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Der Wald ist lebendiger, als du denkst! Als die zwölfjährige Akasia Wood kurz nach dem Umzug ihrer Familie entdeckt, dass sie sich in den Baumwipfeln des nahen Parks so schnell und geschickt bewegt wie ein Grauhörnchen, ist sie überrascht. Und fast fassungslos, als plötzlich Pflanzen und Tiere auf sie hören! Denn Akasia ist eine Wächterin. Früher jagten die Wächter des Waldes das Nachtholz, bösartige Gewächse, die es auf die friedlichen Bewohner des Waldes abgesehen hatten. Seit das Nachtholz besiegt ist, sind die Wächter kaum mehr als Aufpasser für übermütige Tiere. Doch Oakfield Park ist kein gewöhnlicher Park. Er ist der Rückzugsort der letzten magischen Geschöpfe. Und diese sind in Gefahr! Denn tief im Wald verbirgt sich ein Nachtholz, das seine Zeit gekommen sieht.
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Seitenzahl: 194
Veröffentlichungsjahr: 2022
Der Wald ist lebendiger, als du denkst!
Als die zwölfjährige Akasia Wood kurz nach dem Umzug ihrer Familie entdeckt, dass die Pflanzen und Tiere des nahen Parks auf sie hören, kann sie es kaum glauben! Kassy hat eine besondere Verbindung zu diesem Wald, das steht fest. Nicht nur zum Grauhörnchen Quirle, das ihr gleich am ersten Tag über den Weg hüpft. Denn Oakfield Park ist kein gewöhnlicher Park. Er ist der Rückzugsort der letzten magischen Geschöpfe. Und sie sind in Gefahr! Denn tief im Wald verbirgt sich ein bösartiges Nachtholz, das seine Zeit gekommen sieht.
Elliott Pine
Wächterin des Waldes
Mit Bildern von Nina Dulleck
Für meine Kinder
Danke für eure Geduld,
wenn ich mit Kassy durch die Wälder streife
Bäume, nichts als Bäume.
Der kleine Wagen, in dem Kassy auf der Rückbank hinter ihrer Mom saß, schoss aus der Kurve und Kassy sah … Bäume. Was sonst? Ihr Dad konnte noch so auf die Tube drücken, die Dinger waren überall. Entkommen unmöglich.
Seufzend schielte sie nach vorn. Ihr Dad trommelte im Rhythmus des Gute-Laune-Lieds, das aus dem Radio wummerte, auf das Lenkrad. Irgendwas mit Sunshine und Happy Day. Mit Schwung rauschte er in die nächste Biegung.
Er hätte gern doppelt so schnell fahren können. Allerdings erst, nachdem er den Wagen gewendet hatte. Dann wären sie in Windeseile wieder in Washington gewesen.
Kassy drehte sich um und starrte aus dem Heckfenster. Hinter ihnen verlor sich die Straße zwischen den dicken Stämmen der Laubbäume. Eine Reihe krüppeliger Nadelbäume stand an einem Bachlauf, den sie gerade passiert hatten. Sie erinnerten an die Topfpflanzen, die Kassys Mom regelmäßig anschleppte und ebenso häufig als welke Gebilde wieder entsorgte. Nur in Kassys Zimmer überlebten sie länger, obwohl Kassy sich nicht mehr um sie kümmerte als ihre Mom.
Kassy kniff die Augen zusammen und nahm einen besonders knorrigen Stamm ins Visier. Als wäre ihr Blick eine Säge, mit der sie ihm auf den Leib rückte. Wenn sie ihn erledigt hatte, würde sie sich um den nächsten kümmern und eine Schneise in den Wald fräsen. Dann brauchten sie für den Rückweg nicht einmal mehr die gewundene Straße zu nehmen, sondern konnten einfach geradeaus fahren.
»Kassy«, unterbrach die Stimme ihrer Mom die Baumfällarbeiten. »Setz dich bitte wieder richtig hin. Wenn Dad bremst, fliegst du noch durch die Windschutzscheibe!«
Grummelnd kam Kassy der Aufforderung nach und straffte den Gurt. Ihr Dad würde nicht bremsen. Ihm konnte es gar nicht schnell genug gehen, ans Ziel zu kommen.
Galt es eigentlich als Entführung, wenn die Eltern einer Zwölfjährigen diese gegen ihren Willen verpflanzten? Sollte Kassy ein Schild malen, auf dem sie um Hilfe bat? Dummerweise hatten sie seit Ewigkeiten niemanden mehr überholt, der darauf reagieren konnte.
Wähl den Notruf, Darling! Da kauert ein schwarzhaariges Mädchen mit zu groß geratenen, nussbaumbraunen Augen bei zwei blöde grinsenden Erwachsenen im Auto.
»Sieh nur!« Ihre Mom wies nach vorn.
Bestimmt wollte sie zeigen, wo Kassy bei ihrem Flug durch die Scheibe landen würde und welche schlimmen Verletzungen sie erwarteten.
Kassy beugte sich zur Seite, um an ihr vorbeischauen zu können, und blinzelte gegen die schräg einfallenden Sonnenstrahlen an. Komorebi. Licht, das durch Blätter bricht. So bezeichnen Japaner dieses magische Schauspiel, hatte sie irgendwo mal aufgeschnappt.
»Willkommen in Oakfield, unserer neuen Heimat.« Kassys Mom griff nach der Hand von Kassys Dad. »Oder deiner alten. Es ist gut, dass wir hier sind. Deine Mutter braucht uns.«
»Das soll eine Stadt sein?« Kassy schüttelte das wohlige Gefühl ab, das der Anblick der leuchtenden Bahnen inmitten des üppigen Grüns ausgelöst hatte. Die Japaner konnten ihr blödes Komorebi behalten, Kassy wollte weiter sauer sein. Und hatte sie nicht allen Grund dazu? Die paar Häuser da vorn konnte man guten Gewissens nicht einmal als Dorf bezeichnen. Wohnte hier überhaupt jemand? Es sah eher aus, als hätte man die Dinger versehentlich abgestellt und dann vergessen. Kein Wunder, dass sie Granny Taya kaum hier besucht hatten.
Ihre Mom lachte. »Wart’s ab.«
Kassys Blick traf den ihres Dads im Rückspiegel. Die Fältchen um seine Augen verrieten, dass auch er schmunzelte. Kassy versuchte, den Spiegel mit dem Sägeblick von gerade zu bearbeiten, aber er war genauso stabil wie die dämliche Krüppeltanne.
Ihr Dad setzte den Blinker und bog in eine Seitenstraße ein, die sich einen Hügel hinaufschlängelte. Jetzt erkannte Kassy, was ihre Mom gemeint hatte. Der Wald hinter der kleinen Ansammlung von Gebäuden war nur ein Ausläufer des Oakfield Parks.
Eingeweiht 1657 und damit mehr als zweihundert Jahre älter als der Central Park in New York, hatte Kassy im Faltblatt gelesen, das ihr Dad vom letzten Besuch mitgebracht hatte. Auch seine Fläche übertrifft die des Centrals bei Weitem und verleiht dem Stolz North Carolinas damit den Titel der größten innerstädtischen Parkanlage der Vereinigten Staaten.
Was sich vor Kassy ausbreitete, wirkte wie ein Teil der Great Smoky Mountains, um das in einem gewaltigen Ring eine Stadt erbaut worden war. Doch auch jenseits der eigentlichen Anlage mit ihren Wipfeln und Lichtungen, den schimmernden Bachläufen und dem glitzernden See in der Mitte beanspruchten Häuser und Wald das Gelände gleichermaßen für sich. Wer sich am Ende durchsetzen würde, war noch nicht entschieden.
Die Straße brachte sie in ein Wohngebiet. In den Sackgassen rechts und links standen Häuschen mit Giebeln und Erkern und breiten Fenstern in den holzverkleideten Fronten. In jedem Vorgarten wuchs mindestens ein gewaltiger Baum mit dicht belaubter Krone. Saftiges Gras erstreckte sich bis zu den Haustüren.
Die Gärten waren gepflegt, aber unter der Oberfläche schien etwas Wildes zu lauern. Es wartete nur darauf, dass die Bewohner des Viertels nachlässig wurden mit dem Stutzen, Schneiden und Mähen. Das von hinter den Häusern über die schindelgedeckten Dächer ragende Blattwerk zeigte, dass manche dort längst aufgegeben hatten.
Neugierig beugte Kassy sich vor, um …
Hatte sie einen Knall? Sie fand Oakfield schrecklich! Das hatte sie beschlossen, als ihre Eltern sie über den Umzug informiert hatten. Sie würde sich ihre schlechte Meinung über diese Stadt im Nirgendwo nicht von ein paar hübschen Häusern und dem dämlichen Gestrüpp rundherum kaputt machen lassen.
Auch der Grund, weshalb sie aus Washington herzogen, würde nichts daran ändern. Da konnte die Vorfreude auf den morgigen Ausflug zu Granny Taya noch so sehr in Kassys Magen kribbeln.
Sie schob das Gefühl beiseite und bemühte sich, weiter zu schmollen, während ihr Dad den Wagen einen guten Kilometer an einer roten Backsteinmauer entlangsteuerte. Dann erklang erneut das mechanische Klacken des Blinkers und sie kamen in einer Parkbucht zum Stehen.
»Da wären wir«, sagte ihr Dad. »Die Woods sind zu Hause.«
Auf der anderen Straßenseite lag ein Grundstück, für das wild noch ein freundlicher Ausdruck war. Das Ganze wirkte wie ein Dschungel, der ein wehrloses Häuschen fraß.
»Hat jemand eine Machete dabei?«, fragte Kassy.
Ihre Eltern lachten. Dabei meinte sie es ernst! Wenn ihre Mom schon befürchtete, Kassy würde durch die Windschutzscheibe geschleudert werden, weil sie sich während der Fahrt einmal umgedreht hatte, musste ihr jetzt angst und bange sein. Wer sagte, dass sie es bis zur überdachten Veranda schafften, die sich rund um das Haus zu ziehen schien? Gab es in den Smokies nicht auch Schwarzbären? Die Woods hatten gerade ihr Hauptquartier entdeckt. Hierher zogen die Tiere sich zurück, wenn die Touristen ihnen auf den Keks gingen. Hundertpro. Das Dickicht war monstermäßig.
Und damit ziemlich spannend.
Kassys Mundwinkel zuckten.
»Es ist schön, dass du wieder lächelst.« Ihr Dad war ausgestiegen und klappte den Fahrersitz nach vorn. »Dann ist die werte Akasia Wood also bereit, Oakfield eine Chance zu geben?«
So weit kam es noch, dass Kassy lächelte. Sie zwang die Mundwinkel nach unten. Es war schwerer als vermutet. Und das, obwohl ihr Dad ihren vollen Namen benutzt hatte. Normalerweise reichte allein der schon aus, um ihr die Stimmung zu vermiesen.
Akasia, der einfacheren Schreibweise wegen von Akasiya abgeleitet, der Akazie. Eine Baumgattung mit 1400 Unterarten, die sich über die ganze Welt verteilten. Superlustig, sich das für die eigene Tochter auszudenken, wenn man mit Nachnamen Wood hieß.
Am besten blieb Kassy einfach sitzen. Wenn sie es darauf anlegte, würde ihr Dad heute Nacht noch dastehen und ihr die Tür aufhalten. Ein verlockender Gedanke. Aber draußen hatte es mindestens dreißig Grad. Im Inneren des Wagens würde Kassy sich in wenigen Minuten wie eine Pizza im Backofen fühlen. Sie schwitzte ja jetzt schon, obwohl sie nur ihre Shorts und ihr zitronengelbes Lieblingsshirt trug.
Außerdem musste sie sich dringend bewegen. Ihre Beine waren schon mehrmals eingeschlafen und nicht wieder richtig aufgewacht. Sie angelte mit den Zehen nach den Flipflops im Fußraum, schlüpfte hinein und kletterte ins Freie.
Dort empfing sie der Geruch Oakfields, den sie bisher nur vage durch die Lüftungsschlitze wahrgenommen hatte. Eine tiefe Note aus Harz, nicht schwer und unangenehm, nein, er schien Kassy umarmen zu wollen wie der Duft des grünen Badeschaums, den sie so gern benutzte. Darüber lagen frischere Aromen. Gras und Wildblumen, ein Hauch Zitrone.
Kassys Dad ging zum Kofferraum, sah dabei aber immer wieder über die Straße und pfiff die Sunshine-Melodie aus dem Radio. Ganz der Verwaltungsfachangestellte in der Stadtplanung, der beim Abendessen mit leuchtenden Augen über bezahlbaren Wohnraum für Familien dozierte, der sich vor allem durch Nachhaltigkeit und der Symbiose von Mensch und Natur auszeichnen sollte.
Kassy grinste beim Blick auf das Häuschen. Da hatte er seine Symbiose.
Ihre Mom half ihm mit dem Gepäck. Das meiste ihrer Sachen hatte bereits ein Möbeltransporter hergebracht. Die nächsten Tage würden die Woods damit zu tun haben, Schränke aufzubauen und Kisten auszuräumen.
Tolle Aussichten für die Sommerferien!
Allerdings hatte Kassy dann wenigstens eine Aufgabe. Bis zum Start der Middle School im September waren es noch sechs Wochen. Und, nein, sie hatte keine Lust, sich dort einzugewöhnen. Neugierig war sie aber schon, was sie erwartete und ob sie sich mit jemandem anfreunden würde. Bei der Vorstellung glaubte sie fast, andere Mädchen und Jungen rufen zu hören.
Kassy seufzte. Ihre überbordende Fantasie verfolgte sie seit ihrer Kindheit. So nannten ihre Mom und ihr Dad es. Nein, Kassy, der Busch da hat dir nicht zugewunken. Das hast du dir nur eingebildet. Es hatte ewig gedauert, bis sie akzeptiert hatte, dass sie Dinge sah, die es nicht gab. Ihre Grandmom war dabei keine große Hilfe gewesen, wenn sie in Washington zu Besuch gewesen war. Immer wieder hatten Kassys Eltern sie ermahnt, Kassy mit ihren Märchen keine Flöhe ins Ohr zu setzen. Vielleicht hatten ihr Dad und ihre Mom den Kontakt deshalb auf ein Minimum beschränkt? Jedenfalls hatte das der besonderen Beziehung zwischen Kassy und ihr keinen Abbruch getan.
Und nun würde Kassy sie häufiger sehen! Der Gedanke löste ein erneutes Kribbeln aus.
Konnten sie nicht direkt weiterfahren und das Haus noch ein paar Stunden sich selbst überlassen? In den letzten zwei Millionen Jahren hatte es ihm auch nicht geschadet.
»Magst du nicht rübergehen?«, machte ihre Mom die Hoffnung zunichte. Sie schien es eilig zu haben, von der Bärenversammlung im Garten gefressen zu werden. Kassy zuckte die Achseln und lief los. Ihre Mom lachte.
»Ob du da rübergehen willst, habe ich gemeint.« Sie deutete die Mauer entlang auf ein offen stehendes Tor aus dicken schwarzen Eisenstäben. Zierspitzen bohrten sich in den wolkenlosen Himmel.
Vor dem Tor feuerten einige Jugendliche in Kassys Alter ein rothaariges Mädchen an, das eilig herbeilief. Also hatte Kassy sich die Stimmen doch nicht eingebildet. Offenbar wollte die Gruppe zusammen in den Park gehen, der hinter dem Tor begann.
»Mach dich doch gleich mit ihnen bekannt«, schlug ihr Dad vor und hievte einen schweren Koffer auf die Straße. »Du kannst sie auch einladen. Die Küche müsste schon funktionieren.«
Kassy starrte ihn an. Die Fahrt hatte ihr die Beine einschlafen lassen, nicht weiter schlimm. Aber bei ihm hatte sich das lange Sitzen irgendwie auf den Kopf ausgewirkt. Ganz sicher ging sie nicht einfach da rüber und stellte sich vor. Noch viel weniger würde sie jemanden in das Chaos einladen, das sie erwartete. Eine vielleicht funktionierende Küche klang ähnlich verdächtig wie sein Hinweis, dass ihre neue Bleibe mehr oder weniger bewohnbar war. Kassy musste sich nur den Vorgarten anschauen, um vor ihrem geistigen Auge die Schlingpflanzen in ihrem Zimmer zu sehen, das ihre Eltern ihr versprochen hatten. Wenn sie Pech hatte, teilte sie sich das Bad mit einer Waschbärenfamilie.
Außerdem verschwanden die Mädchen und Jungen schon in einem Tempo im Park, als übten sie sogar in den Ferien für den Sportunterricht. Kassy würde bestimmt nicht hinterherrennen.
Stattdessen betrachtete sie das Tor. Mit den schmiedeeisernen Stäben und den dolchartigen Spitzen wirkte es wie aus der Zeit gefallen. Als würde es seit der Einweihung des Parks dort stehen. Oder als hätte man die massive Mauer beim Aufbau der Stadt um diesen Teil des Waldes gezogen und das Tor als einen der wenigen Zugänge eingefügt, um ihn zu schützen. Als verbarg sich darin etwas, das …
Wieder seufzte Kassy. Der Park war ein Park. Und die Bäume waren Bäume. Und von denen hatten die Woods genug in ihrem Garten.
Sie wandte sich um und nahm ihr neues Zuhause ins Visier. So übel sah es gar nicht aus. Und wenn sie ganz ehrlich war, stieg zum dritten Mal eine kribbelige Vorfreude in ihr auf und sie fragte sich, was es in diesem Dschungel da drüben zu entdecken gab.
»Mom, Dad, wo bleibt ihr denn?«
Mit einem Ast schlug Kassy den hüfthohen Schierling zur Seite. Zumindest vermutete sie wegen der roten Flecken an den Stängeln, dass es einer war. Die Farbe schrie geradezu: Vorsicht, giftig!
Sie trat zurück auf den gepflasterten Pfad, der kaum noch als solcher zu erkennen war. Gräser wuchsen aus den Spalten zwischen den mit Flechten und Moosen überzogenen Steinplatten, Farn lappte von der Seite darüber. Das Ganze wirkte wie der Weg zu einer antiken Tempelanlage mitten im Urwald.
Kassy blickte an der weißen Außenfassade des Hauses nach oben. Natürlich hatte ihr neues Zimmer keine Schlingpflanzen beherbergt und einem Waschbären war sie im Bad am Ende des Flurs auch nicht begegnet. Im Gegenteil: Es war, als wäre ihr Bereich, anders als der Rest des Hauses, hübsch hergerichtet worden. Als sollte sie sich von Beginn an wohl darin fühlen. Und das tat sie. Ihr Zimmer war mindestens doppelt so groß wie das alte in Washington. Die Wände waren in einem freundlichen Flieder gestrichen, Vorhänge zierten die Sprossenfenster und in dem Erker, zu dem sie jetzt an der dicht beim Haus stehenden Rosskastanie vorbei aufsah, war eine Sitzecke eingebaut, die sie sich mit kuscheligen Kissen gemütlich machen würde. Von dort aus schaute man über den Garten und die Nachbargrundstücke hinweg bis zu den Höhenzügen der Smokies. Wie die Rücken schlafender Tiere lagen sie in der Ferne.
Trotzdem hatten die ungewohnten Geräusche der neuen Umgebung Kassy wach gehalten: das Knacken des alten Hauses, das Zirpen der Grillen, die Schreie einer Kreischeule, das Rauschen in der Krone der Kastanie. Irgendwo in der Nähe musste ein Tümpel sein, aus dem Ochsenfrösche quakten. Erst als sich schon wieder ein blauer Schimmer in die Dunkelheit geschlichen hatte, war sie eingeschlafen – und gefühlte zehn Minuten später von ihrem Dad geweckt worden.
Jetzt wartete sie ungeduldig darauf, dass sie endlich zu Granny nach Oak Hill aufbrachen, während ihre Eltern nur noch dieses eine vermaledeite Regal in der Küche festschraubten. Schon mehrmals hatte Kassy ihren Dad lautstark fluchen gehört.
Obwohl er ganze Stadtviertel plante, war der Werkzeugkasten nicht sein bester Freund. So hatte Kassys Mom es in Washington einmal mit einem Seufzen ausgedrückt und im Internet die Telefonnummer eines Handwerkers gesucht, der Dads begonnenes Projekt dann fertiggestellt hatte. Den Waschtisch im Bad. Den Schrank im Schlafzimmer. Es gab genügend Beispiele.
Kassy beendete ihre Expedition und kam vor der vorderen Veranda zum Stehen. Sie sah über die Straße, und dort stand das rothaarige Mädchen, das am Vortag so eilig herbeigelaufen war.
Mach dich doch mit ihnen bekannt.
Wieso eigentlich nicht? Gestern war Kassy überrumpelt gewesen und dadurch ein wenig eingeschüchtert, sich gleich einer ganzen Gruppe Fremder vorzustellen. Heute war das Mädchen allein. Und der Sommer viel zu lang, um sich komplett zu verkriechen. Vielleicht hatte Kassy Glück und sie würden gemeinsam die Middle School besuchen. Dann kannte Kassy zum Start schon jemanden.
Sie betrat die Fahrbahn und …
»Kassy, pass auf, ja?«
Das war jetzt nicht wahr, oder? Ihre Mom hatte nicht vom Fenster der Küche aus gerufen, als könne Kassy nicht auf den Verkehr achten? Der Blick des Mädchens sagte etwas anderes. Neugierig sah sie herüber, gespannt darauf, was noch passierte.
Beweg dich!
Kassy machte es nicht besser, wenn sie dastand, als hätte sie einen Stock verschluckt. Zumindest das Augenrollen klappte. Allerdings konnte das auch wirken, als würde sie gleich ohnmächtig werden, und ihre Mom hätte allen Grund, ihr hinterherzubrüllen. Die Rothaarige musste ja glauben, dass etwas nicht mit ihr stimmte!
»Mütter«, krächzte Kassy und schüttelte den Kopf. Endlich gehorchten ihre Beine wieder. Sie hüpfte auf den Gehsteig und …
»Hey, Achtung!«
Entweder hatte ihre Mom sich in Wonder Woman verwandelt und war in den paar Sekunden herübergeflogen, nachdem sie Kassy auf einen Schlag zur Witzfigur gemacht hatte, oder noch jemand bildete sich ein, ihr sagen zu müssen, was sie zu tun und zu lassen hatte.
Etwas traf sie hart im Rücken. Sie wurde herumgeschleudert und schaute plötzlich in die entgegengesetzte Richtung. Viel zu sehen gab es da nicht. Der Kerl, der sie gerade über den Haufen gerannt hatte, war schon vorbeigezischt, wie Kassy mit einem Blick über die Schulter feststellte. Jetzt trabte er locker vor dem Tor aus.
»Äh, hallo?« Sie war dem Jungen vielleicht in den Weg gesprungen, aber er hätte wenigstens versuchen können, noch auszuweichen!
Mit den kurzen braunen Haaren, der ausgefransten Jeans und dem breiten Oberkörper im sandfarbenen Shirt wirkte er ein ganzes Stück erwachsener als die paar Monate, die er älter als Kassy sein musste. Seine Augen waren tiefbraun, fast schwarz. Um den äußeren Rand der Iris lag ein grüner Schimmer. Ziemlich ungewöhnlich. Als schaue Kassy aus dem Stamm eines Ebenholzbaums in dessen Krone hinauf.
Was nichts daran änderte, dass der Kerl sie nicht so blöd anzuglotzen brauchte! Kassy kniff ihrerseits die Augen zusammen. Das mit der Säge hatte gestern nicht funktioniert, aber Messer kriegte sie hin. Oder Nadeln.
»Kassy, kommst du? Und pass diesmal wirklich auf! Huhu übrigens da drüben! Kassy hat heute schon etwas vor, aber morgen kann sie mit euch spielen!«
Die Nadeln verrutschten und piksten Kassy von innen durch die Haut. Ihre Wangen mussten glühen wie beim schlimmsten Sonnenbrand aller Zeiten.
»Mütter«, seufzte der Junge und schüttelte in einer ziemlich guten Imitation Kassys den Kopf. Das hatte er also mitbekommen! Er wandte sich ab und lief in den Park davon.
Das rothaarige Mädchen öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Kassy wirbelte herum. Ein weiterer Kommentar fehlte ihr gerade noch!
Sie hatte es versucht. Sie hatte sich mit dem Mädchen bekannt machen wollen. Es hatte nicht geklappt. Und sie hatte sowieso Besseres vor, als sich mit den blöden Leuten in diesem oberblöden Oakfield abzugeben.
»Der Wahnsinn!« Erst jetzt begriff Kassy, wie groß der Park wirklich war. Sie musste sich zurückhalten, sich nicht die Nase am Seitenfenster platt zu drücken.
Anders als gedacht, bildete der See nicht den Mittelpunkt. Östlich des Calmwood Lake stieg das Gelände erst sanft, dann immer steiler an und markierte schließlich einen Höhenzug, der ganz Oakfield überragte. Bereits an seinem Rand streckten sich einige der gewaltigen Mammutbäume, die dort oben wuchsen, dem mit Schleierwolken durchsetzten Himmel entgegen. Mehr konnte Kassy von der Straße aus nicht erkennen.
Der Park blieb zurück. Dafür öffnete sich linker Hand der Blick auf das eigentliche Oakfield. In der Ferne drängten sich ein paar wenige Fabriken und die Oakfield Mall in eine Senke. Der Parkplatz des riesigen Einkaufszentrums stach deutlich zwischen den von Bäumen gesäumten Verkehrswegen heraus. Eine breite Hauptstraße zog sich durch den Ort, in der sich Geschäfte aneinanderreihten. Eine weiße Holzkirche mit Türmchen stand neben einem imposanten Ziegelsteinbau, der die Town Hall sein musste, das Rathaus. Der zukünftige Arbeitsplatz von Kassys Dad. Schon in ein paar Tagen sollte er dort anfangen. Auf dem Platz davor hing die amerikanische Flagge schlaff an einem Fahnenmast.
Kassys Dad wechselte zum fünften Mal den Sender, war aber wieder nicht mit dem Lied einverstanden und schaltete das Gerät aus. Schweigend fuhr er weiter, die Hände fest am Lenkrad.
»Wir sind gleich da«, sagte Kassys Mom. Auch ihre Stimme klang angespannt.
Sie überquerten den Little Creek, einen der vier Zuflüsse des Calmwood Lake. Das Wasser floss träge dahin, einzelne Blätter trieben auf der Oberfläche wie kleine Boote.
Vor ihnen breitete sich eine große Rasenfläche aus, die wirkte, als hätte jemand sie mit einer Nagelschere bearbeitet. Alle Halme waren auf die exakt gleiche Länge getrimmt. Ein eingravierter Schriftzug auf einem grauen Steinbrocken hieß die Besucher willkommen: Oak Hill – Sie haben Ihr Ziel erreicht.
Eichen, wie der Name vermuten ließ, sah Kassy keine. Überhaupt war das Areal das komplette Gegenteil der Gärten im Viertel beim Park. Büsche wuchsen in absolut regelmäßigen Abständen in Kübeln neben der Straße, der sie nun im Schritttempo folgten. Als hätte derjenige, der auch den Rasen schnitt, die Dinger mit einem Maßband aufgestellt. Sogar die seesternähnlichen Blüten schien er vermessen zu haben, damit nur ja keine aus der Reihe tanzte.
Kassys Dad steuerte den Wagen auf einen modernen Bau zu. Sie parkten und stiegen aus. Die Luft roch trotz der Blumen, die in einem breiten Band vor dem Eingang gepflanzt waren, nach nichts. Als hätte Kassy die Nase in einen leeren Kühlschrank gesteckt.
Ein künstlicher Bachlauf mündete in einen Teich, über den sich eine hölzerne Brücke spannte. Im Wasser schwammen fünf riesige Goldfische. Oder waren es diese sündhaft teuren Karpfen? Denen konnte man vermutlich auch beibringen, die immer gleichen Kreise zu ziehen. Das Ganze sollte wohl beruhigend wirken, war aber sterbenslangweilig.
»Kassy, komm weiter«, forderte ihre Mom sie auf und stieß die Drehtür an, die ins Innere des Komplexes führte. Schnell huschte Kassy hinter ihr und ihrem Dad hinein. Sofort wechselte der Geruch von Kühlschrank zu Krankenhaus.
Pflegeeinrichtung, korrigierte Kassy sich. So hatte ihre Mom es genannt. Seniorenresidenz.
»Wartet hier.« Kassys Dad ging zu einem Empfangstresen. Die dahinter sitzende Frau sah von ihrem Bildschirm auf, tippte etwas in ihre Tastatur, nachdem Kassys Dad sie angesprochen hatte, und wies dann mit einem freundlichen Lächeln den langen Flur hinab. Dabei nuschelte sie etwas von Frühstückszeit.
Ihre Mom fand Kassys Hand und drückte sie fest.
»Wir können froh sein, dass Grandmom so lange geistig und körperlich fit war«, sagte sie. »In den letzten Wochen hat sie stark abgebaut und ist zum Glück von sich aus auf die Idee gekommen, sich hier …«
Sie traten in einen großen Aufenthaltsraum mit einer durchgehenden Glasfront. Von einer breiten Terrasse aus konnte man das Tal jenseits des Zauns überblicken, der das gepflegte Grundstück der Einrichtung umgab. Rechts und links fielen dicht mit Nadelbäumen bestandene Hänge steil ab. Die mit den kegelförmigen Spitzen mussten Fichten sein, der Großteil des Waldes schien aber aus Kiefern zu bestehen: braune Striche, dazu ein paar krakelige Äste, auf die ein Maler mit einem borstigen Pinsel stachelige grüne Wolken getupft hatte.
Allerdings war es nicht diese Aussicht, die Kassys Mom verstummen ließ.
»Granny!« Kassy machte sich los und fiel ihrer Grandmom um die Taille. Das bis obenhin vollgepackte Tablett, das diese trug, wackelte bedrohlich.