Esthers Verschwinden - Ronald H. Balson - E-Book
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Esthers Verschwinden E-Book

Ronald H. Balson

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Beschreibung

Einst versprach er, sie zu retten. Nun ist die Zeit der Vergeltung gekommen. 

Deutschland, 1946: Eli Rosen und sein Sohn sind knapp dem Tod entkommen und warten in einem Lager für Displaced Persons auf ein Visum nach Amerika. Eli setzt alles daran, an Informationen über seine Frau zu gelangen. Esther verschwand im besetzen Polen, als er versuchte, seine Familie mit einem Pakt vor den Deutschen zu retten.

Chicago, 1965: Mithilfe einer Journalistin versucht Eli, ein Komplott aufzudecken, das bis ins Polen der Kriegsjahre reicht. Und endlich kommt er der Wahrheit um das Verschwinden seiner Frau näher. 

»Ein fesselnder Roman über die jahrzehntelangen Folgen des Holocausts.« Pam Jenoff, Autorin von »Die Frauen von Paris«

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Seitenzahl: 416

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Über das Buch

Als die Nazis in Polen einmarschieren, bleibt Eli Rosen nichts anderes übrig, als ein Bündnis mit dem zwielichtigen Max Poleski einzugehen, der gute Kontakte zu den Deutschen pflegt. Er verspricht, Elis Familie zu schützen, doch er entpuppt sich als Verräter.

Nach Kriegsende kämpft Eli mit seinem Sohn in einem Geflüchtetenlager um den Erhalt einer Einreiseerlaubnis nach Amerika. Dort trifft er ausgerechnet auf den Mann, der seine Familie vor Jahren verraten hat. Max Poleski bereichert sich noch immer an dem Schicksal der Juden und verkauft illegale Visa. Eli schwört Rache. Er will herausfinden, was mit seiner Frau Esther geschehen ist und Poleski endlich zur Rechenschaft ziehen – koste es, was es wolle.

Über Ronald H. Balson

Ronald H. Balson ist Rechtsanwalt, und seine Fälle führten ihn um die ganze Welt, unter anderem nach Polen. Heute lebt und schreibt er in Chicago.

Im Aufbau Taschenbuch liegen seine Romane »Karolinas Töchter«, »Hannah und ihre Brüder« und »Ada, das Mädchen aus Berlin« vor.

Gabriele Weber-Jarić lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie übertrug u. a. Mary Morris, Mary Basson, Kristin Hannah und Imogen Kealey ins Deutsche.

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Ronald H. Balson

Esthers Verschwinden

Roman

Aus dem Amerikanischen von Gabriele Weber-Jarić

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Motto

TEIL I

Kapitel 1

Thüringen, 1945

Kapitel 2

Buchenwald, 11. April 1945

Kapitel 3

Reims, Mai 1945

DP-Lager Föhrenwald, Juni 1946

Kapitel 4

Lublin, 1. September 1939

Kapitel 5

Lublin, 8. September 1939

Kapitel 6

Lublin, 25. September 1939

Kapitel 7

Lublin, 25. Oktober 1939

Kapitel 8

Lublin, November 1939

Kapitel 9

Lublin, November 1939

Kapitel 10

Lublin, Dezember 1939

Kapitel 11

Lublin, Dezember 1939

Kapitel 12

Lublin, April 1940

Kapitel 13

Lublin, April 1940

Kapitel 14

Lublin, April 1940

Kapitel 15

Lublin, Juli 1940

Kapitel 16

DP-Lager Föhrenwald, Juli 1946

Kapitel 17

DP-Lager Föhrenwald, Juli 1946

Kapitel 18

DP-Lager Föhrenwald, August 1946

Kapitel 19

DP-Lager Föhrenwald, August 1946

Kapitel 20

DP-Lager Föhrenwald, August 1946

Kapitel 21

DP-Lager Föhrenwald, September 1946

Kapitel 22

DP-Lager Föhrenwald, Oktober 1946

Kapitel 23

DP-Lager Föhrenwald, November 1946

Kapitel 24

DP-Lager Föhrenwald, Dezember 1946

Kapitel 25

DP-Lager Föhrenwald, Dezember 1946

TEIL II

Kapitel 26

Albany Park, Mai 1965

Kapitel 27

Albany Park, Mai 1965

Kapitel 28

Festsaal der Veteranen, Chicago, Mai 1965

Kapitel 29

Albany Park, Juni 1965

Kapitel 30

Chicago, 21. August 1965

Kapitel 31

Albany Park, September 1965

Kapitel 32

Chicago, September 1965

Kapitel 33

Albany Park, 12. Oktober 1965 (Columbus Day)

Kapitel 34

Chicago, November 1965

Kapitel 35

Albany Park, Dezember 1965

Kapitel 36

Albany Park, Dezember 1965

TEIL III

Kapitel 37

Lublin, 15. März 1941

Kapitel 38

Lublin, April 1941

Kapitel 39

Lublin, Mai 1941

Kapitel 40

Lublin, Mai 1941

Kapitel 41

Lublin, Juni 1941

Kapitel 42

DP-Lager Föhrenwald, Dezember 1946

Kapitel 43

DP-Lager Föhrenwald, Dezember 1946

Kapitel 44

DP-Lager Landsberg, Dezember 1946

Kapitel 45

Albany Park, Dezember 1965

Kapitel 46

Albany Park, Dezember 1965

Kapitel 47

Albany Park, Januar 1966

Kapitel 48

Lublin, Oktober 1941

Kapitel 49

Lublin, Oktober 1941

Kapitel 50

Lublin, Oktober 1941

Kapitel 51

Lublin, November 1941

Kapitel 52

Łódź, Januar 1942

Kapitel 53

Łódź, April 1942

Kapitel 54

Lublin, April 1942

Kapitel 55

Lublin, Februar 1943

Kapitel 56

DP-Lager Föhrenwald, Dezember 1946

Kapitel 57

DP-Lager Föhrenwald, Dezember 1946

Kapitel 58

DP-Lager Föhrenwald, Februar 1947

Kapitel 59

Albany Park, Februar 1966

Kapitel 60

Albany Park, Februar 1966

Kapitel 61

DP-Lager Föhrenwald, Februar 1947

Kapitel 62

DP-Lager Föhrenwald, Februar 1947

Kapitel 63

DP-Lager Föhrenwald, Mai 1947

Kapitel 64

Albany Park, Februar 1966

Kapitel 65

Albany Park, Februar 1966

Kapitel 66

DP-Lager Föhrenwald, September 1947

Kapitel 67

DP-Lager Föhrenwald, Oktober 1947

Kapitel 68

Albany Park, Februar 1966

Kapitel 69

Chicago, März 1966

Epilog

Dank

Impressum

Für Monica.Versprechen gehalten.

Wer sich dem Bösen nicht widersetzt, befiehlt, dass es geschieht.

Leonardo da Vinci

TEIL I

Kapitel 1

Thüringen, 1945

In den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs zog sich die deutsche Wehrmacht in immer enger werdenden Kreisen um Berlin zurück. Währenddessen stießen die Alliierten vor und näherten sich so auch den Konzentrationslagern. Die Lager‑SS wusste, dass die Befreiung der Häftlinge nur eine Frage der Zeit war, und sie tat alles, um den Plan zu deren Vernichtung weiter auszuführen. Heinrich Himmler, der Reichsführer SS, ordnete an, die Gefangenen zu deportieren.

Die Lager wurden aufgegeben und größtenteils zerstört, die Gefangenen hinausgetrieben und zu Märschen gezwungen, die später als »Todesmärsche« bekannt wurden. Zehntausenden, Männer, Frauen und Kinder, die meisten von ihnen krank und halb verhungert, wurde befohlen, in eisiger Kälte endlos lange Strecken zu Konzentrationslagern in der Reichsmitte und Süddeutschland zurückzulegen. Buchenwald war das größte der aufgegebenen Lager.

Am 8. April 1945 um die Mittagszeit schickte die Widerstandsbewegung Buchenwalds eine panische Funknachricht in Englisch, Deutsch und Russisch ab, die sie mehrere Male wiederholte.

An die Alliierten! An die Armee des Generals Patton! S. O. S.! Wir bitten um Hilfe. Man will uns evakuieren. Die SS will uns vernichten.

Haltet durch, lautete die Antwort. Wir eilen euch zu Hilfe. Stab der 3. Armee.

Die 6. US‑Panzerdivision erreichte Buchenwald als Erste. Die Soldaten passierten den Haupteingang des riesigen Lagers und stellten verwundert fest, dass es zwar Gefangene gab, jedoch keine Aufseher. Wie sie erfuhren, hatte ein Kontingent der SS sich mit einem Teil der Häftlinge auf den Weg tiefer ins Reich hinein gemacht. Andere waren in die umliegenden Wälder geflohen und hatten die Inhaftierten ihrem Schicksal überlassen, mit nur wenig Wasser und ohne Nahrung. Einige der Insassen hatten Kleidung aufgetrieben, andere nicht. Etliche waren so geschwächt, dass sie nichts weiter vermochten, als sich gegen Wände zu lehnen, auf dem Boden zu sitzen oder auf den Holzgestellen zu liegen, die als Betten dienten. Unter ihnen waren welche, die Skeletten glichen. Gespenstern.

Die amerikanischen Soldaten sahen Bilder, die sie bis ans Ende ihrer Tage nicht vergessen würden. Abgehärtete, kampferprobte Männer, die in der Normandie gelandet waren, unter feindlichem Beschuss Brückenköpfe gesichert hatten und an der Abwehr der Ardennen-Offensive beteiligt gewesen waren. Buchenwald übertraf alles, was sie jemals erlebt hatten.

Kapitel 2

Buchenwald, 11. April 1945

Corporal Reilly schluckte und murmelte: »Du lieber Himmel. Das ist …« Ihm fehlten die Worte.

Die Soldaten hatten ein langes Holzgebäude betreten, früher ein Stall für achtzig Pferde, danach eine Unterkunft für 1200 Häftlinge. Diese lagerten auf fünfstöckigen, hölzernen Bettstellen, ohne Heizung, Wasser und Toiletten. Diejenigen, die zu schwach waren aufzustehen, versuchten die Köpfe zu heben, zu lächeln oder grüßend zu nicken. Andere drückten ihre Erleichterung in Sprachen aus, die keiner der Soldaten verstand.

Auch Tote und Sterbende lagen auf den Pritschen. Und es stank, dass es den Soldaten den Magen umdrehte.

»Los, Leute«, rief der Hauptmann. »Wir müssen die Menschen hier rausholen. Williams, Sie führen die, die laufen können, zur Bahn. Die anderen werden auf Tragen zu den Lazarettwagen gebracht. Und zwar sofort.« An seinen Adjutanten gewandt fügte er leise hinzu: »Die Kräftigsten zuerst. Ein paar von den armen Kerlen sind mehr tot als lebendig. Die schaffen es nicht.«

Auf einem der Holzgestelle lag ein Mann mit zwei anderen zusammen. Bei ihm sah es aus, als würden die Knochen nur noch von Haut zusammengehalten. Er krallte eine Hand in Reillys Uniformjacke.

»Immer mit der Ruhe«, sagte Reilly. »Wir helfen euch, bringen euch hier raus. Das verspreche ich Ihnen.«

Der Mann schüttelte den Kopf und murmelte etwas, das Reilly nicht verstand. »Keine Sorge.« Mit sanftem Griff löste Reilly die Hand von seiner Jacke. »Es dauert nicht mehr lang.«

Der Mann schien seine letzten Kräfte zu sammeln. »Nein.« Wieder folgten unverständliche Sätze. Sein Körper fing an zu zittern und aus den eingesunkenen Augen quollen Tränen.

Reilly wandte sich zu seinem Hauptmann um. »Er will etwas sagen, das ihm anscheinend wichtig ist. Aber ich kenne die Sprache nicht. Könnte Deutsch sein.«

Der Hauptmann winkte einen Soldaten namens Steiner herbei. »Vielleicht finden Sie heraus, was der Mann uns mitteilen will. Sie sprechen doch Deutsch.«

Steiner beugte sich zu dem Gefangenen hinab, bat ihn, seine Worte zu wiederholen. Dann richtete er sich auf und schüttelte den Kopf. »Deutsch ist es nicht. Könnte aber Jiddisch sein. Ich glaube, er hat gesagt, dass er Eli Rosen heißt. Und dass wir Isaak finden müssen. Seinen Sohn, der im Kinderblock untergebracht ist. Tausend Kinder sollen dort sein.«

»Heilige Scheiße«, sagte der Hauptmann. »Und wo genau sind die Kinder?«

»Ich glaube, er hat von Block acht gesprochen.«

Der Hauptmann trat an den Ausgang und blickte zu den vielen Einheitsbauten hinüber. »Wenn ich bloß wüsste, wo Block acht ist. Was meinen Sie, kann er ihn uns zeigen?«

»Er wird kaum aufstehen können.«

Der Hauptmann kehrte zurück.

Wieder sagte der Mann namens Rosen etwas.

Steiner übersetzte. »Er sagt, wenn wir ihm helfen, kann er uns hinführen.«

Der Hauptmann seufzte. »Wie stellt er sich das vor, der Mann ist halb tot.«

»Isaak«, flüsterte Rosen. »Isaak. Mejn Sun.«

Der Mann ist verzweifelt, dachte Reilly. »Ich kann ihn tragen. Eli will zu seinem Sohn. Wenn es sein muss, trage ich ihn zu den Kindern und suche den Jungen.«

Rosen schien ihn verstanden zu haben und deutete ein Lächeln an.

Reilly hob ihn hoch. Der Mann wog weniger als sein Marschgepäck. Vorsichtig stellte er ihn auf die Füße, legte einen Arm um ihn und wollte ihn Schritt für Schritt nach draußen führen. Dann sah er, dass Rosen keine Schuhe trug. »Sieht jemand irgendwo ein Paar Schuhe? Der Mann hat Lumpen um die Füße gewickelt.«

Rosen hatte den Sinn von Reillys Worten erfasst und machte eine abwehrende Handbewegung. »Nein, nein.« Er deutete auf den Ausgang. »Isaak. Kinder.«

Der Hauptmann nickte. »Helfen Sie ihm zu den Kindern, Reilly.«

Reilly nahm seine Uniformjacke ab, streifte sie Rosen über und legte den Arm wieder um ihn. Langsam bewegten sie sich zum Ausgang.

Andere Soldaten hatten Block acht inzwischen entdeckt und kümmerten sich um die Kinder. Es waren Hunderte, kleine, große, ältere und jüngere, die Jüngsten vielleicht sechs Jahre alt. Einige standen in Gruppen zusammen und warteten darauf, abtransportiert zu werden.

Rosens Blick glitt über die Gesichter, und Reilly spürte die Angst des Mannes, seinen Sohn nicht zu finden. Plötzlich versteifte sich Rosen und sagte: »Isaak! Da ist Isaak!« Er machte ein paar Stolperschritte.

Ein Junge von zehn oder elf Jahren löste sich aus einer Gruppe und kam zu ihnen gelaufen. »Papa!«, rief er.

Rosen ließ sich auf die Knie fallen und breitete die Arme aus.

Reilly wandte sich ab und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann bückte er sich und sagte: »Kommt, wir schaffen euch raus aus diesem Rattenloch. Dann können die Ärzte nach euch sehen.«

Er winkte zwei Soldaten mit einer Trage herbei. Einer von ihnen tätschelte Isaaks Kopf und sagte: »Du gehst mit den anderen Kindern, wir kümmern uns um deinen Vater.«

Isaak schüttelte den Kopf.

Reilly fasste den Arm des Soldaten. »Lass ihn, Martin. Wie viele von den Kindern werden überhaupt noch Eltern haben? Lass den Jungen bei seinem Vater. Wir machen eine Ausnahme.«

»Der Vater macht es nicht mehr lange«, flüsterte Martin ihm ins Ohr. »Genau wie viele andere hier.«

»Dann sollte der Junge erst recht bei ihm bleiben«, entgegnete Reilly.

Martin zuckte mit den Schultern.

Rosen wurde auf die Trage gelegt. Er sah Reilly an. »A Dank, a schejnen Dank.«

Die beiden Soldaten trugen ihn zu den Lazarettwagen mit dem roten Kreuz auf den Abdeckplanen. Isaak folgte ihnen.

Reilly kehrte zu seinen Kameraden zurück.

Kapitel 3

Reims, Mai 1945

Die Zusammenkunft fand am 7. Mai 1945 im einfachen Rahmen des Collège Moderne et Technique von Reims statt, dem Hauptquartier der Alliierten Expeditionsstreitkräfte SHAEF. Dort unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl im Namen des deutschen Oberkommandos morgens um 2 Uhr 41 die Urkunde der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands.

Wir, die hier Unterzeichneten, handelnd in Vollmacht für und im Namen des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht, erklären hiermit die bedingungslose Kapitulation aller am gegenwärtigen Zeitpunkt unter deutschem Befehl stehenden oder von Deutschland beherrschten Streitkräfte auf dem Lande, auf der See und in der Luft gleichzeitig gegenüber dem Obersten Befehlshaber der Alliierten Expeditions-Streitkräfte und dem Oberkommando der Roten Armee.

Für das SHAEF unterschrieb Eisenhowers Stabschef General Walter Bedell Smith.

Der Krieg in Europa war beendet.

Die Gefangenen der Konzentrationslager waren befreit worden. Allerdings hatten der Krieg und seine Folgen viele von ihnen heimatlos gemacht. Eine Zeit lang wanderten diese entwurzelten Menschen hilflos und ziellos umher.

Schließlich kümmerte sich die Welthilfsorganisation United Nations Relief and Rehabilitation Administration, oder UNRRA, die im Jahr 1943 gegründet worden war, um sie. Ihre erste Aufgabe war die Erfassung der Überlebenden, die Displaced Persons oder DPs genannt wurden. Vertriebene.

In Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich wurden Lager für sie errichtet.

Die Mehrheit der befreiten Juden suchte den Schutz der United States Army. Sie zog es in die Auffanglager der von den Amerikanern besetzten Gebiete in Deutschland. Dort übernahm die UNRRA ab 1945 die Verwaltung, mit der Maßgabe, den Bewohnern Wohnraum, Nahrung, Kleidung, Arzneien und alles, was zu ihrem Grundbedarf gehörte, zur Verfügung zu stellen. Eines der größten DP‑Lager war Föhrenwald. Es lag in Oberbayern, in den Ausläufern der Alpen, eingebettet in sanft gewellte, bewaldete Hänge.

DP-Lager Föhrenwald, Juni 1946

Die Tür des kleinen Holzhauses in der Florida Straße flog auf. Ein Junge mit dunklem Haar kam hereingestürmt. Sein Name war Isaak. Er war zu dünn, aber voller Energie. »Papa«, rief er, »ich muss dir was erzählen.«

Eli lächelte. »Was denn?«

»Herr Abrams ist in die Schule gekommen, um uns beizubringen, wie man einen Aufsatz schreibt. Nach der Stunde hat er Josh und mich gefragt, ob wir ihm morgen Nachmittag helfen, die Zeitung auszutragen.«

»Du meinst Bamidbar, die Lagerzeitung?«

»Ja, Bamidbar. Vielleicht bezahlt er uns wieder mit Schokolade.«

Eli tätschelte Isaaks Wange. »Was für ein Geschäftsmann du bist. Iss die Schokolade nicht ganz auf, wenn ihr die Zeitungen ausgetragen habt. Und komm anschließend sofort nach Hause, wo die Schularbeiten warten.«

Isaak seufzte.

»Wie gefällt dir Frau Klein, eure neue Lehrerin?«

Isaak zuckte mit den Schultern. »Sie ist in Ordnung. Kommt aus Israel und unterrichtet Hebräisch, Jiddisch und Englisch. Bei ihr muss man sich anstrengen.«

»Jiddisch kannst du doch.«

»Ja, aber kein Englisch und Hebräisch. Englisch kann ich wenigstens schreiben, weil die Buchstaben wie im Polnischen sind. Aber Frau Klein hat gesagt, dass ich die hebräischen Buchstaben langsam auch richtig male. Wir haben Kinder in der Klasse, die sich im Krieg im Wald oder im Untergrund versteckt haben und noch nie in der Schule waren. Sie können weder lesen noch schreiben.«

Eli drückte seinen Sohn an sich und war zutiefst dankbar, dass der Junge, der so viel durchgemacht hatte, wieder so eifrig und unbeschwert sein konnte. »Ich muss morgen Abend zu einer Versammlung des Lagerkomitees und komme wahrscheinlich spät zurück. Vorher stelle ich dir etwas zu essen hin.«

»Aber wenn du wieder da bist, kommst du noch mal zu mir. Egal, wie spät es ist.«

»Das tue ich doch immer.«

*

Das Lagerkomitee traf sich in einem Saal am Roosevelt Square. Auf der Tagesordnung stand der Mangel an Unterkünften. Zu den Teilnehmenden gehörten die Mitglieder des Lagerkomitees, ein Vertreter der UNRRA namens Martin und Bewohner des Lagers, denen die Versammlungen die Möglichkeit boten, ihre Beschwerden zu äußern. Dabei ging es mitunter heiß her. Für Eli sollte dieser Abend eine besondere Bedeutung erhalten.

Die Leitung hatte Bernard Schwartz, ein kräftiger, bärtiger Mann aus Ostpolen. Er bat um Ruhe und erteilte einem Bewohner namens Harry das Wort.

Harry, ein magerer Mann mit schütterem weißem Haar, stand auf und schwenkte eine Liste, die mehrere Seiten umfasste. »Im Lager leben mittlerweile 5600 Menschen. Auch mit den umgebauten Verwaltungsgebäuden fehlt uns nun Platz für 2000 Personen. Dies war einmal eine Arbeitersiedlung der Sprengstoff- und Munitionsfabriken der I. G. Farben, die für maximal 3200 Arbeiter angelegt wurde. Doch wir schlafen teils zu fünft in einem Raum auf Stockbetten und müssen unbedingt neue Häuser bauen.«

Martin, der Vertreter der UNRRA, schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber neue Häuser sind nicht vorgesehen. Föhrenwald ist ein Durchgangslager, bis die Leute, die hier leben, ein neues Zuhause gefunden haben.«

Harry seufzte. »Dann bitten Sie die alliierten Behörden, uns Einreisevisa auszustellen. Wenn wir die haben, werden Sie hier keinen Menschen mehr finden. Aber bis dahin brauchen wir Baumaterial, um Häuser zu errichten. Eli Rosen kennt sich aus, in Polen hatte er eine Baufirma. Er kann bei den Neubauten die Leitung übernehmen.«

Martin hob die Schultern. »Ich kann das weiter oben vortragen, weiß aber jetzt schon, was ich dann hören werde. Die UNRRA hat kein Geld, um in Deutschland neu zu bauen. Man wird mich darauf hinweisen, dass die Anzahl der Bewohner schneller als erwartet gestiegen ist, was unter anderem daran liegt, dass es immer mehr Geburten gibt.«

Die Anwesenden begannen, aufgebracht zu murmeln.

Dann sagte jemand: »Er hat recht. Im Krankenhaus kommen im Monat sechs bis neun Kinder zur Welt, und rund 200 Frauen sind zurzeit schwanger. Aber wenn wir mehr werden, brauchen wir auch mehr Platz.«

Schwartz war der gleichen Meinung. »Nach allem, was wir hinter uns haben, sehnen wir uns nach einem normalen Leben. Die Leute verlieben sich, heiraten, tun wieder das, was ihnen in den Lagern verwehrt war. Und natürlich gehören zum normalen Leben auch Kinder. Kinder stehen für unsere Zukunft, sie geben uns Hoffnung und Mut.«

»Ich bin nur ein Vertreter der UNRRA«, sagte Martin. »Ich bestimme weder die Politik noch das Budget der Organisation. Ich werde eure Bitte weiterleiten, kann euch aber jetzt schon sagen, dass für den Ausbau des Lagers kein Geld vorgesehen ist. Uns geht es darum, für euch eine neue Heimat zu finden und euch hier herauszuholen.«

Harry schnaubte verächtlich. »Und wie soll das ohne Visa gehen? Sagen Sie Präsident Truman, er soll mehr von uns einreisen lassen.«

Ein blasser Mann mit eingefallenen Wangen meldete sich. Sein Name war Daniel. »Dazu möchte ich etwas sagen.« Als alle ihn ansahen, wirkte er verlegen, sprach aber weiter. »Es gibt Gerüchte, die besagen, dass jemand Visa verkauft.«

»Was heißt ›verkauft‹?«, fragte Schwartz.

»Dass er sie auf dem Schwarzmarkt anbietet.«

Einige der Anwesenden tauschten ungläubige Blicke.

»Echt oder gefälscht?«, fragte einer. »Und für welche Länder?«

»Angeblich sind es echte Visa für Amerika«, erwiderte Daniel. »Der Mann verkauft sie gegen Bargeld, Gold oder Schmuck. Wer ihm zahlt, was er verlangt, kann die Warteliste für die Einreise vergessen.«

Aufgeregte Stimmen wurden laut.

»Wer ist dieser Mann?«, fragte Schwartz.

»Ich selbst bin ihm noch nicht begegnet.« Daniel zuckte mit den Schultern. »Er soll groß sein, dunkelhaarig und gut gekleidet. Nennt sich Max.«

Eli erstarrte. »Max?«, fragte er. »Der Max, den ich kenne, ist tot.«

»Es gibt viele Männer, die Max heißen«, entgegnete Daniel. »Der, von dem ich rede, ist eindeutig nicht tot. Olga Helstein ist ihm schon begegnet.«

»Olga Helstein ist eine Klatschbase, die ständig die verrücktesten Gerüchte in die Welt setzt«, entgegnete Schwartz. »Wer weiß, ob es diesen Max überhaupt gibt.«

»Es gibt ihn«, rief jemand. »Schmul hat mir das Gleiche erzählt. Wenn du genug Geld hast, besorgt dieser Max dir nicht nur ein amerikanisches Visum, sondern auch Leute, die drüben für dich bürgen.«

Ein anderer rief: »Wir wollen im Lager keine Schwarzmarkthändler. Wenn die Leute, die auf ein Visum warten, sehen, dass andere sich eins kaufen können, führt das zu Unruhen.«

Eli hob die Hand und fragte: »Was haben Olga und Schmul noch über diesen Max erzählt?«

»Er soll skrupellos sein«, antwortete Daniel. »Kennt in Amerika einflussreiche Leute. Die Visa verkauft er nur zu seinen Bedingungen.«

Ein anderer fragte Eli, wie er darauf komme, dass dieser Max tot sei.

Eli hatte sich wieder gefasst. »In Lublin kannte ich einen Max oder Maximilian, wie er richtig hieß. Er war groß, dunkelhaarig, immer gut gekleidet und skrupellos. Aber er kann nicht überlebt haben.«

»Wie hieß dein Max denn mit Nachnamen?«

»Poleski. Maximilian Poleski. Ein Gangster, wie er im Buch steht. Ein Schieber, der sich, gleich nachdem Lublin besetzt wurde, bei den Nazis lieb Kind gemacht hat. Hat sie zum Essen eingeladen, ihnen Alkohol besorgt und junge Frauen. Und immer hat er auf der Lauer gelegen und auf Leute gewartet, aus deren Not er Profit schlagen konnte. Er konnte einem was zu essen beschaffen, eine Unterkunft, ein Versteck, konnte dich von einem Ghetto zum anderen befördern und dir einen Schutzbrief verschaffen. Aber alles hatte seinen Preis. Max Poleski war ein gewissenloser Kriegsgewinnler.«

»Und all das konnte er unter den Augen der Nazis tun?«, fragte Schwartz.

Eli lachte rau auf. »Er hatte sogar ein Büro im SS‑Hauptquartier. Doch irgendwann hat er die Falschen versucht auszunehmen. Ich bin sicher, dass die Nazis ihn umgebracht haben.«

»Warst du dabei?«

Eli schüttelte den Kopf. »Das nicht, aber als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, war er so gut wie tot.«

»Dann lebt er vielleicht noch«, sagte Daniel. »Oder der Max, der Visa vertreibt, ist ein anderer.«

»Wenn er noch lebt, kann er sich auf was gefasst machen«, sagte Eli wutbebend. »Dann werde ich mit ihm über meine Familie sprechen und darüber, was er ihr angetan hat. Dann wird abgerechnet, das schwöre ich.«

Schwartz strich sich über den Bart. »Die Sache mit den Visa gefällt mir nicht. Bisher hatten wir Schwarzmarkthändler, die uns Fleisch, Schnaps und Zigaretten angeboten haben, aber der illegale Verkauf von Visa ist neu. Deshalb bitte ich euch, es mir sofort zu melden, wenn ihr wieder etwas über diesen Max erfahrt.«

*

Nach dem Treffen, Schwartz, Eli und Daniel standen noch zusammen, trat Dr. Weisman zu ihnen und sagte leise: »Ich will nicht unnötig Alarm schlagen und möchte, dass ihr die Nachricht vertraulich behandelt, aber wir haben zwei weitere Personen mit den Symptomen.«

Eli und Daniel sahen ihn fragend an. »Was für Symptome?«

Schwartz schien zu wissen, wovon die Rede war. »Bist du sicher?«

Der Arzt nickte. »Ziemlich sicher. Die Leute sind jetzt in Quarantäne.«

»Um was geht es?«, fragte Eli.

»Um Tuberkulose.«

»Die weiße Pest?«, fragte Daniel entsetzt.

»Ich dachte, Tuberkulose ließe sich mittlerweile heilen«, sagte Eli.

Weisman schüttelte den Kopf. »Noch nicht, auch wenn überall nach Methoden und Heilmitteln geforscht wird. Hier in Föhrenwald haben wir jedenfalls nichts, um dagegen anzugehen. Es gibt Patienten, die von allein zu genesen scheinen, aber das sind nicht viele. Ich schlage vor, dass wir auf Anschlägen vor einem Grippevirus warnen und die Leute bitten, sich regelmäßig die Hände zu waschen und von Menschen Abstand zu halten, die husten oder niesen. Diejenigen, die sich krank fühlen, sollen sich sofort ins Krankenhaus begeben.«

Schwartz seufzte. »Lasst uns vor allem das Wort ›Tuberkulose‹ so lange wie möglich vermeiden. Ich möchte nicht, dass bei uns Panik ausbricht.«

Auf dem Weg nach Hause wanderten Elis Gedanken nach Lublin und zu Maximilian Poleski zurück. Und zu jenem 1. September 1939, als die Katastrophe begann.

Kapitel 4

Lublin, 1. September 1939

Am 25. August 1939 lief ein altes, deutsches Schlachtschiff mit dem Namen Schleswig-Holstein, das seit einer Weile zur Ausbildung von Marinekadetten genutzt wurde, zu einem angeblichen Besuch im Hafen von Danzig ein und ankerte gegenüber der Halbinsel Westerplatte. Unter Deck hielten sich Wehrmachtsoldaten zum Angriff bereit. Am frühen Morgen des 1. September eröffneten sie das Artilleriefeuer auf die polnischen Verteidigungsstellungen der Halbinsel. Gleichzeitig überschritten zwei Heeresgruppenverbände der Wehrmacht, unterstützt von Luftflotten, die polnische Grenze im Norden und Süden und stießen in Richtung Warschau vor. Am 3. September erklärten England und Frankreich Deutschland daraufhin den Krieg, jedoch ohne in das Kampfgeschehen einzugreifen. Die letzten polnischen Einheiten kapitulierten am 6. Oktober nach einem von Anfang an aussichtslosen Verteidigungskampf.

In Lublin, nicht weit vom Grodzka-Tor entfernt, hing über dem Eingang einer Baufirma ein handgemaltes Schild mit der Aufschrift Rosen & Söhne, Bau und Baumaterial.

Der 1. September war ein schöner warmer Tag, der Himmel wolkenlos. Laut Wettervorhersage sollte es so bleiben.

Eli Rosen war im Hof und kümmerte sich um eine Bestellung. Er kannte die Drohungen, die Hitler in den vergangenen Monaten ausgestoßen, teilweise zurückgenommen dann wieder bekräftigt hatte, sah jedoch keinen Grund, an diesem Tag etwas Außergewöhnliches zu erwarten. Bis sein Vater aus dem Büro stürzte und rief: »Eli, es ist Krieg!«

Eli setzte den Ziegelstapel in seinen Händen auf einer Palette ab, wandte sich zu seinem Vater um und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. »Was?«

Eli war ein groß gewachsener, kräftiger Mann, der von der Arbeit im Freien gebräunt war. Sein verschwitztes Unterhemd voller Ziegelstaub war ihm aus der Hose gerutscht, er steckte es zurück und ging zu seinem Vater.

»Deutschland – Hitler«, stieß sein Vater schwer atmend hervor. »Die Deutschen haben Polen den Krieg erklärt. Sind schon mit Panzern und Soldaten über die Grenze gekommen und dabei, Danzig zu bombardieren. Wahrscheinlich sind sie bald hier.«

»Papa.« Eli machte beschwichtigende Handbewegungen. »Schau zum Himmel hinauf. Was siehst du da?«

»Nichts, aber –«

Eli ließ ihn nicht ausreden. »Genau. Es ist kein Geheimnis, dass Hitler Danzig als freie Stadt will. Seit Monaten redet er davon, dass der Danziger Korridor Ostpreußen vom übrigen Deutschland trennt und deshalb zu Deutschland gehören soll. Die Wehrmacht wird Danzig besetzen, und Hitler wird den Engländern und Franzosen erklären, dass er weiter nichts will. Und wieder werden sie ihm glauben.«

Sein Vater schüttelte den Kopf. »Es ist anders, als es in Österreich und der Tschechoslowakei war, wo die Deutschen nur einmarschiert sind, um die Länder zu besetzen. Polen wird aus der Luft und am Boden angegriffen.«

Eli zuckte die Achseln. »Lass uns die nächsten Radionachrichten abwarten. Aber vorher muss ich Steine und Zement zur Baustelle am Grodzka-Tor schaffen.«

*

Als Eli erschöpft nach Hause kam, ging die Sonne unter. Während der Arbeit hatte er hin und wieder an den Angriff der Deutschen gedacht und eine leise Beunruhigung verspürt. Auch andere als sein Vater hatten ihm von den deutschen Vorstößen erzählt. Doch seine Sorgen verflogen, als ihm sein Sohn im Flur in die Arme sprang und Esther aus der Küche kam.

Seine Frau küsste ihn auf die Wange. Als er sie in die Arme nehmen wollte, schob sie ihn fort. »An deinem Hemd klebt die halbe Baufirma. Vielleicht solltest du duschen und dich umziehen, ehe du mich umarmst.«

Eli steuerte das Bad an, aber an der Tür drehte er sich noch einmal um. »Hast du die Nachrichten gehört?«

»Über Danzig und den Einmarsch der Deutschen?«, fragte Esther. »Im Krankenhaus wurde über kaum etwas anderes gesprochen. Nur wusste keiner, was es für uns in Lublin bedeutet. Meinst du, die Deutschen kommen bis Ostpolen und wir müssen uns Sorgen machen?«

Eli hob die Schultern. »Mein Vater hat die Nachrichten im Radio gehört und sich aufgeregt. Ich glaube, es ist nur ein politisches Manöver, um den Danziger Korridor zu annektieren. So wie die Deutschen es mit dem Sudetenland getan haben. Wenn Hitler den Landstreifen in Besitz genommen hat, wird wieder Frieden herrschen. Genau wie in Österreich und der Tschechoslowakei.«

Esther runzelte die Stirn. »Österreich und die Tschechoslowakei wurden von den Deutschen besetzt. Als Frieden würde ich das nicht bezeichnen.«

Eli öffnete die Badezimmertür. »Hitler wird den Korridor beanspruchen und damit hat es sich. Was soll er denn mit Polen?«

»Im Radio hieß es, dass sie im Norden und im Süden jeweils mit einer Heeresgruppe von mehreren Hunderttausend Soldaten einmarschiert sind. Und dass sie ihr Bombardement begonnen haben. Warum sollten sie das tun, wenn sie nur den Korridor wollen? Die Bombardierung eines Landes klingt für mich nicht nach einem politischen Manöver.«

»Hitler ist ein Hysteriker, der bei allem, was er tut, übertreibt. Vielleicht sind die Bomben nur ein Gerücht. So oder so können wir nichts machen, außer gleich zu Abend zu essen.«

Als er nach der Dusche in die Küche kam, wirkte seine Frau verstört und trug ihre Schwesterntracht. »Die Deutschen marschieren auf Warschau zu, ich habe es gerade im Radio gehört. Auch über Łódź wurden deutsche Kampfflugzeuge gesehen. Mit dem Danziger Korridor hat das nichts mehr zu tun. Die Regierung hat England und Frankreich um Hilfe gebeten, und unsere Truppen ziehen sich an der Westgrenze zusammen.« Sie griff nach ihrer Handtasche. »Wir sind ins Krankenhaus gerufen worden, um den ersten Triage-Plan aufzustellen, falls die Deutschen bis Lublin kommen.«

»Du kannst nicht weg«, sagte Eli. »Ich muss heute Abend in die Jeschiwa. Da findet wegen des deutschen Angriffs eine Dringlichkeitssitzung statt. Alle Ratsmitglieder sind aufgerufen, daran teilzunehmen.«

»Dann musst du Isaak mitnehmen.«

»Isaak ist sechs Jahre alt.«

Esther zuckte mit den Schultern. »Ins Krankenhaus kann ich ihn nicht mitnehmen, und allein kann er nicht bleiben. Also geht er mit dir.«

*

Nach dem Abendessen machte Eli sich mit Isaak auf den Weg zur Jeschiwa, einem imposanten, sandfarbenen Gebäude am Rand des jüdischen Viertels. Die Chachmei Lublin Jeschiwa war die einflussreichste Ausbildungsstätte für rabbinische Studenten, die es gab, und enthielt weltweit die größte Sammlung biblischer Schriften. Die Fassade wurde von einem Halbrund gekrönt, das über dem Mitteltrakt zu schweben schien. Über dem Säuleneingang war der Name der Jeschiwa in Hebräisch zu lesen. Die Pforte stand weit offen, und Eli sah, dass bereits eine Reihe Männer hindurchging.

»Warum heißt es Chachmei Jeschiwa?«, fragte Isaak.

»Es ist einfach der Name. Schule der weisen Männer.«

»Gehe ich eines Tages auch auf diese Schule?«

Eli strich seinem Sohn über den Kopf. »Dazu musst du 14 Jahre alt sein und viele Seiten des Talmuds auswendig können. Hier werden nur die besten Schüler aufgenommen.«

»Warst du auf der Schule?«

Eli lachte. »Nein, ich war kein guter Schüler frommer Schriften.«

»Du kannst aber gut bauen, oder?«

»Allerdings. Rosen & Söhne hat sogar diese Jeschiwa gebaut, damals als dein Großvater Firmenchef war. Er hat den Grundstein gelegt, und als alles fertig war, einen Preis verliehen bekommen. Auch die Eingangshalle wurde nach ihm benannt.«

Die Sitzung wurde von Rabbi Aaron Horowitz eröffnet. »Über uns haben sich dunkle Wolken zusammengebraut, denn heute hat die deutsche Wehrmacht Polen überfallen. Und wir wissen, wie die Deutschen die Juden in Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei behandeln. Sollten sie nach Lublin kommen, dürfen wir wohl kaum etwas anderes erwarten.«

»Polen ist nicht besetzt worden«, sagte einer der Räte. »Die einmarschierenden Truppen und die Bombenangriffe sind nur eine Machtdemonstration. Die Deutschen wollen sich den Danziger Korridor aneignen, weiter nichts.«

»Unsinn!«, rief jemand. »Im Radio hieß es, dass sie mit den Panzern schon Poznań erreicht haben, bis zu uns sind es dann nur noch 200 Kilometer. Was meint ihr, wie lange es dauert, bis sie in Warschau und in Lublin sind?«

Dem unruhigen Stimmengemurmel nach zu urteilen, stellten sich die meisten im Saal diese Frage.

Horowitz bat um Ruhe und sagte: »Die Straßen nach Osten und Norden sind noch offen. Niemand ist ein Feigling, wenn er sich nun entscheidet, mit seiner Familie ins Baltikum, die Ukraine oder nach Russland zu fliehen und sich dort in einer der jüdischen Gemeinden niederzulassen.«

»Kann man den Russen trauen?«, fragte einer. »Gerade haben sie mit den Deutschen einen Nichtangriffspakt geschlossen. Vielleicht fallen auch sie wieder in Polen ein.«

»Wenn ihr ihnen misstraut, bleiben die baltischen Staaten und die Ukraine«, erwiderte Horowitz. »Für diejenigen, die nicht fortgehen, gilt, dass wir uns ab sofort zweimal wöchentlich treffen, Informationen austauschen und überlegen, was wir tun, falls das Schlimmste eintrifft, was der Herr verhüten möge.«

Kapitel 5

Lublin, 8. September 1939

Am 6. September gelang es den deutschen Truppen, tief in die polnischen Abwehrreihen einzubrechen, Krakau zu besetzen und den Angriff auf Warschau vorzubereiten. Die polnischen Verteidigungstruppen, die der Wehrmacht hoffnungslos unterlegen waren, zogen sich zurück. Die deutschen Streitkräfte drangen weiter vor und erreichten am 8. September Lublin, eine Stadt, die auf ihren Angriff nicht im Geringsten vorbereitet war.

Am Morgen des 8. September bat Esther ihren Mann, an diesem Tag nicht zu arbeiten. »Ich habe Angst«, sagte sie, »bitte, bleib bei uns. Polskie Radio sendet nicht mehr, aber gestern hieß es dort, dass die Deutschen von Krakau aus Richtung Osten gezogen sind. Und niemand hilft uns, weder die Engländer noch die Franzosen. Was ist, wenn Lublin bombardiert wird? Ich wünschte, wir würden Polen noch heute verlassen. Ist es nicht das, was Rabbi Horowitz uns geraten hat?«

»Wir können nicht alle fliehen, nicht einmal Horowitz verlässt die Stadt. Auch die anderen Ratsmitglieder gehen nicht fort. Deshalb bleiben wir ebenfalls, Esther. Ich möchte nicht weglaufen, sondern versuchen, uns und unsere Stadt zu schützen.«

Esther sah ihren Mann kopfschüttelnd an. »Wie stellst du dir das denn vor, wenn uns nicht einmal mehr die polnische Armee schützen kann? Wie sollen es dann ein Rabbiner und eine Handvoll jüdischer Ratsmitglieder schaffen?«

»Ich spreche nicht davon, uns mit Waffengewalt zu verteidigen. Mir geht es darum, den Juden in unserer Gemeinde zur Seite zu stehen, ihnen Mut zuzusprechen und für sie einzutreten, wenn es darauf ankommt. In unserer Stadt leben fast 40 000 Juden, die werden nicht alle die Flucht ergreifen.«

Esther stieß einen Seufzer aus. »Eli, seit Jahren führen die Nazis eine Hasskampagne gegen uns. Weißt du nicht mehr, wie sie die Juden in Österreich und Deutschland behandeln? Hast du die Pogrome dort im letzten November vergessen? Horowitz hat recht, wir müssen fort von hier.«

»Und wohin sollen wir gehen? In die Sowjetunion? Seit wann sind die Russen Freunde der Juden? Dort wird es für uns ebenso schlecht aussehen wie hier.«

»Dann lass uns aufs Land ziehen. In ein Häuschen im Wald oder einem kleinen Dorf, das für die Deutschen zu uninteressant ist, um es zu besetzen und die Bewohner zu tyrannisieren. Denk wenigstens darüber nach.«

Eli seufzte. »Ja, gut. Heute Abend reden wir weiter. Ich versuche, frühzeitig nach Hause zu kommen, aber du weißt, wie wichtig das Bauprojekt am Gradzko-Tor ist.«

*

Zuerst kam der Lärm – Getöse, bei dem die Erde vibrierte, ein unheimliches Brummen, Surren und Donnern, das sich von Westen her Bahn brach. Eli entdeckte die aufsteigenden Rauchwolken am Himmel und ließ seinen Hammer sinken. Bombenexplosionen, dachte er, und dann sah er die Flugzeuge. Wie ein Heuschreckenschwarm kamen sie heran.

Eli warf den Hammer zur Seite, rannte über den Hof und rief ins Büro: »Die Deutschen greifen Lublin an. Los, Papa, geh in Deckung.«

Am Nachmittag tauchten die deutschen Stukas auf, einmotorige Sturzkampfbomber, die Riesenwespen glichen und mit ohrenbetäubenden Heultönen aus dem Himmel stießen, wieder aufstiegen, sich erneut fallen ließen und auf ihre Opfer zuschossen.

Eine der katholischen Kirchen und mehrere Wohnhäuser Lublins wurden zerstört, andere schwer beschädigt.

Eli lief nach Hause. Dort angekommen rief er Esthers Namen. Falls sie ihm antwortete, hörte er es im Lärm der Stukas nicht. Er fand sie und Isaak im Keller, wo sie neben dem Heizkessel kauerten.

Eli setzte sich zu ihnen. »Du hattest recht, Esther, wir hätten fortgehen sollen.«

Sie drückte Isaak an sich. »Was wir hätten tun sollen, ist unwichtig. Sag mir lieber, was wir jetzt tun sollen.«

»Das weiß ich nicht.« Eli schlang die Arme um Frau und Sohn. »Ich weiß nur, dass wir es gemeinsam durchstehen werden.«

»Sobald sie aufhören, uns zu bombardieren, muss ich versuchen, ins Krankenhaus zu gelangen.«

»Woher willst du wissen, wann sie aufgehört haben?«, fragte Isaak.

»Wenn es still ist und die Erde nicht mehr bebt.«

*

Zehn Tage später fuhren deutsche Panzer und Mannschaftswagen in die von Bombenschäden gezeichnete Stadt ein, gefolgt von Hundertschaften der Wehrmacht. Die Juden, die in der Hauptstraße Lublins wohnten, bekamen nur wenig Zeit, um ihre Besitztümer zusammenzuraffen und in eine der ärmsten Ecken des jüdischen Viertels umzuziehen. Die Hauptstraße selbst, die bis dahin Krakowskie Przedmieście geheißen hatte, wurde in Reichsstraße umbenannt. Aus dem Litewski-Platz, umringt von den eleganten Palais alter polnischer Adelsfamilien, wurde der Adolf-Hitler-Platz.

Kapitel 6

Lublin, 25. September 1939

»Bitte nimm Isaak heute mit in die Baufirma«, sagte Esther. »Die Schule ist noch geschlossen, und im Krankenhaus ist zu viel zu tun, als dass ich mir freinehmen könnte. Gestern sind wieder verwundete polnische Soldaten eingeliefert worden, die den Deutschen entkommen sind.« Sie seufzte. »Wenn du hörst, was sie über die Wehrmacht sagen, läuft es dir kalt über den Rücken.«

»Kein Problem«, entgegnete Eli. »Isaak sitzt gern im Büro und malt. Mein Vater wird auf ihn aufpassen. Ich selbst muss mich um die Behebung der Bombenschäden kümmern. Wir haben so viele Aufträge wie noch nie.«

Esther streifte ihre Jacke über. »Halte dich von den Deutschen fern. Sie schnappen sich Leute und zwingen sie, den Schutt der zerbombten Häuser mit bloßen Händen wegzuräumen. Sogar Alte und Gebrechliche nehmen sie und lachen, wenn ihnen die Arbeit schwerfällt. Oder sie schlagen sie.«

»Das weiß ich, Esther. Sie plündern auch die jüdischen Geschäfte. Birnbaums Juweliergeschäft haben sie ausgeraubt. Die Ladenbesitzer, die aufbegehrt haben, sind verprügelt worden. Sogar die alte Frau Hersch aus dem Stoffgeschäft haben sie angegriffen.«

»Sie war gestern im Krankenhaus, um sich behandeln zu lassen. Unser Gemeinderat sollte eine Beschwerde einreichen und die Deutschen darauf hinweisen, dass wir nicht wissen, wo wir die jüdischen Familien unterbringen sollen, die sie aus ihren Häusern jagen. Einige von ihnen leben jetzt auf der Straße. Ich wünschte, der Gemeinderat würde eine Liste verfügbarer Wohnungen zusammenstellen. Sag es heute Abend, wenn du in die Jeschiwa gehst.«

Eli lächelte. »Vielleicht solltest du mitkommen und deine Wünsche vortragen.«

*

Als Eli und Isaak in der Baufirma eintrafen, war die Arbeit dort bereits in vollem Gang.

»Die Deutschen zerbomben unsere Stadt, und wir dürfen alles wieder aufbauen«, sagte sein Vater. »Ich musste sechs zusätzliche Maurer einstellen. Und wer kommt für die Mehrkosten auf? Die Nazis bestimmt nicht, und die Leute, deren Häuser zerstört wurden, haben nicht genug Geld.« Er zuckte mit den Schultern. »Natürlich helfen wir, aber ein Wohlfahrtsunternehmen sind wir eigentlich nicht.«

Gegen Mittag stürzte Rabbi Horowitz in das Büro und wirkte aufgelöst. »Sie haben die Jeschiwa besetzt«, sagte er und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »SS‑Männer, die sich wie eine Hunnenhorde aufgeführt haben. Kommen hereinmarschiert und jagen uns hinaus. Ich habe noch gesagt, das dürfen sie nicht, die haben nur gelacht. Zwei von den Bastarden haben mich gepackt und rausgeworfen. ›Das Haus gehört euch nicht mehr‹, haben sie gesagt. ›Das ist jetzt für Juden verboten.‹ Ich habe ihnen erklärt, was eine Jeschiwa ist, und dass bei uns wertvolle Schriften lagern.«

»Und was haben sie geantwortet?«, fragte Elis Vater.

Horowitz zuckte die Achseln. »Es hat sie nicht interessiert. Ich habe sie auf das Alter und den Wert der Schriften hingewiesen und gesagt, wir würden kommen, um alles abzuholen und woanders zu deponieren.«

»Waren sie damit einverstanden?«

»Sie haben getan, als wäre ich nicht da.«

*

Am Abend gingen Eli und Isaak nach Hause. Als sie sich der Jeschiwa näherten, hörten sie schrille, aufgeregte Stimmen. Menschen kamen ihnen entgegen, die riefen: »Rettet die Jeschiwa!«

Eli beschleunigte seinen Schritt und zog Isaak hinter sich her. Dann erblickte er die Jeschiwa und blieb wie angewurzelt stehen.

Eine Gruppe SS‑Männer versperrte den Zugang, eine andere schleppte stapelweise Schriften und Bücher aus dem sandfarbenen Gebäude und warf sie auf einen immer größer werdenden Haufen. Hin und wieder versuchte einer der Zuschauer, etwas zu retten und wurde von den Deutschen wie eine Fliege verscheucht.

»Unsere Thorarollen«, rief jemand mit überkippender Stimme. »Sie wollen unsere heiligen Schriften verbrennen.«

Starr vor Entsetzen verfolgten sie, wie Bücher, Rollen und Schriften mit Benzin übergossen und angezündet wurden. Gleich darauf loderten die Flammen auf. Einige der Umstehenden fingen an zu weinen.

Eli nahm Isaak auf den Arm und eilte nach Hause. Seine Hoffnung war, dass der Junge das Geschehen nicht richtig verstanden hatte oder bald wieder vergessen würde.

Stundenlang dauerte das Feuer, und in den umliegenden Straßen waren die Klagerufe der Juden zu hören, bis die Deutschen eine Blaskapelle aufmarschieren ließ, die sie übertönte.

Als die Nacht anbrach, war alles verbrannt und die Jeschiwa ihrer religiösen Bedeutung beraubt. Am Morgen übernahm die deutsche Ordnungspolizei das Gebäude und erklärte es zu ihrem Hauptquartier.

Kapitel 7

Lublin, 25. Oktober 1939

Sein Vater hatte Eli ins Büro gerufen und sagte: »Rabbi Horowitz war wieder hier. Jetzt verlangen die Deutschen, dass unsere jüdische Gemeinde ihnen 300 000 Złotych zahlt.«

»Wofür?«

»Für ihren Unterhalt.«

»Das ist doch verrückt.«

Elis Vater lachte. »Ruf Hitler an und beschwer dich. Ich bin sicher, der ist ganz Ohr.«

Eli ließ sich auf dem Besucherstuhl nieder. »Und was bedeutet das für uns?«

»Horowitz verlangt von uns 1000 Złotych. Weil unser Geschäft noch läuft, wie er sagt.«

»Das nenne ich Chuzpe.« Eli schüttelte den Kopf. »Die Behebung der Bombenschäden ist für uns kein Geschäft. Die Hälfte der Arbeiten bezahlen wir aus eigener Tasche. Auch sonst kommt kaum noch Geld herein.«

»Wir müssen trotzdem zahlen. Darüber hinaus werden wir Juden in den kommenden Tagen gezählt. Dazu müssen wir uns im Hauptquartier der Ordnungspolizei registrieren lassen.«

»Wozu?«

»Die Deutschen müssen uns keine Gründe nennen.« Elis Vater sah seinen Sohn resigniert an. »Sie sind die Sieger und wir die Besiegten.«

»Weißt du das mit der Registrierung auch von Horowitz?«

»Nein, das hat mir Maximilian erzählt. Er war heute hier.«

»Maximilian Poleski? Max vertritt uns im katholischen Teil der Stadt. Woher will der die Pläne der Nazis kennen?«

Sein Vater hob die Schultern. »Max hat seine Quellen. Kleidet sich elegant, scharwenzelt durch die Gegend, macht sich an einflussreiche Leute heran. Nun hat er sich eben den Nazis angebiedert. Wird für sie Juden identifizieren und dafür Geld bekommen.«

Für einen Moment fehlten Eli die Worte. Dann sagte er: »Er will Juden denunzieren? Der Mann, der vor sechs Jahren bei uns war und um eine Anstellung gebettelt hat? Dem du die katholischen Kirchen als Kunden überlassen hast? Und der läuft nun zu den Deutschen und erzählt ihnen, wer in Lublin Jude ist? Damit die Nazis uns festnehmen können?«

Elis Vater machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Nicht festnehmen, nur registrieren wollen sie uns. Und Max arbeitet für sie, aber er hat uns nicht denunziert. Er war hier, um uns zu warnen. Sein Rat ist, dass wir uns freiwillig melden.«

»Ja, aber wozu?«

»Das wusste er nicht. Oder wollte es mir nicht sagen. Klar ist nur, dass die Juden, die sich nicht melden, bestraft werden.«

»Max ist eine Ratte. Wir sollten uns von ihm trennen und seinen Kundenstamm Louis übergeben.« Louis war Elis Bruder.

»Das wollte ich zuerst, aber dann habe ich es mir anders überlegt. Max besitzt das Vertrauen der katholischen Kunden und bringt uns Geld ein. Dein Bruder hat bei den Katholiken keinerlei Kontakte. Er ist ein Gelehrter, kein Vertreter. Lass ihn in der Jeschiwa.«

Eli lachte auf. »In welcher Jeschiwa? Wir haben keine Jeschiwa mehr. Dort, wo sie war, ist seit Wochen das Hauptquartier der deutschen Ordnungspolizei und seit Kurzem auch ein Gefängnis.«

»Ich meinte die provisorische Jeschiwa im Keller der Synagoge. Dort studiert Louis nun mit den angehenden Rabbinern. Er ist auch Mitglied in dem jüdischen Rat, den die Nazis eingerichtet haben, und spricht für uns. Judenrat nennen sie das.«

»Judenrat? Unsere Gemeinde hat bereits einen Rat.«

»Das ist was anderes. Henryk Bekker, der Vorsitzende unseres Gemeinderats, ist nun auch Vorsitzender dieses Judenrats. Und Louis gehört jetzt ebenfalls dazu. Die Gemeinde hat ihn nominiert. Du solltest stolz sein, dass er so hoch angesehen ist. Jedenfalls kann er nicht für uns arbeiten, und wir werden Poleski wohl oder übel behalten müssen.«

Eli runzelte die Stirn. »Warum? Was wollen wir mit jemandem, der sich bei den Nazis eingeschmeichelt hat? Im Moment mag er uns nur identifizieren, aber was kommt danach? Überall in Lublin werden jüdische Häuser und Geschäfte beschlagnahmt. Juden werden zusammengetrieben und weiß der Himmel wohin transportiert. Hilft Max auch dabei oder kommt das noch?«

Sein Vater zuckte die Achseln. »Das kann ich dir nicht sagen. Für mich zählt nur, dass er einen Draht zu den Nazis hat und früher als einer von uns beiden erfährt, was sie vorhaben. Und das wird er an uns weitergeben.«

Eli wirkte nicht sehr überzeugt. »Und was hat der große Maximilian außerdem gesagt?«

Sein Vater wich seinem Blick aus. »Die Nazis bezahlen ihn, damit er ihnen sämtliche jüdischen Geschäfte nennt. Uns wird er nicht nennen. Das hat er mir versprochen.«

»Er lügt.«

Sein Vater seufzte. »Eli, wir haben Krieg. Wir müssen einen klaren Kopf behalten, um unsere Familie zu schützen. Mag sein, das Poleski ein windiger Typ ist, aber uns gegenüber hat er sich nie etwas zuschulden kommen lassen.«

»Und du glaubst, das bleibt so?«

»Er verdient bei uns gut, und solange sich das nicht ändert, wird er zu seinem Wort stehen.«

»Und so jemandem vertraust du?«

»Nein, aber ich möchte Zugang zu den Informationen haben, die er bei den Nazis sammelt. Von Poleski weiß ich, dass vor einer Woche jüdische Familien aus Böhmen und Mähren in Lublin angekommen sind. Auch aus anderen von den Deutschen besetzten Gebieten werden Juden hierhergebracht. Die Nazis wollen eine Art Reservat einrichten, um hier insgesamt 500 000 Juden unterzubringen.«

»500 000?«, fragte Eli fassungslos. »Zusätzlich zu den 40 000, die wir bereits sind? Wo um alles in der Welt soll denn noch ein ›Reservat‹ entstehen?«

»Irgendwo zwischen Lublin und Nisko.«

»Das ist Sumpfgebiet.«

Elis Vater warf die Hände hoch. »Es ist das, was Poleski mir erzählt hat. Die Lubliner Juden können wohl in Lublin bleiben.«

Eli ließ sich das durch den Kopf gehen. Dann sagte er: »Das ergibt doch keinen Sinn. In Lublin werden jüdische Wohnungen, Häuser und Geschäfte beschlagnahmt. Die Bewohner oder Besitzer haben kaum Zeit, alles zu räumen. Wie kommst du darauf, dass die Lubliner Juden hier ungestört weiterleben können? Und wie kannst du glauben, dank Maximilian Poleski bliebe die Familie Rosen verschont?«

»Poleski wird sich für uns einsetzen. Das hat er mir versprochen.«

»Ach.« Eli zog die Brauen hoch. »Und wie viel will er dafür?«

Sein Vater errötete. »Das wird sich herausstellen.«

*

Am Abend sagte Esther: »Heute mussten die Cohens ihr Haus verlassen.« Sie stand am Herd und rührte in einem Topf, doch Eli erkannte, wie angespannt sie war, wie ruckartig ihr Arm sich bewegte.

»Und wo sind sie jetzt?«, fragte Eli und schnappte sich ein Stück frisches Brot.

»Sie haben eine kleine Wohnung gemietet. Ebenso wie andere Familien, die von den Nazis aus ihren Häusern gejagt wurden. Einige ziehen sogar in leer stehende Läden. Drei Stunden hatten die Cohens, um ihr Haus zu räumen. Leah hat mich im Krankenhaus angerufen und war außer sich. Ich bin zu ihr gelaufen, um ihr beim Packen zu helfen. Sie hatten so viele schöne Sachen, und wir konnten nur das Nötigste retten. Kleidung, Bettzeug, Geschirr, ein paar Bücher.«

Esther nahm den Topf vom Feuer und schlug sich die Hände vors Gesicht. »Alles mussten wir auf einen Handkarren laden. Wie Bettler.« Sie ließ die Hände sinken. »Du weißt, wie geschmackvoll sie sich eingerichtet hatten, und nun wohnen in ihrem Haus irgendwelche dreckigen Nazis. Was sind das für Menschen, frage ich dich? Gehen sie zu Hause auch so mit ihren Familien um?«

»Sie sind die Sieger, hat mein Vater gesagt. Und wir die Besiegten. Und so werden wir behandelt.«

»Ich habe Angst«, sagte Esther. »Irgendwann stehen sie auch bei uns vor der Tür und geben uns drei Stunden, um zu packen und zu verschwinden.« Sie fing an zu weinen. »Und dann müssen wir alles zurücklassen. Alles, was wir gekauft haben. Die Erbstücke meiner Mutter.«

Eli nahm seine Frau in die Arme. »Es geht um Dinge, Esther, so sehr du auch an ihnen hängen magst. Nicht um dich, Isaak und mich. Zudem behauptet Poleski, dass er uns vor den Nazis schützen wird. Aber selbst wenn nicht, haben wir noch immer uns. Falls wir in eine kleine Wohnung ziehen müssen, werden wir das Beste daraus machen. Irgendwann ist der Nazi-Spuk wieder vorüber, und wir werden wie früher leben. Die Hauptsache ist, dass du die Hoffnung nicht verlierst.«

»Das versuche ich ja.« Esther schmiegte sich an ihn. »Ständig sage ich mir, dass wir wenigstens noch hier wohnen. Auch die Baufirma haben die Nazis nicht angerührt.« Sie runzelte die Stirn. »Aber Poleski traue ich nicht.«

Eli streichelte ihre Wange. »Ich liebe dich.«

Esther küsste ihn. »Ich dich auch.«

Kapitel 8

Lublin, November 1939

Dann kam der Tag, an dem Max Poleski die Baufirma in Begleitung eines SS‑Offiziers besuchte, einem bleichen Mann mit auffallend langem, kantigem Gesicht und kurz geschnittenem, dunklem Haar.

Zuerst liefen sie über den Hof, wo Eli dabei war, Ziegelsteine auf einen Lastwagen zu laden. Der SS‑Offizier ließ seinen Blick schweifen und tat, als wäre Eli nicht da.

Poleski trat zu Eli und flüsterte: »Das ist Odilo Globočnik, seines Zeichens SS- und Polizeiführer von Lublin. Kommt aus Österreich, von Beruf Bautechniker. Er will sich alles ansehen.«

Wie gelähmt verfolgte Eli, wie dieser Globočnik grußlos und mit den Händen auf dem Rücken einen Rundgang machte und alles so sorgfältig inspizierte, als mache er in Gedanken Inventur. Schließlich wandte er sich ab und betrat das Büro.

Eli und Poleski folgten ihm.