ADHS bei Erwachsenen - ein Leben in Extremen -  - E-Book

ADHS bei Erwachsenen - ein Leben in Extremen E-Book

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Beschreibung

Attention deficit hyperactivity disorder (ADHD) is now also a recognized disorder in adult psychiatry. Treatment for the condition in adults requires a therapeutic approach different from that in children and adolescents. This book presents important new research findings, on the basis of which both basic knowledge about ADHD and special aspects, such as comorbidities with addictive disorders and autism spectrum disorders, are described. In addition to treatment strategies, frequently accompanying phenomena such as creativity and delinquency are addressed. This second edition provides a comprehensive overview of the current state of knowledge around ADHD.

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Die Herausgebenden

Prof. Dr. med. Martin D. Ohlmeier ist Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Er war langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), dort bei Herrn Prof. Dr. med. Dr. phil. Hinderk M. Emrich tätig. Er ist Gründer und langjähriger Leiter der ADHS-Ambulanz der MHH. Seit 2008 ist er Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums Kassel und seit 2011 außerplanmäßiger Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der MHH.

Dr. med. Mandy Roy ist Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie war langjährige klinische und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Medizinischen Hochschule Hannover und dort auch in der ADHS- und Autismus-Sprechstunde tätig. Nun ist sie leitende Oberärztin in der Klinik für Abhängigkeitserkrankungen der Asklepios Klinik Hamburg-Ochsenzoll. Auch hier gehören die ADHS und der Autismus zu ihren Spezialgebieten.

Martin D. Ohlmeier

Mandy Roy (Hrsg.)

ADHS bei Erwachsenen – ein Leben in Extremen

Ein Praxisbuch für Therapeuten und Betroffene

Unter Mitarbeit von

Uwe Blanke, Wolfgang Dillo, Hinderk M. Emrich, Claudia Edenhuizen, Johanna Krause, Klaus-Henning Krause, Vanessa Prox-Vagedes, Helga Roy

2., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

 

 

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

 

 

 

 

 

2., überarbeitete Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036232-1

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-036233-8

epub:     ISBN 978-3-17-036234-5

mobi:     ISBN 978-3-17-036235-2

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

 

 

 

 

Uwe Blanke

Psychiatriekoordinator, Drogenbeauftragter

Region Hannover

Sozialpsychiatrischer Dienst

Peiner Str. 4, 30519 Hannover

E-Mail: [email protected]

Dr. med. Wolfgang Dillo

Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

Systemischer Lehrtherapeut SG

Systemische Praxis

Enckestr. 15, 30519 Hannover

www.systemischepraxis-hannover.de

E-Mail: [email protected]

Claudia Edenhuizen

Private Therapie Praxis

Meierwiesen 17, 30657 Hannover

E-Mail: [email protected]

www.edenhuizen.com

Prof. em. Dr. med. Dr. phil. Hinderk M. Emrich

1992–2008 Leiter der Klinik für Psychiatrie,

Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der

Medizinischen Hochschule Hannover

† 16. September 2018

Dr. med. Johanna Krause

Schillerstr. 11a, 85521 Ottobrunn

E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. med. Klaus-Henning Krause

Schillerstr. 11a, 85521 Ottobrunn

E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. med. Martin D. Ohlmeier

Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Ludwig-Noll-Krankenhaus, Klinikum Kassel

Dennhäuser Str. 156, 34134 Kassel

E-Mail: [email protected]

Dr. med. Vanessa Prox-Vagedes

Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie

Praxis am Grandsberg

Bayerwaldstr. 11, 94374 Schwarzach

E-Mail: [email protected]

www.praxis-am-grandsberg.de

Helga Roy

E-Mail: [email protected]

Dr. med. Mandy Roy

Leitende Oberärztin

Klinik für Abhängigkeitserkrankungen

Asklepios Klinik Ochsenzoll

Langenhorner Chaussee 560, 22419 Hamburg

E-Mail: [email protected]

Inhalt

 

 

 

 

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Vorwort

Grundlagen der ADHS

1     Vom »Zappelphilipp« und »Hanns Guck-in-die-Luft« – Die Geschichte der ADHS

Klaus-Henning Krause

2     Was wir heute wissen: Ätiopathogenese und Neurobiologie der ADHS

Mandy Roy

3     Die ADHS hat viele Gesichter: Klinische Symptomatik und Diagnostik

Mandy Roy

4     Die ADHS ist behandelbar: Therapeutische Prinzipien

Mandy Roy, Claudia Edenhuizen und Wolfgang Dillo

Spezielle Aspekte der ADHS

5     Die Suche nach dem Rausch? Abhängigkeitserkrankungen bei ADHS

Vanessa Prox-Vagedes, Martin D. Ohlmeier, Mandy Roy

6     Eine andere Sicht der Welt: Autismus und ADHS

Mandy Roy

7     Impulse außer Kontrolle: ADHS und Forensik

Mandy Roy

8     Eine besondere Fähigkeit der ADHS: Kreativität

Martin D. Ohlmeier und Hinderk M. Emrich

9     Eine umfassende Behandlung: Psychotherapeutische Konzepte und Psychodynamik der ADHS

Johanna Krause

10   Ein Blick in die Forschung: Experimentelle Untersuchungen der ADHS und weitere Ausblicke

Mandy Roy, Vanessa Prox-Vagedes, Wolfgang Dillo und Martin D. Ohlmeier

11   Ein Leben mit der ADHS: Behandlungsverläufe und Lebensläufe

Mandy Roy, Uwe Blanke, Helga Roy und Martin D. Ohlmeier

Abschlussworte

Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

 

 

Rund acht Jahre sind nun vergangen seit dem Abschluss der Arbeiten an der 1. Auflage unseres Buches. Eine lange Zeit angesichts der zahlreichen Forschungsaktivitäten rund um den Globus und des rasanten Fortschrittes in der Wissenschaft. Auch wenn wir noch immer von einem »allumfassenden« Erkrankungsmodell der ADHS weit entfernt sind, sind doch einige neue Puzzleteilchen hinzugekommen, die unser Verständnis erweitern.

Erfreulicherweise hat in den vergangenen Jahren auch die Akzeptanz der ADHS als Erkrankungsbild in der Erwachsenenpsychiatrie zugenommen. Vielerorts sind im psychiatrischen Klinikalltag das Bewusstsein für die ADHS und die Bereitschaft für deren Behandlung gestiegen. Viele Herausforderungen in der klinischen Arbeit bleiben jedoch bestehen, von der Diagnostik, über die Behandlung bis hin zum Zusammenhang mit häufig bestehenden psychiatrischen Komorbiditäten, die eine besondere Aufmerksamkeit erfordern.

Die Thematik der ADHS bleibt komplex – sowohl hinsichtlich der Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen als auch für die Behandler, die für ihre Patienten möglichst individuell abgestimmte Behandlungskonzepte entwickeln möchten. Wir hoffen, dass wir Sie mit diesem Buch unterstützen können, Ihren Weg im Umgang mit ADHS zu finden.

Das Thema der ADHS hat auch uns über die Jahre begleitet und ist uns – jedem an seinem heutigen Standort (Hamburg und Kassel) – eine Herzensangelegenheit geblieben. Als Ende der 1990er Jahre das Thema »ADHS im Erwachsenenalter« in Deutschland noch kaum bekannt war, wurde in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) eine der ersten ADHS-Ambulanzen in Deutschland ins Leben gerufen. Martin Ohlmeier sah damals als Assistenzarzt die ersten erwachsenen ADHS-Patienten und eignete sich nach und nach eine klinische Expertise in Bezug auf Diagnose und Therapie der ADHS an. Währenddessen begann er, auch wissenschaftlich Untersuchungen durchzuführen, insbesondere zu neurobiologischen, aber auch anthropologischen und epidemiologischen Fragestellungen wie z. B. hinsichtlich der Komorbidität von ADHS und Abhängigkeitserkrankungen. 2005 begann auch Mandy Roy, sich als Ärztin maßgeblich an der betreuenden und wissenschaftlichen Arbeit in der ADHS-Ambulanz der Medizinischen Hochschule Hannover zu beteiligen.

Beide Herausgeber legen in ihrer klinisch-ärztlichen Tätigkeit noch immer einen Schwerpunkt auf die ADHS. Neben wissenschaftlichen Tätigkeiten steht für sie eine möglichst gute und umfassende klinische Versorgung der Patienten im Vordergrund.

So ist dieses Werk auch in seiner 2. Auflage als ein Resultat unserer langjährigen klinischen Praxis zu sehen, mit dem wir interessierten Betroffenen und Therapeuten umfassende Einblicke in das komplexe Thema der ADHS anbieten möchten. Auch sind in diese Auflage neue Aspekte mit eingeflossen wie z. B. Forschungsergebnisse von Methoden, bspw. dem maschinellen Lernen, einer Form der künstlichen Intelligenz. Aktualisierte medikamentöse Optionen werden vorgestellt, ebenso der aktuelle Wissensstand besonderer Komorbiditäten wie dem Autismus und der Abhängigkeitserkrankungen. Letztere sind um einen Abschnitt zur Internetabhängigkeit erweitert worden.

Eine Herausforderung war es auch diesmal, dieses Buch gleichermaßen für medizinisch/psychotherapeutisch ausgebildete Kollegen und für Interessierte ohne diese Vorbildung zu verfassen. Wir haben uns erneut bemüht, all jenen Abschnitten, die naturwissenschaftliche Grundlagen behandeln, jeweils einfach verständliche Erklärungen voranzustellen. Um aber ebenfalls den »wissenschaftlichen Wissensdurst« von Kollegen zu erfüllen, sind wir in einigen Abschnitten auch etwas tiefer auf komplexere Details eingegangen. Wir hoffen, dass jeder Leser auch dieser Auflage die für ihn wichtigen Informationen entnehmen kann.

Für die 2. Auflage konnten wir erneut Johanna und Klaus-Henning Krause als Autoren gewinnen. Dies ist uns wiederum eine besondere Ehre und Freude, denn beide sind bis heute große Pioniere und Experten auf dem Gebiet der ADHS im Erwachsenenalter!

Unser besonderer Dank gilt an dieser Stelle erneut auch allen unseren Patienten. Ihre Offenheit und ihr Vertrauen in uns und unsere Arbeit lassen unsere Erfahrung und Expertise stetig wachsen und geben die für uns so wichtigen Einblicke jenseits aller wissenschaftlichen Erkenntnisse.

Wir wünschen uns, dass von der ADHS persönlich Betroffene mit Hilfe dieses Buches diese Störung verstehen und so mit all ihren Vor- und Nachteilen besser umgehen können. Für alle Therapeuten wünschen wir uns, dass dieses Buch sie dazu motiviert, das Thema »ADHS« weiterhin in ihre eigene klinische Praxis einzubinden, denn der Bedarf an Fachleuten und Verständigen auf diesem Gebiet ist weiterhin enorm.

Hamburg/Kassel, im Oktober 2020

Mandy Roy und Martin D. Ohlmeier

 

 

 

 

   Grundlagen der ADHS

1          Vom »Zappelphilipp« und »Hanns Guck-in-die-Luft« – Die Geschichte der ADHS

Klaus-Henning Krause

1.1       Erste Beschreibungen

Als der Arzt Heinrich Hoffmann seinem dreijährigem Sohn Karl zum Weihnachtsfest 1844 ein Schreibheft mit 14 einseitig beschriebenen und mit aquarellierten Zeichnungen versehenen Seiten schenkte, konnte er nicht ahnen, dass er damit ein Werk geschaffen hatte, das ihn weltberühmt machen würde und das in fast jedem Fortbildungsvortrag zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) erwähnt wird; diese Urschrift wird im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg aufbewahrt. Die erste gedruckte Version erschien 1845 unter dem Titel »Lustige Geschichten und drollige Bilder mit 15 schön kolorierten Tafeln für Kinder von 3 bis 6 Jahren«, als Autorenname wählte der Verfasser ein Pseudonym (»Reimerich Kinderlieb«). Die Figur des Struwwelpeter stand am Schluss des Buches, »Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug« sowie »Die Geschichte vom Zappelphilipp« waren noch nicht enthalten und kamen erst 1846 in der 2. Auflage hinzu; jetzt hieß das Buch »Struwwelpeter«, der Autor »Heinrich Kinderlieb«. Mit der 5. Auflage 1847 gab sich Heinrich Hoffmann dann mit seinem richtigen Namen zu erkennen und fügte »Die Geschichte vom fliegenden Robert« und »Die Geschichte vom Hanns Guck-in-die-Luft« ein (Hoffmann 1847). Dass so viele Facetten der ADHS in diesem Bilderbuch eindrücklich beschrieben wurden, ist der genauen Beobachtungsgabe von Heinrich Hoffmann zu verdanken, der diese Züge in seiner Familie durchaus beobachten konnte; auch in seiner eigenen Biographie finden sich viele Hinweise auf eine ADHS (Krause und Krause 1998). Aber auch seine Patienten, die er zusammen mit sechs jungen Frankfurter Kollegen in der 1834 gegründeten »Armenklinik« behandelte, regten ihn wohl zu seiner Beschreibung an: Wie Hoffmann in seinen Lebenserinnerungen schreibt, habe er schreiende, weinende und brüllende kranke Kinder oft dadurch beruhigt, dass er aus seinem Notizbuch ein Blatt herausgerissen, einen kleinen Buben mit dem Bleistift schnell hingezeichnet und erzählt habe, wie sich der Schlingel die Haare und die Nägel nicht schneiden lasse. Damit habe er die Kinder zum ruhigen Zuhören gebracht und nebenbei körperlich untersuchen können (Hoffmann 1985).

Der Zappelphilipp wurde namensgebend für die ADHS (»Zappelphilipp-Syndrom«), wobei der mit Hoffmann befreundete Maler Heinrich von Rustige 1838 in seinem Bild »Unterbrochene Mahlzeit« eine ganz ähnliche Szene dargestellt hatte (s. a. das Titelbild des Deutschen Ärzteblattes vom 30.01.2004). Es sollten aber noch viele Jahrzehnte vergehen, bis der Krankheitswert der von Hoffmann beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten erkannt und konzeptualisiert wurde. Als erste fachliche Beschreibung der ADHS gilt allgemein die 1902 im »Lancet« erschienene Arbeit von George Frederick Still; Symptome der ADHS wurden aber lange Zeit vor Heinrich Hoffmann und George Frederick Still bereits in zwei medizinischen Lehrbüchern 1775 von Melchior Adam Weikard und 1798 von Alexander Crichton recht ausführlich beschrieben (Barkley und Peters, in press). Still stellte in seinen Vorlesungen im Royal College of Physicians die Fallgeschichten von 20 Kindern dar, die Züge der Hyperaktivität zeigten. Er beschrieb extreme motorische Unruhe und nahezu choreiforme Bewegungen und als gemeinsames weiteres Merkmal eine abnorme Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Nach seinen Angaben war die Störung häufiger bei Jungen als bei Mädchen anzutreffen, begann bereits in den ersten Schuljahren und führte zu Leistungsversagen in der Schule trotz normaler Intelligenz. Viele der Kinder werden als boshaft, zerstörerisch und gewalttätig bezeichnet (Still 1902). Der Autor vermutete, dass das in seiner Arbeit dargestellte hyperaktive Verhalten auf einem angeborenen oder perinatal erworbenen biologischen Defekt der moralischen Kontrolle beruhe. Dieses Konzept einer organischen Schädigung als Ursache von Verhaltensauffälligkeiten wurde im vorigen Jahrhundert lange favorisiert und führte zu Bezeichnungen wie minimale Hirnschädigung als Diagnose bei Kindern mit Symptomen einer ADHS. Eine genauere Beschreibung des Krankheitsbildes findet sich 1932 in der Arbeit »Über eine hyperkinetische Erkrankung des Kindesalters« von Kramer und Pollnow. Die Autoren beschrieben hier ein Syndrom mit Symptomen von extremer Unruhe, Ablenkbarkeit und Sprachentwicklungsstörung. Interessant ist, dass bereits einige Jahre zuvor in Italien Kinder mit ähnlichen Symptomen von Sanctis (1925) beschrieben wurden.

1.2       Geschichte der Nomenklatur

Während in den USA im 20. Jahrhundert lange Zeit das Bild der ADHS keinen Eingang in die kinderpsychiatrische Literatur fand (z. B. wurde es in dem Lehrbuch von Kanner 1957 nicht erwähnt), finden sich in europäischen Lehrbüchern durchaus entsprechende Erwähnungen, so im Lehrbuch des Wiener Psychiaters Hans Hoff von 1956, der in seiner kinderpsychiatrischen Vorlesung die »hyperkinetische Erkrankung« explizit besprach. Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde die Bezeichnung der »minimalen Hirnschädigung« durch die Begriffe »minimale cerebrale Dysfunktion (MCD)« bzw. »minimal brain dysfunction (MBD)« ersetzt, nachdem Zweifel am Konzept einer pathologisch-anatomisch fassbaren Hirnschädigung als Ursache der motorischen Unruhe und Aufmerksamkeitsstörung aufgekommen waren.

Erst Ende der 1980er Jahre wurde der Begriff der minimalen zerebralen Dysfunktion als Bezeichnung für das Krankheitsbild der ADHS verlassen (in der Schweiz ist heute noch der Begriff »psychoorganisches Syndrom (POS)« für diese Diagnose gebräuchlich) und in der ICD-9 (World Health Organization 1978) bzw. im DSM-III (American Psychiatric Association 1980) die Störung als eigenständiges Krankheitsbild abgegrenzt:

•  In der ICD-9 wird der Begriff des hyperkinetischen Syndroms des Kindesalters mit Störung von Aufmerksamkeit und Konzentration (314.0) eingeführt, das möglicherweise verbunden ist mit Entwicklungsrückstand (314.1) oder einer Störung des Sozialverhaltens (314.2).

•  Das DSM-III benutzt den Begriff »Attention Deficit Disorder« (ADD), wobei eine häufige Kombination mit Hyperaktivität vorliegt (ADD-H), die aber nicht obligat für die Diagnose ist.

•  Mit der Frage, ob es sich beim Vorliegen einer entsprechenden Symptomkonstellation um ein Syndrom oder um eine eigenständige Störung handelt, haben sich Rothenberger und Neumärker (2005) auseinandergesetzt; sie kommen zum Schluss, dass nach dem heutigen Stand der Wissenschaft überzeugende evidenzbasierte Hinweise bestehen, wonach alle Kriterien für eine valide psychiatrische Störung erfüllt sind.

Während in der ICD-9 das hyperkinetische Syndrom noch als reine Erkrankung des Kindesalters beschrieben wurde, führte das DSM-III ein Persistieren von Symptomen bis ins Erwachsenenalter als spezielle Kategorie auf und bezeichnete dies als »ADD Residual Type«. In der revidierten Version (DSM-III-R) wurde die Unterscheidung in ADD und ADD-H mit der Begründung fallengelassen, dass Aufmerksamkeitsstörungen in der Regel mit Hyperaktivität vergesellschaftet seien, und es wurde der Begriff »Attention Deficit/Hyperactivity Disorder« (ADHD) eingeführt (American Psychiatric Association 1987). Bezüglich der Manifestation bei Erwachsenen wird im DSM-III-R wie im DSM-III festgehalten, dass die Diagnose einer ADHS im Erwachsenenalter dann zu stellen ist, wenn Symptome nach Kindheit und Adoleszenz persistieren – ohne dass auf spezifische Symptome im Erwachsenenalter eingegangen wird. Das DSM-IV (American Psychiatric Association 1994, deutsche Version 1996) übernimmt nicht mehr das Konzept mit obligater Hyperaktivität bei Aufmerksamkeitsstörungen, sondern differenziert drei Untergruppen:

•  Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Mischtypus: Dieser Typ liegt vor, wenn jeweils mindestens sechs von neun Symptomen der Aufmerksamkeitsstörung und der Hyperaktivität/Impulsivität über mindestens sechs Monate persistieren. Ausdrücklich wird im DSM-IV vermerkt, dass nicht bekannt ist, ob diese Kriterien auch im Erwachsenenalter gelten.

•  Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, vorwiegend unaufmerksamer Typus: Mindestens sechs Symptome des Aufmerksamkeitsdefizits, aber weniger als sechs Symptome der Hyperaktivität/Impulsivität haben mindestens sechs Monate bestanden.

•  Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typus: In den letzten sechs Monaten traten mindestens sechs Symptome von Hyperaktivität/Impulsivität, aber weniger als sechs Symptome von Unaufmerksamkeit auf.

Spezielle Ausführungen bezüglich des Vorliegens im Erwachsenenalter werden im Vergleich zum DSM-III-R nicht gemacht. Es wird jedoch ein spezieller Codierhinweis eingeführt: »Bei Personen (besonders Jugendlichen und Erwachsenen), die zum gegenwärtigen Zeitpunkt Symptome zeigen, aber nicht mehr alle Kriterien erfüllen, wird teilremittiert spezifiziert« (American Psychiatric Association 1996, S. 123).

Entsprechend dem DSM-III und DSM-IV rückt die ICD-10 (World Health Organization 1990) von der Eingrenzung der Diagnose auf das Kindesalter ab und beschreibt unter F 90 Hyperkinetische Störungen mit in Bezug auf das Alter und den Entwicklungsstand nachweisbarer Abnormität von Aufmerksamkeit und Aktivität (F 90.0), eventuell mit Störung des Sozialverhaltens kombiniert (F 90.1). Ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ohne Hyperaktivität wird separat unter der Codierung F 98.8 aufgeführt. In der deutschen Ausgabe der ICD-10 werden im systematischen Verzeichnis der Krankheiten die Störungen von F 90 bis F 98 betitelt mit »Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend« (Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information 1994). Dies weist darauf hin, dass auch hier zumindest indirekt eine Persistenz im Erwachsenenalter zugelassen wird.

In der revidierten Fassung des DSM-IV (DSM-IV-TR; American Psychiatric Association 2000) finden sich keine Änderungen bezüglich der ADHS.

In den Kriterien des DSM-5 werden neun Symptome der Aufmerksamkeitsstörung und neun Symptome der Hyperaktivität und Impulsivität aufgeführt (American Psychiatric Association 2013), wobei erstmals speziell das Erwachsenenalter betreffende Symptome aufgelistet sind. Voraussetzung für die Diagnosestellung im Erwachsenenalter ist das Vorhandensein von jeweils mindestens fünf der neun Symptome aus einem oder beiden Symptomclustern. Vorausgesetzt wird weiterhin, dass die Symptome bereits vor dem 12. Lebensjahr vorlagen und in mindestens zwei Lebensbereichen (z. B. Arbeitsplatz, Familie) zu deutlichen Funktionsbeeinträchtigungen führen und nicht plausibler durch eine andere psychische Störung, eine sonstige organische Erkrankung oder durch die Einnahme psychotroper Substanzen erklärt werden können. Patienten, bei denen während der Kindheit und Jugend eine ADHS vorlag, die aktuell aber nicht mehr den vollen Kriterienkatalog erfüllen, können in die diagnostische Kategorie »partielle Remission« eingeordnet werden. In Abhängigkeit von der aktuellen Ausprägung der individuellen Beeinträchtigung können gemäß DSM-5 leichte, mäßige oder schwere Störungsbilder differenziert werden.

Entsprechend der vorliegenden Symptomkonstellation werden unverändert im Vergleich zum DSM-IV drei klinische Subtypen unterschieden.

Die Prävalenz bei Erwachsenen wird mit 1–6 % veranschlagt (Wender et al. 2001). Das Magazin »Time« widmete 1994 dieser Störung eine Titelgeschichte und stellte als wahrscheinlich betroffene Erwachsene u. a. Benjamin Franklin, Winston Churchill, Albert Einstein und Bill Clinton heraus (Wallis et al. 2004). Wender publizierte 1995 die erste Monographie über die ADHS im Erwachsenenalter (Wender 1995); im gleichen Jahr veröffentlichte Nadeau eine ausführliche Darstellung des Krankheitsbildes (Nadeau 1995). In verschiedenen amerikanischen Lehrbüchern setzt man sich seitdem eingehend mit der ADHS auch im Erwachsenenalter auseinander (z. B. Accardo et al. 2000; Barkley 1998; Brown 2000; Goldstein 1997; Goldstein und Teeter Ellison 2002; Triolo 1999; Weiss et al. 1999).

Die erste ausführliche Darstellung des Krankheitsbildes bei Erwachsenen im deutschsprachigen Raum erfolgte 1998 (Krause et al. 1998). Im gleichen Jahr wurde die ADHS mit dem Erscheinen des amerikanischen Bestsellers »Driven to Distraction« von Hallowell und Ratey (1994) in deutscher Übersetzung unter dem Titel »Zwanghaft zerstreut« einem breiten Kreis von Laien in Deutschland bekannt (Hallowell und Ratey 1998).

Ein Meilenstein war die Entwicklung einer deutschen Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der ADHS im Erwachsenenalter, die 2003 publiziert wurde (Ebert et al. 2003). Im gleichen Jahr erschien die erste deutsche Monographie zur ADHS im Erwachsenenalter (Krause und Krause 2003). 2017 wurde eine aktuelle Leitlinie zur ADHS publiziert, in der auch das Erwachsenenalter berücksichtigt wird (Banaschewski et al. 2017). Inzwischen ist die adulte ADHS auch im Bereich der deutschen universitären Erwachsenenpsychiatrie akzeptiert.

1.3       Historisches zu Ursachen und Behandlung der ADHS

Charles Bradley beschrieb bereits 1937 den zunächst paradox anmutenden positiven Effekt von Benzedrin, einem racemischen Gemisch aus D- und L-Isomeren von Amphetaminsulfat, auf die motorische Unruhe von Kindern (Bradley 1937). Er arbeitete am Heim »Emma Pendleton Bradley« in Providence, Rhode Island, und führte zur Aufdeckung möglicher organischer Veränderungen bei unruhigen Kindern häufig Pneumencephalogramme durch. Er versuchte, die resultierenden Kopfschmerzen durch die Gabe von Benzedrin, einem Amphetaminderivat, zu lindern. Es fiel dann auf, dass die Kinder sich unter dieser Medikation in ihrem Verhalten deutlich besserten und auch bessere Schulleistungen erbrachten. Amphetamin war erstmals 1887 in Berlin von dem rumänischen Chemiker Lazăr Edeleanu synthetisiert worden, 1932 wurde es als billiger Ersatzstoff für das natürlich im Meerträubel, einer Rutensträucherart, vorkommende Ephedrin in der Asthmabehandlung eingesetzt. Es erstaunt, dass trotz der Mitteilung von Bradley Stimulanzien zunächst nicht weiter bei hyperaktiven Kindern eingesetzt wurden. Man vermutet, dass psychoanalytische Erklärungsmodelle den Einsatz von wirksamen Medikamenten zu dieser Zeit blockierten (Laufer 1975). Ab Mitte des vorigen Jahrhunderts setzte eine vermehrte Beschäftigung mit der Psychopharmakologie stimulierender Substanzen ein. 1948 brachte Glaxo-Wellcome in den USA D-Amphetamin als »Benzedrin« auf den Markt. Vier Jahre zuvor hatte Leandro Panizzon Methylphenidat entwickelt, das er nach seiner Frau Marguerite, die beim Tennisspielen nach Einnahme der Substanz eine sehr positive Wirkung spürte, »Ritalin« benannte und das seit 1954 von Ciba-Geigy und später von Novartis vermarktet wurde. In den 1960er Jahren gab es dann die ersten kontrollierten Studien zur Gabe von Methylphenidat bei hyperaktiven Kindern, die einen eindeutigen Effekt bei etwa drei Viertel der Betroffenen nachwiesen und eine gute Verträglichkeit zeigten, so dass Methylphenidat mit 40 Jahren klinischer Erfahrung als das am besten untersuchte Medikament in der Kinderheilkunde gilt (Trott 1993). In den 1970er Jahren ging der Trend dann gegen die medikamentöse Behandlung der Störung, als Ursache der ADHS wurden Nahrungsmittelallergien vermutet bzw. toxische Reaktionen auf Nahrungssubstanzen. Es gelang nicht, diese Konzepte in kontrollierten Studien zu bestätigen, es fanden sich keine oder nur minimale Effekte einer Diät auf das Verhalten der Kinder. Von Psychoanalytikern wurde eine fehlerhafte Erziehung als Ursache von Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörung angenommen, auch diese Theorien sind längst verlassen worden.

Die eigentliche Beschäftigung mit den neurobiologischen Grundlagen der ADHS begann erst in den 1970er Jahren. Es fanden sich neurochemische, neurophysiologische und radiologische Auffälligkeiten, die vor allem auf Anomalien im dopaminergen und noradrenergen System hinweisen (Krause und Krause 2009). So wurde in mehreren Studien bei Patienten mit ADHS eine primär erhöhte Verfügbarkeit von Dopamintransportern im Striatum beschrieben (Krause et al. 2000a, Spencer et al. 2005). Genetische Untersuchungen belegen immer klarer, dass bei der ADHS in den meisten Fällen eine eindeutige genetische Komponente besteht. So fanden Hudziak et al. in einer epidemiologischen Zwillingsstichprobe aus den Niederlanden einen Einfluss besonderer Umweltfaktoren von lediglich 22 %, während genetische Ursachen 78 % ausmachten (Hudziak et al. 2005). In ihrer Analyse zur ADHS in verschiedenen Kulturkreisen kommen Rohde et al. zu dem Schluss, dass diese Störung nicht ein milieu- und umweltbedingtes Konstrukt ist, sondern in vergleichbarer Ausprägung und Häufigkeit quer durch alle Kulturen angetroffen wird (Rohde et al. 2005).

Wir haben es bei der ADHS mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer sehr komplexen, überwiegend genetisch bedingten Störung zu tun (Biederman 2005a). Eine endgültige Identifizierung aller für das Krankheitsbild wesentlichen Gene wird trotz der rasanten Entwicklungen auf genetischem Gebiet sicher noch eine Weile dauern (Renner et al. 2008; Thapar et al. 2007). Wenn dann aber eine solche Charakterisierung gelungen ist, könnte aus der Kombination bestimmter Gen-Auffälligkeiten möglicherweise recht exakt auf das klinisch zu erwartende Bild geschlossen und gegebenenfalls eine spezifische medikamentöse Behandlung eingeleitet werden (Krause und Krause 2007). Nicht vernachlässigt werden darf dabei die Erfassung von Umwelteinflüssen, die – zum Teil wieder auf genetischer Basis (»Genexpression«) – die Ausprägung eines Störungsbildes modifizieren können. Castellanos und Tannock postulierten, dass spezifische Genotypen eine vermehrte Vulnerabilität gegenüber Umwelteinflüssen bedingen könnten (Castellanos und Tannock 2002). Ziel der neurobiologischen Forschung wird sein, Modelle solcher »Endophänotypen« zu entwickeln, um die quantitativen Risiken für eine Manifestation der Störung und mittelbar damit die Therapieoptionen festlegen zu können. Für die ADHS schlugen Castellanos und Tannock (2002) aus neurobiologischer Sicht drei Endophänotypen vor – Anomalien im Belohnungssystem, Defizite bei der zeitlichen Verarbeitung sowie Störungen des Arbeitsgedächtnisses. Erste Entwürfe von Computermodellen zeigen, wie die Lösung spezifischer Aufgaben durch Störungen im Neurotransmitter-System bei Patienten mit ADHS beeinträchtigt sein könnte: In diesen Modellen zur Dysfunktion von Dopamin und Noradrenalin kamen Frank et al. zum Schluss, dass das Defizit bei Go-Aufgaben besser durch Stimulanzien gebessert wird als das bei No-Go-Aufgaben. Dieser positive Effekt wird erreicht durch die Erhöhung der striatalen Dopamin-Konzentration; gebessert durch die Stimulanzien war in diesen Untersuchungen auch das Arbeitsgedächtnis unter Ablenkung mit entsprechenden Reizen. Für andere ADHS-spezifische Störungen wie starke Schwankungen der Resultate von Untersuchung zu Untersuchung sowie erhöhte Variabilität der Reaktionszeiten postulierten die Autoren eher noradrenerge Defizite als Ursache (Frank et al. 2007).

Inzwischen ist die Gabe von Stimulanzien der Goldstandard bei der ADHS-Behandlung; zusätzliche psychotherapeutische Therapieansätze sind wichtig und nützlich, reichen aber bei deutlich betroffenen Patienten als alleinige Behandlungsmaßnahme nicht aus. Die Ergebnisse einer ersten bei Kindern mit ADHS durchgeführten Multicenterstudie, bei der über 14 Monate die Effekte von Pharmako- und Verhaltenstherapie jeweils einzeln und als Kombinationsbehandlung verglichen wurden, zeigen eindrucksvoll, dass die alleinige Verhaltenstherapie der medikamentösen Therapie signifikant unterlegen war, während sich zwischen Pharmakotherapie allein und der Kombination von Pharmako- und Verhaltenstherapie nur bei begleitenden Angststörungen ein Unterschied sichern ließ (Jensen et al. 2005; The MTA Cooperative Group 1999). Bei Erwachsenen mit ADHS ist gemäß eigenen Erfahrungen und der Literatur (Asherson 2005; Krause 2008; Murphy 2005; Triolo 1999) wegen tiefgreifender Störungen des Selbstwertes und der Autonomieentwicklung neben der medikamentösen Behandlung häufig eine tiefenpsychologisch orientierte Langzeittherapie als begleitende Maßnahme notwendig. Prinzipiell ist gerade bei Erwachsenen mit ADHS auch wegen der meist vorhandenen Komorbiditäten eine multimodale Therapie angezeigt (Weiss et al. 2008).

1.4       Geschichte der medikamentösen Therapie speziell bei Erwachsenen

Im Gegensatz zur Medikation im Kindesalter ist die Auswahl des geeigneten Mittels bei Erwachsenen mit ADHS schwieriger und die Einstellung auf eine individuell erforderliche Dosis problematischer, weil die Verstoffwechselung größeren Einflüssen, z. B. durch Hormone, unterliegt. Die auf das Körpergewicht bezogenen Dosierungsempfehlungen für eine Stimulanzienbehandlung im Kindesalter gelten nicht für Erwachsene, bei denen es nach eigenen Erfahrungen keine feste Relation zwischen Körpergewicht und Dosis gibt. Markowitz et al. (2003) betonten in ihrer Übersicht, dass aufgrund der erheblichen interindividuellen Unterschiede die endgültige Titration gewöhnlich nicht nach Gewicht, sondern nach dem therapeutischen Ansprechen erfolgt. Möglicherweise benötigen Frauen höhere Methylphenidat-Dosen bezogen auf das Körpergewicht als Männer, um gleiche Plasmakonzentrationen zu erreichen (Markowitz et al. 2003). Das Ansprechen auf die Therapie ist bei den Erwachsenen überwiegend nicht so dramatisch wie im Kindesalter, in vielen Fällen zeigt sich der Erfolg der medikamentösen Therapie beispielsweise in einer Verbesserung der kognitiven Funktionen in einem Zeitraum von bis zu zwei Monaten.

Der erste Bericht über die Therapie mit Stimulanzien bei Erwachsenen mit Symptomen der ADHS mit guter Besserung unter langjähriger Therapie erschien 1947 (Hill 1947). Erst nach längerer Pause tauchten dann vermehrt in den 1970er Jahren wieder günstige Erfahrungsberichte über Behandlungen mit Stimulanzien bei Erwachsenen auf (Arnold et al. 1972; Huessy 1974; Mann und Greenspan 1976). Es handelt sich in allen Fällen um unkontrollierte Studien.

Seit 1976 wurden mehrere placebokontrollierte Studien bei Erwachsenen mit Methylphenidat, 1999 auch erstmals mit D-Amphetamin durchgeführt (Übersicht in Krause und Krause 2009). Bei den meisten Studien konnte ein guter Effekt auf Unruhe, Aufmerksamkeitsdefizit, Impulsivität, depressive Verstimmung und Irritabilität nachgewiesen werden, ohne dass sich eine Toleranz entwickelte. In einer Langzeitstudie bei 117 Erwachsenen mit ADHS, die eine Besserung durch Methylphenidat in placebokontrollierten Untersuchungen aufgewiesen hatten, fand Wender, dass die positive Reaktion auf Stimulanzien bei Langzeitgabe persistiert und dass die Patienten nicht refraktär wurden (Wender 1995). Um auszuschließen, dass es sich um spontane Remissionen handelte – und somit nach initial positiver Wirkung die Medikation gar nicht mehr benötigt würde –, wurde bei einem Teil der Patienten die Dosis allmählich reduziert; Resultat war, dass sich die Symptome in absolut gleicher Stärke wieder einstellten.

Bei Erwachsenen wurden teilweise bereits bei niedrigen Dosen ausgezeichnete klinische Effekte beschrieben (Heath et al. 1990); wesentlich erscheint in diesem Zusammenhang, dass bei SPECT-Studien mit TRODAT-1 die initial erhöhte Dopamintransporter-Dichte bei Erwachsenen mit ADHS bereits unter einer Dosis von dreimal 5 mg Methylphenidat pro Tag unter das Niveau eines Kontrollkollektivs sank (Krause et al. 2000a). Ein möglicher Grund dafür, dass bei Erwachsenen im Vergleich zu Kindern niedrigere Dosismengen bezogen auf das Körpergewicht gute therapeutische Effekte haben, ist die im Lauf des Lebens deutlich abnehmende Dopamintransporter-Dichte im Striatum. Fasst man die in den letzten Jahren publizierten Befunde zusammen, weist ein 10-Jähriger eine fast doppelt so hohe DAT-Dichte wie ein 50-Jähriger auf (Krause und Krause 2009). Da Methylphenidat maßgeblich über eine Blockierung der Dopamintransporter wirkt, wäre damit erklärt, warum bei Erwachsenen niedrigere Dosierungen als bei Kindern ausreichend wirksam sind. Es kann vermutet werden, dass bei Dosissteigerungen über 30–40 mg hinaus ein zusätzlicher Effekt von Methylphenidat durch andere Mechanismen, wie z. B. eine Blockierung von Noradrenalintransportern oder eine vermehrte Dopaminausschüttung, vermittelt wird, da die Wirkung auf die Dopamintransporter bei diesen Dosierungen bereits weitgehend ausgeschöpft sein dürfte (Volkow et al. 1998). Diese hohen Dosen bergen aber die Gefahr von Nebenwirkungen, führen bei manchen Patienten sogar zu einer Verschlechterung des klinischen Bildes. Sinnvoll erscheint es in diesen Fällen, niedriger dosiertes Methylphenidat mit anderen, z. B. auf die Noradrenalintransporter wirkenden Substanzen wie Atomoxetin zu kombinieren.

Obwohl Schmidt et al. bereits 1988 in einer Fallstudie den positiven Effekt der Behandlung mit Psychostimulanzien bei einem Erwachsenen mit Aufmerksamkeitsdefizit beschrieben haben (Schmidt et al. 1988), eine Vielzahl von positiven kontrollierten Studien bei Erwachsenen vorliegt und die entsprechende Behandlung in vielen zivilisierten Ländern schon seit längerer Zeit offiziell zugelassen wurde, war die Indikation für die medikamentöse Therapie der ersten Wahl mit Methylphenidat in Deutschland bis zum Sommer 2011 offiziell auf das Kindes- und Jugendalter begrenzt. Erst im April 2011 wurde Medikinet® adult als erstes Methylphenidat-Präparat für Erwachsene zugelassen; inzwischen liegen Zulassungen für das Erwachsenenalter für alle Stimulanzien in retardierter Form vor.

 

 

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2          Was wir heute wissen: Ätiopathogenese und Neurobiologie der ADHS

Mandy Roy

In den vergangenen einhundert Jahren haben sich unsere Möglichkeiten, das Gehirn am lebenden Menschen zu untersuchen, erheblich verbessert. Methoden der Bildgebung, wie z. B. die (funktionelle) Magnetresonanztomographie (MRT) oder ihre Sonderform, die Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI), erlauben, das Gehirn sowohl in seiner Struktur als auch in seiner Arbeitsweise detailliert zu beobachten. Dennoch stellt uns das menschliche Gehirn bis heute vor viele ungelöste Rätsel. Trotz intensiver Forschungsarbeit rund um unseren Globus gilt für die meisten psychischen Erkrankungen, dass wir zwar viele wichtige Teilaspekte verstanden haben und diese auch behandeln können, es aber weiterhin zahlreiche ungeklärte Fragen gibt.

Ebenso verhält es sich mit der ADHS. In den vielen verschiedenen Forschungsarbeiten zu diesem Störungsbild wurden sehr wichtige Erkenntnisse gewonnen, die bedeutsame Grundlagen zu seinem Verständnis bilden. Dennoch gibt es bis heute kein umfassendes Erkrankungsmodell, das alle Aspekte der Entstehung, des klinischen Erscheinungsbildes und des Verlaufs der ADHS erklären kann. Dabei kommt auch der Genetik eine bedeutsame Rolle zu. Es konnte inzwischen das gesamte menschliche Erbgut entschlüsselt werden, was einen immensen Fortschritt der Forschung darstellt. Jedoch sind auch die genauen genetischen Grundlagen der ADHS bisher weitgehend ungeklärt.

Für das Verständnis eines neurobiologischen Erkrankungsmodells der ADHS ist es wichtig zu verstehen, dass Gene den Aufbau und die Funktionalität der Zelle beeinflussen, in der sie aktiv sind. Eine Abweichung der Gene bei betroffenen Personen führt zu einer Veränderung der Zelle, so kann bei ADHS-Patienten durch eine Besonderheit der Gene eine Veränderung der Nervenzellen im Gehirn entstehen. Eine veränderte Funktion der Nervenzellen in bestimmten Bereichen des Gehirns wiederum kann zu besonderen Verhaltensweisen führen, wie beispielsweise einer erhöhten Ablenkbarkeit oder einer besonders schnellen Auffassungsgabe. Umweltbedingungen können dabei sowohl die Genveränderungen als auch deren Auswirkungen auf die Zelle und das Ausmaß der veränderten Hirnfunktion beeinflussen ( Abb. 2.1).

Wie bereits erwähnt, sind noch nicht alle »Feinheiten« der neurobiologischen Grundlagen der ADHS aufgeklärt. Die wichtigen »Puzzleteilchen« jedoch, die das Gerüst eines Erkrankungsmodells bilden, sollen in diesem Kapitel vorgestellt werden.

Abb. 2.1: Sowohl die Neurobiologie als auch Umwelt- und genetische Einflüsse beeinflussen die ADHS. Zudem gibt es Interaktionen zwischen Umwelteinflüssen, den Genen und dem Gehirn.

2.1       Neurochemische und neuroanatomische Aspekte der ADHS

2.1.1     Grundlagen

Das Gehirn besteht aus vielen Milliarden Nervenzellen, den Neuronen. Unsere körperlichen und geistigen Funktionen, wie z. B. Bewegungsabläufe oder die Steuerung der Aufmerksamkeit, beruhen auf der Aktivität von Neuronen in jeweils bestimmten Hirnregionen und Netzwerken. Dabei »kommunizieren« die Neurone untereinander durch elektrische Impulse, welche über chemische Prozesse zwischen den Zellen weitergeleitet werden. Diese chemischen Prozesse wiederum werden durch Botenstoffe, sog. Neurotransmitter, vermittelt. Es gibt im menschlichen Gehirn verschiedene Typen von Neurotransmittern. Bei der ADHS scheint insbesondere der Stoffwechsel der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin gestört zu sein.

Darüber hinaus ist es zum Verständnis der Erkrankungstheorien zur ADHS wichtig zu wissen, dass das Gehirn in verschiedene Bereiche unterteilt wird: Der vordere Teil stellt das Frontalhirn dar, dessen vorderster Abschnitt präfrontalerCortex genannt wird. Dem Frontalhirn folgen der Parietal- und Temporallappen. Der hintere Teil des Großhirns wird vom Occipitallappen gebildet, dem das Kleinhirn, das sog. Cerebellum, aufsitzt ( Abb. 2.2a). Neben diesen Hirnarealen, die der Hirnrinde – dem Cortex – entsprechen, liegen im Inneren des Gehirns subcorticale Strukturen, wie die Basalganglien. Zu diesen zählen u. a. der Nucleus caudatus und das Putamen, welche gemeinsam das Striatum bilden ( Abb. 2.2b). Nach dem bisherigen Erkenntnisstand scheinen bei der ADHS in besonderem Maße Auffälligkeiten im präfrontalen Cortex und im Striatum vorzuliegen.

Abb. 2.2: Anatomische Gliederung des Gehirnsa) Aufteilung der Großhirnrinde, Kleinhirn und Hirnstammb) Nucleus caudatus und Putamen bilden gemeinsam das Striatum.

Während die Basalganglien motorische und kognitive Funktionen erfüllen, ist der präfrontale Cortex bedeutsam für die sog. »exekutiven Funktionen«, welche Mechanismen für ein planvolles, zielgerichtetes und flexibles Handeln darstellen. Er bildet mit anderen Regionen des Gehirns, so auch mit subcorticalen Strukturen (Burruss et al. 2000), »Netzwerke«, die in ihm entspringen und enden. Im Einzelnen sind bestimmten Regionen dieser Netzwerke folgende Funktionen zuzuordnen:

•  dorsolateraler präfrontaler Cortex: Organisation, Planung, Fokussieren der Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis

•  orbitofrontaler Cortex: Sozialverhalten und Empathie, Dämpfung der Impulsivität

•  dorsales anteriores Cingulum: Entscheidungstreffen, Planung und Hemmung motorischer Handlungen

(Badgaiyan und Posner 1998; Burruss et al. 2000; Bush et al. 2002; Duffy und Campbell 1994; Mega und Cummings 1994; Callicott et al. 1999).

Im präfrontalen Cortex haben Dopamin und Noradrenalin eine wichtige Funktion für die Aufmerksamkeit (Biederman und Spencer 1999). Dopamin ist hier weiterhin beteiligt an der Kontrolle von Bewegungen, Kognition sowie Affekten (Jaber et al. 1996) und führt zu einer »Verbesserung« des »Signal-Rausch-Verhältnisses« (Vijayraghavan et al. 2007), was bedeutet, dass das Gehirn stärker auf einen bestimmten Reiz (»Signal«) reagiert und irrelevante Informationen (»Rauschen«) »ausblendet«. Dopamin entfaltet seine Wirksamkeit über die im präfrontalen Cortex in hoher Dichte vorkommenden D1-Rezeptoren (Arnsten und Li 2005). Über den präfrontalen Cortex hinaus ist Dopamin auch in anderen Hirnregionen von hoher Relevanz, so ziehen vom ventralen Tegmentum bzw. von der Substantia nigra im Mittelhirn die dopaminergen mesostriatalen und mesocorticolimbischen Systeme jeweils zum Striatum. Das mesostriatale System ist dabei involviert in die Steuerung der Aufmerksamkeit, das mesocorticolimbische System in die Motorik und Handlungsplanung (Clark et al. 1987).

Noradrenalin verbessert wie Dopamin ebenfalls das »Signal-Rausch-Verhältnis« (Segal und Bloom 1976), moduliert die Aufmerksamkeit, das Arbeitsgedächtnis und die Impulskontrolle (Madras et al. 2005; Arnsten 2006). Es wirkt über α-2A-Adrenorezeptoren und D4-Rezeptoren (Van Tol et al. 1991; Arnsten und Li 2005; Arnsten 2006). Die noradrenerge Innervierung ist im rechten Cortex stärker als im linken ausgeprägt (Tucker und Williamson 1984). Eine Blockade von α-2A-Adrenorezeptoren bei Affen führt zu Störungen im Arbeitsgedächtnis, einer verminderten Impuls-Kontrolle und einer motorischen Hyperaktivität (Li und Mei 1994; Ma et al. 2003; Ma et al. 2005).

Die dopaminergen Zellen des Mittelhirns und die noradrenergen Zellen des Locus coeruleus »feuern« je nach Erregungszustand und Anforderungen durch die Umwelt (Schultz 1998; Jones 2008). Dopamin und Noradrenalin sind dabei jeweils nur in einer bestimmten Konzentration bzw. bei einer entsprechenden Verfügbarkeit der Rezeptoren im präfrontalen Cortex am besten wirksam, oberhalb oder unterhalb dieser Konzentration kann es zu Störungen der Funktionen in diesem Hirnareal kommen. Bei Tieren kann beispielsweise sowohl ein Mangel als auch ein Überschuss an Dopamin zu Hyperaktivität führen (Castellanos und Tannock 2002). Eine Über- oder Unterstimulation des D1-Rezeptors führt zu Dysfunktionen im präfrontalen Cortex (Arnsten und Li 2005). Bei der Regulation der Transmitterverfügbarkeit kommt den Dopamin- und Noradrenalintransportern eine wichtige Funktion zu, da sie die Transmitter aus dem synaptischen Spalt in das präsynaptische Neuron zurückführen (Madras et al. 2005). Nur Neurotransmitter, die sich im synaptischen Spalt befinden, können ihre Wirksamkeit über eine Aktivierung der entsprechenden Rezeptoren entfalten.

An der Steuerung der Aufmerksamkeit ist jedoch nicht nur der präfrontale Cortex beteiligt, vielmehr unterteilt man ein vorderes und ein hinteres Aufmerksamkeitssystem mit folgenden Strukturen und Funktionen:

I.     Vorderes Aufmerksamkeitssystem (präfrontaler Cortex – vorderes Cingulum): Arbeitsgedächtnis, nicht fokussierte Aufmerksamkeit, Reizinhibition, exekutive Funktionen

II.    Hinteres Aufmerksamkeitssystem (rechter Parietallappen – Colliculi superiores – hinterer Thalamus): Erkennen neuer Stimuli

Im vorderen System sind Dopamin und Noradrenalin die wesentlichen Neurotransmitter, im hinteren vorwiegend Noradrenalin. Beide Systeme werden über das Striatum und den Thalamus gesteuert (Nieuwenhuys 1985; Posner und Petersen 1990; Posner und Dehaene 1994; Teicher et al. 2002).

Weiterhin wurde eine Tendenz zur Lateralisierung der Aufmerksamkeitsprozesse festgestellt: Während rechtsseitig eher das Aufrechterhalten und das Zuwenden der Aufmerksamkeit gegenüber neuen Reizen lokalisiert ist, findet linksseitig das Fokussieren der Aufmerksamkeit statt (Castellanos 1997).Das Frontalhirn wirkt über Dopamin und Noradrenalin hemmend auf subcorticale Strukturen (Zametkin und Rapoport 1987).

Auch dem Cerebellum werden neben motorischen Funktionen Bedeutung hinsichtlich Kognition, Planung und Ausführung zugeschrieben (Brennan und Arnsten 2008). Es gibt Projektionen vom präfrontalen Cortex in das Cerebellum sowie in die Basalganglien und zurück, diese Kreisläufe interagieren miteinander über den Thalamus und das Striatum (Hoshi et al. 2005).

2.1.2     Pathologische Veränderungen bei ADHS

Verschiedene Studien zu Dopamin und Noradrenalin bzw. deren Abbauprodukten in den einfach zu untersuchenden Körperflüssigkeiten, wie Urin, Blut und Liquor, haben keine eindeutig wegweisenden Ergebnisse erbracht (Krause et al. 2000b; Mercuglaino 2000). Bei Erwachsenen mit einer ADHS wurde jedoch mittels SPECT-Untersuchungen (»Single Photon Emission Computer Tomography«: bildgebendes Verfahren, in welchem die Verteilung einer applizierten Substanz, z. B. im Gehirn, dargestellt werden kann) eine Erhöhung der Konzentration der Dopamintransporter im Striatum und im rechten Caudatus beobachtet (Dougherty et al. 1999; Krause et al. 2000a; Spencer et al. 2007), bei an ADHS erkrankten Kindern in den Basalganglien (Cheon et al. 2003). Eine Erhöhung der Konzentration dieser Tranporterproteine kann dazu führen, dass zuviel Dopamin aus dem synaptischen Spalt in das Neuron zurückgeführt wird, so dass die Konzentration an wirksamem Dopamin im synaptischen Spalt bzw. an den Rezeptoren vermindert ist. Dieser Dopaminmangel, der durch die erhöhte Transporterkonzentration verursacht ist, stellt eine zentrale Hypothese der Neuropathologie der ADHS dar. Interessanterweise wurde nach Behandlung mit Methylphenidat sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern mittels SPECT eine Reduktion der Dopamintransporter beobachtet (Dresel et al. 2000; Krause et al. 2000a; Vles et al. 2003). Allerdings zeigten ADHS-Patienten, die nicht von der Medikation mit Methylphenidat profitierten, vor Beginn der Behandlung keine Erhöhung der Konzentration der Dopamintransporter (Krause et al. 2005). Nikotin scheint bei ADHS-Patienten ebenfalls zu einer Verringerung der Konzentration der Transport-Proteine zu führen (Krause et al. 2006).