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Spiel, Freude, neugieriges Erkunden, Wettbewerb, aber auch Streit und Ausgrenzung - der Kita-Alltag hat viele Gesichter. Aggressionen gehören dazu, und es ist wichtig, dass Kinder lernen, damit umzugehen. Erzieherinnen können sie dabei unterstützen. Praxisnah schult dieser Band den Blick für aggressive Verhaltensweisen: von gesunder, sozial verträglicher Aggression bis hin zu verhaltensauffälligen Formen früher Gewalt. Und er zeigt, wie Erzieherinnen angemessen und kompetent reagieren können. Denn gut gelöste Konflikte stärken alle Beteiligten!
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Seitenzahl: 209
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Gabriele Haug-Schnabel
Aggression bei Kindern
Praxiskompetenz für Erzieherinnen
Mit diesem Buch möchte ich allen Erzieherinnen und Erziehern danken, die uns bei Teambegleitungen, bei Verhaltensbeobachtungen in den Einrichtungen und bei der gemeinsamen Arbeit auf Fortbildungen immer wieder neu vor Augen führen, welche wichtigen Sozialisationsimpulse Kindertagesstätten bei der Konfliktbewältigung geben können.
Das Aggressionsbuch ist ein echtes FVM-Buch: Danke an Sonja von Stetten für den begeisterten Einstieg ins Thema und die bereichernde Zuarbeit. Danke an Joachim Bensel, dessen Rückfragen mal wieder die Diskussion und somit das Buch „auf den Punkt“ gebracht haben.
Titel der Originalausgabe: Aggression bei Kindern
Praxiskompetenz für Erzieherinnen
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung und -konzeption: R·M·E Roland Eschlbeck/Rosemarie Kreuzer
Umschlagabbildung: © Hartmut W. Schmidt, Freiburg
E-Book-Konvertierung: epublius GmbH, Berlin
ISBN (E-Book): 978-3-451-80473-1
ISBN (Buch): 978-3-451-32181-8
Vorwort
1 Aggression bei Kindern – und wo ist das Problem?
1.1 Praxisalltag: „Auf Aggressionen könnt´ ich gut verzichten“
1.2 Was sind eigentlich „Aggressionen im Kindergarten?“
1.3 Das Thema Aggression lässt neuerdings aufhorchen
1.4 Erziehung ist schwieriger geworden – auch im Kindergarten
2 Grundlose Aggression gibt es nicht
2.1 Aggression hat immer eine Ursache
2.2 Aggression kann so verschieden aussehen
2.3 Aggression abschaffen? Aggression kann wichtig sein!
2.4 Erfolgreich sein – ein gutes Gefühl
3 Frühe Aggression
3.1 Sind schon Krippen- und Kindergartenkinder aggressiv?
3.2 Wer ist gefährdet – und wo fängt ein Problem an?
3.3 Frühe Konfliktmotive
3.4 Aggression in der Erprobungsphase
4 Prävention – Maßnahmen im Voraus
4.1 Vorbereitung auf den Umgang mit Aggressionen – eigenen wie fremden
4.2 Lernfeld Aggression – die Notwendigkeit einer Gewaltprävention im Kindergarten
4.3 Die ersten Voraussetzungen für spätere Aggressionskompetenz
4.4 Sozial-kognitive Informationsverarbeitung im Einsatz: Spielerische Aggression
4.5 Aggressionstraining im Voraus – noch ohne Wut
4.6 Aggression senkende Umgebungen
5 Angst und Aggression – eine unheilvolle Verbindung
5.1 Angst in ausweglosen Situationen führt zu Aggression
5.2 Wie aus Angst, Kränkung, Beschämung und Demütigung Aggression wird
5.3 Aggression als missglückte Bewältigungsstrategie
5.4 Die „tobende Meute“ – Gruppenaggression
5.5 Die Angst der Erwachsenen vor Aggressionen erschwert ein überlegtes Handeln
6 Aggression passiert – wie reagieren?
6.1 Das Notfallprogramm
6.2 Wir brauchen eindeutige Regeln
6.3 Fehlverhalten muss Konsequenzen haben
6.4 Welche Konsequenzen sind hilfreich?
6.5 Der Sache auf den Grund gehen
6.6 Das Täter-Kind – das Opfer-Kind
6.7 Irgendwann muss wieder Ruhe sein
7 Böse Buben – liebe Mädchen?
7.1 Ist Aggression spezifisch männlich?
7.2 Der Sozialisationsverlauf wird durch Sex und Gender beeinflusst
7.3 99 Prozent der Erzieher sind weiblich – und das hat Konsequenzen
8 Was muss sich ändern?
8.1 Der Umgang mit Aggression verlangt kompetentes Differenzieren
8.2 Keine falsche Hoffnung: Aggression wächst sich nicht aus!
8.3 Sozial Attraktives muss sich lohnen
8.4 Gewalt verhindern! Aber was stattdessen zulassen und verstärken?
8.5 Gewaltdistanz(ierung) fördern – ein neues Ziel
Literatur
Ein Kind, das erlebt, dass es mit eigenen aggressiven Impulsen zurechtkommt, die aggressiven Angriffe anderer Kinder nicht nur verkraftet, sondern klärend beantworten kann, verspürt einen wichtigen Entwicklungsfortschritt. Kinder im Umgang mit Aggressionen zu unterstützen, ist ein wesentlicher Beitrag zu einer immer differenzierter werdenden sozialen Informationsverarbeitung und somit Prävention pur. Die Entwicklungsforschung zeigt, dass Selbststeuerungsfähigkeiten nur mit Unterstützung der Bezugspersonen ausgebildet werden können. Es gehört so viel dazu: sich selbst in unterschiedlichen Situationen erleben, Interaktionssignale anderer wahrnehmen und verstehen, Selbstwirksamkeit spüren, sich nicht bei einer Tätigkeit stören, sich nicht unterbrechen lassen, sich behaupten können.
So zerstörerisch und gefährlich unkontrollierte Aggression sein kann, so wichtig ist aggressives Auftreten an der richtigen Stelle, mit angemessenen Mitteln in passender Dosierung. Auch Sozialkompetenz verlangt ein gewisses Maß an Aggression. Zur Selbststeuerung gehören Probleme lösen, den Moment der Instabilität überstehen und Frustration bewältigen, aber auch in Notfällen Unterstützung holen und den Stress verarbeiten können. Deshalb ist Konfliktfähigkeit ein wesentlicher Schutzfaktor: Eine verbesserte Selbststeuerung erhöht die Selbstsicherheit eines Kindes, diese wirkt sich positiv auf seine Konfliktlösungen aus. Besonders spannend aber ist, dass diese Kinder im Kindergarten angebotene Bildungsinhalte nachgewiesenermaßen besser annehmen und in ihr Handeln und Verstehen integrieren können. Wer nicht durch ungelöste Konflikte abgelenkt ist, ist für Anregendes in unterschiedlichsten Bereichen ansprechbarer.
Es lohnt sich, mit Aggressionen kompetent umgehen zu können. Hierzu brauchen Kinder Erwachsene als aufmerksame Beobachter, als Modelle, als Regelverwalter, als Schlichter und Tröster. Den Umgang mit Aggressionen lernt niemand allein.
Gabriele Haug-Schnabel
im Januar 2009
© Hartmut W.Schmidt, Freiburg
Konkrete Fragen aus der Praxis…
Wäre es nicht am besten, wenn es überhaupt keine Aggression und keinen Streit geben würde?
Worüber geraten sich Kindergartenkinder in die Haare?
Stimmt es, dass Aggression und Gewalt bei Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren zugenommen haben?
Ist die Familie schuld, wenn die Kinder über die Stränge schlagen?
Aggressionen sind „theoretisch“ durchaus interessant und Konflikte als solche auch nicht dramatisch. Aber im Kindergartenalltag, hautnah damit konfrontiert und zur Beantwortung aufgefordert, wird alles Aggressive zum unattraktiven Thema, da es Hilflosigkeit spüren und Angst oder Eigenaggression aufkommen lässt.
Aggression und Konflikt sind Reizworte, die in jeder Erzieherfortbildung thematisiert werden – egal, welcher pädagogische Schwerpunkt bearbeitet wird. Kaum jemand fühlt sich fit in Sachen Aggressionsbewältigung:
„Ausbildungsmäßig bin ich ungenügend auf den Umgang mit Konflikten vorbereitet.“
„Theoretisch wie praktisch habe ich Defizite. Es fehlt mir an Wissen, an Umsetzungsroutine – und dass das nicht nur bei mir so ist, habe ich im Laufe vieler Gespräche festgestellt.“
„Meine schulische Vorbereitung auf Alltagsprobleme, zu denen Aggressionen und Konflikte gehören, würde ich heute als unzureichend bezeichnen. Damals war ich jedoch froh, dass nicht noch mehr trockener Stoff kam, der in der Prüfung verlangt werden konnte.“
„Ich habe während der Ausbildung den Eindruck gewonnen, dass in einem pädagogisch gut geführten Kindergarten wenige Konflikte vorkommen und schon gar keine Aggressionen. Die Praxis hat mich zuerst in eine ‚Bist-du-eigentlich-die-Doofe-Krise’ fallen lassen. Dann habe ich nach praktikablen Lösungen gesucht, die doch kommenden Aggressionen zu bearbeiten. Und das Beste ist, immer mehr halte ich Aggressionen für gesund, ja sogar für befreiend.“
„Unser Team fühlt sich nicht oder nur ungenügend auf den Umgang mit Konflikten vorbereitet. Eventuell passt unsere Ausbildung auch nicht mehr zu den heutigen Anforderungen an das Bewältigen von Aggressionen und Konflikten.“
„Meine theoretischen Kenntnisse haben in der Praxis null gebracht. Entweder waren sie soweit weg, dass ich im Notfall nicht darauf zurückgreifen konnte, oder sie waren so abwegig, dass sie den Weg in die Praxis nicht überstanden haben.“
„Am Anfang mache ich immer so, als ob ich nichts sehen und nichts hören würde. Vielleicht habe ich ja Glück, und es regelt sich von selbst. Ich tue also immer zuerst so, als gäbe es keinen Konflikt. Geht meine Rechnung nicht auf, mache ich auf überrascht: Wie konnte etwas so Unerwartetes geschehen?“
„Was bedeuten Konflikte für Kinder? Sind sie so schlimm wie für uns? Ich glaube nein, sie gehören zum Kinderalltag dazu und sind ganz schnell vergessen. Ein kurzes Kloppen, dann wieder ein Herz und eine Seele. Auseinandersetzungen sind erst dann schlimm, wenn ein Kind immer verliert und sich nie durchsetzen kann.“
„Sollen Kinder ihre Konflikte nach Erwachsenenart lösen? Immer nur reden?… Eine kurze Rangelei und die Sache ist gegessen. Vielleicht sind es nur unsere Berührungsängste, die uns immer gleich schreien lassen: Alles, nur nicht Hauen! Ich bin natürlich nicht für eine wilde Prügelei.“
„Ich denke oft, wir alle haben Angst vor Aggressionen, weil sie uns verunsichern. Bis aufs Hemd ausziehen. Ihr Ende – wie es ausgeht – nicht abzusehen ist. Wir reagieren oft aus dem Bauch heraus und bereuen schon wenige Minuten später, was wir getan haben. Wieder so scharf dazwischen. Ein Kind als böse hingestellt. Eine Entschuldigung verlangt, immer einen Schuldigen gesucht.“
„Wenn wir die Kinder jetzt so klein bekommen, schon mit zwei oder gar mit einem Jahr, haben wir dann eher Chancen, die Aggression wegzuerziehen?“
„Aggression hat etwas mit unserer Entwicklungsbegleitung zu tun und damit, wie wir kindliche Konflikte beantworten. Ich mach’ das daran fest, dass unsere mit zwei Jahren aufgenommenen Kinder im Alter von fünf Jahren eindeutig weniger aggressive Auseinandersetzungen miteinander haben, in die wir eingreifen müssen, als unsere Kinder, die mit drei oder gar vier Jahren bei uns starten.“
Insider wissen sofort, wovon bei Aggressionen im Kindergarten die Rede ist: Wir denken an Streitereien, an Krach, an Schimpfworte, an Beleidigungen, Provokationen, an Stoßen, Schlagen, Kneifen, Beißen, Treten, An-den-Haaren-ziehen, ans Wegnehmen und Kaputtmachen, an Auslachen, Spotten und Hänseln. Es geht um „nicht mitspielen lassen“, jemanden aus Gesprächen ausschließen, sich rächen, drohen, quälen, tyrannisieren und einschüchtern, aber auch darum, sich und andere zu verteidigen, sich zu wehren, sich durchzusetzen, zu opponieren und Einhalt zu gebieten.
Aggressionen ohne Ursache aus reiner Boshaftigkeit gibt es nicht.
Um es vorwegzunehmen: Es geht bereits im Kleinstkindalter bei aggressivem Handeln immer um die Verteidigung von etwas oder um das Erkämpfen von etwas! Aggressionen ohne Ursache aus reiner Boshaftigkeit gibt es nicht (siehe Kap. 2.1).
Ein Kind verteidigt sich selbst, es verteidigt aber auch ihm nahestehende andere Kinder gegen Angriffe. Es verteidigt sich und andere bei drohender Gefahr, um unversehrt zu bleiben, um bei seinem Tun möglichst wenig beeinträchtigt und eingeengt zu werden. Mit ebenso viel Engagement verteidigt es Objekte und Territorien; gemeint sind damit all die Dinge, die einem Kind im Moment besonders wichtig sind: das Auto, mit dem es gerade spielt, sein Teddybär, seine Burg im Sandkasten und noch einige Zentimeter Sicherheitsabstand darum herum oder seine geliebte Erzieherin, vor allem der heiß begehrte Platz auf ihrem Schoß. Ein Kind verteidigt aber auch seine Spielidee und seine Pläne, indem es andere Kinder zu bestimmten Handlungen veranlasst oder sie daran zu hindern versucht. Es verteidigt mit individuell unterschiedlicher Vehemenz seine Rechte und seine Interessen, sobald es diese irgendwie bedroht sieht, z.B. das Recht selbst Erfahrungen zu sammeln, auch einmal ungestört allein spielen oder allein essen zu dürfen und nicht immer gefüttert zu werden. Und dazu gehört auch das Recht, den Po nach dem Toilettenbesuch selbst putzen zu dürfen. So wird die Befriedigung wichtiger Bedürfnisse nach Selbstwirksamkeit und Eigenerfahrung aggressiv eingefordert und auch gegen Widerstand durchzusetzen versucht. Das ist der Weg, sein Bedürfnis selbst zu handeln, seinen Bewegungs- und Erkundungsdrang, seine Wissbegierde und seine Wiederholungsbegeisterung zu stillen. Als übermäßig empfundene Anforderungen werden aggressiv verweigert, um einer Enttäuschung und ängstigenden Überforderung entgehen zu können. Denn es ist auch wichtig, die Eigenstabilität zu verteidigen.
Beim aggressiven Handeln geht es aber auch um das Erreichen und Bewahren von Einfluss und Ansehen – eine wichtige Motivation beim Mobbing. Auch um Zuneigung kann gekämpft werden oder darum, Informationen zu erhalten oder Aufmerksamkeit zu erregen. Mit dem Mittel der Aggression wird versucht, die bestehenden Verhältnisse zu kontrollieren, und – wenn nötig – so zu verändern und mitzugestalten, dass sie wieder Sicherheit und Zufriedenheit bieten. Ist dieser Zustand erreicht, gilt es, ihn zu stabilisieren. Es geht um Aufstieg, um Dazugehören, Anerkennung und Dominieren – kurz um einen sicheren, einen einflussreichen Platz in der Gruppe.
Aggressionen sind Teil des Kindergartenalltags wie Spielen, Singen, Lachen, weil sie zum menschlichen Verhaltensspektrum gehören.
Aggressionen sind Teil des Kindergartenalltags wie Spielen, Singen, Lachen und Neues ausprobieren, weil sie zum menschlichen Verhaltensspektrum gehören. Der Kindergarten soll ein Hort der Geborgenheit sein, eine anregende Bildungsumgebung, und er soll die Chance für neue Bezugspersonen und immer vertrauter werdende Spielkameraden bieten. Aber er ist kein konfliktfreier Ort. Und das ist auch richtig so. Denn nur dann kann man lernen, dass Konflikte und ihre Bewältigung zum sozialen Miteinander gehören, keine Katastrophen bedeuten müssen, sondern nach Schimpfen, Beleidigung und „Wunden-Lecken“ nach einiger Zeit und mit Hilfe nachfühlender, vermittelnder Menschen wieder Gemeinsamkeiten möglich sind. Das bedeutet auch, den Kompromiss als Zaubermittel kennen zu lernen. Oder die Erfahrung, wie wenig schlimm und wichtig auch einmal Nachgeben und Verzichten sein können – Verhaltensweisen, die anfangs nur als Demütigung empfunden werden. Aber auch die andere Möglichkeit, wie ein Konflikt enden kann, sollte am eigenen Leib verspürt worden sein: das herrliche Gefühl, gesiegt zu haben, seine Meinung bestätigt, sich also aus gutem Grund durchgesetzt zu haben (siehe Kap. 2.4).
In der Januarausgabe des Polizei-Newsletters 2008, der vom Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft der Universität Bochum (Prof.Dr.Thomas Feltes) sowie der TeamConsult, Genf/Zürich und Freiburg i. Br. herausgegeben wird, finden sich Hintergrundinformationen zu einer folgenschweren Zeitungsmeldung: Unter dem Titel „Jugendgewalt nimmt zu: ‚Die Welt‘ schreibt‘s – und alle schreiben ab“ findet sich im Newsletter folgender Hinweis:
„Stein des Anstoßes der jüngsten Mediendebatte zum Thema Jugendgewalt ist ein Artikel der Tageszeitung ‚Welt am Sonntag‘. Mit dem Verweis auf eine ‚Studie‘, die der Redaktion ‚vorliegt‘, wird dort der Anstieg der Jugendgewalt beklagt. Dass es sich bei der ‚Studie‘ um einen von fünf Bundesländern erstellten Lagebericht für die diesjährige Innenministerkonferenz (IMK) handelt, der für jedermann zugänglich im Internet ‚vorliegt‘, hindert andere Zeitungen nicht, von der ‚Welt‘ abzuschreiben, ohne einen Blick auf die Primärquelle zu werfen. Dort liest man zwar, dass die PKS einen Anstieg der Fallzahlen für Jugendgewalt aufweist. Gleichzeitig verschweigt der IMK-Bericht aber nicht, dass die kriminologische Dunkelfeldforschung einen tatsächlichen Anstieg nicht bestätigen kann und dass auf dieser Grundlage eben keine gesicherten Erkenntnisse möglich sind.“
Im Original des IMK-Berichtes liest sich das so: „Die Ergebnisse der kriminologischen Forschung zur Entwicklung der Jugendgewaltkriminalität führen allerdings zu einem anderen Ergebnis. Ausgehend von regionalen Dunkelfeldstudien unter bestimmten Altersgruppen, die in der Regel an Schulen befragt wurden, und ergänzenden Begleitstatistiken z.B. der gesetzlichen Unfallversicherung vertritt die kriminologische Forschung heute die Auffassung, dass die tatsächliche Gewaltkriminalität im Jugendbereich weder quantitativ noch qualitativ angestiegen sei. Vielmehr bewege sich die Zahl der tatsächlichen Delikte auf einem relativ konstanten Niveau.“
Das Fazit des IMK-Berichtes lautet demzufolge entgegen der Darstellung in „Die Welt“:
„Es sind derzeit keine gesicherten Aussagen zu den Fragen möglich, ob die Jugendgewaltkriminalität in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg zeigt oder nicht und wie sich dieser Phänomenbereich zukünftig entwickeln wird.“
Zudem wird im Polizei-Newsletter darauf hingewiesen, dass die schlecht recherchierte Meldung der „Welt“ in der Praxis nicht folgenlos zu bleiben scheint. Auf jener Fehlinformation aufbauend, reagieren Politiker und Kommentatoren mit einer erneuten Forderung zur Verschärfung des Strafrechts, während der IMK-Bericht auf Grundlage kriminologischer Forschung dagegen klar aussagt, dass Ursachen von Jugendgewalt in sozialen und schulischen Faktoren zu suchen und in diesem Bereich auch zu lösen sind. Demzufolge fordert die IMK-Arbeitsgruppe auch, zunächst das Bild der Lage innerhalb der Bundesländer zu vervollständigen.
Dieser Schritt ist deutlich angemessener, als aktionistisch Maßnahmen zu ergreifen, die sich möglicherweise sogar als kontraproduktiv erweisen.… Die Wirkungslosigkeit von zahlreichen der aktuell politisch propagierten Maßnahmen ist seit Jahren bewiesen. Einige führen sogar nach den Ergebnissen von Studien zu einem Anwachsen der Problematik. Politik und Kommentatoren sind daher gut beraten, zunächst einmal mit Fachleuten zu sprechen, statt durch fahrlässige Aussagen Gefahren zu schaffen (Institut für Kriminologie und Gewaltprävention 2008).
Das Thema Aggression bewegt viele – vor allem, wenn es sich um Taten von Kindern und Jugendlichen handelt. Am meisten diskutiert wird die Frage: Wie groß ist das Problem Aggression wirklich? Hat die Aggressivität von Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu den Ergebnissen älterer Untersuchungen zugenommen?
Wäre dem so, dann müsste dieses Ergebnis – den Tenor einschlägiger Veröffentlichungen aufgreifend – als beunruhigender bewertet werden, als wenn die Zahlen auf bereits bekannter Höhe geblieben wären. Und es müsste – der öffentlichen Meinung folgend – früher, schneller und vor allem strenger gehandelt und Einhalt geboten werden. Aber muss das Thema Aggression wirklich nur dann richtig ernstgenommen werden, wenn eine massive Zunahme aggressiver Akte stattgefunden hätte? Leider scheint es nicht Anreiz genug, bereits nach Veränderungen und echten Lösungen zu suchen, wenn schon jetzt deutlich sichtbar wird, dass Täter und Opfer unter starken Aggressionen leiden und in ihren Entwicklungsverläufen mit massiven Beeinträchtigungen zu rechnen haben.
Doch nochmals zurück zur Frage: Hat die Aggressivität von Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren zugenommen? Die von den Medien präsentierten Fallbeispiele legen eine unheilvolle Entwicklung nahe. Jeder Gewaltzwischenfall ist besorgniserregend und zwingt zum Handeln – akut wie vor allem präventiv.
In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die Quellen, die den jeweiligen Aussagen zugrunde liegen, interessant. Ist die Quelle für diese Zahlenangaben z.B. die polizeiliche Kriminalstatistik, so beruht sie auf Tatverdächtigen, nicht auf Tätern. Würden zum Beispiel „nur“ die Verurteilten herangezogen werden, sähen die Zahlen weniger dramatisch aus. Allein diese Besonderheit erklärt schon einen Teil der veröffentlichten „Fall-Zunahmen“ der letzen Jahre, da früher fast ausschließlich Verurteilungen als Quelle herangezogen wurden.
Weitere beachtenswerte Zusammenhänge sollten bekannt sein, wenn mit diesen Zahlen wirklich argumentierten werden soll: Zu jedem aggressiven Akt gibt es eine Bewertung durch die Umwelt. Diese kann in ihren Konsequenzen für Täter und Opfer entscheidender sein als die Aktion selbst und als deren direkte Konsequenzen. Es muss also, um eine realistische Einschätzung der Situation zu bekommen, auch gefragt werden, ob sich eventuell nicht die Aggressionen, quantitativ und qualitativ, verändert haben, sondern die Bewertung von aggressiven Akten durch die Gesellschaft. Die Berichte der Massenmedien tragen zu einer allgemeinen Sensibilisierung bei. Sie schüren Ängste vor unkontrollierter Gewalt und damit auch die Bereitschaft zur aggressiven Gegenwehr. So kann die Tatsache, dass heute ein Fehlverhalten schneller als früher bei der Polizei angezeigt wird, als eine Art aggressiver Gegenwehr der Bevölkerung verstanden werden. Eindeutig ist: Wir werden zunehmend sensibler, wenn es um heftige und wiederholte Aggressionen von Kindern und Jugendlichen geht, die sich gegen ihre eigene Altersgruppe oder sogar gegen Ältere richten. Verhaltensweisen, die noch vor wenigen Jahren als üblich hingenommen oder als Mutprobe und Hörnerabstoßen im Bereich von Ritualen abgebucht worden wären, werden nicht mehr akzeptiert. Wir sind empfindlicher geworden, da wir mehr über Risiko- und Signalverhalten wissen und deren Konsequenzen nicht mehr als gegeben hinnehmen wollen.
Hat die Aggressivität bei Kindern und Jugendlichen tatsächlich zugenommen?
Das Ausmaß des Anstiegs von Kinder- und Jugendgewalt ist unbekannt. Es ist noch nicht einmal sicher, ob es überhaupt eine kontinuierliche Zunahme gibt. Selbst wenn es einen Anstieg geben sollte, ist er nach den vorliegenden Indizien keineswegs so hoch und dramatisch, wie es die öffentliche Meinung suggeriert. Die gängigen Übertreibungen müssen wieder zurückgedreht werden, um eine vernünftige Basis für Reaktionen im Erziehungsbereich und für Prävention zu schaffen.
Vieles deutet auch darauf hin, dass Jugendliche nicht generell aggressiver, gewalttätiger oder delinquenter geworden sind, sondern dass sich hier eine Besonderheit herauskristallisiert: Es gibt einen Kern vielfach belasteter, jugendlicher Intensivtäter. Auf diese fünf bis sieben Prozent der Täter entfallen über 50Prozent der Gesamtkriminalität. Alle sind Wiederholungstäter, die bereits als Kinder aufgefallen sind.
Das Ausmaß des Anstiegs von Kinder- und Jugendgewalt ist unbekannt. Es ist noch nicht einmal sicher, ob es überhaupt eine kontinuierliche Zunahme gibt.
Es gibt nach Aussage namhafter Aggressionsforscher keinen Anlass, Kindergarten und Schule als Keimzellen der Gewalt darzustellen, aber genau hier sind gewalttätige Kinder und Jugendliche aus Multiproblemgruppen zu finden, deren Gewalttätigkeit Auswirkungen auf die Schulgemeinschaft und gleichzeitig Modellcharakter für ihre Mitschüler hat. Es handelt sich um eine kleine rabiate Gruppe, die das Denken und Handeln der Lehrer so stark beherrscht, dass sie vielen Reformgedanken zur Schule direkt im Wege steht. Die Lösung kann hier nicht in erneuten Forderungen zur Verschärfung des Strafrechts liegen, denn das ist eine eindeutig nachgewiesene Fehlentscheidung, die statt zur Wiedereingliederung ins soziale Leben zu einem weiteren Absinken ins kriminelle Milieu führt.
Viele Laien aber auch Pädagogen gehen davon aus, dass Kinder heute einfach „anders“ sind, womit selten ressourcenorientiert an individuelle Besonderheiten, sondern in der Regel an mehr Schwierigkeiten und anstrengende Erziehung gedacht wird.
Kinder sind zweifellos anders geworden, aber auch Kindheit ist anders geworden. Das in den meisten Fällen einzige Kind wird in vielen Familien zu etwas ganz Besonderem, was nicht nur Vorteile mit sich bringt. Generationenübergreifende Erfahrungen mit Kindern wie auch gemeinsames Aufwachsen von Kindern einer Familie fehlen. Alle Erwartungen, aber auch alle Ängste konzentrieren sich auf dieses eine Kind, was bei Eltern schnell zu Panik und beim Kind zu massivem Druck führen kann. Mehrere Lebenswelten parallel zu haben, gehört heute eher zur Normalität, wobei Krippe oder Kindergarten, Eltern- und Großelternhaus nur dann bereichernd erlebt werden, wenn alle nötigen Voraussetzungen stimmen. Immer mehr Kinder müssen familiale Übergänge in Folge von Elterntrennung bzw. Scheidung bewältigen; immer mehr Kinder erleben auch soziale Benachteiligungen aufgrund von Armut und elterlicher Arbeitslosigkeit. Zukunftsängste und berufliche Verunsicherung der Eltern wie auch familienfeindliche Formen der Berufstätigkeit führen dazu, dass immer mehr Kinder und Jugendliche im Elternhaus wenig Halt, Orientierung und Unterstützung erfahren (Sturzbecher & Wurm 2001).
Kinder sind zweifellos anders geworden, aber auch Kindheit ist anders geworden.
Kinder werden heute in stärkerem Maße als früher als eigenständige Persönlichkeiten gesehen. Das selbstbewusste und durchsetzungsfähige Kind wird erziehungsmäßig anvisiert. „Dementsprechend hat sich auch der Erziehungsstil der meisten Eltern und Pädagogen verändert. Statt des Einforderns von Gehorsam wird heute eher verhandelt, elterliche Restriktion wird seltener. Klare Regeln und Grenzen sind häufig nicht mehr vorgegeben, was es nicht nur Kindern, sondern auch Eltern, Erzieher/innen und Lehrer/innen schwieriger macht, miteinander umzugehen“ (Sturzbecher & Großmann 2002). Mit den gesellschaftlichen Werten haben sich die Erziehungsziele geändert, es gibt kein nicht zur Diskussion stehendes Erziehungsinstrumentarium mehr. Heutige Kinder sind „aufmüpfiger“, sie pochen auf die Durchsetzung ihrer Interessen, verlangen Begründungen für Forderungen ihnen gegenüber und wollen an Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, beteiligt sein. Das ist für ihren Lebensweg gut, selbst wenn es für Erwachsene vielleicht anstrengender ist.
Erziehungsberatung hat Hochkonjunktur, da Eltern leicht verunsichert und schnell überfordert sind, besonders diejenigen, die es unter heutigen Anforderungen selbst nicht schaffen, erwachsen zu werden, nicht bereit oder in der Lage sind, Verantwortung oder Erziehungsautorität zu übernehmen, also zu keiner Entscheidung und Strukturgebung fähig sind. Das ist in unserer „Alles-geht-Gesellschaft“ besonders schlimm. Aufgrund der vielen Wahlmöglichkeiten, sowohl bei Alltagsdingen als auch bei den großen Lebensfragen, stecken wir in dem Dilemma, uns ständig für etwas und zugleich gegen vieles andere entscheiden zu müssen. Soll das einigermaßen gelingen, müssen dauernd Informationen eingeholt, Zusammenhänge erkannt und Folgen abgeschätzt werden. Immer mehr Elternkurse (z.B. Triple P, STEP, Starke Eltern – starke Kinder, Gordon-Familientraining) verfolgen zwar verschiedene Ansätze, aber auf das Wesentliche reduziert, haben sie alle das gleiche Ziel: Eltern darin zu stärken, bewusst Erziehungsverantwortung zu übernehmen und sich in kritischen Situationen im Umgang mit ihren Kindern sicherer zu fühlen, da sie dadurch den Kindern Struktur und Orientierung bieten. In diesen Situationen werden elterliche Kompetenzen abgefragt. Ein autoritativer (demokratischer) Erziehungsstil, bei dem Wertschätzung, Respekt und Akzeptanz dem Kind gegenüber auffällt und Sicherheit im Erziehungsverhalten zu spüren ist, zeigt hier die größten Erfolge. Ein konsistenter, emotional warmer und Struktur gebender Erziehungsstil gilt als Schutzfaktor der kindlichen Entwicklung (Haug-Schnabel 2004a). Eltern oder Erzieher müssen klar zum Ausdruck bringen, welches Verhalten sie erwarten und welches von ihnen nicht akzeptiert wird. Deshalb sind sie auch aufmerksam kindlichem Verhalten gegenüber und schreiten gegebenenfalls ein. Das Kind merkt, dass es „im Blick bleibt“, in seiner Selbstständigkeit ernstgenommen und unterstützt wird; es spürt die emotionale Zugewandtheit der Erwachsenen und profitiert von dieser offenen, partnerschaftlichen Kommunikation, die Wärme signalisiert, aber auch fordert und zugleich Grenzen setzt.
… konkrete Antworten für die Praxis
Für aggressive Handlungen gibt es verschiedene Ursachen, sie geschehen aber nie aus Bösartigkeit.
Konflikte gehören zum Leben von Kindergartenkindern dazu und sind für sie ein wichtiges soziales Lernfeld.
Es spricht bislang nichts dafür, dass die Gewalttätigkeit von Jugendlichen generell angestiegen ist. Aber zu vielen Kindern steht nur Aggression als Notfallstrategie zur Verfügung.
Erziehung kann nicht mehr mit den gleichen Mitteln wie früher kindlichen Gehorsam einfordern. Darum ist Erziehung schwieriger geworden und lässt manche Eltern ganz aus der Erziehungsverantwortung aussteigen oder scheitern.
© FVM Kandern
Konkrete Fragen aus der Praxis…
Was weiß man über die Ursachen von Aggression?
Ist unser Blick zu stark auf körperliche Aggression ausgerichtet?
Gibt es Situationen, in denen es für ein Kind wichtig ist, aggressiv zu sein?
Können Kinder auch Konflikte unter sich klären?
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel ereignen sich Aggressionen nicht. Auch wenn man den Hergang des Geschehens nicht mitverfolgt hat und erst, wenn es bereits brannte, auf den Konflikt aufmerksam geworden ist, kann man getrost davon ausgehen, dass nicht plötzlich er oder sie „grundlos“ losgeschlagen oder losgeschimpft hat. Aggressionen haben immer eine Ursache.
Stellen Sie sich folgende Szene vor: Zwei Kinder sind in einen Kampf verwickelt. Eines hebt den Arm zum Schlag, das andere duckt sich leicht und versucht, den drohenden Schlag abzuwehren oder ihm auszuweichen. Die Gesichter der beiden Kontrahenten sehen Sie im Moment nicht. Wie könnte die Vorgeschichte ausgesehen haben? Was kann sich hinter dieser einfachen, jedoch keineswegs eindeutigen Szene verbergen?
Hier wird ein Kind angegriffen, weil es vielleicht vorübergehend im Besitz eines begehrten Spielzeugs war, dieses aber nicht abgeben wollte. Beim Versuch, es ihm abzunehmen, war ihm auch noch wehgetan worden, sodass es jetzt aus Wut und Schmerz zum Schlag ausholt (Aggression aus Gründen der Verteidigung der eigenen Person und des Besitzes, siehe Kap. 2.3, 3.3. und 3.4).
Ein Kind wird beim Spielen und Toben grob in die Ecke gedrängt, bekommt in dieser Situation, in der es immer mehr an die Wand gedrückt wird, Angst und schlägt nun in Panik auf das am nächsten stehende Kind ein (Aggression in auswegloser Situation,