Adler mit gebrochenem Flügel - Ulrich Völkel - E-Book

Adler mit gebrochenem Flügel E-Book

Ulrich Völkel

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Beschreibung

Ernst Moritz Arndt, Sohn eines Leibeigenen, der sich zum Professor für Geschichte hochgearbeitet hat, flieht 1812 vor Napoleon nach Russland. Der Freiherr vom Stein hat ihn, der durch seine volkstümlichen Lieder, Schriften und Reden gegen die Fremdherrschaft aufzurütteln vermag, nach St. Petersburg gerufen. An der Seite des berühmten Staatsmanns und Politikers wird Arndt Mitstreiter im großen Kampf der Völker: er ist erschüttert, aber nicht entmutigt durch die Nachricht vom Brand Moskaus, er wirkt mit bei der Gründung der Russisch-Deutschen Legion und erlebt, mit dem Freiherrn vom Stein unmittelbar hinter den geschlagenen Truppen Napoleons nach Deutschland zurückkehrend, das Elend der sich auflösenden einstigen „Großen Armee“. Ulrich Völkel schildert nach seinem erfolgreichen Theodor-Körner-Roman „Mit Leier und Schwert“ das wechselvolle Schicksal Ernst Moritz Arndts, Glück und Leid eines aufrechten Mannes, der wie Körner während des Befreiungskriegs den Höhepunkt seiner Laufbahn erfährt, dann aber, verfolgt und verfemt wie viele Patrioten, zum „Adler mit gebrochenem Flügel“ wird. INHALT: Teil I. Der Kampf der Völker Ein Mann sucht sein Vaterland Sankt Petersburg Des Deutschen Vaterland Königsberg Reichenbach Leipzig Teil II. Die unheilige Allianz Frankfurt Johanna Frieder Oswald Der Fingerzeig Gottes Belle Alliance, der schöne Bund Das Bild im Dom Teil III. Verfolgt und verfemt Nanna Bonn Die Kabinettsorder Die Einleitung des Verfahrens Adler mit gebrochenem Flügel Epilog

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Impressum

Ulrich Völkel

Adler mit gebrochenem Flügel

Roman um Ernst Moritz Arndt

ISBN 978-3-95655-510-7 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1987 im Verlag der Nation, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Teil I. Der Kampf der Völker

Auf, deutsche Menschen! bei so herrlicher Sache und so herrlichen Hoffnungen, auf mit dem kühnsten Stolze und dem reinsten Herzen! Es verstumme jeder Geiz und Ehrgeiz, es erröte jede Hoffart und Herrschsucht, es versinke jeder Unterschied und jede Schranke; ein Bruderherz, eine Bruderliebe schlage in den Pulsen des ganzen deutschen Volkes! Keiner sei der Erste und keiner sei der Letzte, keiner der Oberste und keiner der Unterste, jeder sei zum heiligen Dienst und zur treuen Arbeit für das Vaterland willig, gehorsam, demütig! Hinweg jede Eitelkeit und Einbildung, hinweg jeder unselige Haß und Neid, der den einen Stand gegen den anderen entzweit hat, hinweg alle die leeren Ansprüche und ungerechten Forderungen der einen über die anderen! Darin aber lasset uns alle streben und streiten und wetteifern, welcher im Dienste des Vaterlandes der Frommste, Gehorsamste und Demütigste sein möge.

Ernst Moritz Arndt in „Geist der Zeit“ III

Ein Mann sucht sein Vaterland

Sie näherten sich der Grenze, der schmierige Kaufmann und sein Kommis, ein ungleiches, ein seltsames Paar; denn der Herr war ein Spitzel und der Diener ein Patriot.

Sie hatten die letzte Station im österreichischen Galizien erreicht. Die Pferde mussten gewechselt werden. Ging es schnell weiter, konnten sie am frühen Nachmittag in Radziwilow eintreffen, der ersten Stadt auf der anderen Seite. Russland! dachte der als Diener verkleidete Flüchtling. Ich muss in ein fremdes Land gehen auf der Suche nach dem eigenen, so sehr hat Napoleon, so sehr haben auch die feigen deutschen Fürsten die Welt durcheinandergebracht. Russland! Wenn es noch Hoffnung gab, so war sie dort zu finden, obwohl die Grande Armee des Usurpators im Sommer dieses Jahres 1812 mit ungeheurer Wucht in das Zarenreich eingefallen war und trotz großer Verluste immer tiefer eindrang, auf Moskau zu, die heilige Stadt der Russen. Aber vielleicht war der schnelle Vormarsch nur der kürzeste Weg zum Ende Napoleons, der Europa in Unglück und Verzweiflung gestürzt hatte.

In Russland hatten sich die meisten deutschen Patrioten wieder getroffen, die aus ihrem Vaterland flüchten mussten oder von den Verhältnissen vertrieben worden waren. Am Hofe des Zaren Alexander und in seiner Residenz Sankt Petersburg sammelten sich die Gegner Napoleons, deren entschiedener Wortführer der Freiherr vom und zum Stein war. Zu ihm sollte er kommen, der sich verkleiden und verstellen musste, um den französischen Häschern nicht in die Hände zu fallen; denn er wäre erschossen worden wie der Buchhändler Palm.

Es war ein Witz besonderer Art, dass ein Spitzel Metternichs ausgerechnet ihn durch die mit Napoleon verbündete Monarchie schleuste, weil man den Kerl glauben gemacht hatte, es handle sich um einen Geheimagenten des einflussreichen Ministers. Der Spitzel kannte sich aus in solchen Geschäften. Während sich die Soldaten beiderseits blutige Köpfe schlugen, standen die Diplomaten der feindlichen Länder, freilich noch heimlich, im Kontakt miteinander, um Gewinn und Verlust ihrer Herren auszuhandeln.

Der wartende Kommis sah den krummbeinigen Spitzel aus der Tür der Wirtschaft kommen. Und weil er noch krummbeiniger daherstapfte als sonst, wusste er, dass sich der Mensch von dem Geld, das er für seine Dienste erpresste, wieder einmal die Kehle geschmiert hatte. Der Diener verzog angewidert das Gesicht, und der Herr, der die Verachtung sah, grinste töricht. Mühsam kletterte er in die Kutsche. Das einzig Gute am Zustand des angeblichen Kaufmanns war, dass er jetzt erst seinen Rausch ausschlafen musste. Und das hieß, er konnte die nächsten Stunden keine ebenso plumpen wie lästigen Fragen stellen, um die eigentliche Mission seines Begleiters herauszubekommen. Hätte der Spitzel gewusst, dass ein Eilkurier von Wien unterwegs war, um den angeblichen Kommis festzusetzen, er hätte ihn dennoch bis zur Grenze gebracht, um noch ein paar Dukaten aus ihm herauszupressen, und ihn erst im letzten Moment an die österreichischen Gendarmen verraten. Nun grunzte er, anders konnte man die Schnarchgeräusche nicht nennen, in seiner Ecke und war gewiss zufrieden mit sich, weil er seinen Dienst fürs Vaterland auf die einträglichste Weise in klingende Münze verwandelt hatte.

Die Kutsche hielt plötzlich. Der Spitzel schreckte auf. „Wo sind wir?“

„Keine Meile mehr bis zur Grenze“, antwortete ihm sein Reisebegleiter. „Und damit Ihr es wisst, ich bin nun nicht mehr Euer Diener, Herr Schmuggler, ich bin der Sprachmeister Allmann, in Geschäften unterwegs nach Moskau. Kann Er sich das merken?“

Die Worte hätten keinen Eindruck auf den Spitzel gemacht, wären sie nicht mit so viel Verachtung ausgesprochen worden. Diesen Ton kannte er. Unterwürfiges Grinsen überzog sein Gesicht. „Sehr wohl, der Herr!“ Aber in seinem dukatengierigen Schädel war schon die nächste Idee geboren, wie er seinen gewesenen Diener noch einmal schröpfen konnte, der den kurzen Halt genutzt hatte, um die Kleider zu wechseln und wieder ein Herr zu werden. Schade, dass die Fahrt zu Ende ging. Es reiste sich gut mit einem Huhn, das so bereitwillig goldene Eier legte.

„Wenn Euer Wohlgeboren gestatten“, sagte der Spitzel, „will ich den Übergang nach Russland besorgen. Ich weiß, wie man mit den Kerls umgeht. Gebt mir nur fünf Dukaten, und sie tragen Euer Wohlgeboren hinüber.“

„Warum soll ich Euch fünf Dukaten geben, von denen drei ohnehin in Eurer Tasche verschwinden, wenn ich die besten Papiere aus der eigenen ziehen kann?“ Und dabei wedelte er mit einem versiegelten Schreiben vor der Nase des Spitzels herum, der begriff, dass die schöne Reise nun wirklich zu Ende war.

„Halt!“, rief der Zöllner, als sie die Grenze erreicht hatten. Der Reisende, der sich Allmann nannte und der, dessen war sich der Spitzel nun ganz sicher, ein hohes Tier sein musste, sprang behänd aus der Kutsche, ließ sein Gepäck abladen und wandte sich dann noch einmal um. „Ade, Herr Schmuggler“, rief er gut gelaunt. „Retour werdet Ihr wohl auf eigene Kosten reisen müssen; denn ich glaube nicht, dass Ihr einen einzigen Russen findet, der zu Napoleon will. Wenn, dann kommen sie alle!“

Der Spitzel grinste, während er über den seltsamen Humor der hohen Herren nachdachte. Jedenfalls war er schlau genug, um sich einen Reim auf diese Bemerkung zu machen. Man rechnete also damit, dass die Russen bald kommen würden. Gut, wenn man sich darauf einstellte. „Angenehme Weiterreise, der Herr!“

Die Grenzbeamten verglichen die Angaben im Pass mit der Person. Fünf Schuh und vier Zoll groß, schwarze Haare, schwarzbraune Augenbrauen und ebensolchen Bart, braune Augen. Sie nickten, salutierten und ließen den Mann passieren. Auf der anderen Seite wurde er durch russische Zöllner empfangen. Denen aber zeigte er jenen Pass, den ihm der russische Gesandte in Berlin, Graf Lieven, vorsorglich beschafft hatte, obwohl er noch gar nicht wusste, dass er nach Russland reisen würde.

„Ernst Moritz Arndt, geboren am 26. Dezember 1769 in Schoritz auf der schwedischen Insel Rügen, Professor der Philosophie an der Universität Greifswald?“, fragte der Zollinspektor, dem er seine Papiere vorlegen musste.

„Der bin ich.“

„Ich kannte einen Arndt, als ich in Jena studierte. Das war ein fröhlicher Kamerad — Friedrich Arndt.“

Da lachte der andere herzhaft, was sonst gar nicht seine Art war. In dieser befreienden Heiterkeit löste sich die Bedrückung der ungewöhnlichen und gefährlichen Reise. Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass die Flucht gelungen war. Er hatte nicht nur irgendeine Grenze überschritten. Er befand sich nunmehr in dem Land, auf dem die Hoffnung aller deutscher Patrioten ruhte. Das russische Volk würde den Kaiser der Franzosen besiegen. Die Freiheit des Vaterlandes begann hier.

„Ja, ich bin Ernst Moritz Arndt. Und Ihr Kommilitone muss mein Bruder Fritz gewesen sein.“

Es war gewiss ein Zufall, dass der erste Mensch in Russland, an dessen Tisch er sitzen durfte, mit dem Bruder befreundet war. Arndt nahm es für ein gutes Zeichen.

„In Ihrem Pass wird angeordnet, dass Sie einen Feldjäger zur Regleitung auf Ihrer Reise nach Moskau und Petersburg erhalten. Aber wenn man es besser haben kann, soll man es auch besser nehmen“, erklärte der Zollinspektor. „Ich muss Anstalten treffen für Angehörige der russischen Gesandtschaft in Wien, die morgen oder übermorgen kommen. In deren Gesellschaft reisen Sie sicherer und bequemer.“

Als sich Arndt zu später Stunde in sein Zimmer begab und sich in das von der Hausherrin persönlich bereitete Bett legte, konnte er lange nicht einschlafen. Zu viel ging ihm durch den Kopf. Die Gedanken eilten voraus. Die Mühsal der Flucht, die Angst vorm Entdecktwerden, der Ärger über den verschlagenen Spitzel waren wie weggeblasen. Er dachte an Sankt Petersburg, an den Freiherrn vom Stein und an die große Aufgabe, die seiner harrte. Ja, die Stunde war gekommen. Seine Hoffnung, an entscheidender Stelle alle Kraft für die Befreiung des Vaterlandes einzusetzen, würde sich erfüllen.'

Überdachte er sein Leben, so schien ihm, dass alles Bisherige eine Vorbereitung gewesen war, ein Anfang von dem, was nun, da er die Vierzig schon überschritten hatte, erst wirklich beginnen sollte. O ja, das Schicksal hatte ihn gebeutelt und gestoßen. Er war auf seiner Suche nach dem Vaterland durch halb Europa gekommen und hatte geglaubt, in Schweden seine Erwartungen am ehesten verwirklichen zu können; denn er war nicht nur schwedischer Staatsbürger seines Geburtsortes wegen. Gustav IV. Adolf war ein Landesherr, der sich entschieden gegen Napoleon wandte. Als eine Offiziersverschwörung den König stürzte und dessen franzosenfreundlichen Onkel Karl XIII. inthronisierte, verließ Arndt enttäuscht Stockholm. Und der letzte Rest seiner Hoffnungen auf Schweden wurde ihm genommen, als die Reichsstände 1810 den französischen Marschall Jean-Baptiste Bernadotte zum Thronfolger ausriefen.

Er war als Sprachmeister Allmann von Karlshamm nach dem pommerschen Rügenwalde gesegelt und hatte sich als Gegner Napoleons bei Verwandten in Trantow verbergen müssen. Als er im Winter 1809 nach Berlin gegangen war, weil man sich in einer großen Stadt besser verstecken kann als in einem Dorf, hatte er durch seinen Freund und Verleger Andreas Reimer die Berliner Patrioten kennengelernt, unter ihnen den Theologen Schleiermacher, den Juristen Eichhorn, den entlassenen Polizeichef Grüner, die Offiziere Gneisenau, Grolmann und Boyen, die alle der vom Grafen Chasot, dem einstigen Stadtkommandanten Berlins, organisierten „lesenden und schießenden Gesellschaft“ angehörten, wo er auch den Dichter Heinrich von Kleist wiederholt gesehen hatte.

Inzwischen hatten die Franzosen Greifswald an Schweden zurückgegeben, und er konnte sein Lehramt wieder ausüben, doch eine neuerliche Besetzung durch die Franzosen vertrieb ihn bald. Er hatte sich zunächst abermals bei seinen Verwandten versteckt, war dann nach Berlin gegangen und schließlich nach Breslau ausgewichen, wo er den greisen, aber noch immer draufgängerischen Blücher kennenlernte. Doch auch in Schlesien war er vor den Spürhunden Napoleons nicht sicher, zumal sich ihre preußischen Bastarde eifrig an der Jagd beteiligten.

Arndt lachte bei der Erinnerung an seine Flucht durch Deutschland kurz und böse. Gerechter Gott, wie tief ist unser Volk gesunken! Nein, korrigierte er sich, das deutsche Volk nicht, seine Fürsten, die zu willfährigen Lakaien des Emporkömmlings geworden waren. Er war in seinem „Geist der Zeit“ noch viel zu glimpflich mit ihnen umgegangen.

Noch immer ziellos war er übers Riesengebirge nach Prag geflüchtet. Und wer weiß, wie sein Leben weiter verlaufen wäre, wenn er dort nicht Justus von Grüner wieder getroffen hätte, der ebenfalls aus Preußen geflohen war. Durch ihn erfuhr er, dass der einstige preußische Staatskanzler Freiherr vom Stein den Verfasser des „Geistes der Zeit“, der dieses Buches wegen von Napoleon gejagt wurde, zum Mitarbeiter im Kampf für das deutsche Vaterland gewinnen wollte.

Der Ruf nach Petersburg eröffnete ihm die Möglichkeit, seine Vorstellungen von einem künftigen Deutschland, das sein Vaterland werden sollte, zu verwirklichen. Dafür hatte er die Strapazen und Gefahren der Reise gern auf sich genommen. Sie waren überstanden. Er befand sich in Russland.

Jetzt erst, da er in einem fremden Bett lag, in dem er das erste Mal seit Langem wieder sicher schlafen konnte, jetzt erst, da ihn nicht jeder Schritt zusammenfahren ließ, meinte er seine Aufgabe zu erkennen. Alles Bisherige war Vorgeschichte, sein eigentliches Leben begann in diesem fremden Land.

Er atmete tief durch und schickte ein Gebet zu seinem Gott, der ihm die Kraft gegeben hatte, glauben zu können, wo andere schon verzweifelten.

Der Gott, der Eisen wachsen ließ,

Der wollte keine Knechte,

Drum gab er Säbel, Schwert und Spieß

Dem Mann in seine Rechte,

Drum gab er ihm den kühnen Mut,

Den Zorn der freien Rede,

Dass er bestände bis aufs Blut,

Bis in den Tod die Fehde.

So hatte er gedichtet, kräftige Verse, die von seiner Gewissheit kündeten, den frechen Eroberer zu schlagen. Freilich, es war ein kriegerisches Lied, in dem auch schrille Töne aufklangen. Aber war es eine Zeit für Elegien und Hirtengedichte? Das Vaterland ließ sich mit frommen Sprüchen nicht retten. Sankt Petersburg! sagte er sich. Und Stein! Mit diesen Gedanken fiel er in einen festen, erholsamen Schlaf.

Die russischen Diplomaten kamen zwei Tage darauf. Arndt nutzte die Zeit, um mit seinem Gastgeber über den Krieg zu reden. Er hörte, dass die russische Armee sich zurückzöge, doch das beunruhigte ihn nicht. Er kannte den Befehl, sich zunächst auf keine entscheidende Schlacht einzulassen, denn dafür war Russland nicht gerüstet, zumal es gerade einen Krieg mit der Türkei bestanden hatte. Die französische Armee sollte sich in den unendlichen Weiten zersplittern und verrennen. Napoleon aber, nicht eingerichtet auf einen langen Feldzug, erwartete einen schnellen Sieg. Noch vor dem Winter sollte die Sache ihr Ende haben, lautete sein Plan, der nicht berücksichtigte, dass die Russen ihr Vaterland gegen einen Eroberer verteidigten. Und sie wussten aus früheren Einfällen der Mongolen, wie sie die Größe des Landes, die undurchdringlichen Wälder, die riesigen Sümpfe und mächtigen Ströme nutzen mussten. Die Bauern verließen ihre Dörfer, nahmen das Vieh mit und vernichteten, was sie nicht auf Wagen laden konnten.

Napoleons Armee stieß ins Leere. Geschickt wichen die russischen Heerführer Barclay de Tolly und Bagration allen Schlachten aus und suchten stattdessen die rückwärtigen Verbindungen des Feindes zu zerstören, sodass die Grande Armee gegen Hunger, Krankheit und Hitze zu kämpfen hatte und wenig Gelegenheit erhalten sollte, ihre augenblickliche Übermacht im Gefecht zu beweisen.

„Es ist leicht, den Bären aus der Höhle zu locken“, zitierte Arndt ein Sprichwort, das er gerade gehört hatte, „aber es ist schwer, ihn wieder hineinzutreiben.“

„Das ist wahr“, bestätigte der Zollinspektor, „und es wäre ein guter Plan, wenn er wirklich befolgt würde. Mir scheint nur, es handelt sich weniger um einen taktischen Rückzug als um eine wilde Flucht. Und dann fürchte ich auch, dass sich unsere hohen Herren nicht ganz einig sind, wie der Kampf geführt werden müsste. Es soll sogar Stimmen geben in der Nähe des Zaren, die mehr französisch als spanisch klingen, wenn Sie verstehen, was ich meine, Professor.“

Arndt sah betroffen auf. „Ich denke schon“, sagte er. „Sie reden von Saragossa und dem Widerstand des spanischen Volkes. Glauben Sie denn, Napoleon wird siegen in Russland?“

Der Zollinspektor schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, mein Freund. Wissen Sie, das russische Volk ist wie Quecksilber. Man kann es mit einem Schlag trennen, es wird die nächste Gelegenheit nutzen, sich wieder zu vereinigen. Russland wird nicht besiegt werden, aber das Volk, das Volk vor allem wird schwere Opfer bringen müssen.“

Das war ein ernstes Wort. Es dämpfte für einige Zeit Arndts euphorische Stimmung. Er verstand den Zollinspektor nur allzu gut. Er selbst war schließlich auch kein hochwohlgeborener Herr. Er hatte in seiner Heimat am eigenen Leibe erfahren, wo das Elend seine Nester baut. In herzoglichen Schlössern nicht. Es nistete in den Katen der Büdner und Häusler, den engen Stuben der Handwerker, den übel riechenden Gassen der Vorstädte. Aber dort wuchs auch der Wille zum Widerstand und die Kraft, der Not zu begegnen. Landwehr, dachte er, und Landsturm. Die schlesischen Weber, die Bauern Norddeutschlands, die armen Bürger am Rand der Städte werden es sein, die das Vaterland retten. Die Fürsten und Könige nicht. Und die Warnung war ihm wichtig, dass ihn in Sankt Petersburg am Zarenhof nicht nur Patrioten erwarteten. Leute, die lax waren, wenn es um die eigene Heimat ging, würde das fremde Vaterland der Deutschen schon gar nicht kümmern.

Dennoch, entmutigen ließ er sich nicht, nur hellhörig wurde er. Und auf der langen Reise nach Sankt Petersburg sollte er noch häufig Gelegenheit haben, an die ernsten Worte des Zollinspektors von Radziwilow zu denken.

Die Gruppe russischer Diplomaten, denen er sich anschloss, bestand aus drei Herren und einigen Dienern. Arndt nahm im Wagen des Legationsrates Graf Ramsay von Balmaine Platz. Sie fuhren durch Wolhynien. Ihm gefiel das Land, und ihm gefielen die Menschen. Nur eines machte ihm zu schaffen: die Flöhe, die in der Sommerhitze prächtig gediehen. Zwar waren sie nicht von so auserlesener Zucht wie ihre italienischen Verwandten, aber aufs Zwicken und Zwacken verstanden sie sich nicht minder. Wenn es zu arg wurde, blieb der Reisegesellschaft nichts übrig, als bei einem Waldstück anzuhalten, sich bis aufs Adamskostüm auszuziehen und die Wäsche im Wind flattern zu lassen.

Arndt beobachtete auch eine merkwürdige Art, die Pferde zu wechseln. Waren die Gäule vor der Postkutsche abgetrieben, schwärmten die sie begleitenden Feldjäger aus, fingen die besten Pferde von den Koppeln und spannten sie anstelle der müden Klepper vor die Kutsche. Die Hirten kannten diese Unsitte und flüchteten, wurden sie einer Extrapost ansichtig, samt ihren Pferden.

Rasteten sie unterwegs und es war ein Bauer in der Nähe, so nahm der seine Sense und schlug Klee oder Hafer für die Kurierpferde, als verstünde es sich von selbst. Das erinnerte Arndt an ein Sprichwort über die Araber, die „gebisch“ im Zelt, aber „nehmisch“ auf der Straße sein sollten. War es hier umgekehrt?

Je tiefer sie ins russische Reich hineinfuhren, desto öfter begegneten ihnen Wagenkolonnen mit Kriegsgerät und Proviant, mitunter auch marschierende Regimenter. Arndt hatte seine Freude an den Soldaten, die auch die ärgsten Strapazen ohne Murren ertrugen. Nein, dieses Volk wird ein Napoleon nicht besiegen, und wäre seine Heeresmacht doppelt so groß und furchtbar wie die Grande Armee.

Anfang August kamen sie nach Smolensk. Die beiden russischen Heere unter Barclay de Tolly und dem Prinzen Bagration sollten sich hier vereinigen. Napoleon war es nicht gelungen, sie einzeln zu schlagen. Smolensk war ein großes Kriegslager geworden. Wenn die ankommenden Reisenden gehofft hatten, sich endlich erholen zu können nach der erschöpfenden Fahrt durch die trockene, staubflimmernde Landschaft, so mussten sie zufrieden sein, sauren Donwein und hartes Schwarzbrot zu bekommen.

Arndt nutzte den Aufenthalt, um sich nach deutschen Offizieren zu erkundigen, die ihr Vaterland verlassen hatten, um in russischen Diensten den Kampf gegen Napoleon fortzusetzen. Und er hatte Glück, traf er doch auf einen Rüganer, den Hauptmann Barnekow, von dem man sich bereits Legenden erzählte. Verwegen wie der Teufel war er mit seinem kleinen Trupp immer wieder über einzelne Abteilungen der Großen Armee hergefallen, hatte sie auseinandergetrieben und Dutzende Gefangene gemacht.

Barnekow breitete die Arme aus, als er den Professor erblickte, drückte ihn an seine mächtige Brust, dass Arndt fürchtete, der Mensch breche ihm sämtliche Rippen, und rief aus: „Endlich mal ein deutsches Gesicht mittenmang all die Kalmückens und Tatarens!“

Wie die meisten tapferen Menschen verstand sich Barnekow aufs Essen und Trinken. Er machte nicht viel Federlesens, als er einige Soldaten entdeckte, die sich ans Feuer gesetzt hatten, um ein am Spieß gebratenes Ferkel zu verzehren. Mit einem lästerlichen Fluch und grimmiger Gebärde jagte er sie davon, lachte dann dröhnend, schnitt ein mächtiges Stück aus dem Braten heraus und reichte es Arndt. „Esst, Kamerad, vielleicht schlitzt Euch morgen schon ein Franzose den Bauch auf, und erzählen Sie, was Sie in dieses gottverflucht schöne Land treibt. Wollen Sie zur Legion?“

Arndt wusste von der Absicht, eine „Deutsche Legion“ zu gründen, eine Formation, bestehend aus geflohenen deutschen Offizieren und willigen Gefangenen, die den Anfang einer künftigen Armee bilden sollte. „Wie weit ist es damit?“, fragte er.

Barnekow winkte ab. „Es geht zu langsam, hol’s der Kuckuck! Statt dreinzuschlagen, streiten sich die hohen Herren um den besten Platz in der Etappe. Dieser Oldenburger Prinz zum Beispiel — ein krummer Hund. Da ist mir Graf Chasot noch immer der liebste aus der Sippe, wenn er auch mehr das Kopulieren probiert als das Kommandieren.“

„Ist Graf Chasot in Smolensk?“, wollte Arndt wissen.

„Gut, dass Sie nach ihm fragen, Professor. Ich habe mir schon überlegt, wo wir den Wein herbekommen, um das aasige Fleisch hinunterzuspülen. Chasot ist Generaladjutant beim Prinzen von Oldenburg und speist mit ihm an einer Tafel. Just das ist auch der Futterplatz unseres Divisionskommandeurs, des Herzogs Alexander von Württemberg. Dem Mann kann geholfen werden!“ Dabei warf Barnekow eine volle Flasche Donwein hinter sich, als sei es Weihwasser und er Beelzebub.

Die Soldaten, die er von ihrem Braten vertrieben hatte, saßen etwas abseits und warteten geduldig, bis die hochwohlgeborenen Herrschaften satt waren. Das waren sie gewohnt und ertrugen es mit stoischer Langmut. Barnekow schnitt sich zwar noch eine Keule als Wegzehrung heraus, aber der Rest reichte allemal, die fünf nicht hungern zu lassen.

Arndt freute sich darauf, Chasot wiederzusehen. Der preußische König hatte den Berliner Stadtkommandanten entlassen, weil er den ausreitenden Offizieren Schills ihre Burschen mit den Pässen nachgeschickt hatte. Da zählte nicht mehr, dass der Graf wegen einer Majestätsbeleidigung sein Leben für Friedrich Wilhelms Ehre im Duell mit einem französischen Offizier gewagt hatte.

Chasot in Smolensk! Das war eine gute Nachricht. Arndt, ohnehin in guter Stimmung, angesichts des gewaltigen Truppenaufgebots gegen Napoleon, konnte das Wiedersehen kaum erwarten.

Zwar begrüßte der Graf den Ankömmling nicht ganz so überschwänglich wie der rügensche Hauptmann Barnekow, aber auch er verhehlte seine Freude nicht, Arndt auf dem Weg nach Petersburg zu wissen. „Unser Freiherr ist schon recht ungeduldig, lieber Professor. Es warten große Dinge auf Sie. Solch eine Posaune, wie Sie sie zu blasen vermögen, wird auch den letzten Schläfer wecken im armen Vaterland.“

Arndt hielt sich nur so lange in Smolensk auf, bis er Pferde und Wagen beisammenhatte. Das war schwierig genug, da alles requiriert wurde für den großen Krieg. Er nutzte die Gelegenheit, um sich umzusehen. Tausende junge Burschen, die fürs Heer ausgehoben worden waren, lagerten vor der Stadt, ihre Mütter und Frauen und Bräute noch bei sich. Und obwohl sie wussten, dass es in den Krieg ging und das erste Gefecht vielleicht schon ihr letztes war, blieben sie zuversichtlich und gelassen. Die Russen liebten ihr Vaterland auf besondere Weise. Arndt bekam es immer wieder zu spüren. Allerdings erfuhr er auch, dass viele der jungen Burschen hofften, nach der Bewährung im Krieg aus der Leibeigenschaft entlassen zu werden.

Als er in Kiew abermals eine erzwungene Pause machen musste, wanderte er vor die Tore der schönen Hauptstadt der einstigen Rus, setzte sich unter einer weit ausladenden Birke ins Gras und blickte hinab auf den mächtigen Dnepr, der so breit war wie Elbe und Rhein zusammen. Dann legte er sich zurück, sah in den blauen Himmel und träumte offenen Auges, er sei auf Rügen, das Wäldchen Lülo hinter sich, in dem er als Kind gespielt hatte, und vor sich das Meer. Sogar das Wellenrauschen glaubte er zu hören. Aber es waren Musik und Gesang, die sich näherten. Als er sich aufrichtete, sah er eine lange Kolonne mit Wagen und Leuten, Landwehr vielleicht, die mit schwermütig schönen Liedern in den Krieg zogen, oder auch Freiwillige; denn die Bauern flüchteten nicht mehr nur in die Wälder, sondern begannen sich nach spanischem Vorbild zu sammeln. Oberstleutnant Dawydow bildete die erste Abteilung von Armeepartisanen aus, die unter der Führung erfahrener Offiziere den Feind im Hinterland angreifen sollten. Barnekow hatte auch von einzelnen Bauernbataillonen erzählt, die Jagd auf Marodeure, Plünderer und Versprengte machten.

Arndt blickte auf den nicht enden wollenden Zug am Ufer des Dnepr. Er konnte sich nicht sattsehen an dem Bild und dachte: Wenn es nur meine lieben Deutschen wären!

Von Kiew kam er schneller fort als von Smolensk. Sein Begleiter, ein junger deutscher Offizier, der in Petersburg Bericht erstatten sollte, hatte eine Telega, bei Gott kein bequemes Gefährt, aufgetrieben. So gelangten sie holpernd und ständig von dichtem Staub umweht nach Moskau.

Während der Kremlkommandant die Pässe visitierte, ließ er dem Professor aus Deutschland und seinem Begleiter ein opulentes Frühstück vorsetzen. Dann lud er Arndt ein, ihn zum Gouverneur Rostopschin zu begleiten. Auch er rechnete es sich zur Ehre an, den Gast an seine Tafel zu bitten. Gemeinsam gingen sie in die Johanneskirche des Kreml zu einem Tedeum, in dem der Sieg des russischen Generals Wittgenstein über den französischen Marschall Oudinot gefeiert wurde. Es war keine bedeutende Schlacht, aber es war die erste größere Niederlage, die Napoleon in diesem Feldzug hinnehmen musste.

„Sollte der Kaiser der Franzosen wirklich ins Herz von Mütterchen Russland stoßen“, erklärte Rostopschin mit finsterer Entschlossenheit, „ich würde ihn höchstpersönlich auf ein Pulverfass setzen, um ihn in die Luft zu sprengen. Und wenn ich die ganze Stadt dabei niederbrennen müsste!“

Von Moskau reiste Arndt in Richtung Twer. Die nächste Station sollte Nowgorod sein, und dann, endlich, würde er Sankt Petersburg sehen. Auf dieser Strecke begegnete ihm noch mancher Heereszug und bereits die ersten Scharen kläglich ausschauender Gefangener. Aber es war nicht mehr das Gewimmel, wie er es in der Nähe der zu erwartenden großen Kampfstätte gesehen hatte.

Die Dörfer, durch die sie fuhren, gefielen ihm. Das Land erinnerte ihn an Schweden. Die Ortschaften waren meist in einem weiten Halbkreis angeordnet, die Vorderseite der Häuser der Sonne zugewandt, die Fenster mit geschnitzten Rahmen versehen. Die Strohdächer glichen dem flachsigen Haar ihrer Bewohner. Und immer wieder entzückte ihn die Gastfreundschaft der russischen Menschen, die ihn und seinen Begleiter bei jeder Rast in ihre Häuser einluden und dann auftafelten, als hätten sie schon lange solche Gäste erwartet.

Die russische Küche fand Arndt einfach, aber kräftig und gesund. An den allgegenwärtigen Geruch von Knoblauch hatte er sich bald gewöhnt. Der kühle Kwass löschte den Durst vorzüglich, und bereits nach der herzhaften Vorsuppe war man satt. Aber es folgten der Okroschka oder dem Borschtsch Gang auf Gang. Die Tische wurden nicht abgeräumt. Man aß und redete und aß und trank und aß und sang. Nur von dem Wässerchen, das sie allerorten brauten, hielt sich Arndt fern, da er die verheerende Wirkung des Selbstgebrannten schon in Smolensk erlebt hatte.

War er zu Gast geladen, stellten sich bald die Nachbarn ein, zufällig, schien es, doch jeder brachte noch etwas zum Essen oder Trinken mit. Sie setzten sich und lauschten dem Fremden, der von weither gekommen war. Und dann sangen sie, Lieder, in denen die Schönheit ihres Landes auf besondere Weise lebte. Es war ein fremdes Volk, aber hätte es ihn nicht mit aller Macht nach Petersburg gezogen, hätte er länger in den gastlichen Häusern verweilt.

Nowgorod dagegen war eine Enttäuschung. Von der Großartigkeit der einstigen Hansestadt war nicht mehr viel geblieben, wahrscheinlich schon seit der Verwüstung durch Iwan den Schrecklichen. Ach, der Krieg, dachte er, der Krieg ist ein gefräßiges Tier. Vielleicht waren es aber auch nur die eigenartig hellen Nächte des Nordens, die ihn melancholisch stimmten, weil sie ihn wieder an Schweden erinnerten wie an eine Jugendliebe. Die zauberischen Lichterscheinungen verwandelten leblose Gegenstände, Häuser und Felsen, in seltsame Gebilde, gespenstisch schön.

In solcher Landschaft hausen die Geister.

Vier Tage war er unterwegs auf seiner Telega, durchgerüttelt und durchgeschüttelt; denn wenn die Straßen auch fest waren, so führte der Weg doch oft über mächtige Knüppeldämme, mitunter aus ganzen Bäumen gelegt, weil zahlreiche Sümpfe und Moore weite Flächen bedeckten.

Als Zarskoje Selo hinter ihm lag, sah er die Newa und die weithin glänzenden Kuppeln des neuen Palmyra: Sankt Petersburg. Die Mühsal der Reise war wie fortgeblasen. In spätestens einer Stunde würde er vor dem trefflichsten aller deutschen Patrioten stehen, vor dem Freiherrn vom Stein, der ihn gerufen hatte, ihn, den Professor aus Greifswald, den Verfasser vom „Geist der Zeit“.'

Er war nicht übermäßig eitel, aber stolz war er über diese Auszeichnung mit gutem Recht, der Sohn eines Freigelassenen. Er, der Adler.

So kam er in die fremde Stadt mit hochgesteckten Hoffnungen und mit großen Plänen. Die Reise durch Russland hatte ihn sicher gemacht. Noch keinem Eroberer war es gelungen, dieses Volk zu bezwingen. Auch Napoleon würde scheitern. Er dachte an den Vergleich mit dem Quecksilber. Er hatte gesehen, wie sich die Heeresmassen sammelten, er hatte erlebt, wie die einfachen Menschen füreinander einstanden. Der gallische Hahn hatte gewagt, den russischen Bären zu reizen. Der würde den frechen Eindringling verjagen. Und was er, Ernst Moritz Arndt, tun konnte, das sollte getan werden, um auch seinem Volk den Weg in die Freiheit zu weisen. Die Schlaffheit der Fürsten, ihre Eigensucht und ihr Verrat — was tat das, wenn das Volk sich erhob?

Laßt brausen, was nur brausen kann,

In hellen, lichten Flammen!

Ihr Deutschen alle Mann für Mann

Fürs Vaterland zusammen!

Und hebt die Herzen himmelan!

Und himmelan die Hände!

Und rufet alle Mann für Mann:

Die Knechtschaft hat ein Ende!

Sankt Petersburg

Karl Freiherr vom und zum Stein ging unruhig in seinem Petersburger Arbeitszimmer auf und ab. Er hatte den Schreiber hinausgeschickt, weil er sich noch nicht im Klaren darüber war, was er diktieren sollte. Zar Alexander hatte ihn vom Ergebnis der Verhandlungen mit Schweden in Abo unterrichtet. Stein hätte zufrieden sein müssen und war es nicht. Lag es nur am impertinenten Grinsen des Kanzlers Rumjanzew, von dem nie etwas Gutes zu erwarten war? Punkt für Punkt ging Stein das Gespräch mit dem Zaren noch einmal durch.

Alle geheimen Informationen deuteten darauf hin, dass der schwedische Kronprinz sehr eigene Interessen verfolgte, die wenig mit dem Kampf gegen den Usurpator zu tun hatten. Es ging ihm um den Besitz Norwegens.

„Wir haben ihm“, hatte Zar Alexander erklärt, „Unterstützung und Geld zugesagt, falls er gegen Seeland fahren will. Wir sind überzeugt, der dänische König wird kapitulieren, wenn er seine Hauptstadt verloren hat, und er wird Norwegen an Schweden abtreten. Geschieht das, haben wir uns Schweden gewogen gemacht und bedrohen auf diese Weise Napoleon vom Norden her.“

Stein hatte den Kopf geschüttelt. „Majestät, Friedrich VI. ist zu stolz und zu eigensinnig. Auch wenn er Kopenhagen verliert, wird er den Krieg fortsetzen und sich, was ich ihm nicht verdenken könnte, ganz in die Arme Napoleons werfen.“

Alexander, unsicher geworden, hatte nachgedacht. Aber erst, als der Zar zu seinem Kanzler geblickt hatte, als ob er sagen wollte: Das hätten wir bedenken müssen — und als Stein Rumjanzews arges Grinsen sah, kam ihm der Gedanke, dass in Abo vielleicht mehr besprochen worden war, als ihm der Zar jetzt schon offenbaren wollte.

Die Weichsel also, rekapitulierte Stein das Gespräch mit dem Zaren. Sie haben ihn dahin gebracht, seine Mission in der Besetzung Polens zu sehen, statt in der Befreiung Europas. Zornig schlug er mit der Faust auf den Tisch. Der Diener trat ein. „Ich habe dich nicht gerufen!“, herrschte ihn der Minister an.

„Exzellenz gaben Befehl, Sie auch nachts zu wecken, wenn Professor Arndt eintrifft“, entschuldigte sich der Mann.

Stein fuhr herum. War sein Gesicht eben noch von Ärger durchfurcht, entwölkte sich seine Stirn augenblicklich. „Der Adler ist da? Herein mit ihm!“ Und er ging seinem Gast froh entgegen.

Ernst Moritz Arndt, von der Reise gezeichnet, da er sich unverzüglich zu Stein begeben hatte, verneigte sich knapp vor dem berühmten Mann, streckte sich aber gleich wieder und stand in gerader Haltung wie ein Soldat vor dem Minister, dem seine höchste Achtung galt. „Exzellenz, ich stehe zu Ihrer Verfügung.“ Und mit schnellen, sicheren Blicken musterte er sein Gegenüber. Ja, war das nicht Fichte? Dieselbe gedrungene Gestalt, ein mittelgroßer, leicht nach vorn gebeugter Mann, dessen Haare bereits leicht ergrauten, dessen Augen aber klar und gütig blickten. Es war eine Ähnlichkeit mit dem Berliner Professor, die ihn lächeln machte. Arndt hatte vor Fürsten und Ministern, Grafen und gekrönten Häuptern gestanden, ohne zu zittern oder zu zagen. Die Jugendblödigkeit des Plebejers war ihm schon vor einem Vierteljahrhundert abgeklopft und abgerieben worden. Demut kannte er nicht. Er wusste um seinen Wert. Aber von diesem fünfundfünfzigjährigen Freiherrn wurde ihm das Herz warm.

Und Stein sah auf den ersten Blick, dass der Mann vor ihm wirklich kein Stubengelehrter war. Ein wohlproportionierter Körper, ein gescheites Gesicht, die Nase leicht gebogen, die Augen ohne Flackern. Er ist ein Adler, wie es sein Name sagt, dachte Stein heiter, er ist wirklich ein Adler. Da schloss er den Professor in die Arme. „Gut, dass Sie da sind. Wir können hoffen, dass wir hier Arbeit bekommen.“ Und ohne Umschweife erläuterte Stein ihm die nächsten Aufgaben.

„Drei Dinge sind zu tun“, sagte er, ohne den erschöpften Zustand seines Gastes zu bemerken. „Erstens, und ich nenne es nicht zufällig an erster Stelle, muss das deutsche Volk zum Kampf gegen Napoleon aufgestachelt werden. Gelegentliche Gärungen reichen nicht aus. Schrecken Sie die Philister auf, Arndt! Sie müssen ein Feldprediger testamentarischer Wucht sein, wie es bei Jakob steht: Seid Täter des Wortes. Zweitens“, fuhr er fort, „müssen wir die verschiedenen Parteigänger in Deutschland unter eine Fahne bekommen. Das Unglück des Vaterlandes liegt in seiner Zerrissenheit. Beschwören Sie die Einigkeit wie Schiller im >Wilhelm Tell<. Drittens müssen die nichtfranzösischen Truppen, vor allem die deutschen, zum Abfall von Napoleon bewegt werden. Ich wüsste keinen Mann, der das besser könnte als Sie. Machen wir uns an die Arbeit.“

Arndt wurde sofort vom Eifer Steins mitgerissen. Der liebte es nicht, lange an einer Sache herumzudeuteln und unnötig abzuwägen, wo doch alles klar war. Der flüsterte nicht, der brüllte. Arndt hätte sich am liebsten gleich hingesetzt und unter diesem Eindruck das erste Pamphlet geschrieben, da sah er an sich herab. Seine Stiefel waren grau, die Kleider völlig derangiert. Und die Sommerhitze hatte ihm den Schweiß aus allen Poren getrieben. Er musste stinken wie ein Wiedehopf. Darum bat er den Minister, sich erst ein wenig restaurieren und die Flöhe aus der Wäsche schütteln zu dürfen.

Stein blickte auf. Dann lachte er. „Tun Sie das, lieber Arndt. Aber machen Sie sich darauf gefasst, dass Sie hier von ganz anderen Flöhen gepiesackt werden, Flöhen mit klingenden Titeln und glänzenden Namen!“

Arndt wusste, wovon die Rede war. Barnekow hatte ihm einiges davon ins Ohr trompetet. Und wenn er Chasots Andeutungen richtig verstanden hatte, mussten die Gegner des Zaren an seinem Tisch und nicht einmal weit von ihm sitzen. Nun, er war nicht gekommen, um sich in Petersburger Kabalen zu mischen. Der Minister hatte zudem ein klares Programm entworfen, und, bei Gott, er wollte tun, wozu er imstande war. An der Seite dieses Mannes jedenfalls war ihm nicht bange.

Er verabschiedete sich mit einer angedeuteten Verbeugung, denn es war nicht seine Art, den Rücken vor anderen Menschen zu krümmen. Von einem Freiherrn vom Stein ging man aufrechten Hauptes. Wahrhaftig, er sieht aus wie Fichte während seiner Reden an die deutsche Nation, dachte Arndt.

Er hatte im gleichen Haus Quartier bekommen, in dem Stein wohnte, bis das für den Freiherrn reservierte Palais eingerichtet war — im Hotel „Demut“. Welch seltsamer Name eines Logis ausgerechnet für diese beiden deutschen Patrioten, die alles andere als demütig waren.

Arndt, ohnehin ein Frühaufsteher, wurde von den ersten Sonnenstrahlen geweckt. Er langte nach der Uhr und ließ den Deckel aufspringen. Es war gerade fünf. Er wusch sich kalt ab, schabte sich den Bart vom Kinn, trank einen Schluck Wasser, kleidete sich rasch an und verließ das Zimmer. Der Portier blickte überrascht auf. Manchmal kamen Gäste um diese Zeit erst ins Haus, aber dass einer schon wieder munter war und ging ... Von Arndt befragt, wie er zum Fluss käme, zur Newa, beschrieb ihm der Portier den Weg.

Eine frische Brise wehte vom Meer herüber. Tief sog Arndt die Luft ein. Nach den vielen Meilen staubiger Straßen und der stickigen Enge des Zimmers empfand er den unbeschreiblichen Duft des Meeres als heimatlichen Gruß. Die Stadt war ihm sogleich vertraut und nah. Rüstig ausschreitend, hatte er bald den Fluss erreicht.

Viele Menschen, die ihm begegneten, grüßten ihn, indem sie den Hut vor dem fremden Herrn zogen. Kutschen sah er in der Frühe noch nicht. Arndt war ein genauer Beobachter. Er blickte in die Gesichter der geschäftigen, oft unter schwerer Last gehenden Leute, und ihm schien es ein Gewimmel zu sein wie beim Turmbau zu Babel. Aus den entferntesten Ecken des unermesslichen Reiches waren sie offenbar gekommen, um ihr Glück zu machen in der schnell gewachsenen Stadt auf den einstigen Sümpfen. Er sah Tataren und Kalmücken, Kaukasier und Mongolen, sehr viele Russen, aber auch Menschen deutscher Herkunft, ferner Polen, Finnen, Moldawier — die Völkerschaften des halben Kontinents durcheinandergewürfelt.

Immer wieder fielen ihm die breiten, runden, slawischen Köpfe auf mit den kurzen platten Nasen. Und er erinnerte sich der Behauptung, dass höhere Bildung und mächtiges geistiges Streben sich im Gesicht widerspiegelten, wonach man einen edlen Charakter schon an der Nase erkenne. Aber wie stand es dann mit Sokrates, dem rundköpfigen, plattnasigen Philosophen? Der hätte der Stammvater vieler Menschen sein können, die er auf den Gassen und Märkten, schließlich am Ufer der Newa beim Ausladen der Fische beobachtete.

Die frische Luft hatte ihn hungrig gemacht. Er ging ins Hotel zurück und fand einen Diener vor seiner Tür. „Euer Wohlgeboren, seine Exzellenz, der Minister Freiherr vom Stein, erwartet Sie. Darf ich vorausgehen?“

Nun denn, sagte sich Arndt, auch ein Frühaufsteher. Ich werde es mir merken und in Zukunft wenigstens ein Butterbrot essen, bevor ich an den Schreibtisch gerufen werde.

Aber Stein saß nicht in seinem Arbeitszimmer, sondern am Frühstückstisch. Er begrüßte Arndt herzlich und bat ihn, ihm Gesellschaft zu leisten. „Es isst sich schlecht allein. Und bei der Gelegenheit“, sagte er, „können wir gleich ins Detail gehen, was Ihre Aufträge anlangt.“

Arndt war es recht. Er fand den Tisch beladen mit Speisen, die er entweder nicht kannte oder die ihm eher für das Mittagessen geeignet erschienen: eine dampfende Suppe, Kartoffelbrei mit gebackenem Fisch, gebratene Eier, eine Schale dicker Sahne, Lauch und Radieschen, zwei blässliche Hühnerkeulen, große Stücken grobkörnigen Brotes, Teesud und, in einem Samowar, kochendes Wasser, eine Karaffe mit durchsichtiger Flüssigkeit — es war ein opulentes Mahl, von dem noch drei weitere Gäste satt geworden wären. Kaum hatte er Platz genommen, wurde noch einmal die gleiche Menge für Arndt aufgetragen. Es verschlug ihm die Sprache.

Stein lachte über das verdutzte Gesicht seines Sekretärs. „Das ist ein russisches Frühstück, Verehrtester. Und zum Nachtisch gibt es Napoleon in Scheiben!“

Arndt kostete von der Suppe. Sie schmeckte vorzüglich. Stein löffelte ihm noch reichlich Sahne auf den Teller. „Da wir gerade beim Ökonomischen sind“, erklärte er wie beiläufig, „Sie gehen noch heute Vormittag zum Oberzahlmeister Worotschenko. Der wird Ihnen die Auslagen für die Reise erstatten. Außerdem bekommen Sie ein Gehalt von einem Friedrichsdor pro Tag. — Übrigens, tragen Sie keine Orden?“

„Orden?“, fragte Arndt. „Ich habe keinen, und es verlangt mich nicht nach solchem Schmuck.“

Stein schüttelte den Kopf. „Darum geht es nicht. So ein Stück Metall ist hierzulande eine Eintrittskarte, sonst lässt Sie kein Pförtner passieren. Ich werde dafür sorgen.“

Arndt wehrte entschieden ab. „Was soll ich mit russischem Blech? Ich werde in keinen Schlössern und Palästen zu tun haben, in die Eure Exzellenz nicht eintreten. Und Ihr Name ist Bürgschaft genug.“

„Na schön“, erwiderte Stein, wobei sich seine Stirn umwölkte, weil er argwöhnte, der Professor wolle ihm schmeicheln. „Gehen wir in medias res. Kramen Sie alle Ihre Schriften zusammen, Gedrucktes und Handgeschriebenes, wenn es sich nur irgendwie eignet, gegen Napoleon verschossen zu werden. Ihren >Geist der Zeit< habe ich bereits einer hiesigen Druckerei zugestellt. Er soll neu aufgelegt und als Konterbande nach Deutschland geschafft werden.“ Bei der Erwähnung dieses Buches war sein Unwille bereits verflogen. „Es ist das beste und deutscheste, was ich in letzter Zeit gelesen habe.“

Nun wäre Arndt an der Reihe gewesen, unwillig dreinzublicken, hätte er Grund zu der Annahme gehabt, dies sei eine bloße Floskel. Aber zuletzt Grüner in Prag und vor ihm viele andere Gesinnungsfreunde hatten ihm mit beredten Worten ihre Anerkennung ausgesprochen. Schließlich wusste er auch, dass gerade die Lektüre dieses Buches den Freiherrn auf ihn aufmerksam gemacht hatte, sodass er den Verfasser unbedingt an seiner Seite haben wollte.

„Und nun zur Legion“, fuhr Stein fort, während sie noch immer am Tisch saßen. „Gneisenau hat so etwas Ähnliches 1809 den Österreichern empfohlen. Grüner nimmt die Sache wieder auf, wenn er dabei auch, was ich nicht verstehe, an die polnische Legion in der Armee Napoleons denkt. Wie auch immer — es muss uns gelingen, jene deutschen Offiziere und Soldaten, die nach Russland gekommen sind, und dann auch alle anderen aus nichtfranzösischen Ländern zusammenzuschließen. Es ist an eine Formation von etwa zehntausend Mann gedacht.“

„Ich habe unterwegs davon gehört, Exzellenz. Und auch Grüner hat mir davon gesprochen. Der Gedanke ist großartig. Aber wer soll diese Armee führen? Wäre nicht Gneisenau, der aus dem kleinen Kolberg ein Gibraltar gemacht hat, der geeignete Mann?“

„Ich sehe, Professor, wir verstehen uns“, erwiderte Stein. „Ja, Gneisenau wäre der beste, wenn er nicht im fernen London säße und sich mit den hochnäsigen Engländern herumschlagen müsste, von denen Sie übrigens auch hier einige kennenlernen werden. Bei meinem Vortrag, den ich dem Zaren in dieser Angelegenheit gemacht habe, wurde der Herzog von Oldenburg als geeigneter Chef der Legion genannt.“

Arndt blickte erstaunt auf. „Der Herzog? Ist er ein Offizier von solchem Talent, selbst wenn er seinen einstigen Kommandanten Ahrentschild bei sich hat?“

Wieder lächelte Stein. Dieser Professor konnte bei Gott mehr als Gänsekiele anspitzen. „Mein lieber Arndt, ich stimme Ihnen zu. Aber das ist Diplomatie. Der Herzog von Oldenburg ist durch Napoleon von seinen Besitzungen vertrieben worden. Wer hätte größere Veranlassung, sein Land wiederzugewinnen?“

Das leuchtete ihm ein. „Außerdem“, setzte er den Gedanken Steins fort, „ist der Herzog verschwägert mit dem Zaren. Schwester Katharina wird ihrem Bruder Alexander schon soufflieren, welche Mittel der Oldenburger benötigt, um wieder zu seinem Herzogtum zu kommen.“

Stein nickte. Endlich hatte er das ausgedehnte Frühstück beendet, ohne dass Arndt dazu gekommen war, von allem auch nur zu kosten.

Im Kabinett des Freiherrn, der eine ganze Etage des Hotels belegt hatte, packte der Minister einen Berg Papier auf Arndts Schreibtisch, den er gegenüber dem seinen hatte aufstellen lassen. „Lesen“, sagte er, „übersetzen, abschreiben.“

Arndt nahm einige Bogen zur Hand, sah sie flüchtig an und blickte dann fragend auf. „Lesen? Euer Exzellenz haben eine sehr eigenwillige Schrift.“

„Natürlich lesen. Meinen Sie, ich kann meine Hieroglyphen immer entziffern?“

„Übersetzen? In welche Sprache? Mein Französisch ist dürftig.“

„Ins Diplomatische“, erklärte Stein. „Ich kann dem Grafen Münster in London doch unmöglich mitteilen, dass der Oldenburger zu senil, Rumjanzew zu verlogen und Walpole zu gehässig ist.“

„Schön“, sagte Arndt, „das wird sich finden. Aber wenn ich es selber abschreiben soll, brauchte Graf Münster wieder einen Schriftkundigen, um es entziffern zu lassen.“

Stein lachte. „Jetzt weiß ich endlich, warum die deutschen Autoren ihre Manuskripte zum Druck geben. Sie können das eigene Geschreibsel selbst nicht mehr lesen, halten es aber für so wichtig, dass es der Nation unbedingt offeriert werden muss.“

Arndt war nicht maulfaul. „Und was haben Sie nicht alles einrücken lassen, Exzellenz!“

Stein fuhr herum. „Potz Blitz!“, wetterte er mit gespieltem Zorn. „Was nähre ich für eine Schlange an meinem Busen? Dafür beginnen Sie Ihre Antrittsbesuche beim Herzog von Oldenburg. Sie werden hundertmal Gelegenheit haben, Ihre spitze Zunge zu gebrauchen, und Sie werden in neunundneunzig Fällen ganz brav sein müssen. Lernen Sie die Kunst, uns den Mann bei Laune zu halten, ohne ihm in den ... Nun ja, die meiste Zeit sitzt er ohnehin darauf. Aber vorher lassen Sie sich Ihr Geld auszahlen. Wollen Sie nicht doch einen russischen Orden? — Ich gebe Ihnen Stülpnagel als Wegführer mit.“

Hauptmann Ferdinand von Stülpnagel war ein gebürtiger Uckermärker, den Steins Schwager, Graf Arnim-Boitzenburg, mit eigenem Geld ausgestattet, nach Petersburg gesandt hatte, weil er ihn für einen tüchtigen und vor allem vaterländisch gesinnten Offizier hielt. Hier diente er als erster Adjutant bei General Ahrentschild. Arndt fasste sogleich Zutrauen zu dem knapp dreißigjährigen Prenzlauer, der ihn auf Steins Geheiß ins Palais des ermordeten Zaren Paul führte, wo der Oberzahlmeister Worotschenko die Kasse verwaltete.

Die Reise hatte seine Barschaft angegriffen, und es war kein gutes Gefühl, mit abgezähltem Geld in einem fremden Land zu leben.

Das Palais befand sich südlich des Marsfeldes, die Hauptfront dem Sommergarten zugewandt. Ohne den kundigen Führer hätte sich Arndt rettungslos in dem Labyrinth verlaufen, das einem ungeheuren runden Bienenkorb glich und mit derart vielen Gängen, Türen, Treppen und Winkeln versehen war, dass sich wirklich nur der wieder herausfand, der die Irrwege lange und gründlich studiert hatte. So war es von Zar Paul gewünscht worden, der nicht wissen konnte, dass er sich damit seine eigene Gruft errichten ließ.

Stülpnagel kannte immerhin den Weg zum Oberzahlmeister. Als sie an einer der vielen Türen vorbeikamen, sagte er: „Hier hat Rostopschin gewohnt, der Generaladjutant und Zimmernachbar des Zaren.“'

„Der nunmehrige Gouverneur von Moskau?“, fragte Arndt.

Stülpnagel nickte. „Es war den Verschwörern gelungen, den gewaltigen Zerberus mit Intrigen und Elogen aus Sankt Petersburg zu entfernen. Und in diesem Zimmer“, sagte Stülpnagel, indem er auf die nächste Tür wies, „ist der Mord geschehen.“

Unwillkürlich trat Arndt einen Schritt zur Seite. Zar Paul war ein Despot gewesen wie viele seiner Vorgänger. Elternmord und Brudermord war keine Seltenheit im Hause Romanow. Arndt hatte das Gefühl, ein kalter Hauch wehe ihn an, als er an jenem Zimmer vorbeiging, wo Fürst Subow seinen Herrn mit der Schärpe Bennigsens erwürgt hatte, derselbe Bennigsen, der nunmehr den Oberbefehl über die Armee des neuen Zaren führte. Eine makabre Vorstellung, mit einem Zarenmörder verbündet zu sein, um einen Kaiser schlagen zu können.

„Ach, wissen Sie“, sagte Stülpnagel lachend, „unsere neuen Freunde haben ihre eigene Auffassung von Recht und Gerechtigkeit. Vielleicht kann man dieses ungeheure Reich auch gar nicht anders regieren. Es ist kein deutscher Kleinstaat. Was soll’s? Wir haben sie nicht zu belehren, wir brauchen sie als Verbündete. Ohne sie frisst uns Napoleon.“

„Paul war ein brutaler Herrscher“, gab Arndt zu bedenken. „Plante er nicht, die Kaiserin sowie deren Söhne Alexander und Konstantin beseitigen zu lassen, um seinen Neffen, den Prinzen Eugen von Württemberg, adoptieren zu können? Um wie viel grausamer wäre das gewesen, Hauptmann?“

Stülpnagel zuckte mit den Schultern, doch er schwieg, denn er wusste nicht, wie mit diesem norddeutschen Professor umzugehen war, der von Stein überall als ein großer Mann gepriesen wurde. Ihm gegenüber konnte Arndt forsche Reden führen. Mal sehen, dachte Stülpnagel, wie tief er sich vor dem alten Oldenburger verneigte.

Der Herzog hatte nicht die geringste Lust, Ernst Moritz Arndt zu empfangen. Er hatte sich auch nie die Mühe gemacht, dessen Schriften zu lesen. Es war ihm berichtet worden, dass dieser Plebejer nur deshalb nicht das Lied der französischen Jakobiner sang, weil er einen eigenen Text gegen die gottgewollte Ordnung gezimmert hatte. Aber er war der neue Günstling Steins, gegen den man sich schwerlich stellen konnte. Der Herzog trank gemächlich die Schokolade aus und befahl dann seinem Diener: „Soll eintreten!“

Arndt war gewarnt durch Stein, und deutschen Fürsten gegenüber verhielt er sich ohnehin skeptisch. Dennoch schuf die Tatsache, dass der Herzog ebenso wie er von Napoleon vertrieben worden war, ein Gefühl der Verbundenheit. Außerdem hatte er in Smolensk am Tisch des Sohnes gesessen und erlebt, dass der Feuer und Flamme für die vaterländischen Dinge war.

„Durchlaucht, ich bringe Ihnen die herzlichsten Grüße des Prinzen August. Er erfreut sich bester Gesundheit und brennt darauf, für die Ehre Deutschlands zu kämpfen.“

Die Grüße stimmten den Alten versöhnlich. „Nehmen Sie Platz, meine Herren“, forderte er Arndt und Stülpnagel auf. „Nun, wie steht es daheim?“ wandte er sich an Arndt.

„Das Volk besinnt sich auf seine Kraft, Durchlaucht.“

„Aha, das Volk“, konstatierte der Herzog gleich wieder grantig. „Die Fürsten müssen die Sache in die Hand nehmen, wenn etwas daraus werden soll. Was hat das französische Volk für ein Ungeheuer gezeugt mit seiner Revolution?“

„Nur dadurch, dass die Völker die Fesseln zerbrechen, erretten sie die Fürsten selber vom Untergang, Durchlaucht“, erwiderte Arndt ohne Zögern, fügte aber hinzu: „Sie und Ihre Söhne sind deutsche Fürsten, wie sie das Vaterland braucht. Und wären sie alle so, dann könnten sie das Vaterland auch wirklich führen.“

Stülpnagel hatte die Luft angehalten, während der Professor sprach. Alle Achtung, der Mann hatte Courage und war zugleich diplomatisch.

Der Herzog ließ sich durch die Anerkennung Arndts nicht beirren. „Nein“, sagte er entschieden, „nicht das Volk, die Handwerker, Studenten, Bauern und Tagelöhner oder was immer das sein soll — der Adel ist zur Führung berufen. Das ist unser Auftrag von Gott. Gestützt auf die Kräfte der Untertanen, werden wir unser Territorium zurückgewinnen. Ich setze auf das Prinzip der Legitimität. Alles andere, Herr Arndt, ist jakobinisch und also von Übel.“

„Ich denke“, erwiderte Arndt ruhig, „dass das Haus Oldenburg wegen seiner Weisheit und Sittlichkeit völliges Vertrauen verdient, dass aber seine Kraft schwerlich hinreicht, um die Regenten anderer deutscher Häuser für denselben Weg zu gewinnen.“

Der Oldenburger lächelte ein wenig und erwiderte: „Von Diplomatie verstehen Sie entschieden mehr als Stein. Schmiert mir Honig ums Maul und lässt unter der Hand die Bienen los.“

Aber das Lächeln hielt nicht lange vor. Mit dem Stolz eines regierenden Herzogs fragte er: „Was sollte die deutschen Fürsten hindern, einheitlich zu handeln? Vielmehr bezweifle ich die Fähigkeit der Untertanen, geschlossen gegen einen Mann zu stehen, der die alten Gesetze umgestoßen hat und dessen neue anzunehmen sie gar nicht so abgeneigt sind. Wo sind Ihre Freiwilligen, Herr Arndt? Wer eilt zu unserer Legion? Nein, Napoleon hat die Fürsten, die sich ihm nicht unterwarfen, vertrieben und seine Brut auf unsere Throne gesetzt. Das mag Unruhe hervorgerufen haben bei den Untertanen, aber untertan sind sie geblieben. Wir deutschen Fürsten werden es sein, die das angestammte Land zurückerobern!“ Der Herzog war erregt im Zimmer auf und ab gegangen, hatte mit dem Stock gefuchtelt und musste sich nun erschöpft setzen.

Arndt war zu klug, um nicht einzusehen, dass die Auffassungen des Oldenburgers einer gewissen Logik nicht entbehrten, aber sie widersprachen seiner Überzeugung. „Ich befürchte, dass sich mancher deutsche Fürst nur um sein eigenes Fürstentum sorgt, Durchlaucht“, hielt er dagegen, „und nach einem Sieg über Napoleon vor allem darauf bedacht sein wird, sein Territorium zu vergrößern.“

„Unterstellen Sie mir solche Lust, Herr Arndt?“, fuhr ihn der Herzog an.

„Nein, Durchlaucht, ich habe keinen Grund, Ihnen dergleichen zu unterstellen. Ich wäre sonst nicht hier.“

Der Herzog beherrschte seinen Ärger so weit, dass er seine Vorbehalte gegen Arndt scharf und klar zu äußern vermochte. „Napoleon ist Ihnen nur ein Vorwand. Sie meinen die deutschen Fürsten! Und haben Sie das Volk, wie Sie es nennen, erst einmal gegen den Kaiser der Franzosen geführt, wie groß ist dann der Schritt, es gegen die eigenen Herren zu verführen?“

Daran hatte Arndt nie gedacht. Es ging ihm ums Vaterland, in dem Fürsten wie Untertanen ihre angestammten Plätze haben sollten. Nicht gegen den Adel und seine Stellung richtete sich sein Zorn, sondern gegen jene Landesherren, die das Recht zu herrschen verwirkt hatten, indem sie Napoleon willig gefolgt waren. „Man jakobinisiert nicht die besetzten Länder, aber man organisiert die bewaffneten Massen“, zitierte er den Freiherrn vom Stein.

Den Text kannte der Oldenburger, und er begriff, dass Arndt keinen Schritt über die Auffassungen des Freiherrn hinausgehen konnte, selbst wenn er es wollte. Stein hat sich eine bissige Dogge zugelegt, dachte der Oldenburger, die bellen soll, aber nicht beißen darf. Und er hat ihn zu mir geschickt, weil er mich ein wenig aufschrecken will; denn es geht ihm mit der Legion zu langsam. Das verstanden zu haben erheiterte den schlauen Fuchs.

„Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben“, sagte der Herzog und beendete damit die Audienz. Arndt wusste, dass der Oldenburger nicht log, dass aber die Freude ihre engen Grenzen hatte. Sie verabschiedeten sich mit Respekt voneinander, wohl wissend, dass sie Verbündete waren, aber nur Verbündete auf Zeit.

Hauptmann Stülpnagel blies erleichtert die Luft aus, als sie wieder vor dem Palais standen. „Mein Gott, Professor, ich dachte ein paarmal, jetzt gehen sie aufeinander los. Glauben Sie, dass er Ihnen nachsieht, was Sie ihm präsentiert haben?“

„Darum geht es nicht“, erwiderte Arndt, „mir war nur wichtig, dass er meine Meinung erfährt.“

„Nun ja“, meinte der Offizier skeptisch, „aber sehr viel weiter hilft uns das auch nicht. Unter Männern wie ihm werden wir keinen geschwinden Schwerthieb führen können.“

Arndt fasste Stülpnagel an beiden Schultern. „Hauptmann, wie steht es um die Legion?“

Der Offizier hielt dem Blick des Professors stand. „Kläglich, Euer Wohlgeboren, kläglich. Ich kann’s nicht anders bezeichnen. Wir haben etwa ein halbes Hundert Offiziere, Truppenführer kaum, Unteroffiziere kein Dutzend, Mannschaften eine Handvoll. Das ist die Kaiserlich Russisch-Deutsche Legion.“

„Aber der Zar ...“ Arndt wollte es nicht glauben. „Stein hat mir gesagt, dass der Zar alle Anordnungen getroffen hat, die für eine schnelle Formierung der Truppe notwendig sind.“

„Es gibt ein Sprichwort hierzulande: Russland ist groß, und der Zar ist weit.“ Stülpnagel schüttelte den Kopf. „Machen Sie sich um Gottes willen keine Illusionen, Professor. Alexander will uns wahrscheinlich wirklich helfen. Er schätzt die Deutschen. Von Geburt ist er ohnehin ein halber Württemberger, noch dazu erzogen von einer deutschen Großmutter und einem Schweizer Lehrer. Und sein engster Berater ist unser Freiherr vom Stein. Jedoch, ihm steht eine starke Partei gegenüber. Diese Altrussen, angeführt von seinem eigenen Bruder Konstantin, seinem Kanzler Rumjanzew, dem Kriegsminister Araktschajew, dem Polizeiminister Balaschow und unterstützt von der Bevölkerung Petersburgs ...“

„Der Bevölkerung Petersburgs?“, unterbrach Arndt.

„Natürlich. Die Altrussen nennen sich Friedenspartei, das macht Eindruck bei den einfachen Leuten. Vergessen Sie auch nicht die traditionsreichen Bindungen zwischen Russland und Frankreich, Professor. Der Hof spricht französisch. — Sie sind mit großen Erwartungen hierhergekommen“, sagte Stülpnagel freundlich, „aber glauben Sie nicht, dass alle denken wie Sie und Stein oder ich.“

Sie setzten ihren Weg fort. „Macht das Beispiel Gneisenau, Chasot, Clausewitz, Dohna nicht Schule?“, fragte Arndt.

„Ich will’s nicht bestreiten. Ich selbst gehöre zu ihrem Gefolge. Aber es ist nur ein kleiner Kreis. Im übrigen — noch marschiert die Grande Armee vorwärts und siegt.“

„Sie meinen, erst wenn sich das Waffenglück gegen Napoleon wendet, können wir mit einem stärkeren Zulauf zu unserer Legion rechnen?“

„Gewiss nicht früher. Und ob dann ...?“

Doch solche Zweifel wollte Arndt nicht hören. „Es gibt eine Anordnung des Zaren, deutsche und andere nichtfranzösische Kriegsgefangene durch bessere Behandlung vor den Franzosen auszuzeichnen und ihnen anheimzustellen, bei gutem Sold und mit der Aussicht auf rasche Beförderung in die Legion einzutreten. Glauben Sie nicht, dass das Wirkung tut?“

„Vielleicht, denn Vaterlandsliebe vorauszusetzen bei solchem Wechsel ist eine heikle Frage. Im Übrigen kenne ich diesen Befehl des Zaren auch. Er hat nämlich noch eine besondere Klausel.“

„Die wäre?“

„Wer sich nicht für die Legion erklärt, wird mindestens so miserabel behandelt wie die Franzosen und muss fürchten, nach Sibirien deportiert zu werden. Sind Ihnen solche Kolonnen nicht auf dem Weg nach Sankt Petersburg begegnet?“

„Doch“, gab Arndt zu, „aber meines Wissens waren es Verbrecher, Mörder, Diebe, Betrüger.“

Stülpnagel sagte nichts dazu, obwohl er es anders wusste. Er selbst hatte beobachtet, wie die Geheimpolizei am hellen Tage Menschen von der Straße weg verhaftete und abführte, die nichts anderes verbrochen hatten, als eine Meinung zu äußern, die für staatsgefährdend gehalten werden konnte.

„Von viertausendzweihundert sächsischen Gefangenen bei Kiew haben dreihunderteinundachtzig den Transport hierher überlebt. Von zweihundert, die bei Witebsk abgegangen sind, kamen zwei lebend an. Fragen Sie mich nicht, in welchem Zustand sich diese Menschen befinden“, sagte Stülpnagel. „Für die Legion ist kaum einer zu gebrauchen.“

Schweigend waren sie eine Strecke des Weges gegangen. Arndt war erschüttert. „Es geht so geschwind eben nicht“, schloss er seine Überlegungen ab. „Unser Problem sollten weniger die Gegner und Schwierigkeiten im russischen Lager sein, wir haben eigene Hemmschuhe genug.“

Sie waren wieder vor dem Hotel angekommen. Der Offizier reichte Arndt die Hand, der den Druck kräftig erwiderte. „Wir werden unser Gespräch fortsetzen, Herr Hauptmann. Ich glaube, die Jungen sind’s, die befehlen müssen. Die Alten sind meist in Egoismus und Pedanterie versunken. Das ganze Leben soll dreingesetzt werden“, sagte er mit etwas erhöhter Stimme, „denn nur ein Flammenwirbelwind des vollsten Herzens kann Heil und Rettung bringen.“

Stülpnagel lächelte insgeheim über den Enthusiasmus Arndts, nickte aber zustimmend. „Ich wünsche Ihnen Erfolg in Ihrem neuen Amt. Leicht werden Sie es nicht haben.“

„Mit dem Amt oder dem Minister?“, fragte Arndt.

„Frei heraus, Professor: mit beiden; denn unser Ritter Stein ist heftig und oft zu ergrimmt und ungeduldig.“

„Es ist ein Unglück, Waisenkind zu sein“, erwiderte Arndt. „Das größte Unglück aber ist, an seinem Volk verwaist zu sein.“

„Ich will’s nicht bestreiten“, lenkte Stülpnagel ein. „Es geht uns allen so. Aber das darf kein Grund sein, die Ungeduld darüber, dass es nur mühsam vorwärtsgeht, als Laune an seinem Nächsten auszulassen.“

„Tut er das?“, fragte Arndt.

„Er muss mich nur sehen, schon geht er auf mich los wie der Hammer auf den Nagel.“

„Auf den Stülpnagel!“ Arndt lachte herzhaft. „Fassen Sie sich einen Ochsenmut gegen den Löwen“, empfahl er dem Offizier, „und werden Sie wieder grob.“

„Spotten Sie ruhig, Professor“, entgegnete Stülpnagel mit säuerlicher Miene. „Unsereiner hat nicht gelernt, höheren Herren Paroli zu bieten.“

„Sehen Sie“, erwiderte Arndt nun wieder ernst, „und ich nicht, Höheren nach dem Mund zu reden. Widersprechen Sie ihm, wenn er ungerecht oder heftig wird. Er bleckt noch dieses eine Mal die Zähne, aber schelten wird er nimmer.“ Arndt schlug Stülpnagel freundlich auf die Schulter. „Sie haben mich auf einen Gedanken gebracht, lieber Freund. Ich glaube, diese Legion und diese neue deutsche Armee kann nicht mehr nach altem Reglement gedrillt werden.“

Stülpnagel nickte nachdenklich. „Die Franzosen haben etwas, woran sie sich halten können: ihre Idee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Und sie haben die Marseillaise.“

„Haben wir nicht die Idee vom Vaterland?“

„Ja“, sagte der junge Hauptmann, „aber jeder denkt sich sein Vaterland anders. Es müsste einmal niedergeschrieben werden, wie dieses künftige Deutschland aussehen soll und was die Pflicht eines deutschen Soldaten ist.“

„Ich habe es aufgeschrieben“, sagte Arndt. „Und ich darf mir schmeicheln, es so klar und deutlich wie keiner sonst gesagt zu haben.“ Diese jungen Leute, dachte er etwas pikiert, ständig wollen sie neue Rezepte.

„Herr Professor“, erklärte Stülpnagel beschwichtigend, „Sie haben viel Gutes geschrieben, doch mitunter ist es zu ...“ Er suchte nach dem passenden Wort.

„Zu geschwätzig?“, fragte Arndt.

„Nein. Es ist sehr klug. Es ist mit großer Kraft gesagt. Es ist mitreißend, wenn man es liest, aber — die Masse liest nicht, Herr Professor. Und die Masse der Soldaten schon gar nicht.“

Arndt hätte ihm entgegenhalten können, dass viele seiner Flugschriften und Lieder auch beim einfachen Volk bekannt waren, doch er hatte, noch während sie redeten, an etwas anderes gedacht. Es stimmte schon, man musste den Soldaten etwas in die Hand geben, das ihnen auf eindringliche Weise klarmachte, welch neuer Geist herrschen musste, um zu siegen. Aber eben deshalb mussten die eigenen Ideen größer, erhabener und überzeugender sein als die des Feindes. „Sie müssen es herbeten wie ein Vaterunser“, sagte Arndt langsam, weil sich der Gedanke noch nicht zu Ende geformt hatte.

„Wie einen Katechismus“, warf Stülpnagel ein.

„Richtig!“ Arndt stieß mit dem Zeigefinger vor, als stünde das Wort in die Luft geschrieben wie an eine Schultafel. „Richtig“, wiederholte er, „sie brauchen einen Katechismus, in dem steht, was sie tun und was sie lassen sollen, und den sie aufsagen können wie das Vaterunser. Ein Katechismus für den deutschen Kriegs- und Wehrmann, lieber Stülpnagel, den will ich euch machen.“

Als sie sich trennten, war jeder mit dem anderen zufrieden. Arndt wusste nun, dass er durch Hauptmann Stülpnagel erfahren konnte, was in der Legion, besonders unter den jungen Offizieren gedacht wurde. Und Stülpnagel hatte die Überzeugung gewonnen, dass der neue Mann in Petersburg nicht einfach ein Schreibgehilfe des großen Freiherrn vom Stein war, sondern ein ebenso tapferer wie wortgewaltiger Streiter im Kampf gegen Napoleon, im Kampf aber auch gegen die Laxen und Lauen in den eigenen Reihen.

Stein liebte es, mit seinem Vertrauten Arndt durch die weiten Parkanlagen von Sankt Petersburg oder am Ufer der Newa spazieren zu gehen. Er hatte das Gefühl, die stickige Enge seines inzwischen hergerichteten Palais nähme ihm die Luft zum Atmen und die Fähigkeit, klar zu denken. Es war aber mehr die allgemeine Stimmung, die ihn nervös, mitunter sogar gereizt und ungerecht machte. Er benötigte mehr Raum für seine Gedanken, um sich nicht anstecken zu lassen von der weitverbreiteten Unsicherheit.

Die Dinge entwickelten sich nicht nach Wunsch und Notwendigkeit. Zwar wuchs der Volkszorn. Die Bauern zogen sich nicht mehr nur in die Wälder zurück mit Vieh und Vorräten, sie griffen selbst in kleinen Trupps verstreute Einheiten des Feindes an. Die immer drohendere Gefahr brachte sogar die Vermögenden in Bewegung. Aber das Vertrauen der Soldaten in ihre hochwohlgeborenen Generale war durch den oft chaotischen Rückzug und die ewigen Streitigkeiten der Heerführer erschüttert. Ragration bezichtigte Barclay de Tolly des Verrates, und der warf Bagration Unfähigkeit vor. Und immer offener wurde der Widerstand der altrussischen Partei gegen den Zaren.

Es blieb Alexander nichts übrig, als seinen einstigen Kriegsminister Barclay de Tolly zu opfern, den man verdächtigte, seine nichtrussische Herkunft mache ihn zu einem Gesinnungsgenossen des Feindes. Feldmarschall Kutusow, ein Parteigänger Rumjanzews und Suworows, wurde Oberkommandierender des Heeres. Der siebenundsechzigjährige General hasste den Eroberer — und er fürchtete ihn.

Die drohende Gefahr einer Niederlage allein war es jedoch nicht, die Stein zusehends gereizter machte, es war auch die mächtige, drängende Sehnsucht nach der fernen Heimat, für die er seine ganze Kraft einsetzen wollte, die Sehnsucht auch nach seiner Familie.

„Manchmal komme ich mir vor wie Antäus“, sagte Stein zu seinem Begleiter. „Ich fürchte, den Boden unter meinen Füßen zu verlieren.“

Deutlicher noch als aus den Worten hörte Arndt eine Verzagtheit Steins an der Art, wie er dies sagte, und er erschrak. Er durfte nicht zulassen, dass sein Herr zweifelte und mutlos wurde. „Selbst wenn Moskau fiele, Exzellenz, ich bin sicher, dass der Zar nicht die Waffen strecken wird.“

Als habe er nicht zugehört, fuhr Stein in seinen Gedanken fort: „Das Leben hat seine Farbe verloren. Alles läuft darauf hinaus, dass man sich von ihm trennen und auf die Trennung vorbereitet sein muss.“

Was waren das für Töne? Er durfte solche Resignation nicht zulassen. Mit Nachdruck, ja fast beschwörend sagte Arndt: „Haben Sie gesehen, Exzellenz, mit welcher Inbrunst die Menschen jeglichen Standes in den Kirchen beten und welche Kraft sie aus den Worten ihrer Priester schöpfen?“

„Der Wald daheim ist schöner und abwechslungsreicher“, fuhr Stein unbeirrt fort. „Hier dagegen immer nur Birken, Birken, Birken!“

„Graf Lieven hat uns doch berichtet, wie die vaterländischen Gedanken zunehmend Verbreitung finden in Deutschland. Die Jugend an den Universitäten und ihre Lehrer sind bereit, mit der Waffe zu kämpfen. Und hat er nicht“, versuchte es Arndt auf andere Weise, „geschrieben, dass gerade Ihr geliebtes Westfalen der dankbarste Boden für unsere Hoffnungen ist?“

Stein sah ihn lange und prüfend an. „Er hat von übereilten lokalen Rebellionen berichtet, die nur eine Menge braver und tatkräftiger Leute kompromittieren.“