam, auf seinen Computer auf dem Küchentisch starrend, ein Guinness und wartete auf seine Ehefrau. Zwei Dinge beschäftigten ihn: Lena Woodwards merkwürdiger Anruf vom Nachmittag und das Fehlen eines starken Runningbacks für sein anstehendes wöchentliches Fantasy-Football-Duell mit seinem Vetter. Dann kam Catherine Lockhart-Taggart mit einer Kiste voller Dokumente durch die Tür.
»Nachtschicht?«, fragte Liam.
»Montag früh hab ich eine einstweilige Verfügung, die ich noch vorbereiten muss, und dann hat irgendjemand Gladys beauftragt, für morgen fünfzehn Uhr einen Termin zu vereinbaren, was mir den ganzen Nachmittag raubt.«
Liam nahm Catherine die Kiste ab und stellte sie auf den Esszimmertisch. »Sie hat nicht lockergelassen. Hat mich quasi gezwungen.«
Catherine schlüpfte aus ihren High Heels, hängte ihren Regenmantel an den Haken und ging zum Kühlschrank. Sie griff sich ein Bier und ein vorgeeistes Glas. »Was will diese Frau? Warum kommt ihr zwei in mein Büro?«
Liam schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln. »Weil sie uns treffen möchte.«
»Wozu?«
»Sie will, dass wir zwei Leute finden.«
»Was für zwei Leute?«
»Keine Ahnung.«
»Liam, ganz ehrlich, manchmal stellst du dich ziemlich dämlich an. Warum hast du sie nicht gefragt?«
»Das habe ich. Sie wollte es mir nicht verraten. Und sie war sehr bestimmt.«
»Wahrscheinlich eine Irre. Sie wird gar nicht erst auftauchen.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ist keine Irre. Und sie wird kommen.«
»Und du weißt das, weil …«
»Meine irische Intuition.«
Catherine breitete ihre Akten auf dem Tisch aus.
»Dann sollte dir deine Intuition sagen, dass du heute fürs Abendessen verantwortlich bist.«
Liam plauderte liebend gern mit Catherines Sekretärin, einer attraktiven Latina aus Chicagos Pilsen-Viertel, die in Cats Kanzlei mit strengem Regiment führte.
»Wie viele Büroklammern hat Cat diese Woche verbraucht?«, scherzte Liam.
»Denkst du, das weiß ich nicht?«, sagte Gladys, die Hände in die Hüften gestemmt. In dem Moment betrat eine hochgewachsene Dame in einem Kamelhaarmantel, mit gestricktem Schal und weichem braunem Pillbox-Hut die Kanzlei. Ihr Gang wirkte etwas unsicher, und sie musste sich auf einen glänzenden schwarzen Spazierstock stützen. Sie lächelte Liam an. »Ich nehme an, Sie sind Mr. Taggart?« Sie streckte die Hand aus. »Ich bin Lena.«
»Sehr erfreut, Lena. Dies ist Gladys, Catherines Sicherheitsdienst. Ich denke, Catherine erwartet uns.«
Gladys nahm Lenas Mantel entgegen und führte sie nach hinten in Catherines Büro. Lena schien weit über achtzig zu sein. Sie stand jedoch kerzengerade erhoben und trug einen eleganten grauen Anzug, einen seidenen Designerschal und eine perlengitterne Haarspange, die fein säuberlich an die rechte Seite ihres sorgsam frisierten silbernen Haares gesteckt war. Nach der Begrüßung kam Lena direkt zur Sache. »Ich würde Sie beide gern engagieren. Ich muss herausfinden, was mit zwei Kindern geschehen ist.«
»Wie ich Ihnen am Telefon schon sagte«, erwiderte Liam, »Catherine befasst sich nicht mit der Suche von Kindern. Das ist mein Fachgebiet.«
Lena nickte mit einem wissenden Lächeln. »Ich bin nicht zufällig hierhergekommen. Ich war eng mit Ben Solomon befreundet. Ihn haben Sie vor acht Jahren auf der letzten Mission seines Lebens begleitet – als er Hauptscharführer Otto Piatek zur Rechenschaft ziehen wollte. Während dieser schwierigen Phase haben Adele Silver und ich fast jede Nacht bei ihm gesessen. Ich weiß, wozu Sie beide in der Lage sind, wenn Sie sich erst einmal dazu durchringen. Ich habe es erlebt und möchte Sie als Team anheuern. Und ich kann es mir leisten.«
»Es ist keine Frage des Geldes, Mrs. Woodward«, sagte Catherine. »Ben brauchte einen Prozessanwalt, und ich habe dieser Anforderung entsprochen. Ben brauchte außerdem einen Detektiv, und somit kam Liam ins Spiel. Bens Situation war sehr besonders. Sicherlich ganz anders als Ihre.«
Lena ließ sich nicht beirren. Das Lächeln verschwand nicht von ihrem Gesicht. »Anders in mancher Hinsicht, aber es gibt vermutlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Das Projekt, um das es mir geht, wird großes Engagement und eine kreative Herangehensweise erfordern. Ben sagte, er habe nichts erlebt, das mit Ihrer Art der Zusammenarbeit vergleichbar gewesen wäre.« Sie unterstrich ihre Worte mit erhobenem Zeigefinger. »Das ist es, was ich will.«
»Was erwarten Sie von uns, Lena?«, fragte Catherine in milderem Tonfall.
»Ich sagte es bereits. Ich möchte, dass Sie zwei Kinder finden.«
»Sind es Ihre Kinder?«
Lena schüttelte den Kopf. »Nicht meine eigenen. Aber ich habe einer sehr besonderen Person ein Versprechen gegeben und beabsichtige, es zu halten.«
Catherine drehte sich zu ihrem Schreibtisch um und drückte eine Taste auf ihrem Telefon. »Gladys, würden Sie bitte eine Kanne Kaffee aufsetzen und alle Anrufe abwimmeln?«
»Ich nehme an, ich sollte ganz von vorn beginnen und Ihnen erzählen, wie ich diese Kinder kennenlernte. Mein Mädchenname ist Lena Scheinmann, 1924 geboren in Chrzanów in Polen, südwestlich von Kraków, in Schlesien. Als ich eine Jugendliche war …«
Catherine hob die Hand. »Chrzanów. Liegt das in der Nähe von Zamość?«
»Nein, das war Bens Heimatstadt. Die Stadt, die ich meine, wird Scha-now ausgesprochen. Sie liegt viel weiter westlich, nahe der Grenze zu Tschechien.«
Catherine sah Liam an. »Ich glaube, das kommt uns bekannt vor. Wird uns dieser Auftrag zu Ereignissen während des Holocausts führen? Haben Sie uns deshalb ausgesucht? Wegen Ben Solomon? Sicher hatte sein Fall mit dem Holocaust zu tun, aber wir sind dadurch keinesfalls zu Experten der polnischen Kriegszeit geworden.«
Lena hob die Augenbrauen. »Ich bin wegen Ihrer Fähigkeiten zu Ihnen gekommen, und ich gestehe, auch wegen Ben. Er war Ihr größter Fan. Und ich seiner. Vielleicht weil wir beide Überlebende waren, weil wir beide zu Zeiten des Krieges in Polen durch die Hölle gegangen sind. Wie ich schon sagte, gibt es Ähnlichkeiten, und Ben und ich hatten eine besondere Verbindung. Ich habe Sie aufgesucht, weil ich herausfinden muss, was mit den zwei Kindern geschah, und ich denke, dass Sie mir dabei helfen können.«
»Ich muss mich für die Formulierung meiner Frage entschuldigen. Sie sollten jedoch wissen, dass Sie sicherlich bessere Experten zu Polen im Zweiten Weltkrieg finden können als Liam und mich. Wir konnten Ben helfen, Otto Piatek zu finden und dingfest zu machen, aber dabei war Ben unsere Informationsquelle.«
»Das verstehe ich, aber ich weiß, dass ich bei Ihnen richtig bin, und ich bitte Sie, mich ausreden zu lassen.«
»Selbstverständlich.« Catherine drehte sich um und nahm einen gelben Notizblock auf. »Lassen Sie uns zuerst ein paar Hintergrundinformationen sammeln. Sind diese zwei Kinder in irgendeiner Form mit Ihnen verwandt?«
Lena schüttelte den Kopf. »Nein. Sie sind die Kinder von Karolina. Zwillinge.«
Liam lehnte sich vor, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. »Wie lauten ihre Namen, Lena?«
Sie schüttelte erneut den Kopf. »Heute? Keine Ahnung. Vor vielen Jahren hießen sie Rachel und Leah.«
Catherine schaute Liam und dann wieder Lena an. »Wer ist Karolina?«
»Sie war meine beste, teuerste Freundin. Sie hat mir das Leben gerettet, aber am Ende konnte ich sie nicht retten.« Lena hielt gedankenverloren inne. Sie blinzelte eine Träne weg, wischte mit dem Handrücken darüber. Schließlich fuhr sie flüsternd fort: »Ich bitte Sie, mir dabei zu helfen, mein Versprechen einzulösen. Bitte finden Sie Karolinas Mädchen.«
Catherine stellte eine Box Taschentücher auf den Schreibtisch. »Wo lebte Karolina?«
Lena senkte den Blick. »In Chrzanów, nicht weit von mir. Aber sehr oft wohnte sie auch bei mir.«
Catherine blickte noch einmal zu Liam, aber der zuckte nur die Achseln.
»Die Zwillinge wurden also während des Zweiten Weltkrieges geboren? In Polen?«
Lena nickte.
»Lena, das ist siebzig Jahre her.«
»Ich weiß. So lange trage ich schon diese Bürde. Und, wie mein Mann zu sagen pflegte, meine Mitgliedskarte für die menschliche Rasse wird bald ablaufen. Er erlag vor zwei Jahren einem Krebsleiden, kurz bevor Adele starb. Ich habe meine beiden besten Freunde innerhalb weniger Tage verloren. Nach ihrem Tod hatte das Leben für mich nur noch einen Sinn: mein Versprechen an Karolina einzulösen.
Mein Mann war über Jahre hinweg sehr erfolgreich mit seinen Geschäften und Investments. Kurz vor seinem Tod sagte er: ›Lena, wir haben genug Geld, halte dein Versprechen an Karolina. Dann findest du endlich Ruhe.‹ Bald darauf habe ich mich an die Arbeit gemacht, holte Erkundigungen ein, flog sogar einmal nach Polen zurück. Aber Chrzanów hat sich gewandelt, und meine Bemühungen verliefen im Sande. Ich bekam einfach keinen Fuß in die Tür. Wusste nicht, wo ich anfangen soll. Schließlich erkannte ich, dass ich professionelle Hilfe brauchen würde, wenn ich diese Mädchen finden wollte.«
»Und zu uns sind Sie dann durch Ben gekommen?«
»Wie ich schon sagte, Ben, Adele und ich standen uns sehr nahe. Ben riet mir, zu Ihnen und Liam zu gehen. Er meinte, Sie seien eine gute Zuhörerin, und wenn es irgendjemandem gelingen würde, dann Ihnen.«
»Wo wurden diese Kinder das letzte Mal gesehen?«, fragte Liam.
»Ich wünschte, ich könnte es genau sagen, auch nur die Stadt, aber ich kann es nicht. Ich kenne die ungefähre Region, zumindest so, wie sie 1943 aussah, aber das ist vermutlich zu ungenau.«
Liam schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Lena, ob Ihnen geholfen werden kann. Ich bin recht gut im Auffinden von Leuten, aber ich brauche Anhaltspunkte.« Er zählte an seinen Fingern ab. »Erstens kennen wir nicht einmal ihre Namen. Zweitens wissen wir nicht, wo sie leben. Drittens wissen wir nicht, wo man sie zuletzt gesehen hat. Viertens wissen wir nicht, wie sie heute aussehen oder ob sie überhaupt noch am Leben sind. Ich fürchte, Sie werfen Ihre Ersparnisse für ein aussichtsloses Unterfangen aus dem Fenster.«
Lena ließ sich nicht beirren. Ihre Körpersprache war resolut, und sie reckte das Kinn nach vorn. »Wir werden sie finden, ich weiß es einfach. Mit Ihrer fachkundigen Unterstützung.« Sie nickte nachdrücklich. »Wir werden sie finden.«
»Vielleicht würde es helfen, wenn Sie uns etwas mehr über Karolina erzählen könnten, und weshalb Sie so sehr daran interessiert sind, ihre Kinder zu finden. Vielleicht geht es ihnen nach all den Jahren gut, ohne dass sie unsere Hilfe brauchen.«
»Darum geht es nicht. Es gibt Dinge, die sie erfahren müssen. Die ich ihnen sagen muss.«
Catherine nahm ihren Stift. »Nun, auch ich brauche Informationen, bevor ich mich darauf einlassen kann. Ich werde Ihr Geld nicht annehmen, sollte ich nicht daran glauben, dass Liam und ich etwas für Sie tun können.«
»Verstehe, einverstanden.«
»Dann lassen Sie uns beginnen. Erzählen Sie mir von Karolina. Alles, woran Sie sich erinnern.«
»Sie werden es sich anhören? Völlig unbefangen?«
Catherine lächelte. »Ja, das werde ich.«
»Danke. Das bedeutet mir viel.« Lena nahm einen Schluck Kaffee, schlug die Beine übereinander, strich ihren Rock glatt und begann. »Ich begegnete Karolina zum ersten Mal, als sie meinen Bruder von der Schule nach Hause schob.« Catherine runzelte die Stirn.
»Ihn schob?«
»Mein Bruder war sieben und saß im Rollstuhl. Als Miłosz vier war, bekam er Kinderlähmung. Mein Vater brachte ihn nach Kraków zu einem Arzt, der ihn Tag und Nacht im Auge behielt. Und Miłosz besiegte die Krankheit, was damals in den Dreißigern alles andere als selbstverständlich war. Aber er bezahlte dafür mit stark verkrüppelten Beinen und konnte nicht mehr laufen. Eine Behinderung, ohne Zweifel, aber nichts, was Miłosz beeinträchtigt hätte. Er konnte nicht mit den anderen Jungen draußen spielen, dafür schenkten ihm die Musen Begabungen in Musik, Kunst und Poesie.«
»Im Alter von sieben Jahren?«
»Absolut. Er konnte einen mit seinen Talenten verzücken – er spielte Violine. Eine Schande, dass es nicht möglich ist, ihn spielen zu hören. Oder seine Gemälde zu betrachten. Oder ihn seine Gedichte rezitieren zu hören. Selbst mit sieben Jahren.« Die Erinnerungen ließen Lena lächeln. »Miłosz konnte einen mit seiner joie de vivre anstecken. Obwohl körperlich eingeschränkt, war er nie unglücklich, und er hatte immer ein Lächeln auf den Lippen. Über die nie ein unfreundliches Wort kam. Alle liebten ihn, und er liebte das Leben. Dennoch musste Miłosz aufgrund seiner Behinderung jeden Tag zur Schule und wieder nach Hause gebracht werden. Gewöhnlich war Magda dafür zuständig, sie brachte Miłosz in seinem Rollstuhl zur Grundschule und zurück. Sie wohnte mit uns im Haus, war unser Kindermädchen und unsere Haushälterin. Doch eigentlich war sie viel mehr. Sie gehörte zur Familie.«
»War die Schule weit weg?«, erkundigte sich Catherine. »Ich versuche, ein Gespür für Ihre Stadt zu bekommen.«
»Vielleicht sieben, acht Blocks. In Chrzanów war nichts weit weg. Es gab einen zentralen Marktplatz, um den herum sich die Stadt entfaltete. Autos waren eine Seltenheit in Chrzanów. Meine Familie besaß keins, auch wenn wir ziemlich wohlhabend waren. Alle gingen zu Fuß. Für längere Strecken nahm man einen Pferdewagen. Damals hatte Chrzanów etwa fünfundzwanzigtausend Einwohner. Vierzig Prozent davon Juden und der Rest Katholiken. Kraków, Polens zweitgrößte Stadt, lag vierzig Kilometer östlich. Die Familie meiner Mutter besaß am Rand des Marktplatzes ein Geschäft für alle Arten landwirtschaftlicher Produkte. Meine Mutter, Hannah Scheinmann, arbeitete mehrere Tage in der Woche dort. Mein Vater, Jacob Scheinmann, ebenso. Während unsere Eltern bei der Arbeit waren, kümmerte sich Magda nicht nur um das Haus, sondern auch um Miłosz und mich. An dem Tag, an dem ich Karolina begegnete, regnete es. Magda war ihre Mutter besuchen gefahren. Mein Vater hätte Miłosz eigentlich abholen sollen, aber er wurde im Geschäft aufgehalten. Er bat die Schulleiterin, jemand anderen zu finden, der Miłosz nach Hause brächte. Und das war Karolina.
Unser Haus befand sich drei Straßen vom Marktplatz entfernt – ein zweistöckiges Steinhaus mit Giebeldach und einem kleinen Dachboden. Jener Dachboden, der bald darauf das Zentrum meiner Existenz werden sollte. Als Karolina Miłosz heimbrachte, blieb sie noch bei uns. Wie es junge Mädchen so tun, schnatterten wir den ganzen Nachmittag. Bald schon kam meine Mutter nach Hause und bestand darauf, dass Karolina zum Abendessen blieb. Damals war ich zwölf Jahre alt. Ich war Karolina schon in der Schule begegnet, aber sie war eine Klasse über mir und sehr beliebt. Schon damals, als junges Mädchen, war sie ausgesprochen hübsch, und mit jedem Jahr wurde sie schöner. Sie hatte dunkles, lockiges Haar und große, ausdrucksstarke Augen. War so kokett, klug und selbstsicher, dass ihr die Jungs zu Füßen lagen. Ich wusste es damals nicht, aber ihre Selbstsicherheit war nur ein Trugbild, eine Maske, die sie wie eine Schutzschicht trug. Denn eigentlich war sie sehr unsicher. Ihr Vater, Mariusz Neuman, war ein in sich gekehrter, ernster Mann, der wenig Verständnis für Karolinas Heiterkeit hatte. Sein Geschäft lief schlecht. Also begann Karolina mehr Zeit in unserem Haus zu verbringen. Wir alle liebten sie sehr, und sie liebte uns, aber ich glaube, Miłosz liebte sie am meisten. Unermüdlich lauschte sie seinem Geigenspiel, selbst wenn er nur Tonleitern übte.«
Lena zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war es auch nur die Kreplachsuppe meiner Mutter, die sie so mochte. Jedenfalls wohnte Karolina praktisch bei uns.«
»War Karolina ebenfalls Jüdin?« Lena nickte. »Karolina und ich besuchten beide die staatliche Schule in Chrzanów. Sie nahm mich unter ihre Fittiche und führte mich in die Kreise der beliebten Schüler ein. Es war so unkompliziert mit Karolina. Aber 1938 war diese Zeit vorbei, denn meine Eltern schickten mich aufs Gymnasium von Kraków. Wegen meiner guten Noten und wohl auch weil wir eine wohlhabende Familie waren.«
»Aufs Gymnasium?«, sagte Liam.
Lena lächelte. »Es war eine sehr prestigeträchtige jüdische Schule. Dort wurden Kurse auf Polnisch gehalten, während das Judentum in hebräischer Sprache gelehrt wurde.
Ich wollte in Chrzanów bleiben, wo all meine Freunde waren, und weiter mit Karolina zur Schule gehen. Mein Protest war jedoch aussichtslos.
Wie Sie sicherlich wissen, lebten vor dem Krieg drei Millionen Juden in Polen, mehr als in jedem anderen europäischen Land. Jeder zehnte Pole war Jude, und meine Eltern waren strenggläubig – sie nahmen ihre Religion ernst. Jedenfalls pendelte ich täglich mit dem Zug zwischen Kraków und Chrzanów. Doch dank der Deutschen endete das nach nur einem Jahr.«
»Wieso?«
Lena zuckte die Achseln. »Der Krieg.«
»Also war das Leben in Chrzanów bis zum Krieg recht beschaulich?«
Lena neigte den Kopf hin und her. »Für meine Familie, ja. Aber nicht für alle. Das Geschäft meiner Eltern lief sehr gut, sie hatten Kunden aus allen benachbarten schlesischen Städten. Und mein Vater war ein echter Kriegsheld. Er war Hauptmann – drei Sterne – in der Armee des Österreichisch-Ungarischen Reiches gewesen und hatte im Ersten Weltkrieg an der Seite der Deutschen gekämpft.«
»Als jüdischer Hauptmann an der Seite der Deutschen. Wie ungewöhnlich«, meinte Liam.
»Nein, das war es durchaus nicht. Im Ersten Weltkrieg wurden keine religiösen Unterschiede gemacht. Auf deutscher Seite kämpften einhunderttausend Juden, oft in hohen Rängen, und zwölftausend davon ließen ihr Leben.
Nach dem Krieg genoss mein Vater durch seinen Rang einen gewissen Status, alle nannten ihn ›Herr Hauptmann‹. Ich würde nicht sagen, dass wir reich waren, aber wir hatten es gut. Dennoch litt Polen in den Dreißiger Jahren unter der Depression, und Chrzanóws Wirtschaft stagnierte. Unser Geschäft versorgte weiterhin die Bauern mit dem Nötigsten, oftmals auf Kredit, der, wie wir wussten, niemals getilgt werden würde. Karolinas Familie litt viel stärker unter der Krise. Ihr Vater war Schneider. Anfang der Dreißiger lief sein Geschäft noch gut, wahrscheinlich weil es billiger war, Kleidung reparieren zu lassen, als neue zu kaufen. Karolina musste ihm an Sonntagen und nach der Schule oft aushelfen. Sie wurde eine sehr gute Näherin. Doch die Lage besserte sich nicht, und irgendwann hatten die Leute nicht einmal mehr Geld für Reparaturen und gingen nicht mehr zum Schneider. Karolinas Vater musste seinen Laden schließen. Er zog nach Warschau, wo sein Bruder eine Fleischerei betrieb, und kam nur einmal im Monat zu seiner Karolina und ihrer Mutter. Als der Vater wegging, begann ihre Mutter zu trinken. Wenn ich Karolina besuchte, war ihre Mutter immer betrunken, lallte und torkelte. Karolina war das peinlich, also besuchte ich sie selten.
Sie hatte einen Hund, einen weißen Pudel mit rosafarbenen Pfoten, den sie von ganzem Herzen liebte. Eines Tages, sie war damals in der achten Klasse, waren wir zusammen von der Schule nach Hause gegangen und an einem Hof vorbeigekommen, wo ein Junge Welpen verschenkte. ›Meine Mama wird mich nicht alle behalten lassen‹, sagte er und deutete dabei auf eine Kiste mit neun kleinen weißen Hunden. ›Wenn ihr einen wollt, könnt ihr ihn haben.‹ Karolinas Vater wollte zuerst nichts davon hören, aber als er ihre Enttäuschung sah, lenkte er ein, unter der Voraussetzung, dass sie sich darum kümmerte und das Geld für das Hundefutter abarbeitete.
Weil es ein französischer Pudel war, nannte sie ihn Madeleine. Da ihr Vater und ihre Mutter im Grunde nie da waren, war Madeleine Karolinas Halt. Die kleine Hündin begleitete sie auf ihren fast täglichen Besuchen bei uns. Anfangs waren meine Eltern wenig davon begeistert, aber Miłosz war ganz vernarrt in den Hund und Madeleine in Miłosz. Er spielte mit ihr auf dem Fußboden und kicherte dabei so herzhaft, dass wir alle mitlachen mussten. Miłosz brachte ihr sogar Kunststücke bei. So wurde Madeleine zu einem weiteren Mitglied unserer Familie.
Mein Vater hatte drei Brüder. Einer lebte in Warschau, einer in Kraków und einer in Berlin. Mein Vater reiste oft nach Berlin, geschäftlich oder um Zeit mit seinem Bruder zu verbringen. Zweimal hat er mich mitgenommen. Ich erinnere mich kaum an die Stadt, nur dass mein Onkel Samuel ein sehr großes Haus mit einem wundervollen Garten besaß.
Als mein Vater 1933 aus Berlin zurückkehrte, erzählte er uns, dass die Nazis Bücher auf Scheiterhaufen verbrannten. Ich war erst acht und fragte ihn: ›Warum sollten sie Bücher verbrennen? Wenn sie ihnen nicht gefielen, müssen sie sie nicht lesen.‹ Er antwortete, dass dies ein guter Einwand war.
In den Jahren danach reiste er immer seltener nach Berlin, nur noch, wenn es fürs Geschäft unerlässlich war. Im Dezember 1935 erzählte er uns, dass Onkel Samuel nach Amerika auswandern würde. Die Nürnberger Gesetze hatten den Juden viele Rechte entzogen, und mein Onkel war bis dahin ein respektierter Kinderarzt und Professor an der medizinischen Fakultät gewesen. Nun war es ihm untersagt, nicht-jüdische Kinder zu behandeln und an der Uni zu unterrichten. Klugerweise beschloss er, dass es Zeit war auszuwandern, und er ging nach New York.
1938 reiste mein Vater schließlich zum letzten Mal nach Berlin. Das war zwei Wochen vor der Reichskristallnacht. In dieser Zeit wurden in Chrzanóws ehemals toleranter Gesellschaft erste Brüche deutlich. Nazi-Propaganda war nun auch in Polen zu hören, der Antisemitismus machte sich im ganzen Land breit. Ich erinnere mich, wie Leute im Zug zum Gymnasium auf uns deuteten und ihre Nasen rümpften.
Da Chrzanów unweit der Grenzen zu Deutschland und der Tschechoslowakei lag, kamen die jüdischen Auswanderer aus Schlesien und Teilen Deutschlands auf ihrem Weg nach Osten durch unsere Stadt, ihr Hab und Gut auf Karren und Wagen geladen. Von jenen Geflohenen erfuhren wir von der Verfolgung durch die Deutschen.
Als sich die Rhetorik aus Deutschland verschärfte, wurden polnische Truppen in der Nähe unserer Stadt stationiert. Genau gesagt wurden sie in den Ziegelbaubaracken an der Furt von Oświęcim, zwanzig Kilometer entfernt, untergebracht. Ich muss Ihnen nicht erst sagen, dass genau in diesen Baracken später unter dem Namen Auschwitz Tausende polnische Juden gefangen gehalten wurden. Mein Vater war kein Dummkopf. Er ahnte, was kommen würde. Es war an der Zeit zu verschwinden.
Ich erinnere mich noch genau an die Dezembernacht 1938, als mein Vater die Familie am Esszimmertisch zusammenrief und sagte: ›Hannah, die Nazis kommen, so viel ist sicher. Niemand wird sie aufhalten können. Und sie haben ihre Absichten für unser Volk klar und deutlich gemacht. Sie wollen uns aus Europa raushaben, Hannah. Uns alle. Männer wie ich, verdiente jüdische Offiziere, die ihrem Land ehrenhaft gedient haben, wurden ihrer Ränge und gar ihrer Staatsbürgerschaft beraubt. Wir müssen den Fakten ins Gesicht sehen. Wir können nicht länger in Chrzanów bleiben. Ich werde die entsprechenden Vorkehrungen treffen.‹«
»Hat Ihre Mutter Einwände erhoben?« Lena lächelte.
»Sie hat vorsichtig protestiert. Das waren andere Zeiten. Er war das Familienoberhaupt. Wenn Vater etwas entschied, dann gehorchte die Familie. Die Familie meiner Mutter hatte über Generationen in der Gegend gelebt. Sie waren es, die das Geschäft Jahre zuvor eröffnet hatten. Fortzugehen war ein harter Schritt für sie. Wie sollte sie jemals woanders leben können? ›Wo gehen wir hin?‹, fragte sie. ›Nach Amerika, wie Samuel? Er ist in Chicago gelandet. Dort gibt es Gangster, Jacob. Al Capone. Das ist viel zu gefährlich.‹ Vater kicherte. ›Al Capone ist im Gefängnis. Ich möchte, dass wir nach Paris ziehen. Ich kenne dort einige wichtige Leute in der jüdischen Gemeinde, die sehr groß ist. Und es gibt da einen Laden, den ich kaufen könnte, ich bin schon in Kontakt mit dem Besitzer. Wir können unser Haus und das Geschäft hier verkaufen und mit dem Geld nach Frankreich gehen.‹ Ich war natürlich am Boden zerstört. Ich war fünfzehn Jahre alt, und wie für meine Mutter war Polen für mich alles, was ich kannte. Ich wollte nicht in Paris leben. Oder in Chicago. Ich sprach kein Wort Französisch oder Englisch. Deutsch war meine zweite Sprache. Es wurde in allen Schulen unterrichtet. Und vor allem wollte ich Karolina und meine anderen Freunde nicht zurücklassen. Karolina und ich waren inzwischen die besten Freunde. Unzertrennlich. In Paris hätte ich niemanden.
Eines Nachmittags bat mein Vater mich zu einem Gespräch bei einem Glas Wasser. Nur wir beide. ›Ich weiß, dass es schwer für dich sein wird, Lena. Und für Miłosz wird es noch schwerer. Aber ich muss tun, was das Beste für uns ist, und in Chrzanów zu bleiben ist zu gefährlich. Ich habe für uns in Paris ein wundervolles Apartment gefunden, im zwölften Arrondissement, direkt im Süden des Jardin du Luxembourg. Ich verspreche dir, dass es dir dort gefallen wird. Irgendwann, wenn es in Chrzanów wieder besser wird, können wir heimkehren.‹
›Was ist mit Magda?‹, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. ›Ich fürchte, Magda müssen wir hierlassen. Tatsächlich kann ich sie mir jetzt schon kaum noch leisten, aber ich bringe es nicht über das Herz, sie zu entlassen.‹
›Was ist mit Karolina?‹
›Es tut mir leid, aber du wirst neue Freunde finden, und vielleicht kann uns Karolina eines Tages besuchen kommen.‹
Das war für mich völlig inakzeptabel, und ich rannte in mein Zimmer. Ein paar Minuten später kam er nach oben und setzte sich zu mir ans Bett. ›Es tut mir leid, dass du traurig bist, aber ich muss tun, was das Beste für uns alle ist. Versuch bitte, das zu verstehen.‹
›Kann Karolina nicht mit uns nach Paris kommen und bei uns wohnen?‹
›Ich bezweifle, dass ihre Eltern dem zustimmen würden.‹
›Ihnen ist es egal. Ihr Vater ist gemein zu ihr und lebt die meiste Zeit in Warschau. Ihre Mutter ist immer betrunken. Was, wenn sie ja sagen?‹
Zu meiner Überraschung nickte er. ›Wenn ihre Eltern es ihr erlauben, werde ich sie mit uns nehmen. Aber sag noch nichts zu ihr. Bevor wir Chrzanów verlassen können, muss ich erst den Laden und das Haus verkaufen. Das könnte eine Weile dauern. Du kannst es Karolina sagen, wenn ich ein Angebot habe und sicher bin, dass wir losziehen werden. Dann sehen wir, ob ihre Eltern sie mit uns gehen lassen.‹ Ich fiel ihm um den Hals. Was für ein großartiger Vater.
Im Februar 1939 erhielt mein Vater dann endlich den unterschriebenen Kaufvertrag von Warschauer Kaufleuten, und wir packten unsere Koffer.«
»Und Karolina?«
»Natürlich hatte ich ihr die Neuigkeiten sofort nach dem ersten Gespräch mit meinem Vater verraten, aber sie hatte ihre Eltern noch nicht gefragt. Sie fragte an diesem Abend ihre Mutter, die schockierenderweise zustimmte. Aber als ihr Vater am Wochenende heimkam, legte er sein Veto ein. ›Auf keinen Fall‹, sagte er. ›Alles Unsinn, diese Kriegshysterie. Das sind nur ein paar deutsche Aufschneider. Die Scheinmanns sind Polen. Die werden mit diesen steifen Parisern nicht sonderlich gut zurechtkommen, Karolina. Die sind bald wieder da. Und bis dahin werden auch hier wieder die Dinge besser stehen.‹
Karolina war am Boden zerstört. Wir waren am Boden zerstört. Meine Mutter nannte uns die beiden Ls – Lena und Lina. Ich würde meine beste Freundin verlieren. Karolina bettelte ihren Vater an. Alles um uns herum war dabei zusammenzubrechen. Viele Familien planten umzuziehen. Einige packten einfach zusammen und gingen nach Osten, in die Ukraine oder nach Rumänien. Andere gingen nach Süden, in die Slowakei. Fast täglich verabschiedete sich ein weiterer unserer Freunde. Aber Karolinas Vater blieb stur.
Natürlich suchten, und damit hatte er recht, nicht alle das Weite. Einige waren blauäugig und glaubten an die Verteidigungskraft der polnischen Armee oder an die Bündnisse mit Großbritannien und Frankreich. Andere hatten ohnehin kein Geld und keine Möglichkeit zu fliehen. Und Karolinas Vater hatte eben beschlossen, dass seine Familie in Chrzanów bleiben würde. Er würde in Warschau genug Geld sparen, um später zurückzukommen und seine Schneiderei wiederzueröffnen.
Ich weinte, Miłosz weinte. Ich wusste nicht, wen er mehr vermissen würde: Karolina oder Madeleine. Karolina und ich schlossen jedoch einen geheimen Pakt. Sobald ich in Paris angekommen wäre, würde ich ihr Geld schicken, und dann würde sie davonlaufen, in einen Zug steigen und zu uns kommen. Miłosz belauschte uns dabei und drohte, es unseren Eltern zu sagen, wenn sie nicht versprach, Madeleine mitzubringen. Aber ich glaube nicht, dass dies nötig gewesen wäre. Sie ging nirgendwo ohne ihren Hund hin.«
»Aber Ihre Familie sollte niemals nach Paris ziehen, oder?«
Lena schüttelte langsam den Kopf. »Leider nein. Die Kaufleute aus Warschau konnten das Geld nicht aufbringen. Wegen der wirtschaftlichen Lage und der Bedrohung aus Deutschland verweigerte die Bank den Kredit. Sie baten uns, ihnen mehr Zeit für die Beschaffung des Geldes einzuräumen, und flehten meinen Vater an, nicht an jemand anderen zu verkaufen. Aber es gab keine anderen. Es war der Juni 1939. Ohne den Verkauf konnte mein Vater nicht umziehen. So warteten wir. Und hofften.
Am 1.September 1939 marschierte Deutschland in Polen ein. Im Radio hörten wir Berichte von deutschen Bombenangriffen, und wir wussten, dass unsere Pläne vom Tisch waren. Im Nachhinein hätte es vermutlich keinen Unterschied gemacht, wenn wir nach Paris gegangen wären. Hitler nahm Frankreich im darauffolgenden Mai ein, und Paris fiel am vierzehnten Juni. Unser Schicksal wäre in Paris kaum ein anderes gewesen. Wie dem auch sei, drei Tage später, am vierten September, rollten deutsche Panzer in Chrzanów ein, und Soldaten besetzten unsere Stadt ohne Widerstand.
Die Nazis setzten sich fest wie tiefer Winterschnee, und genauso kalt. Ihre Zahl schien jeden Tag zu wachsen. SS und Gestapo kamen erst ein Jahr später dazu, aber die deutsche Armee war schlimm genug. Ihre erste Amtshandlung war es, Gefangene zu nehmen. Ausschließlich Männer. Sie verhafteten Juden und Nicht-Juden gleichermaßen.
Am späten Nachmittag kamen Soldaten in den Laden und zogen meinen Vater hinter der Theke hervor. Je bekannter man in der Stadt war, desto wahrscheinlicher wurde man verhaftet. Gehorchte man nicht, erschossen sie einen. Ein älterer Mann namens Chaim, der schwerhörig war, kam dem Befehl, stehen zu bleiben, nicht sofort nach und wurde mitten auf der Straße erschossen. Die Deutschen sperrten die jüdischen Männer in die Synagoge und die katholischen in die Kirche. Da es zu viele waren, wurde der Rest im Gebäude der Stadtverwaltung eingeschlossen. Sie schlugen und verhörten die Leute, hielten sie einfach alle gefangen. Am nächsten Tag verkündeten sie ihre neuen Regeln und ließen die Gefangenen wieder frei. Die Botschaft war deutlich: Wir haben das Sagen, und wir tun, was immer wir wollen. Leiste keinen Widerstand. Befolge die Regeln. Dann wirst du überleben.
Die Nazis schlugen ihre Kommandozentrale im Rathaus auf und verlangten einen Zensus. Sie notierten sich die Namen aller Familien der Stadt, jedes Familienmitglieds, und wo sie wohnten. Damals fragte keiner, ob du Jude, Kommunist oder Zigeuner warst. Das kam erst später. Ihr unmittelbares Ziel bestand darin, eine Sache klarzustellen – sie waren überlegen, wir unterlegen, und sie hatten eine Lizenz für Grausamkeit. Sie konnten und würden ohne Einschränkung handeln – legaler, moralischer oder anderer Art.
Die Deutschen verteilten Listen ihrer neuen Gesetze über die ganze Stadt. Alle Geschäfte mussten jeden Tag geöffnet bleiben, auch am Schabbat. Niemand durfte die Stadt ohne Genehmigung verlassen, aber Genehmigungen wurden keine erteilt. Es wurde eine Ausgangssperre ab Sonnenuntergang verhängt. Jeder, der danach noch draußen war, konnte standrechtlich exekutiert werden. Sämtliche Radios waren abzuliefern. Jeder, bei dem ein Radio gefunden wurde, würde hingerichtet. Unseres war ein großes Pultradio. Wir schleppten es auf die Straße hinaus, und sie kamen und zertrümmerten es mit einem Vorschlaghammer. Wir räumten hinterher die Trümmer weg. Am vierzehnten September, dem jüdischen Neujahrstag Rosch ha-Schana, umstellten Uniformierte die Synagogen und erzwangen ihre Schließung.
Lebensmittelkarten wurde an Juden und Nicht-Juden gleichermaßen verteilt. Was natürlich nicht hieß, dass es Lebensmittel zu kaufen gab. Von dem Augenblick, als die Deutschen in die Stadt einrollten, herrschte Lebensmittelmangel – sie nahmen alles an sich. Räumten die Regale in den Märkten und Bäckereien leer. Beschlagnahmten den Großteil der Erzeugnisse der umliegenden Bauernhöfe. Schon früh am Tag bildeten sich die Schlangen vor der Fleischerei, der Bäckerei und dem Lebensmittelgeschäft. Durch langes Warten vor dem Fleischer konnte man mit Glück ein paar Gramm Rindfleisch erbeuten, oder auch gar nichts.
Polnische Schilder an öffentlichen Gebäuden wurden abgehängt und durch deutsche Schilder ersetzt, polnische zu deutschen Straßennamen umgewandelt, nach deutschen Helden oder mit deutscher Schreibweise benannt. 1941 änderten sie den Namen unserer Stadt von Chrzanów zu Krenau.
Das waren die geschriebenen Gesetze. Die ungeschriebenen wurden mit der Erfahrung deutlich gemacht. Runter vom Gehsteig, wenn dir ein Deutscher entgegenkommt. Du gehst ihm besser aus dem Weg, auch wenn du dabei in eine Pfütze treten musst. Wer öffentlich mit einer Kippa herumläuft, wird sie von einem Nazi garantiert weggenommen bekommen und gezwungen, damit seine Marschstiefel zu polieren. Wir Mädchen achten darauf, nur in Gruppen rauszugehen, wenn überhaupt. Selbst im Sommer verdecken wir unsere Haut.
Überall in der Stadt wehten rot-schwarze Nazi-Flaggen. An allen öffentlichen Gebäuden. Überall sah man Hakenkreuze. Und mit ihnen die Deutschen. An jeder Straßenecke. Ich weiß, dass Ben Ihnen schon von all dem Schrecken während der Besetzung erzählt hat.«
Catherine nickte. »Ja, ich fürchte, das hat er.«
»Innerhalb weniger Monate annektierte Deutschland Chrzanów und die polnischen Städte westlich von uns – Chełmek, Trzebinia, Libiąż. Wir gehörten nun zu Deutschland und waren nicht länger Teil der Republik Polen, aber natürlich waren wir damit keine deutschen Staatsbürger. Wir waren Juden, und Juden konnten keine Staatsbürgerschaft erhalten. Krenau war nun eine deutsche Stadt. Die Polen der Stadt, die irgendwelche deutschen Verbindungen oder Abstammungen nachweisen konnten, die Volksdeutschen, durften eingedeutscht und somit privilegiert werden.
Leider muss ich sagen, dass viele dieser Volksdeutschen davon profitierten. Sie rissen den deutschen Soldaten ihre Arme enthusiastisch zum Sieg Heil! entgegen und verrieten der Gestapo viele Juden. Eifrig meldeten sie jeden Regelbruch. Ich erinnere mich, wie Frau Czeskowicz, eine unscheinbare, rückgratlose, eingedeutschte Witwe, in Höchstgeschwindigkeit zu einem deutschen Soldaten rannte, um den kleinen Tomas Resky für das Betreten des Parks zu melden.«
Catherine runzelte verwirrt die Stirn.
»Er war ein jüdischer Junge, und Juden war die Benutzung öffentlicher Parks verboten. Frau Czeskowicz sah ihn, wie er auf dem Heimweg durch den Park abkürzte, und zeigte ihn an. Er war erst zwölf, aber das hielt die Nazis nicht davon ab, ihm eine Tracht Prügel zu verpassen. Und Frau Czeskowicz schaute dabei zu.
Unsere Währung, der polnische Złoty, wurde offiziell abgeschafft und konnte nicht länger als Zahlungsmittel in den Geschäften benutzt werden. Die Reichsmark wurde die neue Währung. Wir durften Złoty gegen Reichsmark wechseln – zwei Złoty brachten eine Mark, allerdings war es gefährlich zu wechseln, denn dann wussten die Deutschen, dass man Geld hatte, und das holten sie sich.
Meine Freunde und ich sahen die Besetzung damals mit den Augen von Jugendlichen – uns interessierte vor allem der Einfluss auf unser Leben, wie stark unser Alltag und unser Schulleben gestört würden. Wie ich bereits sagte, war die Veränderung in meiner Ausbildung das Erste, was mich betraf – das Gymnasium wurde geschlossen. Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte, wenn es geöffnet geblieben wäre – es kam nicht in Frage, den Zug nach Kraków zu nehmen. Zugreisen waren ohne Reisepass untersagt.
Mein Vater schickte mich dann an die öffentliche Schule in Chrzanów. Um ehrlich zu sein, schien es zu der Zeit gar nicht so schlimm. Ich wurde mit Karolina und den meisten meiner anderen Freunde wiedervereinigt, doch leider nur bis zum 30.Oktober 1939. An diesem Tag wurden alle Sekundarschulen Polens geschlossen. Unsere Schule wurde von den Deutschen zum Waffenlager umfunktioniert. Alle Landkarten, Einrichtungsgegenstände, Bücher – die gesamte Bibliothek mit über sechstausend Exemplaren – wurden von den Deutschen zerstört.
Die Hauptschulen blieben geöffnet, aber nach der Durchführung der Volkszählung wurde allen Juden die Teilnahme am Unterricht untersagt. Die Juden Chrzanóws wurden identifiziert und bekamen Armbinden mit Sternen, die am linken Arm zu tragen waren. Woher wussten sie, wer Jude war? Weil es, wie ich schon erwähnte, einige Polen gab, die, um die Gunst der Deutschen buhlend, mit ihnen durch die Stadt zogen und mit der Hand deutend schrien: ›Jude!‹
Die Deutschen griffen rigoros in das polnische Bildungssystem ein.
Ich erinnere mich noch an den Wintermorgen, als sie die Schule für die jüdischen Kinder schlossen. Ich hatte Miłosz zur Schule gebracht, und als wir ankamen, sahen wir deutsche Soldaten Schulter an Schulter vor dem Schultor stehen, ihre Gewehre auf die Schüler gerichtet. Sie hatten Listen der Schüler. Einer der Soldaten mit einem Klemmbrett wandte sich an uns. ›Wie lautet sein Name?‹
›Miłosz Scheinmann‹, antwortete ich. Er blickte auf seine Liste und hakte den Namen ab.
›Bring ihn nach Hause. Er ist Jude. Er wurde von der Schule ausgeschlossen. Bring ihn nicht noch mal hierher, oder eure Eltern werden verhaftet.‹
Als Reaktion auf die Schulschließungen organisierte unsere jüdische Gemeinde Unterrichtsstunden in der Synagoge, aber auch das war nicht von Dauer. Die Peinigungen der Schüler auf dem Weg zur und von der Schule waren so gravierend, dass der Unterricht aufgegeben werden musste. So wurden Karolina und ich mit den Büchern, die mein Vater auftrieb, zu Hause unterrichtet. Meine Mama war eine strenge Lehrerin. Sie sorgte für die Einhaltung regelmäßiger Stundenpläne und dafür, dass wir unsere Hausaufgaben machten. Und sie pochte auf die Einhaltung der Ausgangssperre, die einzuhalten mir am schwersten fiel, weil sie mich von meinen Freunden fernhielt. Sie bestand darauf. ›Die Deutschen warten nur darauf, junge Mädchen festzunehmen und zu misshandeln. Haltet euch von der Straße fern, wenn es nicht absolut notwendig ist, und nach der Ausgangssperre sowieso.‹ Aber wir waren jung, und wann haben junge Mädchen je auf ihre Eltern gehört? Als die Tage kürzer wurden, gestaltete es sich für uns immer schwieriger und gelang es uns seltener, uns zu treffen. Die Ausgangssperre begann bereits um halb fünf. Eines Abends schlich ich mich durch die Hintertür davon und ging mit Karolina zu Fredas Haus. Dort trafen wir all unsere Freunde in ihrem Keller bei einem wilden Fest. Als ich nach Hause kam, war meine Mutter außer sich.
›Wo bist du gewesen? Bist du verrückt? Weißt du, dass Leute für die Verletzung der Ausgangssperre erschossen werden?‹
Trotzig zuckte ich nur mit den Schultern und grinste, was sie vollends aus der Haut fahren ließ. Sie holte aus und schlug mir mit voller Kraft ins Gesicht. Das einzige Mal in meinem Leben. Und sie verpasste mir einen Monat Hausarrest. Auch Karolina durfte nicht vorbeikommen.
Im Frühjahr 1940 kam ich eines Tages die Treppe herab und sah, wie sich mein Vater in unserem Wohnzimmer mit einigen Männern unterhielt. Sie redeten über ein riesiges Gefangenenlager, das südwestlich der Stadt errichtet wurde. Einer der Männer sagte, dass die Nazis Arbeitskräfte für den Ausbau der ehemaligen polnischen Kaserne in Oświęcim einzogen. Der Name war bereits zu Auschwitz geändert worden, der deutschen Aussprache von Oświęcim.
Später fragte ich meinen Vater danach. Er dachte einen Augenblick angestrengt nach und sagte dann: ›Du bist alt genug und wirst es sowieso bald erfahren. Komm mit mir.‹ Er führte mich in sein Arbeitszimmer und schloss die Tür.
›Lena, was ich dir jetzt sagen werde, muss zwischen dir und mir bleiben, du darfst mit niemandem darüber reden. Sind wir uns einig?‹
Ich nickte, aber sein Verhalten machte mir Angst. ›Die Männer, die mich besucht haben, kennst du sie?‹ Ich schüttelte den Kopf.
›Nur Herrn Osteen, den Mathelehrer.‹
›Gut‹, sagte er. ›Vergiss, dass sie hier waren. Erzähl niemandem, dass ich mich mit diesen Männern getroffen habe. Es mag weitere Treffen in unserem Haus geben, oder ich werde vielleicht ab und an das Haus verlassen müssen, und du darfst niemals irgendwem davon erzählen. Verstehst du? Habe ich dein Wort?‹ Ich nickte.
›Ich verspreche es.‹ Einerseits war ich verängstigt, andererseits auch stolz darauf, von meinem Vater ins Vertrauen gezogen worden zu sein. ›Ich hörte jemanden von der Arbeit an einem Gefangenenlager in Oświęcim reden‹, gestand ich flüsternd. Mein Vater fluchte in seinen Bart hinein.
›Lena, falls du es bis jetzt nicht gesehen hast, wirst du demnächst sehen, wie deutsche Soldaten Männer aus unserer Stadt aufgreifen, vermutlich als Arbeitskräfte. Sie bringen sie für einen Tag fort, manchmal mehrere Tage. Wir wissen, dass einige von ihnen nach Oświęcim geschickt werden, wo die Deutschen ein sehr großes Lager für Tausende Polen bauen.‹
›Werden Sie dich auch mitnehmen?‹
›Ich hoffe nicht, aber wer weiß? Mag sein. Die meisten kommen nachts wieder heim.‹
›Aber nicht alle?‹
›Nicht alle.‹
›Warum hast du mit den Männern darüber gesprochen?‹ Er lächelte und tätschelte mir den Kopf.
›Du weißt mehr, als gut für dich ist. Denk daran, kein Wort zu niemandem.‹«
»Ihr Vater wusste also von Anfang an über Auschwitz Bescheid?«, fragte Catherine.
»Nun, das Gefängnis in Auschwitz war nie ein Geheimnis. Die Leute arbeiteten in dem Lager und kamen nach Chrzanów zurück. Sie redeten über das, was sie getan hatten. Damals gab es in Auschwitz noch keine Gaskammern oder Krematorien. Es war ein Gefangenenlager mit Stacheldrahtzaun. Im Juni 1940 wurde das Lager eröffnet. Darin wurden polnische Kriegsgefangene untergebracht – Soldaten, Dissidenten und Intellektuelle –, die aus anderen Gefängnissen herbeitransportiert wurden. Sie wurden in Zellblöcken gehalten. Tatsächlich war Auschwitz von Anfang an ein Ort der Misshandlungen und standrechtlichen Hinrichtungen. Im darauffolgenden März wurde es ausgeweitet.
Ich wusste damals noch nicht, warum mein Vater und die anderen bei ihren Treffen über Auschwitz sprachen, obwohl ich meine Vermutungen hatte. Ich ahnte nur, dass mein Vater Teil einer Widerstandsgruppe war. Später im selben Jahr begannen die Deutschen damit, Häuser in der ganzen Stadt zu beschlagnahmen. Ohne nennenswerte Vorwarnung verkündeten sie, dass das Reich das Haus in Besitz nehme. Familien waren gezwungen, auszuziehen und woanders Unterschlupf zu finden. Das Haus wurde dann Wehrmachtsoffizieren, der SS, der Gestapo oder polnischen Kollaborateuren übergeben. Wir wussten, dass sie uns früher oder später auch enteignen würden. Unser Haus war eines der ansehnlicheren der Stadt und zentral gelegen.«
»Wo sollten die rausgeworfenen Leute denn hingehen?«, fragte Catherine. »Hatten die Deutschen alternative Unterkünfte in Chrzanów eingerichtet? Ein jüdisches Ghetto?«
»Was kümmerte das die Deutschen? Es gab ein Ghetto, aber das war ganz von selbst entstanden. Die enteigneten Juden von Chrzanów begannen, sich im nordöstlichen Teil zu sammeln. Die Gebäude waren alt, viele standen leer, und Zimmer gab es für wenig Geld. Oder umsonst. Hausbesetzungen wurden zur allgemein anerkannten Mietform. Somit wurde der Nordosten zum inoffiziellen Ghetto Chrzanóws. Später wurde es zum designierten, vorgeschriebenen Judenghetto. Doch aus unerfindlichen Gründen wurde uns unser Haus erst mehrere Monate später weggenommen.
Fast täglich sah ich Familien einen Karren oder Wagen die Wohnstraße in Richtung Ghetto schieben. Gefüllt mit so vielen Sachen, wie in und auf den Karren passten, gewöhnlich in Decken und Laken gebündelt und verschnürt. Kleidung, Schuhe, Bettzeug, Töpfe und Pfannen. Die Kinder liefen mit Koffern neben den Karren her. Sie nahmen alles, was sie tragen konnten, denn sie wussten, dass sie nicht nach Hause zurückkehren konnten. Manchmal stapelten sie ganz oben auf die Ladung noch Möbel, aber meistens verlangten die Deutschen von den Besitzern, solche Dinge im beschlagnahmten Haus zurückzulassen.
Anfang 1941 zogen die Deutschen die Schraubzwinge noch enger an. Sie erklärten die meisten Geschäfte für Juden verboten. Unser Laden wurde einem Deutschen übergeben, obwohl mein Vater ihn weiterhin für ein geringes Gehalt betrieb. Jüdische Rationskarten konnten nicht länger für den Erwerb von Kleidung benutzt werden.
Lebensmittel wurden knapp, nicht weil wir sie uns nicht leisten konnten – mein Vater hatte einiges an Geld und Schmuck zurückgelegt –, sondern weil es einfach nichts gab. Monatlich teilten die Nazis der Familie eine Lebensmittelkarte aus. Die Karte war in Segmente unterteilt. Jeder Coupon war datiert und mit den Dingen beschriftet, die man an diesem Datum kaufen durfte. Falls die Geschäfte diese Waren an diesen Tagen anboten. Sonst musste man bis zum nächsten Tag warten, wenn der nächste Coupon gültig war.
Unsere Lebensmittelkarten hatten in der Mitte einen Judenstern mit dem Schriftzug Für Juden.
Anfangs stellte sich Magda vor den Läden für unsere Rationen an, aber als es Christen nicht mehr gestattet war, für Juden zu arbeiten, musste uns Magda verlassen. Es brach uns das Herz und ihr auch.
Dann geschah etwas, das uns noch mehr schockierte. Ich war zu Hause, als Karolina hysterisch hereingestürmt kam. ›Madeleine‹, rief sie. ›Sie wollen mir meine Madeleine wegnehmen.‹ Meine Mutter nickte. Sie hatte schon davon gehört. Juden waren aufgefordert worden, ihre Haustiere abzugeben.
Karolina war untröstlich. Sie hielt Madeleine umklammert und küsste sie. ›Ich werde ihnen Madeleine nicht geben. Ich werde weglaufen. Sie werden meinen Hund nicht bekommen. Sie ist mein Baby.‹
Meine Mutter umarmte sie tröstend. Sie wusste, dass in Karolinas Welt, mit einer Säuferin als Mutter und einem abwesenden Vater, die Liebe zu ihrem Hund alles war, was sie hatte.
›Du kannst nicht weglaufen, es gibt keinen Ort, wo du hinkannst‹, sagte meine Mutter sanft. ›Lass mich mit dem Hauptmann reden. Vielleicht hat er eine Idee.‹
Karolina nickte und saß weinend mit dem Hund auf dem Schoß da, bis mein Vater nach Hause kam.
Er zog sich einen Stuhl heran, stützte die Ellbogen auf die Knie und hörte zu. Er wusste, wie wichtig Madeleine für Karolina war. Und für Miłosz. Er wusste auch, dass man manchmal kämpfen musste – und manchmal nicht. ›Lass mich mit einigen Bauern reden‹, sagte er. ›Sie nehmen Madeleine vielleicht eine Weile zu sich, bis die Deutschen verschwinden. Wäre das in Ordnung?‹ Karolina fiel meinem Vater um den Hals und dankte ihm innig.
Aber es gelang ihm nicht. Keine der Familien wollte es riskieren, einen Befehl der Nazis zu missachten, nur eines Hundes wegen. Traurig überbrachte er Karolina die Nachricht. Sie würde Madeleine aufgeben müssen. Er sagte, er würde sie am nächsten Tag zum Marktplatz begleiten. Doch sie blieb stur.
›Ich werde meinen Hund nicht den Nazis geben. Es ist mein Hund, und sie würde niemals irgendwem schaden. Warum wollen sie sie mir wegnehmen? Ich werde es nicht zulassen. Sie können sie nicht haben. Ich werde diesem Befehl nicht Folge leisten. Sie können mich umbringen, wenn sie wollen, und wir werden gemeinsam sterben.‹
Mein Vater schüttelte den Kopf. ›Das kann ich nicht zulassen.‹
›Aber sie werden Madeleine töten. Grundlos.‹
›Ja, ich fürchte, das werden sie‹, antwortete er sanft. ›Wir mussten schon vieles aufgeben, an dem unser Herz hing. Aber das waren Gegenstände. Denk daran – unsere Leben sind wertvoller als alle Besitztümer. Wir müssen unser Leben und das unserer Familie beschützen. Mögen sie unsere Besitztümer haben, aber unser Leben bekommen sie nicht. Ein Radio, einen Pelzmantel, sogar ein geliebtes Haustier können wir entbehren, solange unsere Familie beschützt wird. Und du, Karolina, gehörst zu unserer Familie.‹
›Ich werde es nicht zulassen. Ich werde sie aufs Land bringen, an den Rand der Stadt, egal wo, und sie freilassen.‹ Einmal mehr schüttelte mein Vater den Kopf. ›Auf sich allein gestellt wird sie nicht überleben. Es wäre gnädiger, sie den Deutschen zu geben.‹ Karolina stampfte mit den Füßen.
›Das weißt du nicht. Sie könnte es schaffen. Vielleicht findet sie jemand, der sie aufnimmt. Oder sie findet was zum Fressen. Ich möchte sie lieber sich selbst überlassen als den Nazis zum Töten.‹
Zu meiner Überraschung sagte mein Vater: ›Du hast recht. Jemand könnte sie finden. Aber es muss jemand anderes sein als du, der sie wegbringt. Sie würde dir einfach nach Hause folgen. Ich werde es tun.‹ ›Wirklich? Du lügst mich auch nicht an?‹
Mein Vater umarmte sie und sagte: ›Karolina, ich würde dich niemals anlügen. Ich werde Madeleine zum Stadtrand bringen, so weit aufs Land, wie ich kann, und wir werden sie Gott überlassen.‹ Und so wurde es gemacht. Am Abend legte mein Vater Madeleine die Leine an, und Karolina verabschiedete sich von ihr.
›Du findest eine neue Familie‹, sagte sie auf dem Boden kniend und umarmte Madeleine, die ihr Gesicht ableckte. ›Du bist stark, Madeleine, du wirst es schaffen. Wenn die Deutschen verschwunden sind, werde ich dich finden, wo immer du bist. Ich werde kommen und dich finden, das verspreche ich.‹ Daraufhin verließ mein Vater das Haus und kehrte für einige Stunden nicht zurück.
Karolina heulte aus tiefstem Herzen. Meine Mutter hielt sie fest in ihren Armen. Wir alle weinten. Einem Kind das Haustier wegzunehmen, war nichts anderes als grausam. Wenig ahnten wir von der Grausamkeit, die noch kommen sollte. Täglich gab es neue Gesetze und Vorschriften. Doch wir überlebten. Passten uns an. Wir würden bis zum Ende durchhalten. Wir klammerten uns an die Überzeugung, dass die Deutschen bald vom Rest der Welt überwältigt würden. Doch all das änderte sich für uns 1941.
Die gesamte Zeit der bisherigen Besatzung war mein Vater nach außen hin fügsam ergeben gewesen, während er sich im Geheimen mit seiner Widerstandsgruppe traf. Ein Dissident zu sein war gefährlich. Jedwede Anstiftung zu Ungehorsam stand unter Todesstrafe, und Informanten wurden belohnt. Aber glauben Sie bloß nicht, alle Juden seien lammfromm ergeben gewesen. Es gab sogenannte Zellen – Geheimtreffen in Kellern, bei denen Pläne zur Bekämpfung der Deutschen geschmiedet wurden. Mein Vater war ein angesehener Armeeoffizier, und seine Meinung hatte Gewicht.
In Chrzanów war das Netz der Verschwörungen jedoch zu grobmaschig. Die wachsamen Spionageeinheiten und eingeschüchterten Kollaborateure der Deutschen deckten letztlich eine Widerstandsgruppe nach der anderen auf. Oftmals wurden sie zum Marktplatz geführt und öffentlich an hölzernen Galgen gehängt. Andere wurden an unbekannte Orte verschleppt. Mein Vater hatte Freunde in der Stadt, Juden wie Nicht-Juden. Und somit erhielt er, als die Reihe an ihm war, eine Warnung – die Nazis seien auf dem Weg, ihn abzuholen.
Es war am frühen Nachmittag des 12.März 1941 – das genaue Datum hat sich dauerhaft in mein Gedächtnis gebrannt. Mein Vater kam ins Haus geeilt, zog mich zur Seite und sagte: ›Ich habe erfahren, dass die Deutschen heute noch hier auftauchen werden. Um mich zu befragen. Vielleicht bringen sie mich ins Hauptquartier und lassen mich dann frei. Im schlimmsten Fall lassen sie mich nicht nach Hause. Ich könnte ins Gefängnis gesteckt werden. Darauf solltest du vorbereitet sein.‹
›Warum?‹, fragte ich. Plötzlich zitterte ich, meine Lippen bebten, Tränen stiegen mir in die Augen. ›Warum sollten sie dich verhaften?‹
›Ein Gerücht? Ein Verräter in unseren Reihen? Ich glaube nicht, dass sie irgendwelche Beweise gegen mich haben, aber das hat die Nazis noch nie aufgehalten. Ich glaube nicht, dass der Rest unserer Familie Probleme bekommt, aber vielleicht doch. Vielleicht wollen sie uns alle zur Befragung mitnehmen. Denk einfach daran, du weißt von nichts und hast niemanden gesehen.‹
›Papa!‹, jammerte ich.
›Lena, vielleicht kommen sie auch nur, um uns zu sagen, dass wir aus dem Haus ausziehen müssen. Das sagen sie Familien in ganz Chrzanów. Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Darum sind alle die ganze Zeit verängstigt – weil sie unberechenbar sind.‹ Dann legte er mir die Hände auf die Schultern. ›Kann sein, dass sie unsere Familie einfach nur umsiedeln wollen. Aber ich kann es nicht sicher sagen. Es könnte schlimmer sein.‹ Er reichte mir einen Umschlag voller Geld. ›Du bist jung, kräftig und gesund. Wenn sie kommen, möchte ich nicht, dass du bei uns bist. Geh nach oben auf den Dachboden und verriegele die Falltür. Benutze nicht die Leiter. Sei still. Wenn sie hier sind, um die Familie abzuführen, bleibst du da oben. Selbst wenn sie rufen. Komm nicht runter, bis du sicher bist, dass sie weg sind. Vielleicht erst spät in der Nacht. Vielleicht auch erst morgen früh. Sie wissen, wer alles zur Familie gehört, und werden dich wahrscheinlich suchen. Wenn die Luft rein ist, geh auf direktem Weg zum Hof der Tarnowskis, über die ulica Śląska, westlich der Stadt. Etwa zehn Kilometer. Ich habe mit den Tarnowskis Vereinbarungen getroffen. Sie werden dich aufnehmen und verstecken.‹«
»Ihr Vater dachte also, die ganze Familie könnte verhaftet und ins Lager geschickt werden?«, sagte Catherine.
»Oder Schlimmeres. Auch unabhängig von den Aktivitäten meines Vaters konnte ich damals jederzeit im Arbeitslager landen. Denn die Nazis hatten begonnen, junge Männer und Frauen zur Zwangsarbeit zu verpflichten. Ganze Industriezweige wurden mit jüdischen Arbeitssklaven betrieben. Mit siebzehn war ich dafür alt genug.
Wenige Wochen zuvor waren die Nazis durch die Stadt gefahren und hatten durch ihre Megafone geschrien: ›Alle Juden auf den Marktplatz. Schnell.‹ Tausende von uns, Männer, Frauen und Kinder, versammelten sich im Regen auf dem Marktplatz. In der Mitte waren vier Holzgalgen errichtet worden. Vier jüdische Männer standen auf Stühlen, die Kippa auf dem Kopf, Stricke um ihren Hals, die Hände hinter dem Rücken verbunden, auf den Tod wartend. Sie sangen leise die Shema. Zwei Stunden standen sie so. Dann schritt ein SS-Kommandeur in die Mitte und hob das Megafon.
›Diese Männer wurden verurteilt, weil sie willentlich gegen das Gesetz verstoßen haben.‹ Er deutete mit dem Finger auf sie. ›Dieser hier gab einer Polin Geld, damit sie für ihn Obst kauft, eine Verletzung der Rationierungsgesetze. Dieser hier wurde erwischt, wie er versteckt heimlich Radio hörte. Verboten! Dieser hier wurde dafür verurteilt, einen Aufstand gegen das Reich zu planen. Und dieser hier weigerte sich, zur Arbeit zu erscheinen.‹ Dann wandte er sich zur Menge um. ›Glaubt nicht, unsere Gesetze seien lediglich Vorschläge. Sie sind verbindlich! Ihnen muss Folge geleistet werden. Wir haben euch gewarnt, dass Verstöße hart bestraft würden. Jetzt werdet ihr sehen, was geschieht, wenn ihr das Gesetz brecht.‹ Er hob den Arm und ging zur Seite. Dann wurden nacheinander die Stühle unter den Gefangenen weggetreten.«
»Und Sie haben das mit angesehen?«, fragte Liam.
Lena nickte. »Das habe ich. Und gehört.«
»Wie schrecklich«, sagte Catherine und legte die Hand vor den Mund.
»Sieben weitere wurden 1942 auf dieselbe Weise gehängt. Obwohl ich es nicht gesehen habe, wurde für die sieben Märtyrer inzwischen ein Denkmal in Chrzanów errichtet.
Als mich mein Vater aufforderte, mich auf dem Dachboden zu verstecken und zu den Tarnowskis zu gehen, protestierte und weinte ich. Ich wollte nicht von meiner Familie getrennt werden. Die Tarnowskis kannte ich nicht. Ich hatte sie zwar schon in der Stadt gesehen, aber nur ein einziges Mal. Herr Tarnowski war ein grober alter Mann. Er machte mir Angst. Sie waren keine Juden, hatten auch keine kleinen Kinder. Ich wusste, dass sie in unserem Laden monatelang Kredit bekommen hatten, als sie nicht bezahlen konnten. Und ich konnte mir gut vorstellen, dass sie es meinem Vater auf diese Weise zurückzahlen würden, aber ich irrte mich. Später erfuhr ich, dass es für sie keine Sache des Geldes war. Sie waren Gerechte unter den Völkern, und sie machten meinem Vater das Angebot aus reiner Herzensgüte.
›Und Miłosz?‹, fragte ich meinen Vater. ›Wird er mit mir auf dem Dachboden bleiben?‹ Er schüttelte den Kopf.
›Nein.‹
›Ich kann auf ihn aufpassen‹, widersprach ich. ›Er kann sich mit mir verstecken.‹
Mein Vater wischte eine Träne weg, nahm mein Gesicht in seine Hände und küsste mich auf die Stirn. ›Mein kleiner Engel, immer willst du auf den kleinen Bruder aufpassen. Aber Miłosz schafft es weder auf den Dachboden zu klettern, noch zu den Tarnowskis. Er wird bei deiner Mutter bleiben.‹
›Ich kann ihn auf den Dachboden tragen, und ich kann seinen Rollstuhl zu den Tarnowskis schieben. Ich bin stark. Ich verspreche, dass wir es schaffen.‹
Die Augen meines Vaters glänzten, und er umarmte mich so heftig, dass ich dachte, er würde mir die Luft aus dem Leib drücken.
›Ich bin gesegnet, eine so wundervolle Familie zu haben. Miłosz schafft es nicht auf den Dachboden oder wieder herunter, und du kannst ihn nicht aus der Stadt hinausschieben. Ihr zwei würdet erwischt werden.‹ Er lächelte zärtlich. ›Kann sein, dass die Deutschen lediglich mit mir reden wollen. Deine Mutter und Miłosz werden womöglich überhaupt nicht gestört. Aber falls doch, wenn sie uns doch mitnehmen, muss ich wenigstens wissen, dass du sicher bist. Versteck dich. Und dann geh zu den Tarnowskis, und möge Gott mit dir sein.‹
Gerade als er den Satz zu Ende gesprochen hatte, hörten wir schon das Quietschen der Reifen vor dem Haus. ›Geh!‹, befahl er, und ich kletterte auf den Dachboden.«
»Wie Hammerschläge trommelte ein Gewehrkolben gegen die Vordertür. Ich zitterte auf dem Dachboden, als Rufe erklangen, ›Aufmachen!‹. Mein Vater antwortete: ›Einen Moment, ich komme, schlagen Sie mir nicht die Tür ein.‹
Das Hämmern hörte nicht auf, ebenso wenig das Geschrei. Schließlich hörte ich, wie die Tür geöffnet wurde und schwere Stiefel über den Boden des Foyers eilten. Gefolgt von einem herrischen Befehl: ›Herr Scheinmann, Sie kommen mit uns.‹
›Warum?‹, fragte mein Vater zurück. ›Was wollen Sie von mir?‹
›Mitkommen!‹, brüllte der Deutsche. ›Los. Machen Sie.‹ Es wurde kurz still, dann sagte meine Mutter: ›Er ist Offizier. Hat im Krieg gekämpft. Für euch. Veteranen sollten nicht verhaftet werden. Zeig ihnen deine Orden, Jacob.‹
›Wir wissen, wer er ist.‹ Es wurde etwas gesagt, das ich nicht verstehen konnte, dann: ›Schon gut, schon gut, ich komme mit. Hannah, ihr wartet hier, ich werde bald wieder zu Hause sein.‹
›Nein. Alle