Agnes - Peter Stamm - E-Book

Agnes E-Book

Peter Stamm

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Beschreibung

Im überheizten Lesesaal der Public Library in Chicago wechseln sie die ersten Blicke, bei einem Kaffee die ersten Worte. Eines Tages fordert Agnes ihn auf, ein Porträt über sie zu schreiben, sie will wissen, was er von ihr hält. Schnell zeigt sich, dass Bilder und Wirklichkeit sich nicht entsprechen – und dass die Phantasie immer mehr Macht über ihre Liebesbeziehung erhält.

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Seitenzahl: 130

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Peter Stamm

Agnes

Roman

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Inhalt

Agnes [...]Motto…1……2……3……4……5……6……7……8……9……10……11……12……13……14……15……16……17……18……19……20……21……22……23……24……25……26……27……28……29……30……31……32……33……34……35……36…

Agnes

St. Agnes! Ah! it is St. Agnes’ Eve –

Yet men will murder upon holy days.

John Keats

…1…

Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet. Nichts ist mir von ihr geblieben als diese Geschichte. Sie beginnt an jenem Tag vor neun Monaten, als wir uns in der Chicago Public Library zum ersten Mal trafen. Es war kalt, als wir uns kennenlernten. Kalt wie fast immer in dieser Stadt. Aber jetzt ist es kälter, und es schneit. Über den Michigansee kommt der Schnee und kommt der böige Wind, der selbst durch das Isolierglas der großen Fenster noch zu hören ist. Es schneit, aber der Schnee setzt sich nicht, er wird weitergeweht und bleibt nur liegen, wo der Wind nicht hingelangt. Ich habe das Licht gelöscht und schaue hinaus auf die beleuchteten Spitzen der Wolkenkratzer, auf die amerikanische Flagge, die der Wind irgendwo im Licht eines Scheinwerfers hin und her schlägt, und weit hinunter auf die leeren Plätze, wo selbst jetzt, mitten in der Nacht, die Ampeln von Grün zu Rot und von Rot zu Grün wechseln, als sei nichts geschehen, als geschehe nichts.

Hier habe ich mit Agnes gewohnt, in dieser Wohnung, für kurze Zeit. Wir waren hier zu Hause, aber jetzt, wo Agnes gegangen ist, ist mir die Wohnung fremd und unerträglich geworden. Nur ein Zentimeter Glas trennt mich von Agnes, nur ein Schritt. Aber die Fenster lassen sich nicht öffnen.

Ich schaue mir – ich weiß nicht zum wievielten Mal – das Video an, das Agnes aufgenommen hat, als wir am Columbus Day eine Wanderung machten. Columbus Day in Hoosier National Forest hat sie auf die Schachtel und auf die Kassette geschrieben, in ihrer sorgfältigen Schrift, und hat beides mit einem Lineal doppelt unterstrichen, wie wir als Kinder die Resultate unserer Rechnungen unterstrichen haben. Ich habe den Ton des Fernsehers ausgeschaltet. Die Bilder scheinen mir wirklicher als die dunkle Wohnung, die mich umgibt. Es ist ein seltsames Licht in ihnen, das Licht einer weiten Ebene an einem Nachmittag im Oktober.

Eine leere Ebene, weit und breit keine Stadt, kein Dorf, nicht einmal eine Farm. Kurz geschnittene Sequenzen, ohne dass das Bild sich wesentlich verändert. Immer neue Ansätze, Versuche, die Landschaft zu erfassen. Manchmal erahne ich, weshalb Agnes die Kamera eingeschaltet hat: eine seltsam geformte Wolke, eine Reklametafel, in der Ferne ein Streifen Wald, fast unsichtbar durch das Weitwinkelobjektiv. Einmal ein Schwenk zu mir, wie ich am Steuer sitze. Ich mache eine Grimasse. Und dann wohl der Versuch, sich selbst zu zeigen: der Rückspiegel, darin groß die Kamera und dahinter, kaum zu sehen, Agnes selbst. Dann noch einmal ganz kurz Agnes, am Steuer diesmal, wie sie eine abwehrende Handbewegung macht.

Der Parkaufseher. Auch er macht abwehrende Handbewegungen, aber im Gegensatz zu Agnes lacht er dabei. Ein Zoom auf seine Hände, die über ein Kartenblatt fahren, einen Weg zeigen, der im Bild nicht zu erkennen ist. Der Aufseher lässt sich auf seinen Stuhl fallen, öffnet eine Schublade, zieht einige Broschüren heraus. Er lacht und hält eine davon in die Kamera: How to survive Hoosier National Forest. Das Bild wackelt, dann greift von unten eine Hand nach dem Faltblatt. Der Parkaufseher spricht unentwegt, sein Gesicht wird ernst. Die Kamera wendet sich von ihm ab, streift mich kurz. Plötzlich Wald, ein lockerer Baumbestand. Ich liege auf dem Boden, scheine zu schlafen oder habe zumindest die Augen geschlossen. Die Kamera nähert sich mir von oben, kommt immer näher, bis das Bild unscharf wird, weicht zurück. Dann wandert sie über meinen Körper bis zu den Füßen und wieder zum Kopf. Lange bleibt sie auf dem Gesicht stehen, versucht, noch einmal näher zu kommen, aber das Bild wird wieder unscharf, und sie weicht von neuem zurück.

»Keine Videos?«, hat der Verkäufer mit dem nach hinten gekämmten, pomadisierten Haar gefragt, als ich mir vor Stunden unten im Laden Bier holte. Er erkundigte sich nach Agnes. Sie sei weggegangen, sagte ich, und er lächelte anzüglich. »Sie gehen alle irgendwann«, sagte er, »mach dir nichts draus, die Welt ist voll schöner Frauen.«

Agnes mochte den Verkäufer nicht, sie wusste nicht, weshalb. Er mache ihr Angst, sagte sie nur und lachte mit, wenn ich sie auslachte. Er machte ihr Angst wie die Fenster, die man nicht öffnen kann, wie das nächtliche Summen der Klimaanlage, wie die Fensterputzer, die eines Nachmittags in einer Gondel vor unserem Schlafzimmerfenster schwebten. Sie mochte die Wohnung nicht, nicht das Haus, überhaupt die ganze Innenstadt nicht. Am Anfang lachten wir darüber, dann sprach sie nicht mehr davon. Aber ich merkte, dass die Angst noch immer da war, dass sie gewachsen und nun so groß war, dass Agnes nicht mehr darüber sprechen konnte. Sie klammerte sich stattdessen immer enger an mich, je mehr sie sich fürchtete. Ausgerechnet an mich.

…2…

Ich saß in der Public Library und studierte, wie schon seit Tagen, alte Bände der Chicago Tribune, als ich Agnes zum ersten Mal sah. Es war im April letzten Jahres. Sie setzte sich im großen Lesesaal mir gegenüber, zufällig wohl, die meisten Plätze waren besetzt. Sie hatte ein Sitzkissen mitgebracht, einen Schaumstoffkeil. Vor sich, auf den Tisch, legte sie einen Schreibblock, daneben einige Bücher, zwei oder drei Stifte, einen Radiergummi, einen Taschenrechner. Als ich von meiner Arbeit aufschaute, trafen sich unsere Blicke. Sie senkte die Augen, nahm das oberste Buch vom Stapel und begann zu lesen. Ich versuchte, die Titel der Bücher zu entziffern, die sie mitgebracht hatte. Sie schien es zu bemerken und zog den Stapel mit einer leichten Drehung gegen sich.

Ich arbeitete an einem Buch über amerikanische Luxuseisenbahnwagen und war gerade dabei, die Stellungnahme eines Politikers zum Armee-Einsatz während des Pullman-Streiks zu lesen. Ich hatte mich verrannt in diesen Streik, er spielte für mein Buch keine Rolle, aber er faszinierte mich. Ich habe mich in meiner Arbeit immer von meiner Neugier leiten lassen, und diesmal hatte sie mich weit von meinem Thema weggeführt.

Seitdem Agnes sich mir gegenübergesetzt hatte, konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Ihr Äußeres war nicht auffallend, sie war schlank und nicht sehr groß, ihr braunes Haar war schulterlang und dicht, ihr Gesicht bleich und ungeschminkt. Nur ihr Blick war außergewöhnlich, als könne sie mit den Augen Worte übermitteln.

Ich kann nicht behaupten, ich hätte mich schon da in sie verliebt, aber sie interessierte mich, beschäftigte mich. Immer wieder schaute ich zu ihr hinüber, es war mir bald selbst peinlich, aber ich konnte nicht anders. Sie reagierte nicht, sah nie auf, dennoch war ich mir sicher, dass sie meine Blicke spürte. Endlich stand sie auf und ging hinaus. Ihre Sachen ließ sie auf dem Tisch liegen, nur den Taschenrechner packte sie ein. Ich folgte ihr, ohne recht zu wissen, weshalb. Als ich in die Eingangshalle kam, war sie nicht mehr zu sehen. Ich verließ das Gebäude und setzte mich draußen auf die breite Freitreppe, um eine Zigarette zu rauchen. Obwohl es nicht kalt war, fröstelte mich nach dem stundenlangen Sitzen in der überheizten Bibliothek. Es war vier Uhr nachmittags, und auf den Gehsteigen mischten sich unter die Touristen und Shopper erste Büroangestellte auf dem Nachhauseweg.

Ich spürte schon die Leere des Abends, der vor mir lag. Ich kannte kaum jemanden in der Stadt. Niemanden, um genau zu sein. Ein paarmal hatte ich mich verliebt in ein Gesicht, aber ich hatte gelernt, solchen Gefühlen auszuweichen, bevor sie zu einer Bedrohung wurden. Ich hatte einige gescheiterte Beziehungen hinter mir und hatte mich, ohne wirklich einen Entschluss zu fassen, für den Moment mit meinem Alleinsein abgefunden. Dennoch wusste ich, dass ich nicht mehr in Ruhe würde arbeiten können, solange mir die unbekannte Frau gegenübersaß, und so beschloss ich, nach Hause zu gehen.

Ich drückte meine Zigarette aus und wollte eben aufstehen, als die Frau sich kaum einen Meter entfernt neben mir auf die Treppe setzte, in der Hand einen Pappbecher mit Kaffee. Im Gehen hatte sie etwas Kaffee verschüttet, und sie stellte den Becher neben sich auf die Stufe und wischte sich mit einem zerknüllten Papiertaschentuch umständlich die Finger trocken. Dann nahm sie ein Paket Zigaretten aus dem kleinen Rucksack, den sie bei sich trug, und begann, nach Streichhölzern oder einem Feuerzeug zu suchen. Ich fragte sie, ob sie Feuer brauche. Sie wandte sich mir zu, als sei sie überrascht, aber in ihren Augen sah ich keine Überraschung, sah ich etwas, was ich nicht verstand.

»Ja, bitte«, sagte sie.

Ich zündete ihre Zigarette an und mir selbst eine zweite, und wir rauchten nebeneinander, ohne zu sprechen, aber einander zugewandt. Irgendwann stellte ich eine belanglose Frage, und wir begannen zu reden, über die Bibliothek, die Stadt, das Wetter. Erst als wir aufstanden, fragte ich sie nach ihrem Namen. Sie sagte, sie heiße Agnes.

»Agnes«, sagte ich, »ein seltsamer Name.«

»Sie sind nicht der Erste, der das sagt.«

Wir gingen zurück in den Lesesaal. Das kurze Gespräch hatte meine Spannung gelöst, und ich konnte wieder arbeiten, ohne dauernd zu ihr hinüberzuschauen. Tat ich es dennoch, erwiderte sie meinen Blick freundlich, aber ohne zu lächeln. Ich blieb länger, als ich vorgehabt hatte, und als Agnes endlich ihre Sachen zusammenpackte, fragte ich sie flüsternd, ob sie morgen wieder hier sein werde.

»Ja«, sagte sie und lächelte zum ersten Mal.

…3…

Am nächsten Tag war ich schon früh in der Bibliothek, und obwohl ich Agnes erwartete, hatte ich keine Mühe, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Ich wusste, dass sie kommen würde und dass wir reden würden miteinander, eine Zigarette rauchen, einen Kaffee trinken. In meinem Kopf war unsere Beziehung viel weiter gediehen als in Wirklichkeit. Ich begann schon, mir über sie Gedanken zu machen, hatte schon Zweifel, dabei hatten wir uns noch nicht einmal verabredet.

Ich kam mit der Arbeit gut voran, las, machte mir Notizen. Als Agnes gegen Mittag erschien, nickte sie mir zu. Wieder legte sie ihren Schaumstoffkeil auf einen Stuhl in meiner Nähe, breitete ihre Sachen aus wie am Tag zuvor, nahm ein Buch und begann zu lesen. Nach vielleicht einer Stunde zog sie ihre Zigaretten aus dem Rucksack, blickte kurz darauf und dann zu mir herüber. Wir standen beide auf und gingen, den breiten Tisch zwischen uns, auf den Hauptgang zu, der die Mittelachse des Raumes bildet. Ich begleitete sie zum Kaffeeautomaten, wieder verschüttete sie etwas Kaffee, wieder setzten wir uns auf die Treppe vor der Bibliothek. Am Tag zuvor war Agnes eher scheu gewesen, jetzt sprach sie viel und mit einer Hast, die mich erstaunte, da wir über belanglose Dinge redeten. Sie war unruhig, und doch schienen wir – ohne mehr voneinander zu wissen als unsere Namen – über Nacht vertrauter miteinander geworden zu sein.

Agnes sprach von einem Freund, Herbert, ich weiß nicht mehr, wie wir auf ihn kamen. Dieser Herbert hatte kürzlich ein seltsames Erlebnis gehabt. Er habe, erzählte Agnes, in einem Café in der Lobby eines großen Hotels etwas getrunken. An einem Nachmittag.

»Ich bin selbst ein paarmal mit ihm dort gewesen«, sagte Agnes, »es gibt einen Pianisten und die besten Cappuccinos der Stadt. Von der Lobby führen ein paar Stufen ins Café hinunter, an einem Springbrunnen vorbei, und als Herbert die Treppe hinabging, kam ihm eine Frau entgegen. Sie war nicht älter als er und trug ein schwarzes Kleid. Als er die Frau gesehen habe, sagte Herbert, habe er sich ganz seltsam gefühlt. Eine Art Traurigkeit, aber auch Geborgenheit. Es sei ihm vorgekommen, als kenne er die Frau. Dabei sei er sicher gewesen, sie noch nie zuvor gesehen zu haben. Er habe sich jedenfalls ganz schwach gefühlt und sei auf der Stelle stehen geblieben.«

Agnes drückte ihre Zigarette auf der Treppe aus und warf den Stummel in den leeren Kaffeebecher.

»Auch die Frau blieb stehen«, erzählte sie weiter. »Einige Sekunden lang standen die beiden sich so gegenüber. Dann ging die Frau langsam auf Herbert zu. Dicht vor ihm hob sie die Hände, legte sie auf seine Schultern und küsste ihn auf den Mund. Er habe seine Arme um sie gelegt, sagte Herbert, aber sie habe sich losgemacht und sei einen Schritt zurückgetreten. Herbert trat zur Seite, und die Frau lächelte und ging weiter, die Treppe hinauf. Als sie an ihm vorbeiging, strich sie kurz mit der Hand über seinen Arm.«

»Eine seltsame Geschichte«, sagte ich, »hat er versucht herauszufinden, wer sie war?«

»Nein«, sagte Agnes, und plötzlich schien es ihr peinlich zu sein, dass sie mir die Geschichte erzählt hatte, und sie stand auf und sagte, sie müsse jetzt zurück an die Arbeit.

Als wir uns tags darauf zum dritten Mal trafen, fragte ich Agnes, ob sie nicht Lust habe, mit mir in den Coffee Shop gegenüber zu gehen.

»Dort wird der Kaffee serviert«, sagte ich, »dann machst du dir einmal nicht die Hände schmutzig.«

Wir gingen über die Straße. Agnes bestand darauf, den Fußgängerstreifen zu benutzen und bei der Ampel zu warten, bis diese auf Walk wechselte.

In dem Coffee Shop trank ich seit Wochen fast jeden Morgen meinen Kaffee und las die Zeitung. Er war ziemlich schäbig, und die dicken roten Kunstlederbänke waren zu weich und unangenehm tief angebracht. Der Filterkaffee war dünn und oft bitter, weil er zu lange auf der Wärmeplatte gestanden hatte, aber ich mochte das Lokal, weil mich noch immer keine der Kellnerinnen zu erkennen schien und mit mir zu plaudern versuchte, weil mir kein Lieblingstisch frei gehalten wurde und weil ich jeden Morgen gefragt wurde, was ich wünsche, obwohl es immer dasselbe war.

Ich fragte Agnes, woran sie arbeite. Sie sagte, sie habe Physik studiert und schreibe an ihrer Dissertation. Über die Symmetrien der Symmetriegruppen von Kristallgittern. Sie habe eine Teilzeit-Assistentenstelle am Mathematischen Institut der Chicago University Sie sei fünfundzwanzig Jahre alt.

Sie sagte, sie spiele Cello, liebe Malerei und Gedichte. Sie sei in Chicago aufgewachsen. Ihr Vater war vor einigen Jahren in Pension gegangen, und ihre Eltern waren nach Florida gezogen und hatten sie alleine zurückgelassen. Agnes bewohnte ein Studio in einem der Außenviertel der Stadt. Sie hatte kaum Freunde oder Freundinnen, nur drei Streicherinnen, die sie jede Woche traf und mit denen sie Quartett spielte.

»Ich bin kein sehr sozialer Mensch«, sagte sie.

Ich erzählte Agnes, dass ich schreibe. Sie ignorierte es, stellte mir keine Fragen über meine Arbeit, und ich erwähnte nicht, dass ich Bücher veröffentlicht hatte. Eigentlich war ich froh über ihr Desinteresse. Ich bin nicht besonders stolz darauf, Sachbücher zu schreiben, und es gibt interessantere Gesprächsthemen als Zigarren, die Geschichte des Fahrrads oder der Luxuseisenbahnwagen.