9,99 €
Kampf um das Herz des Waldes Seit Kassy es geschafft hat, auf einer Windmähre zu reiten, ist sie die offizielle Wächterin des Waldes. Und nicht nur das – sie ist sogar ein Florherz und hat eine besondere Verbindung zu den Bäumen und Büschen des Waldes. Dank ihrer Fähigkeiten lässt sie nun auch das Grauhörnchen Quirle beim Wettrennen hinter sich – von ihren Freunden Grace und Robinian ganz zu schweigen. Doch schon bald scheinen die Bäume immer weniger auf sie zu hören und es wird klar: Der Park vertraut den Kindern als Helfern nicht mehr! Sogar Camp Highwood, die Schule in den Baumwipfeln, ist bedroht. Kassy muss sich auf den gefahrvollen Weg zum Herzen des Waldes aufmachen und es davon überzeugen, dass es auf sie zählen kann.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 182
Veröffentlichungsjahr: 2023
Kampf um das Herz des Waldes
Seit Kassy es geschafft hat, auf einer Windmähre zu reiten, ist sie die offizielle Wächterin des Waldes. Und nicht nur das – sie ist sogar ein Florherz und hat eine besondere Verbindung zu den Bäumen und Büschen des Waldes. Dank ihrer Fähigkeiten lässt sie nun auch das Grauhörnchen Quirle beim Wettrennen hinter sich – von ihren Freunden Grace und Robinian ganz zu schweigen. Doch schon bald scheinen die Bäume immer weniger auf sie zu hören! Was ist hier nur los?
Von Elliott Pine ist bei dtv außerdem lieferbar:
Akasia Wood – Wächterin des Waldes
Elliott Pine
Gefahr für Camp Highwood
Mit Bildern von Nina Dulleck und Alina Brost
Für alle Kinder, die den Wald so lieben wie ich
»Nur noch ein kleines Stück, Ms Wood.«
Mr Tockles hatte leicht reden. Kassy hingegen stand der Schweiß auf der Stirn. Der Ast, der die ausgebesserte Hängebrücke hielt, knarzte jetzt schon bedrohlich. Wenn er sich auf Kassys Wunsch hin weiter bog, drohte er zu splittern.
Endlich sah das auch Mr Tockles ein. »In Ordnung, Tockles und Mr Forester übernehmen.« Er wackelte über die Veranda vor dem kleinsten Baumhaus im Camp Highwood und winkte Robinian mit sich. Gemeinsam lösten sie die Seile vom Ast und zogen das Ende der Brücke zu einer offenen Stelle im Geländer. Dort machten sie es fest. In einem sanften Schwung verband die Brücke nun wieder ihre Hütte mit den anderen.
»Vorsicht!«, rief Kassy und Robinian sprang zurück. Verhindern konnte er damit nicht, dass die Zweige ihn streiften. Wie ein Staubwedel fuhren sie ihm mit ihren Blättern über das Gesicht. Beinahe erleichtert schnellte Kassys Ast in seine ursprüngliche Position zurück.
Auch Kassy war erledigt. Dass sie vor Mr Tockles’ heutigem Vortrag über die wenigen Menschen mit besonderen Gaben bei den nötigen Reparaturen im Camp half, war Ehrensache. Aber musste der Leiter wirklich jede Möglichkeit nutzen, Kassy zu fordern? Sie experimentierte gern mit ihren Fähigkeiten – eine Kranführerin mit einem Mammutbaum als Arbeitsgerät war sie deshalb noch lange nicht.
»Ein Florherz muss seine Kräfte kontrollieren können.« Mr Tockles betrachtete sie aufmerksam. Ihr Unmut hatte sich wohl deutlich in ihrem Gesicht gezeigt. »Es ist anstrengend, Ms Wood, Tockles weiß das. Da Ihr Training bisher sträflich vernachlässigt wurde, ist es nun umso härter.«
Schöne Aussichten für den Rest der Ferien. Aber Mr Tockles hatte recht. Der Sommer dauerte nicht ewig. Bald besuchte Kassy mit ihren neuen Freundinnen die Oakfield Middle School. Dort würde sie sich eingewöhnen müssen. Sie würde bis nachmittags Unterricht haben. Viel Zeit für das Camp blieb ihr in den ersten Wochen bestimmt nicht.
Genauso wenig wie für Quirle.
Kassys Totemtier hatte die Aktion aus sicherer Entfernung mitverfolgt. Jetzt hüpfte die Kleine über den Handlauf des Geländers und nahm ihren Stammplatz auf Kassys Schulter ein. Sie drehte sich mehrmals im Kreis, ihr buschiger Schwanz strich kitzelnd über Kassys Wange. Dabei keckerte das Grauhörnchen angriffslustig in Robinians Richtung.
Richtig, Kassys Missgeschick würde der nicht kommentarlos hinnehmen. Er schnaubte jetzt schon, die grünen Ringe um die Iris seiner sonst fast schwarzen Augen blitzten auf.
Schnell wandte Kassy sich ab, damit er gar nicht erst loslegte.
Die Hütte, die sie instand gesetzt hatten, war nur eine in einer langen Reihe. Wie Vogelnester kauerten sie in den Astgabeln des Wipfelwalds, der das Camp kreisförmig umschloss. Unter ihnen wechselten sich breite Astwege mit Wiesen ab, Hügel gingen in sanfte Senken über. Dank der dünnen Erdschicht, die sich im Lauf von Jahrzehnten auf den ineinanderverschränkten Ästen der Baumriesen gebildet hatte, war eine üppige Vegetation entstanden: Blaue Kornblumen, weiße Margeriten und roter Mohn standen inmitten der sich im Wind wiegenden Gräser. Bienen surrten umher, Schmetterlinge torkelten um einen Fliederstrauch, der seinen Duft großzügig verströmte. Hier und da wuchsen neben den Wipfeln der Mammutbäume weitere Laub- und Nadelbäume. Sogar einige Obstsorten hatte Kassy inzwischen entdeckt. Wahrscheinlich hatten Vögel die Kerne von Kirschen und Äpfeln heraufgetragen, aus denen dann neue Bäume gesprossen waren.
Kassy und Robinian waren nicht die Einzigen, die schon aktiv waren. Allerdings sah das, was die anderen trieben, weit spaßiger aus als ihre Aufgabe. Eine Gruppe Jungen und Mädchen veranstaltete ein Wettrennen, eine weitere spielte Ball. Die gegnerischen Teams setzten sogar ihre Totemtiere ein, um den Ball in einen der auf dem Boden platzierten Flechtkörbe zu bugsieren. Gerade trat ein Feldhase mit den Hinterläufen aus und passte den Ball so zu einem Mädchen, dass es mit ziemlicher Sicherheit einen Punkt für ihre Mannschaft erzielen konnte.
Doch der Ball prallte an etwas im Korb ab. Ein roter Kopf mit langer Schnauze und Spitzohren tauchte auf. Vulpo!
Die Zeichnung um das Maul des Fuchses glich dem Grinsen seiner Patronin. Mit weit ausgebreiteten Armen sprang Grace aus dem zweiten Korb: »Tadaa!«
»Ms Cuthbert, muss das sein?«, wies Mr Tockles sie von oben aus zurecht. Seine Mundwinkel verrieten, was er wirklich von ihrem Scherz hielt. Nur mühsam unterdrückte er das Lachen.
Er wartete, bis Grace und Vulpo das Spielfeld verlassen hatten. Erst dann drehte er sich wieder Kassy zu, der Ernst kehrte in sein Gesicht zurück. »Es ist wichtig, dass Sie sich mit dem vertraut machen, was die Natur Ihnen geschenkt hat, Ms Wood. Es kennenlernen. Ausbauen. Und zum Schutz des Oakfield Parks einsetzen.«
Den Vortrag hielt er nicht zum ersten Mal. Seit er mitbekommen hatte, dass der Pfortenkäfer sich vor Kassy verneigte, wiederholte er ihn zu jeder sich bietenden Gelegenheit. Kassy war ein Florherz, ja. Aber manchmal wollte sie einfach nur mit Grace, Adele und Hank durch den Wald streifen wie zu Beginn der Ferien.
Ein heller Pfiff unterbrach ihre Gedanken. Schräg über dem Baumhaus zeichnete sich ein roter Fleck am Himmel ab. Trilla schlug mit den Flügeln, dann ging sie in den Gleitflug über und landete zielsicher auf Mr Tockles’ Kopf.
Diesmal musste Kassy das Lachen hinter vorgehaltener Hand verbergen. Der kleine Mann sah schon ohne einen Rotkardinal in der Frisur nicht sonderlich beeindruckend aus.
Obwohl seine Beine so lang waren wie bei anderen Erwachsenen, reichte er Kassy gerade mal bis ans Kinn. Sein Oberkörper schien das Höhenwachstum irgendwann eingestellt und sich für die Breite entschieden zu haben. Dazu kam Tockles’ Angewohnheit, stets in der dritten Person von sich zu reden. Verständlich, dass manche der eingeweihten Eltern ihn für einen komischen Kauz hielten.
Trilla beugte sich seitlich zu Mr Tockles’ Ohr hinunter. Kassy lauschte, konnte aber aus dem Pfeifen und Trällern des Vogels nicht auf den Inhalt der Nachricht schließen. Umso beeindruckender war, wie Mr Tockles immer wieder nickte.
Ob er sich auch mal so schwergetan hatte wie Kassy? Oder war es für ein Faunohr von Kindheit an selbstverständlich, dass die Tiere zu ihm sprachen? Dann war Kassy das komplette Gegenteil. Manchmal konnte sie immer noch nicht glauben, als Wächterin des Waldes für den Oakfield Park und seine magischen Wesen, Pflanzen und Zwischengeschöpfe, die sich in ihm tummelten, verantwortlich zu sein. Ging es bei Trillas Bericht um eins davon?
»Eine Wolke Sommerschnee ist ausgebüxt«, bestätigte Mr Tockles ihren Verdacht. »Sie zieht über den Teich der Fellbrummer in den öffentlichen Bereich. Sie müssen sie einfangen, Ms Wood, jetzt gleich. Aber nicht allein.«
Kassys Herz klopfte freudig. Manchmal gingen Wünsche schneller in Erfüllung als erhofft. Sie schaute nach unten zu Grace, die mit wehenden roten Haaren zur Strickleiter gelaufen kam, um zur Hängebrücke hinaufzuklettern.
»Mr Forester wird Sie begleiten.«
Kassys Reaktion ließ Mr Tockles auflachen. Trilla protestierte über die Störung, drehte sich auf seinem Kopf, wie Quirle es auf Kassys Schulter getan hatte, und setzte sich wieder. Als brütete sie ein Ei aus. »Und ja, nehmen Sie um Himmels willen auch Ms Cuthbert und Vulpo mit, bevor die beiden sich die nächste Albernheit einfallen lassen. Tockles hat schon genug graue Haare. Los jetzt!«
Das musste er Kassy nicht zweimal sagen. Robinian schon. Er zeigte mit einem weiteren Schnauben, wie wenig er davon hielt, Kassys Gehilfe zu sein.
Kassy seufzte. Wie lange wollte er das noch durchziehen? Sie war zur Wächterin ernannt worden, nicht er. Sie bildete sich nichts darauf ein. Aber jede Pflanze hat ihren Platz – und Robinians war gerade hinter Kassy, die schon an ihm vorbei auf die Hängebrücke zuschoss. »Worauf wartest du, Rob? Wir haben etwas zu erledigen!«
Eine halbe Stunde später überblickte Kassy aus der Krone einer Rotbuche ein schmales Tal. Flussbirken säumten einen Wasserlauf. Die sonst in der Sonne schillernden Blätter hingen schlaff an den Zweigen. Sogar der Wind, der normalerweise beständig von den Höhenzügen der Great Smoky Mountains durch Oakfield wehte, hatte sich hitzefrei genommen.
Kassy kamen die hohen Temperaturen ganz gelegen. Wegen ihnen steuerte der Großteil der Parkbesucher den Calmwood Lake an, um sich dort abzukühlen. Die Gefahr, dass jemand einer besonderen Wolke über den Weg lief, bestand allerdings trotzdem. Die Folgen malte Kassy sich lieber nicht aus.
»Und?« Grace legte den Kopf in den Nacken und sah zu Kassy hinauf.
»Absolut nichts zu seh…« Kassy verschluckte sich fast. Gerade hatte sich doch noch eine Windböe in den Park verirrt und trieb den Sommerschnee vor ihren Augen durch das Tal!
Die fußballgroße Wolke wich den Birken aus, wollte über eine Kiefer hinwegsetzen, blieb aber an ihren Nadeln hängen wie unter einem aufgespannten grünen Schirm und zappelte dort wie verrückt.
»Ach du Schande!« Grace deutete auf den Bauch des wattigen Dings. Jetzt sah Kassy es auch. Groß war das Loch nicht, das eine Nadel in die Hülle gestochen hatte. Nur eine einzelne Flocke gelangte ins Freie, bevor die Wolke sich wieder schloss. Sie traf auf einen Zweig und teilte sich. Zwei Flocken fielen weiter, streiften einen Ast und verdoppelten sich mit einem satten Popcornploppen erneut. Nach wenigen Sekunden prasselte es in der Kiefer wie in einer Mikrowelle.
Ein noch lauteres Knacken gesellte sich dazu. Cervus stapfte aus dem Dickicht unter dem Baum. Der Wapiti hatte sie begleitet, kaum dass sie den Pfortenbaum verlassen hatten. Wie meistens hatte er in der Nähe des Camps auf Robinian gewartet. Der trat jetzt hinter ihm auf den Weg. Mit seinem breiten Brustkorb im sandfarbenen Shirt passte er perfekt zu seinem Totem. Und mit den wie von Puderzucker bestäubten Köpfen sahen die beiden sich sogar noch ähnlicher.
Robinian fuhr sich mit der Hand durch die braunen Haare, um sie von der weißen Pracht zu befreien. Es ploppte und die Schneemütze wuchs weiter an.
»Du musst den Kopf schütteln«, lachte Grace und machte es vor. Vulpo schien der Meinung zu sein, dass das nicht ausreichte, und tat es ihr nach.
Was jedem anderen ein Schmunzeln entlockt hätte, ließ Robinian erneut mit den Augen rollen. Er schüttelte sich, bis er schneefrei war, und blickte dann ebenfalls zu Kassy nach oben. »Und worauf wartest du jetzt?«
Bestimmt nicht darauf, dass er mal etwas freundlicher zu ihr war. Dann würde sie noch nächstes Jahr in der Buche stehen. Aber es stimmte ja. Der Sommerschnee wogte immer stärker hin und her. Sie mussten sich beeilen, bevor er sich befreite.
Kassy glitt eine Etage tiefer. Ihre nackten Füße setzten auf dem Ast auf, der am weitesten in Richtung der Kiefer ragte. Quirle wuselte von ihrer Schulter, hüpfte parallel zu ihr einen Zweig entlang und sprang im selben Moment ab wie sie. Nebeneinander segelten sie durch die Luft. Kassy landete, der Duft der Kiefer hüllte sie ein wie der ihres grünen Badeschaums zu Hause, sie spürte die rissige Rinde unter den Fußsohlen und fühlte sich vom Baum willkommen geheißen. Umgekehrt bat sie ihn, die Wolke noch einen Moment länger festzuhalten. Ein Knistern lief durch den Stamm, als würde er seine Muskeln anspannen.
Kassy zog sich nach oben. Die Wolke war nur noch eine Armlänge entfernt. In ihrer nebligen Hülle funkelten die Schneekristalle wie Diamanten. Sie konnten es wohl kaum erwarten, ein hübsches Chaos anzurichten. Aber nicht, solange Kassy das verhindern konnte!
Sie streckte die Hand aus. Die Wolke kippte zur Seite. Sie löste sich von den Nadeln und sackte schneller abwärts als erwartet.
»Grace, Robinian!«, rief Kassy. »Aufpassen!«
Die beiden verfolgten die Bahn, die der Sommerschnee beschrieb. Leicht war das nicht. Das Ding trudelte schlimmer als eine Feder im Windkanal. Kaum waren Grace, Robinian und ihre Totemtiere nach rechts gewandert, schwenkte die Wolke nach links. Immer verrückter torkelte sie hin und her, bis sie eine neue Böe fand und mit ihr davonzischte.
»Haltet sie auf!«
Das Kommando war überflüssig. Robinian und Cervus preschten schon los. Sie liefen einen Bogen und näherten sich der Wolke von der Seite. Grace und Vulpo kamen zeitgleich von der anderen. Kassy sprang ihnen mit Quirle in den Bäumen nach. »Achtung, sonst knallt ihr …«
Zu spät. Robinian machte einen Satz, um die aufsteigende Wolke noch zu packen, verfehlte sie um wenige Zentimeter und rammte Grace bei der Landung mit voller Wucht. In einem Bündel aus Armen und Beinen gingen sie zu Boden. Vulpo hatte da mehr Glück: Er schlug einen Haken und wich Cervus’ donnernden Hufen im letzten Moment aus. Der Wapiti bremste, wirbelte Staub und kleine Steinchen auf und blickte sich überrascht um. Die Wolke schwebte davon.
»Ihr nach!«, rief Kassy und sprang schon wieder los. Unter ihr rappelten sich Grace und Robinian auf und setzten ebenfalls zur Verfolgung an.
Die Wolke flog rund fünfzig Meter den Weg entlang, dann änderte sie ihren Kurs abrupt um neunzig Grad in den Wald. Wieder nahm Kassy einen ausladenden Ast und versetzte ihn mit ihren Schritten in Schwingung. Sie erreichte seine Spitze, nutzte die Aufwärtsbewegung und stieß sich ab. Sie katapultierte sich in die Höhe, griff nach dem dünnen, noch biegsamen Zweig einer Weide und schwang sich daran weiter wie Tarzan an einer Liane.
Die Wolke strebte den Hang hinauf, der das Tal auf dieser Seite begrenzte. Für Kassy machte das keinen Unterschied. Eine innere Kraft trieb sie höher und höher in die Spitzen der Bäume.
Quirle hüpfte neben ihr her. Dafür blieb Robinians und Cervus’ Knacken und Brechen im Unterholz zurück. Auch Grace und Vulpo fielen ab, wie Kassy mit einem schnellen Blick nach hinten feststellte.
Sollte sie ihr Tempo drosseln, damit die vier aufschließen konnten? Aber wieso? Vor ihr leuchtete die Strecke, die sie nehmen musste, förmlich auf. Genau wie der Ast, der sich quer darüberspannte. Ein Hindernis, dem sie dringend ausweichen sollte.
Oder eine Möglichkeit, die genutzt werden wollte.
Aus vollem Lauf warf Kassy sich nach vorn. Sie stellte die Arme auf dem Ast auf und zog die angehockten Beine zwischen ihnen hindurch. Katzensprung, so hatte ihre Sportlehrerin an ihrer alten Schule in Washington diese Technik genannt. Ohne abzubremsen raste Kassy weiter.
In Gedanken verlängerte sie den Weg, den der Sommerschnee nahm – und schluckte. Der Calmwood Lake! Legte die Wolke dort los, bekam das halb Oakfield mit. Im schlimmsten Fall fror sogar ein Teil des Sees zu. Ein solches Wetterphänomen würde einen Haufen Reporter anlocken. Und Wissenschaftler, die den Vorfall untersuchten. Sie würden den Park unter die Lupe nehmen und unweigerlich auf die Bereiche stoßen, in denen sich Sonnenglut und Fellbrummer tummelten, Krachwurzen, Polipofen, Honigpfeifer und all die anderen Wesen, die Kassy beschützen sollte.
»Komm schon, Quirle!« So lahm war die Kleine doch sonst nicht. Oder war Kassy heute einfach zu schnell für sie? Die Bäume, in die sie sprang, hatten kaum Zeit, die Zweige beiseitezuziehen. Ein ums andere Mal klatschten ihr Blätter ins Gesicht. Den Sommerschnee ließ sie dennoch nicht aus den Augen. Gerade zischte er über eine Schonung aus jungen Haselnusssträuchern hinweg.
Kassy stieg in einen buschigen Wipfel, der sich durch ihren Schwung zur Seite neigte. Bevor er zurückschnellte, wechselte sie in eine Buche. Hinter ihr fiepte Quirle protestierend auf, aber warten konnte Kassy nicht, bis der Haselnussstrauch ausgependelt hatte und Quirle ihr nachsetzte. Voraus glitzerte schon der See zwischen den Baumreihen.
Behände stieg Kassy in der Buche nach oben. Das Rufen der Kinder, die im Flachen planschten, drang zu ihr. Die Jauchzer wurden von einer Gruppe von Jugendlichen übertönt, die mit zwei Tretbooten ein Stück vom Ufer entfernt trieben. Die Jungen und Mädchen versuchten, das jeweils andere Gefährt zu erobern, wurden aber unter lautem Johlen von den Verteidigern ins Wasser gestoßen. Väter und Mütter lagen mit und ohne Decken auf der Wiese, vor einem Eiswagen hatte sich eine Schlange gebildet, von irgendwo wehte Grillgeruch herüber.
Und da hing der Sommerschnee zitternd über einer knorrigen Eiche! Als wäre er von der Entscheidung überfordert, wo er zuerst zuschlagen sollte.
Die Chance, ihn noch zu stoppen!
Kassy blickte erneut über die Schulter zurück. Quirle näherte sich und auch Vulpos rotes Fell blitzte zwischen den Stämmen auf. Die wackelnden Zweige des Haselnussstrauches kündigten Robinian und Cervus an, aber das Risiko, dass sie zu spät kamen, war zu groß. Kassy musste das regeln. Jetzt. Allein.
Vielleicht hätte Mr Tockles von Anfang an nur sie schicken sollen.
Die Entfernung zur Eiche war nicht ohne, aber Kassy hatte schon größere Sprünge erfolgreich absolviert. Sie rannte los, beschleunigte, stieß sich mit einem Fuß ab und segelte durch die Luft. Sie fixierte einen Ast, der ihr nur ein paar Zentimeter entgegenzukommen brauchte. Er knackte und …
Das reichte nicht!
Instinktiv warf Kassy die Arme nach vorn. Der Aufschlag, mit dem sie auf Brusthöhe gegen den Ast knallte, trieb ihr die Luft aus der Lunge. Sie rutschte ab, purzelte tiefer, Grün, Braun und Blau wirbelten durcheinander. Sie griff wild um sich – und fing den Sturz im letzten Moment an einem weiteren Ast ab. Ihre Füße baumelten so knapp über dem Boden, dass die Grashalme sie an den Sohlen kitzelten. Kassy ließ sich fallen.
»Kassy!« Blass wie ein Polarfuchs lief Grace auf sie zu. Sogar ihre Sommersprossen schienen die Farbe zu verlieren. »Ist dir was passiert?«
Konnte man so sagen, ja. Aber wichtiger als Kassys Zustand war die Frage, was der Sommerschnee jeden Moment anrichtete. Die Wolke war schon nach unten gesunken und näherte sich langsam einer Familie auf einer Picknickdecke.
»Alles gut. Schnapp sie dir, Grace!«
Die Wolke wackelte mit dem, was hinten sein musste, wie eine Katze vor dem Sprung. Mit einem Satz stieg sie über der Familie auf. Bevor sie sich entladen konnte, erwischte Grace sie am äußersten Zipfel. Die Wolke zappelte und wand sich, aber Grace klemmte sie sich kurzerhand unter den Arm. Sie drückte sie so fest zusammen, dass sie sich unmöglich öffnen konnte, und eilte zu Kassy in den Schutz der Bäume, bevor jemand es mitbekam.
Zeitgleich mit ihr trafen Robinian und Cervus ein. Robinian schaute sich um und schien eins und eins zusammenzuzählen. Zufrieden nickend betrachtete er Grace. »Das ist ja gerade noch mal gut gegangen.«
Für Kassy hatte er nur einen abschätzigen Blick übrig. Als könnte sie etwas dafür, dass die blöde Eiche nicht auf sie gehört hatte! Sie könnte den Hunger in der Welt besiegen, Robinian hätte trotzdem etwas an ihr auszusetzen.
Sie schüttelte den Rest Benommenheit ab. »Zurück ins Camp. Dann bekommen wir wenigstens noch einen Teil von Mr Tockles’ Vortrag mit.«
Sie lief los, ohne sich noch einmal nach Robinian umzudrehen. Einen verstohlenen Blick auf die Eiche konnte sie sich aber nicht verkneifen. Was war hier gerade schiefgelaufen?
»Mir qualmt der Schädel.«
Kopfschüttelnd trat Adele hinter Kassy aus dem großen Baumhaus und schloss die Tür. Wie das Fenster daneben hing sie schräg in den Angeln, auch das Bullauge auf der anderen Seite schwang gern quietschend auf, wenn der Wind zu sehr daran rüttelte. Selbst das Dach schien aus mehr Schrägen zu bestehen, als gut für es sein konnte. Das aus krummen Ästen gezimmerte Geländer rund um die Plattform vor der Hütte vervollständigte den Eindruck, dass der gewaltige Mammutbaum die Konstruktion nur mit gutem Willen oben hielt. Wenn alles mit rechten Dingen zuginge, hätte die Schwerkraft längst gewinnen und sie in die Tiefe ziehen müssen.
»Es ist doch ganz einfach.« Hank schob sich die rechteckige Brille auf der Nase zurück. Florius hoppelte derweil neben ihm her Richtung Leiter. Dabei waren wohl nur die schattigen Stellen der groben Bretter erlaubt, die hellen mied das Waldkaninchen. Als spielte es Der Boden ist Lava. Anders verhielt sich Skinky, Adeles fünfzeiliger Skink. Er glitt seiner Patronin in Schlangenbewegungen aus dem Kragen ihres Shirts und klebte kurz darauf auf ihrem sonnenbeschienenen Rücken. Als wäre der ein Stein, auf dem er sich wärmte. Seine gespaltene Zunge schoss in schnellen Bewegungen aus dem Maul und wieder zurück.
»Der Begriff Faunohr setzt sich aus zwei Wörtern zusammen«, dozierte Hank. »Die Fauna ist die Tierwelt, das Ohr steht für das Gehör. Ein Faunohr versteht, was sein Totem ihm sagt. Einige wenige wie Mr Tockles können auch fremden Tieren in Grundzügen folgen. Ein Faunauge dagegen könnte scharf wie ein Adler sehen, wenn das sein Totem wäre. Oder bei Dunkelheit wie eine Katze.« Er korrigierte erneut den Sitz seiner Brille. »Wobei eine Spitzmaus die bessere Wahl wäre, die hat wie der Mensch ein trichromatisches Sehen, kann also Blau, Grün und Rot wahrnehmen. Da wäre die Umstellung nicht so groß.«
»Sein Totem sucht man sich nicht aus«, erinnerte Adele ihn. »Der Park schickt es, wenn er jemanden für würdig erachtet.« Sie reihte sich hinter den anderen Jugendlichen und deren Tieren ein, die Mr Tockles’ Stunde besucht hatten. Jetzt standen alle an der Leiter nach oben zur großen Wiese im eigentlichen Camp an. »Aber bei manchen ist es nicht so einfach, nicht wahr? Was kann zum Beispiel ein Faunfuß oder ein Florfinger? Und wie eklig klingt bitte ein Faunmagen? Oder ein … he, hallo?«
Eine Gruppe Jüngerer drängte an ihnen vorbei. Die Mädchen und Jungen waren kaum älter als neun und besuchten das Camp erst seit wenigen Tagen. Sie hatten gemeinsam Müll gesammelt, was dem Park wohl ausgereicht hatte, ihnen ihre Tiere zur Seite zu stellen.
Kassy sah einen Falken, der im Rüttelflug über der Gruppe stand, eine Schildkröte in den Händen eines Jungen mit weit auseinanderliegenden Augen, ein Hermelin und sogar einen Kojoten. Wer sich nicht damit auskannte, konnte ihn leicht mit einem kleinen Wolf verwechseln. Dabei unterschied er sich nicht nur in der Größe von seinem Verwandten. Wenn man genau hinsah, fiel einem die spitzere Schnauze auf, außerdem hatte er größere Ohren und kürzere Beine.