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Aggressionen sind ein ganz natürlicher Teil des menschlichen Verhaltens. Und dennoch – sie zu verstehen und mit ihnen umzugehen, stellt pädagogische Fachkräfte täglich vor Herausforderungen. Dieses Buch schafft einen Perspektivenwechsel – weg vom "störenden Kind" hin zur Sinnhaftigkeit und gelegentlichen Notwendigkeit aggressiven Verhaltens. Konflikte stellen im Kita-Alltag somit keinen zu vermeidenden Zwischenfall, sondern vielmehr ein Lernfeld und eine Entwicklungschance dar. Mit praxisnahen Erläuterungen und lebendigen Beispielen wird pädagogischen Fachkräften Wissen über mögliche Ursachen und den adäquaten Umgang mit Aggressionen im pädagogischen Alltag vermittelt.
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Seitenzahl: 179
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Gabriele Haug-Schnabel
Umgang mit aggressivem Verhalten von Kindern
Gabriele Haug-Schnabel
Umgang mit aggressivem Verhalten von Kindern
Praxiskompetenz für Kitas
Mit diesem Buch möchte ich allen Erzieherinnen und Erziehern danken, die uns bei Teambegleitungen, bei Verhaltensbeobachtungen in den Einrichtungen und bei der gemeinsamen Arbeit auf Fortbildungen immer wieder neu vor Augen führen, welche wichtigen Sozialisationsimpulse Kindertagesstätten bei der Konfliktbewältigung geben können.
Völlig überarbeitete Neuausgabe von Aggression bei Kindern(4. Gesamtauflage)
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.de
Satz und Gesamtgestaltung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, KarlsruheUmschlagabbildung: © Praweena PratchayakuptFotos im Innenteil auf den Seiten 9: © REHvolution.de - Photocase,23: © davit85 - AdobeStock, 41: © Halfpoint - AdobeStock, 59: © b-fruchten - Photocase,77: © StockPlanets - iStock - GettyImages, 89: © splendens - Istock - GettyImages,107: © as_seen - Photocase, 113: © iulianvalentin - AdobeStock
ISBN EBook (EPUB) 978-3-451-81936-0ISBN EBook (PDF) 978-3-451-81937-7ISBN Print 978-3-451-38699-2
Vorwort
1. Ein neuer Blick auf herausforderndes Verhalten
1.1 Was stört Fachkräfte an einem Kind mit herausforderndem Verhalten?
1.2 Entwicklungsstationen auf dem Weg zum Umgang mit Aggressionen
1.3 Gestiegene Anforderungen an Kitas im Bereich Aggressionsprävention
1.4 Kann man Frustrationstoleranz lernen?
2. Gruppenfähig werden: Schritt für Schritt professionell begleitet
2.1 Wird es immer schlimmer mit Unfolgsamkeit und Aggressionen?
2.2 Mitwachsenden Freiraum bieten und begleiten
2.3 Das Thema Beißen ist in Kitas besonders gefürchtet
2.4 Konfliktkommunikation setzt professionelle Kompetenz im Team voraus
2.5 Von Streithähnen und Versöhnung
2.6 Es gibt zu viele von Erwachsenen unbedacht initiierte Konflikte
2.7 Spezialblick: Kita-Erfolg aus der Sicht der großen Kinder
3. Aggressions auslösende Situationen als Anreiz, über Ver än der ungsbedarf nachzudenken
3.1 Selbst entscheiden zu dürfen stabilisiert!
3.2 Klare Freiräume und wenige wichtige Regeln
3.3 Direkt beobachtbare Gründe für häufige Konflikte
3.4 Immer Kooperation oder auch mal Konkurrenz?
4. Aggressionsvermeidende Bildungsbegleitung – vor allem für Jungen?!
4.1 Vom pädagogischen Angebot zur professionell-individuellen Beantwortung
4.2 Jungen geraten in den frühen Bildungsjahren öfter ins Hintertreffen
4.3 Kita-Teams auf der Suche nach mehr Geschlechtersensibilität
4.4 Gelangweilte Jungen!?
5. Konflikte zwischen Kindern: „Ich habe keinen Streit gewollt, ich wollte nur meinen Ball wieder!“
5.1 Konflikte zwischen Kindern sind Übungsfeld und entwicklungs - psychologische Herausforderung
5.2 Ich bin ich – und dich kann ich jetzt gerade nicht brauchen
6. Sozialkompetent wird kein Kind von allein
6.1 Eine Eingewöhnung kann tatsächlich ein die Resilienz steigerndes Erlebnis sein
6.2 Sorgen um „zu wenig oder nicht gesehene Kinder“ in den Kitas
6.3 Resilienzförderung setzt eine achtsam-aufmerksame Begleitung voraus
7. Was brauchen große Kinder an Regulationshilfe?
7.1 Wie kommunizieren Fachkräfte eine gute Konfliktbegleitung?
7.2 Aggressives Verhalten fordert uns Erwachsene heraus
8. Von Teams für Teams: Eine professionelle Begleitung aggressiven Verhaltens
Aggressives Verhalten hat immer einen Grund
Worte finden in schwierigen Situationen
„Knallstellen“ und „Knallzeiten“ im Blick haben
Verantwortung übertragen und Entscheidungen überlassen
Kindern liegt etwas an der Beziehung zu Gleichaltrigen
Die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls unterstützen
Literatur
Über die Autorin
Das Thema Aggressionen ist seit Anbeginn ein Dauerbrenner in Kindergärten und, seit es in Westdeutschland eine substanzielle Zahl an Kinderkrippen gibt, auch dort – vor allem durch das Angstthema Beißen für die Altersgruppe unter drei. Neu ist allerdings die Sichtweise auf aggressives Verhalten, die auch in einer häufig anzutreffenden, veränderten Begrifflichkeit deutlich wird: Statt von aggressivem Verhalten wird in der Pädagogik zunehmend von herausforderndem Verhalten gesprochen.
Damit wird der Blick mehr auf die Konsequenzen von Konflikten und Aggressionen im Alltag gelegt und auf den passenden Umgang durch die pädagogischen Fachkräfte als auf das sichtbare – für die meisten Außenstehenden eher unangenehme – Verhaltensmuster eines aggressiven Kindes. Die Konnotation und damit auch der pädagogische Zugang verändern sich!
Der Begriff herausforderndes Verhalten bietet die professionelle Möglichkeit, die negativen Zuschreibungen von Aggression differenziert aufzulösen und neue Zugänge zu den meist gestressten Kindern zu schaffen. Dieser professionelle Blick ermöglicht differenzierte Zugänge: Nicht nur aggressives Verhalten fordert heraus, sondern auch sozialer Rückzug, Ängstlichkeit und Konzentrationsstörungen müssen im Blick der Fachkräfte sein.
Aggression: Aggression oder aggressives Verhalten ist die Bezeichnung für eine Vielzahl von Verhaltensweisen, bei denen ein Gegenspieler zu einer Verhaltensänderung gezwungen werden soll. Der Aggression liegt ein Konflikt zwischen Individuen oder Gruppen, die miteinander – gleichzeitig – unvereinbare Ziele verfolgen, zugrunde. Aggressivität ist die angeborene Bereitschaft zur gegnerischen Auseinandersetzung. Das subjektive Empfinden bei Aggression ist die Wut, die durch das limbische System vermittelt wird. Aggression und Aggressivität werden in der Verhaltensbiologie – anders als in der Psychologie – ohne Wertung verwendet, das heißt, ohne eine beabsichtigte Schädigung des Gegners von vornherein einzukalkulieren.
Herausforderndes Verhalten: Dabei handelt es sich um den Überbegriff für kindliche Verhaltensweisen wie aggressives Verhalten, Aufmerksamkeitsprobleme, sozialer Rückzug und motorische Unruhe, durch die sich pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte im Alltag zunehmend belastet fühlen, da sie situationsabhängige Handlungskompetenz von ihnen verlangen
Das vorliegende Buch konzentriert sich darauf, besser zu verstehen, worin die unterschiedlichen Herausforderungen im Alltag der Fachkräfte liegen, wie eine passende Begleitung von Konflikten und aggressiven Handlungen aussehen kann und wie ausschlaggebend fundiertes entwicklungspsychologisches Wissen für Verständnis und externe Regulationshilfe der Kinder ist.
Wichtig ist auch, in der Begleitung herausfordernder Szenen sichtbar zu machen, dass aggressives Auftreten keineswegs immer „falsch“ und zu vermeiden ist. Wut und Zorn sind Bestandteile des kindlichen Gefühlskatalogs und haben ihre Berechtigung, etwa wenn es darum geht, für sich und andere einzustehen und zu seinem Recht zu kommen. Manchmal ist gerade die Abwesenheit berechtigter Wutäußerungen das eigentliche Problem, da ruhige Kinder im Gruppengeschehen gerne übersehen werden, weil ihr Verhalten der Aufmerksamkeit nicht wert zu sein scheint.
Was allerdings gelernt werden muss, sind der adäquate Umgang und die Regulation von Wut und Frustration, um aus Streit und Konflikten mit dem Gefühl gesteigerter Konfliktlösekompetenz hervorzugehen statt mit dem Gefühl von Unterlegenheit oder eigentlich nicht verdientem Triumph. Hierfür brauchen die Kinder, insbesondere Unterdreijährige, professionelle Konfliktbegleiterinnen und -begleiter, die sich nicht vor Konflikten scheuen, sondern diese als wertvolle Lernchance begreifen.
Die Hauptbotschaft des Buches ist, dass der Umgang mit aggressivem Verhalten nicht bei der Begleitung des aggressiven Kindes beginnt und dort endet, sondern vor allem auch die Einstellung der Fachkräfte zum Thema Aggression und die professionelle Auseinandersetzung mit möglicherweise aggressionsfördernden Vorgaben und unreflektierten Gewohnheiten – für alle Kinder gleich – in den Blick zu nehmen sind.
„Es ist so anstrengend, immer ´wachsam´ sein zu müssen. Eigentlich läuft heute alles gut, aber bei Simon müssen wir immer damit rechnen, dass es zu Streit, wenn nicht sogar zu Chaos kommt und all unsere heutigen Pläne für besondere Angebote umsonst waren.“
Wie muss die Begleitung sogenannter herausfordernder Kinder aussehen? Denn es darf nicht nur um Regeln, sondern muss auch um klug gestaltete Freiräume gehen!
Hier einige „Originalkommentare“ von pädagogischen Fachkräften zu einem Kind mit herausforderndem Verhalten:
Es fällt jedem, den Eltern, Besuchern und den Kindern, sofort auf.
Es tanzt „immer“ aus der Reihe!
Es kann sich nur schwer, oft mit Widerstand, an veränderte Situationen anpassen.
Es bringt „immer und überall“ Sand ins Getriebe!
Es fordert uns täglich heraus!
Es stört das Spiel anderer Kinder.
Es kann nur selten auf die Ideen und Vorschläge der anderen eingehen. Es ist so anstrengend! Ja, wir atmen auf, wenn das Kind mal nicht da ist.
Ein aggressives Kind oder sogar mehrere sich häufig streitende und frustriert beschwerende Kinder, aber auch unerwartet ausrastende Mädchen oder Jungen brauchen „über den Tag“ eine professionelle Assistenz durch pädagogische Fachkräfte. Das bedeutet für das Team, einen jeweils individuellen Blick auf die aktuelle Spielsituation zu richten. Aufmerksamkeit für die am kritischen Geschehen beteiligten Kontrahenten ist nötig. Und man muss überlegen, was die Ursache oder Anlässe für zunehmende Unruhe und Spielstörung waren, die jederzeit wieder zu einer aggressiven Eskalation führen können.
Fachkräfte in professionellen Teams stellen sich im Hinblick auf Aggressionsabbau immer wieder die berechtigte Frage, ob es in ihrer Einrichtung (ihren Gruppen oder Funktionsbereichen) für alle Kinder wirklich genug Vielfältiges zu denken und zu tun gibt, mal allein, mal in der Kleingruppe oder mal alle zusammen mit einer gemeinsamen Aufgabenstellung.
Es geht hier bereits früh um vielfältige Möglichkeiten zum vertieften Nach- und Weiterdenken, aber auch um die teaminterne Kontrolle, ob die kognitiven, sozialen, künstlerischen und motorischen Anforderungen mit den älter werdenden Kindern auch wirklich mitwachsen, weil sonst Langeweile und Unlust und möglicherweise daraus entstehende Aggressionen drohen.
Um dies zu überprüfen, werden zunehmend Expertinnen und Experten „von außen“ in die Einrichtungen geholt, die nach ein oder zwei Beobachtungstagen bei laufendem Betrieb und deren Auswertung aufzeigen können, wo die Denkstellen (hier gibt es Vielfältiges zum Überlegen und gemeinsam Durchdenken), wo die Tankstellen und wo die Knallstellen in der Einrichtung sind. An den Tankstellen können Kinder Kraft tanken und neue Ideen finden. An den Knallstellen passiert zu wenig, und wenn es an Denkfutter fehlt, wird alles schnell langweilig, was sich dann an den gehäuft auftretenden Konflikten nachweisen lässt.
Inzwischen wird auch in den Teams überlegt, ob nicht ein Teil der beobachteten Aggressionen daran liegen könnte, dass einige Kinder durch das Gruppengeschehen überfordert sind und aus ihrer Not heraus – alle Vorgaben und Regeln missachtend – unbeherrscht agieren und aggressiv reagieren.
Für alle aggressiven Auseinandersetzungen gilt es, zu verstehen, weshalb es zum Zerwürfnis kam, was für wen zum Problem wurde, wie diese Situation hätte verhindert werden können und wie eine professionelle Lösung jetzt aussehen könnte. Inzwischen arbeiten erfreulich viele Teams an einer Art Blickschulung für mehr individuelle Lösungen. Die erste Hürde ist immer die Frage, ob individuelle Lösungen („Extrawürste“) in einer Gruppenpädagogik überhaupt machbar und wie schnell umsetzbar sind.
Ein Wutanfall startet und nimmt Fahrt auf. Sofort werden wir unsicher, haben Angst vor Überforderung, befürchten, an unsere eigenen Grenzen zu stoßen, womöglich die Kontrolle über die Gesamtsituation zu verlieren und unter Druck nicht mehr professionell handeln zu können. Womöglich ungerecht werden? Keine Fachkraft will vor den Kindern und auch nicht vor den Kolleginnen und Kollegen verunsichert oder gar schwach wirken; niemand will voreilig streng eingreifen und dann womöglich zurückrudern müssen, weil sich die Sache schließlich doch anders darstellt.
Die Kindheitspädagogin Petra Evanschitzky (2017, 2019) bringt die Problematik in ihren Vorträgen und Texten auf den Punkt: Alles, was ein Kind tut, tut es in guter Absicht – für sich selbst! Und genau das stört Erwachsene, auch pädagogische Fachkräfte, an einem wütenden Kind. Denn es fordert sie vor den Augen aller anderen heraus, indem das Kind die Erwachsenen durch sein nicht akzeptables Handeln zum schnellen Agieren zwingt.
Gerade in angespannten Situationen kann ein aggressiver Konflikt pädagogische Fachkräfte unprofessionell reagieren lassen. Eine derartige Herausforderung treibt sie aus ihrer Komfortzone, lässt ihnen keine Zeit, in aller Ruhe zu überlegen, sondern zwingt sie, sofort zu reagieren, womöglich über ihre gewohnten Grenzen zu gehen.
Allen Fachkräften ist bewusst, dass kein Kind aus seiner Sicht grundlos aggressiv wird, auch wenn sie die aktuellen Auslöser, den Anlass für seine heftige Reaktion oder Verweigerung noch nicht erkannt haben. Es gibt immer einen Grund auszurasten, meist hat er bereits eine längere Vorgeschichte.
Deshalb lohnt es sich, im Team stets über mögliche Gründe auffallend herausfordernden Verhaltens einzelner Kinder nachzudenken. Hierzu eignet sich eine regelmäßige beobachtungsbasierte Überprüfung der Weiterentwicklungschancen aller Kinder. Diese Chancen müssen für unterschiedliche Mädchen, sich deutlich unterscheidende Jungen und auch für spezialisierte Kleingruppen im pädagogischen Alltag präsent sein. Folgende Fragen können dabei unterstützen:
Kennen wir die aktuellen Themen einzelner Kinder?
Wissen wir, an welchen Fragen sie gerade arbeiten, worauf sie selbst Antworten finden möchten?
Wie könnten die Spielumgebungen, Bereiche und Werkstätten anregungsreicher gestaltet werden, damit alle Kinder an dem weiterdenken können, was sie gerade interessiert, und die sie erforschen und ausprobieren möchten?
Nur beobachtungsgeschulte Fachkräfte erkennen langweilig gewordene Spielbereiche und Irritationen, die durch zu viele Unterbrechungen im Tagesablauf oder überfüllte Räume entstehen und durch gehäufte Aggressionsanlässe sichtbar werden. Für das Aggressionsverständnis und um die Bedeutung von Auseinandersetzungen zu erkennen, ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass Konflikte Teil und nicht der Gegensatz einer Kooperation sind! Denn hier versucht ein Kind, auf einen ihm wichtigen Sachverhalt hinzuweisen.
Der (Forschungs-)Blick auf einen Konflikt eines Erwachsenen mit einem Kind oder zwischen Kindern hat sich in den letzten 20 Jahren vor allem in Europa verändert:
Ziel der Pädagogik ist keineswegs, jeden Konflikt zwischen Kindern zu vermeiden, sondern ihn von Anfang an professionell zu begleiten.Alle Gefühle werden wahrgenommen und dürfen klar benannt werden; aber nicht alle aus diesen Impulsen entstehenden Handlungen werden akzeptiert.Wie kommt es zu auffällig vielen aggressiven Handlungen? Warum scheinen sie im Gruppenalltag „nötig“ zu sein?Es geht in Kitas um frühes Konflikthandling, um die Förderung sozialer Intelligenz.„Heute mal kein Streit“ ist deshalb kein professionelles Tagesziel, denn Konflikte sind bildungsrelevante Interaktionen.Konfliktbegleitung wird als pädagogische Aufgabe von hoher Verantwortung für den weiteren Entwicklungsverlauf des Kindes gesehen.Negative Gefühle und emotionale Äußerungen wie Wut oder Trotz haben ihre Berechtigung und sind sogar wichtig, um altersgemäß anstehende Sozialisationsaufgaben bewältigen zu können. Es sollte für jedes Kind möglichst viele Erwachsene geben, denen es gelingt, ihm zu zeigen, dass seine momentane Wut oder seine aktuelle Enttäuschung durchaus nachvollziehbar ist. Und dass selbstverständlich auch nach einer für alle akzeptablen Lösung gesucht werden muss, aber dies alles dennoch kein Grund ist, ein anderes Kind aggressiv anzugehen, zu beschimpfen oder zu schlagen. Ein Kind braucht Modelle für gute Lösungen, denn nur dann kann es lernen, auf sozial verträgliche Art mit Enttäuschung klarzukommen, aber gleichzeitig – wichtig für seine Konfliktkompetenz und Selbstwirksamkeit – auch erfahren, dass es das Recht hat, seine Meinung zu sagen und Unterstützung für sein Vorhaben zu erhalten.
Mit Wut umgehen zu lernen und frustrierende Situationen im Gruppengeschehen ertragen zu können sind große Herausforderungen und für das Zusammenleben mit anderen so wichtig, dass sie – von Anfang an – professionell begleitet werden müssen:
entsprechend dem Alter und individuellen Entwicklungsstand der Kinder,
durch die Familienmitglieder zuhause und die pädagogischen Fachkräfte in der außerfamiliären Betreuung,
im Hinblick auf viele alltägliche Erfahrungen.
Denn: Kein Kind wird aus Jux und Tollerei – also grundlos – aggressiv!
Die emotionale Entwicklung eines Kindes hängt von vielen Faktoren ab. Maßgeblich sind die genetischen Voraussetzungen des Kindes, der Umgang seiner Bezugspersonen mit ihm, sein Entwicklungsalter und seine Lebenswelt, die viele unterschiedliche Regulationsmodelle bietet (Haug-Schnabel & Bensel 2017a).
Das ist am eindrücklichsten bei Säuglingen zu sehen. Sie können sich noch nicht allein beruhigen, sie brauchen tröstende Regulationshilfe durch ihre Bezugspersonen. Babys können nicht warten! Allein schon deshalb, weil sie noch keine Zeitvorstellung für Wartemomente haben und außerdem noch zu wenige beruhigende Erfahrungen mit eigener Selbstregulationsfähigkeit gemacht haben.
Welche entwicklungspsychologischen Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit ein Kind mit frustrierenden und anderen Aggressionen auslösenden Situationen umzugehen lernt?
Über die anfängliche Gefühlsansteckung, die häufig zu beobachten ist, wenn ein zunächst nicht selbst betroffenes Kleinstkind in unmittelbarer Nähe von weinenden Gleichaltrigen ebenfalls zu weinen beginnt, ist viel geforscht worden. In dieser Situation lassen sich die meisten anderen Babys anstecken und weinen grundlos mit, da es in offensichtlich verunsichernden Situationen wichtig ist, seine Bindungs- und Bezugspersonen dadurch aufzufordern, schnell herbeizukommen.
Der nächste Schritt hin zur echten Empathie bedeutet nicht nur, die Unsicherheitsgefühle der anderen Kinder wahrzunehmen, diese richtig einordnen zu können – und zwar unabhängig vom eigenen Befinden –, sondern ist zugleich Ausdruck der Entwicklung des Ich-Bewusstseins: eine bedeutsame Etappe auf dem spannenden Weg zur Autonomie, zur Selbstständigkeit im Denken und Handeln. Ein Kind kann jetzt sein Verhalten, unabhängig von seinem eigenen Befinden, auf die Bedürfnisse anderer ausrichten.
Mit dem Entstehen des Ich-Bewusstseins (zwischen 18 und 24 Monaten) erkämpft sich ein Kind immer mehr Wissen, Kenntnisse, Fähigkeiten und vor allem Freiräume – auch gegen Widerstände. Das „Ich will“ wird zum Selbstzweck. Alles, was das Kind nun glaubt, selbst zu können, möchte es auch gegen Widerstände („trotzig“) am liebsten allein machen. Falls dies nicht klappt, ist es untröstlich und wird nicht so schnell aufgeben, es wieder zu versuchen.
„Alleine!“ etwas zu tun ist das dominierende Entwicklungsthema von Eineinhalb- und insbesondere Zweijährigen. Das Wort „alleine“ steht für den eingeforderten Willen, die Welt zu erobern, und zwar mit so wenig Hilfe wie möglich. Typische Autonomiekonflikte können nun mehrmals täglich entbrennen – auch situationsübergreifend.
Der Grund hierfür ist der bedeutende Entwicklungsschritt, dass das Kind sich jetzt seiner Handlungsabsicht und seines Handlungsziels bewusst wird und diese auch gegen vehemente Widerstände durchsetzen will.
Jetzt kann ein Kind etwas ganz unbedingt machen oder haben wollen. Es kann aber auch etwas genauso nicht wollen, wie es die Erwachsenen vorgesehen haben. Das Kind kann etwas machen oder haben wollen, was es nicht darf, oder, besonders schlimm, was es allein einfach noch nicht kann – eine Tatsache, die das Kind totunglücklich macht.
In diesem Alter, auf diesem Entwicklungsstand agieren gerade motorisch aktive und ideenreiche Kinder immer nahe ihrer Überlastungsgrenze. Ihr „Höher-schneller-weiter-Wunsch“ passt nicht zu vielen Vorstellungen der Erwachsenen und den von ihnen aufgestellten Regeln. Und das verkraftet das Kind mit seiner erst startenden Emotionskontrolle noch nicht. Jetzt braucht es eine liebevoll haltende, aber klare Unterstützung vonseiten aller Erwachsenen.
Wir sprechen vom Trotzalter, dem unausweichlichen Begleiter der Autonomieentwicklung jedes Kindes (siehe dazu auch Seite 81ff.). Mit dem Wort „Trotz“ werden Verhaltensweisen zusammengefasst, die Zeichen eines massiven Widerstandes gegenüber Anforderungen, Anweisungen oder nur Vorschlägen anderer sind und in Folge der beginnenden Autonomieentwicklung nun einige Zeit lang mehrmals täglich auftreten können.
Das eigene Scheitern bei dem unbedingt gewollten Vorhaben, genauso aber auch die Konfrontation mit einem Verbot überfordern das kindliche Bewältigungsvermögen und seine Compliance so stark, dass das Kind kurzfristig einen körperlichen und psychischen Zusammenbruch erlebt. Es wieder und wieder zu versuchen ist typisch und lässt Kinder in diesem Alter ob ihrer mehrmals erlebten „Unfähigkeit“ verzweifeln. Jetzt müssen die Erwachsenen das Kind unterstützen und trösten, damit es sich beruhigen kann.
Da Ein- und Zweijährige aufgrund fehlender Erfahrung auch bei wiederholten Versuchen nach einem starren Muster vorgehen, ist die Verzweiflung über die zu erwartenden weiteren Misserfolge groß. Diese Altersgruppe kann ihr Tun noch nicht an nötige Veränderungen beim Ablauf anpassen wie auch in Erregung noch nicht auf die Vorschläge anderer eingehen. Das Kind braucht Halt. Jetzt hilft nur trösten und beruhigen. Die kindliche Vorstellungskapazität reicht für einen alternativen Handlungsverlauf nicht aus. Noch fehlt es dem Kind an der dafür ausreichenden Frustrationstoleranz.
Diese Situation kann sich mit zunehmendem Alter individuell unterschiedlich schnell entspannen, denn zunehmende Sprachfähigkeit geht mit steigender Frustrationstoleranz einher. Sobald ein Kind seine Absicht, seinen Wunsch, seine Ablehnung, aber auch seine Verzweiflung verständlich kommunizieren kann, kann es seine Gefühle anders äußern, zum Beispiel auf seine Not aufmerksam machen und so sein Anliegen benennen – in der Hoffnung, Unterstützung zu bekommen und gemeinsam eine akzeptable Lösung zu finden.
Um mit Aggression und Frustrationen umgehen zu lernen, bedarf es einer unterstützenden Entwicklungsbegleitung. Jedes Kind muss in seinen ersten Lebensjahren lernen, auch einmal zu warten oder sein Vorhaben zu verschieben oder umzuplanen. Es gibt sogar Wünsche, die einfach nicht zu erfüllen sind – ganz normale Situationen, die verkraftet werden müssen.
Für Betreuungssituationen in Krippen, Kitas oder in der Tagespflege ist es typisch, dass ein Kind zeitgleich dasselbe machen oder haben möchte, wie ein anderes Kind – und zwar meist sofort!
In diesen für alle Beteiligten anspruchsvollen Situationen ist zuhause, aber vor allem außer Haus eine gute „Konfliktassistenz“ nötig und für den weiteren Entwicklungsverlauf wichtig: „Stör bitte Alma nicht, lass sie zuerst ihr Spiel fertig machen, dann bist du an der Reihe. Dann kannst du auch mit den Kugeln spielen. Und ich passe auf, dass du dann auch in aller Ruhe spielen kannst!“
Konfliktassistenz ist auch deshalb notwendig, weil die meisten Kinder ab etwa zwei Jahren ihre Wünsche und Absichten benennen können, es aber noch bis zu einem Jahr dauern kann und vielfältige soziale Unterstützung braucht, bevor Mädchen und Jungen in diesem Entwicklungsabschnitt merken und darauf achten, dass sich ihre Vorstellungen von denen der anderen Kinder deutlich unterscheiden können. Das bedeutet, dass es eigentlich immer mindestens zwei Ideen, zwei Wünsche, zwei Pläne oder zwei Absichten geben kann, die berücksichtigen werden müssen, wenn es gemeinsam und für alle Beteiligten genussvoll im Spiel weitergehen soll.
Zwischen drei und vier Jahren können Kinder feststellen, dass eine Person sich unerwartet verhält, weil ihr wichtige und zum Verständnis nötige Informationen fehlen. Viele Kinder schlussfolgern aber erst etwa ein Jahre später, dass diese Person aufgrund der ihr fehlenden Informationen von einer völlig anderen Sachlage und somit einer falsch eingeschätzten Ausgangssituation ausgehen wird und sich vielleicht wundert oder gar „unpassend“ verhält.
Ein nächster Gedankenschritt folgt jetzt für das Kind: Man muss die Person über ihre Fehleinschätzung der Situation informieren, wenn das Geschehen für alle Beteiligten stimmig weitergehen und das gemeinsame Ziel erreicht werden soll.
Um eine Situation zu klären, von der zwei Kinder zwei unterschiedliche, sich sogar widersprechende Vorstellungen haben, müssen die Fachkräfte differenziert benennen können, was jedes Kind an Ideen und Vorinformationen hatte. Denn von diesen ausgehend, werden die Kinder unterschiedliche – vielleicht sogar widersprüchliche – Erwartungen an das jeweils andere Kind haben.
Die Erwachsenen müssen hier Übersetzungshilfe anbieten:
Wie fühlt sich das andere Kind gerade?
Was geht in ihm vor?
Was versteht es nicht?
Was glaubt es, das passiert ist?
Was möchte oder erwartet es?
Was ist sein Ziel?
Was befürchtet es?
Was denkt es im Moment?
Was kann es gar nicht wissen?
etc.
Oft geht es hier nicht nur um Übersetzungshilfe, sondern auch um Emotionsspiegelung:
Was fühlt das andere Kind gerade?
Auf was hofft es?
etc.
Wir sprechen dann von einer echten Spiegelung einer stimmig erlebten Beziehungsrealität, wenn Gefühle und Wahrnehmungen der Kinder einfühlsam erfasst und sprachlich passend wiedergegeben werden. Dabei wird auch das gesamte Repertoire an Erfahrungen und Emotionen ins zwischenmenschliche Erleben eingeschlossen, alles angesprochen und nichts ausgeklammert, auch nicht Wut oder Verzweiflung:
Sind die kindlichen Aushandlungskompetenzen erschöpft und droht Verzweiflung?
Dann muss ein Erwachsener für die jeweiligen Gefühle und Bedürfnisse der Kinder Worte finden,
dabei die Sichtweise der Kinder einnehmen und darstellen,