Allein unter seinesgleichen - Christian Kurz - E-Book

Allein unter seinesgleichen E-Book

Christian Kurz

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Beschreibung

Nach dem erfolgreichen Sieg der Nazis im großen Krieg wurde die Welt nach ihren Werten geformt. Die Weltsprache ist deutsch, unerwünschte Menschen gibt es nicht mehr und Schwule gelten ebenfalls als ausgerottet. Jedoch existieren sie weiterhin, wenngleich auch nur im Verborgenen. Aufgrund der Nicht-Information hat der junge Wolfgang Volkmer deswegen keine Ahnung, was es bedeutet, dass er sich in seinen Klassenkameraden Nils verliebt hat. Wolfgang weiß nur, dass es nicht richtig sein kann, dass er diese Gefühle für seinen Freund empfindet. Erst als er in einem Buchladen mit der verbotenen Winkel-Literatur in Kontakt kommt, lernt er das Wort 'schwul' kennen. Endlich beginnt er zu begreifen, wer er ist - ein Schwuler und damit ungewollt ein Volksfeind.

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Seitenzahl: 349

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Christian Kurz

Allein unter seinesgleichen

Von Christian Kurz ebenfalls im Himmelstürmer Verlag:

 

„Regenbogenträumer“ ISBN 978-3-86361-491-1

September 2015

„Hasch mich“ ISBN 978-3-86361-567-3

August 2016

 

Auch als E-books

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: [email protected]

Originalausgabe, Juli 2016

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.

Zuwiderhandlungen werden strafrechtlich verfolgt.

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

 

Coverfoto: http://de.123rf.com/

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

 

ISBN print 978-3-86361-564-2

ISBN epub 978-3-86361-565-9

ISBN pdf: 978-3-86361-566-6

 

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

1.

Ludwig Bruckner blickte auf den Mann, der unter ihm lag. Der Sex war ganz ordentlich gewesen, aber nichts sonderlich spektakuläres. Trotzdem hatte Volker ein nettes Gesicht, und auch jetzt, als es leicht schweißbenetzt war, schien es richtig schön. „Hat hoffentlich gefallen“, sagte Ludwig und lächelte schmal.

„Da brauchst du nicht fragen.“ Er strich ihm über die Arme.

Ludwig ließ sich neben ihn fallen und sah sodann auf die Wanduhr. „Ein paar Minuten habe ich noch Zeit.“

„Kannst du etwa immer noch?“

„Naja, gerade nicht ... aber wann können wir uns denn wiedersehen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Wann bist du denn das nächste Mal wieder hier?“

„Wahrscheinlich vorläufig nicht. Sieht so aus, als würde ich einen neuen Auftrag bekommen.“

„Mmh.“

„Du findest bestimmt jemand anderen, der dich in der Zwischenzeit warm hält.“

Volker sah ihn lange an. „Wer sagt, das ich einen anderen haben will?“

Ludwig erwiderte darauf nichts. Er küsste ihn auf die Schulter, dann den Mund und stand auf, um nackt ins Badezimmer zu gehen. „Kannst du die Nachrichten anmachen?“

Er betätigte den kleinen Kasten, der auf dem Nachtschrank stand. Augenblicklich ertönte Musik. „Heinchen – den hat meine Mutter auch immer gerne gehört.“

„Ist ja auch gute Musik“, sagte Ludwig aus dem Badezimmer. „Der hat gewusst, was man singen muss. Darum darf der auch heute noch gespielt werden.“

„Ja. ... Ich habe früher auch immer gerne die beschlagnahmten Lieder gehört, aber ...“

„Sag mir da mal lieber nichts von.“

„Wieso?“

„Naja, du bist zwar mein Betthase, aber das bedeutet nicht, dass ich meine Pflichten vergesse.“ Er kam mit frisch gewaschenen Gesicht wieder zurück und zog seine Unterhose an. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, und das hatten wir gerade.“

Volker zog eine Schnute. „Jawohl und zu Befehl.“

„Ich meine es ernst.“

„Schon klar. Du hältst dich ans Gesetz. Nein, besser – du bist das Gesetz.“

Er fixierte ihn lauernd. „Willst du damit etwas andeuten?“

Volker versuchte dem Blick standzuhalten, aber es gelang ihm nicht. „Nein, natürlich nicht. Ich weiß, dass ... Nein, vergiss es. In Ordnung?“

Er ließ absichtlich einige Sekunden verstreichen. „Ausnahmsweise. Aber ich beschützte dich nicht. Das ist klar, ja?“

„Klar. Habe ich auch nicht erwartet.“

„Dann ist ja alles geklärt.“ Er zog seine Uniform an. „Ich bin kein schlechter Mensch, aber ich muss eben tun, was ich tun muss. Das dürfte klar sein.“

„Verstehe ich.“

„Ich habe nicht gefragt, ob du es verstehst oder nicht. Das ist mir, ehrlich gesagt, auch ziemlich egal.“ Er schnallte seinen Pistolenhalfter um. „Ich stelle nur klar, wie die Verhältnisse hier sind. Du arbeitest als was?“

„... Bäcker.“

„Bäcker. Ein Teigaffe. Schön. Das bedeutet, dass du unter mir stehst, wenn es um Autorität und Glaubwürdigkeit geht. Das ist klar, ja?“

Er nickte schwach. „Ja ...“ Man konnte ihm ansehen, dass er es nun bereute, sich mit Ludwig eingelassen zu haben.

Er bemerkte den Blick. „Jetzt sei nicht so. Das zieht bei mir nicht. Das muss dir doch selber von vornherein klar gewesen sein, dass du ...“ Er wollte weitersprechen, als die Musik verstummte und schlagartig die Nachrichten anfingen. Es wurde wie seit Tagen, ja Wochen, hauptsächlich über Neuseeland und Australien berichtet.

Die Nachrichtensprecherin schnarrte förmlich: „Der Neuseeländische Premierminister Trugson pocht wie bislang auf die politische Unabhängigkeit seines Landes und will darum von einem Anschluss weiterhin absehen. Auch der australische Premierminister Coulderland weist die Vorstöße zu einem Anschluss seines Landes vorläufig ab.“

Ludwig lächelte schräg. „Vorläufig. Wirst schon sehen, auch die schließen sich noch an.“

„Und wenn nicht?“ wollte Volker wissen.

„Na was wohl?“ Er ließ seine Hand zweimal auf seine Waffe klapsen. „Gewinnen können sie nicht. Da ist ein friedlicher Anschluss einem gewaltsamen schon vorzuziehen.“ Er kam auf Volker zu und beugte sich nur minimal runter, weswegen seine Bekanntschaft sich ein wenig aufrecken musste. „Immer friedlich bleiben. Sonst kommt man nicht weit.“ Er gab ihm einen Kuss. „Ich sage dir – in spätestens einem Jahr gehören Neuseeland und Australien dazu. Und irgendwann dann der ganze Rest.“

„Der ganze Rest.“ Er sagte es mit einer Mischung aus Unglauben und Unwillen. „Bist du sicher?“

„Wir arbeiten dran.“

„... eigentlich wollte ich auch noch was von der Welt sehen ...“

„Und das kannst du ja dann auch. Dann ist es sicher.“ Ludwig küsste ihn nochmal. „Weißt du ... eigentlich gefällst du mir schon. Wir können uns schon treffen, wenn ich das nächste Mal hier bin. In welcher Bäckerei arbeitest du denn?“

Er schien zu überlegen, ob er es ihm wirklich sagen sollte. „Naja ... wenn du nicht weißt, wann du wiederkommst, dann hat es eigentlich keinen Sinn, wenn ich es dir jetzt sage ... Ich werde demnächst wahrscheinlich als Springer eingesetzt ...“

Er stutzte. „So wenig Angestellte?“ sagte er und zog den Rest seiner Uniform an.

„Der Chef spart eben gerne.“

„Verstehe.“

Volker zögerte. „Ich mag dich auch, also ...“

„Nein, nein, ist schon gut.“ Er überprüfte, ob seine Uniform richtig saß. „Ist schon gut. Ich sehe eigentlich nie einen zweimal.“

„Nein?“ Sein Herz schien für einen Moment auszusetzen.

„Nein. ... Nicht wegen dem, was du jetzt denkst. Ich bin einfach immer wieder unterwegs. Da geht das nicht anders. Und überhaupt müssen Leute wie wir, also wie du und ich ... wir müssen da ja gehörig aufpassen.“

„Ja.“

„Da kann ich nicht dauernd dieselben Leute sehen. Das würde auffallen.“

„Verstehe ich.“

„Gut.“ Ludwig betrachtete ihn erneut. Eigentlich wollte er dableiben und nochmal rangehen, aber die Zeit drängte. „Ich muss dann. Ich muss noch über 80 Kilometer fahren.“ Er ging zur Tür. „Bis dann. Hat Spaß gemacht.“

„Mit dir auch.“ Volker lächelte und behielt es solange, bis Ludwig aus der Wohnung verschwunden war. Erst dann blickte er mit einer Mischung aus Scham und Irritation um sich. Was hatte er sich nur dabei gedacht, sich so einen anzulachen? Verdammt, jetzt konnte er sich doch nie wieder sicher fühlen. Es war ja nicht auszuschließen, dass dieser Offizier ihm jetzt eine Falle stellen wollte. Der nächste Hübsche, den Volker erblickte, könnte ein Spitzel sein, um ihn dranzubekommen. Verdammt. Alles für einen Fick riskiert. Verdammt.

 

Wolfgang Volkmer und sein Freund Nils Breuer saßen auf den Treppen vor der Schule, während die anderen Schulabgänger lautstark feierten. „Endlich vorbei“, sagte Nils, öffnete eine Bierdose und trank einen Schluck.

„Kannst du laut sagen“, meinte Wolfgang und lächelte ihn an. „Aber das bedeutet auch, dass wir uns in nächster Zeit nicht mehr sehen können.“

„Klar. So ist das eben. Aber ...“

„Schon klar.“ Er wollte ihm tausend andere Dinge sagen, die jedoch allesamt nebensächlich wurden, als Nils ihm die Dose reichte. Ohne sie abzuwischen, trank er einen Schluck. „Und du willst wirklich da hin?“

„Klar. Warum nicht? Da ist man abgesichert. Ich meine, klar, die Ausbildung wird wohl hart werden, aber dafür ist man abgesichert. Und man kommt rum. Ich meine, ich will ja auch was von der Welt sehen.“ Er nahm die Dose wieder an sich. „Du kannst doch auch versuchen, da mitzumachen.“

„Ach“, er schüttelte den Kopf, „dafür sind meine Noten nicht gut genug. Ich muss ja froh sein, dass meine Eltern mir die Arbeit bei diesem Buchladen besorgen konnten. Ansonsten hätte man mich ja zum Straßenbau eingeteilt, und dann wäre ich wer weiß wo gelandet.“

„Tja, aber so hättest du auch was von der Welt gesehen.“

„Ja, Asphalt und Beton.“

„Als ob ein Buchladen soviel besser wäre.“

Wolfgang lächelte erneut. Für einen Moment sah er seinen Freund an, und wieder war da dieses komische Gefühl, das er nicht beschreiben oder sonst wie in Worte fassen konnte. Er wusste einfach nicht, was es zu bedeuten hatte. Ihm fielen die Augen seines Freundes auf, das Lächeln, ja absolut alles, und es schien alles irgendwie zu leuchten. So musste sich wohl Liebe anfühlen, aber es konnte keine sein. Das wusste er. Immerhin hatte man ihnen in der Schule beigebracht, dass Liebe nur zwischen einem Mann und einer Frau bestehen konnte, und alles andere gab es nicht. Also konnte es keine Liebe sein. Ganz einfach. Und trotzdem war da dieses Gefühl, das Wolfgang nicht einordnen und über das er auch mit niemanden reden konnte. Er mochte seinen Freund einfach sehr.

„Mach ein Foto, das hält länger“, merkte Nils an.

Wolfgang lächelte verlegen. „Mann ... wir werden uns wahrscheinlich nie wieder sehen. Lass mich doch gucken.“

„Gucken kannst du ja, aber nicht so, wie wenn ich die Titten von einer Edelnutte bin. Und wer sagt denn, dass wir uns nie wiedersehen? Weißt du doch nicht.“

„Ja, klar – du lässt dich zum Offizier ausbilden und ich sitze in einem Buchladen fest. Du bereist die Welt, und ich sortiere Bücher ein. Da werden wir uns ja ständig über den Weg laufen.“

Nils gab ihm das Bier. „Ich sag doch – du kannst es doch auch probieren.“

„Schlechte Noten. Die nehmen nur die besten.“ Wolfgang trank einen Schluck.

Er nahm die Dose wieder an sich und trank ebenfalls. „Du bist doch nicht schlecht. Du musst dich eben ein bisschen mehr anstrengen als die anderen, aber du bist nicht dumm oder so was.“

„Danke.“

„Das meine ich ernst.“

„Ja ... ja ...“ Er stieß etwas Luft aus und lehnte sich zurück, wobei er sich mit seinen Ellenbogen auf den Stufen abstützte. „Ich kann es doch genau sehen – du kommst in ein paar Jahren zurück. Braungebrannt. Durchtrainiert. Und rein zufällig kommst du an einem Buchladen vorbei und denkst dir, dass du ja mal einen Freund auf der Schule hattest, der in einem Buchladen arbeitet. Also gehst du rein. Du siehst dich um, und alles, was du siehst, ist ein armes, altes, schiefes Männchen, das vom Staub bedeckt ist. Und du wirst nicht erkennen, dass ich das bin. Und ich werde nicht erkennen, dass du du bist, denn das würde mir das Herz brechen.“ Er sah ihn erneut an und hoffte, in den Augen seines Freundes ein Anzeichen zu finden, dass er dieselben Gefühle hegte. Aber außer dem üblichen Kumpelblick war nichts zu erkennen.

„Mann, du hast ja eine Fantasie“, kicherte Nils und bemerkte, dass ein Lehrer kam, weswegen er die Dose unter seinem Hemd notdürftig versteckte.

„Feiern Sie auch schön?“ wollte Lehrer Hiller wissen. Seine Augen fixierten die beiden über den Rand seiner Hornbrille.

„Natürlich. Wir haben hart gearbeitet, und jetzt ist die Schule aus“, lächelte Nils.

„Jetzt kommt der Ernst des Lebens“, fügte Wolfgang belustigt hinzu.

Hiller deutete mit dem Kinn auf Nils’ Hemd. „Und was verstecken Sie da, wenn ich fragen darf?“

„Nichts.“

„Nichts?“

„Ja.“

„Ich darf Sie beide daran erinnern, das alkoholische Getränke auf dem Schulgelände verboten sind.“

Nils nickte. „Das wissen wir, und jeder Schüler hält sich ja auch daran.“

„Genau. Jeder Schüler“, fügte Wolfgang hinzu.

Hiller behielt seinen starren Ausdruck, der ihm bei den Schülern den Spitznamen “Falkenauge“ eingebracht hatte, und meinte leicht sanftmütig: „Das gilt auch für Schulabgänger, aber ich bin mir sicher, dass bei ihrem Tempo nicht mehr allzu lange Alkohol in der Dose vorhanden sein wird.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging er weiter und unterhielt sich mit den anderen Schulabgängern, die sich teilweise aufführten, als dürften sie sich jetzt komplett respektlos aufführen.

„Hätte ich vom Falken nicht gedacht“, er holte die Dose vor und trank wieder. „Ich dachte, das gibt jetzt einen Anschiss.“

„Mmh, lohnt sich nicht mehr.“ Wolfgang blickte ihn seitlich an und riß seine Augen dann wieder weg. Er wollte ihm soviel sagen, aber er wusste nicht, was er überhaupt sagen sollte. Dieses Gefühl, das er hatte, konnte ja nicht richtig sein. Es konnte keine Liebe sein. Die bestand nun einmal nur zwischen Mann und Frau, also konnte das, was er gerade zu empfinden glaubte, keine Liebe sein. Auch wenn er das Gefühl schon seit längerem hatte und es immer stärker wurde, je öfter er sich in der Nähe seines Freundes aufhielt, aber es konnte keine Liebe sein. Überhaupt, was für eine absurde Vorstellung – ein Mann, der einen anderen Mann so liebte wie es zwischen Mann und Frau sein sollte. Einfach nur lächerlich. Und selbst wenn, so schien Nils die Gefühle nicht zu erwidern, also war es besser, in dieser Richtung nichts Falsches zu unternehmen. „Wir ... könnten uns ja ... naja ...“

„Was?“

„Naja, du weißt schon ...“

„Nee, ich weiß nicht.“

„Naja ...“

„Sag's doch einfach.“ Er hielt ihm die Dose hin.

Wolfgang nahm sie, bemerkte, dass nur noch ein kleines Schlückchen drin war und leerte sie darum in einem Zug. „Ich will eigentlich nur sagen, dass wir uns ja vielleicht doch mal treffen könnten ... Dass wir uns eben nicht vollständig aus den Augen verlieren müssen ... Nicht so wie ein Klassentreffen oder so was, aber ... Ich weiß auch nicht ...“ Er sah ihn direkt an. „Ich will einfach nicht, dass wir uns jetzt komplett vergessen.“

„Ich werde dich doch nicht vergessen.“

„Das sagst du jetzt.“

„Hey, du bist mein Kamerad – den vergeß ich doch nicht.“ Er umgriff ihn mit seinem rechten Arm und zog ihn dicht an sich.

Wolfgang war nun so dicht an Nils wie er es sich schon lange vorgestellt hatte, aber er konnte nichts tun, weil er nichts tun durfte. „Meinst du das ernst?“ war daher alles, was er sich zu sagen traute.

„Na klar, du Leuchte. Ich sag dir was – ich mach jetzt für uns beide einen schönen Lebensplan, ja?“

„Einen Lebensplan?“

„Klar, den braucht man doch. Wo wären wir ohne Planung? Haben wir doch in Geschichte gelernt – Planung ist alles. Also, pass auf ... ich mache meine Ausbildung zum Offizier, und du arbeitest im Buchladen. Wenn ich fertig bin, dann bekomme ich garantiert Vergünstigungen. Ich kann also überall billiger hinfliegen. Egal ob nach Neu York oder Tokio, das ist dann egal. Und dann nehme ich dich mit. Dann machen wir einmal eine Weltreise. Versprochen.“

„Versprochen?“

„Na klar – versprochen. Wir sind doch Kameraden.“

Wolfgang lächelte wieder. Er spürte das unstillbare Verlangen, seinem Freund einen Kuss zu geben, so wie man eben eine Frau küsst, aber er beherrschte sich. „Versprochen“, sagte er schließlich, worauf Nils ihn leider losließ.

„Na also, ist doch alles in Ordnung.“ Er zeigte auf das Bier. „Bis auf die Tatsache, dass ich hier nichts mehr zum saufen bekomme.“

„Dann gehen wir eben wohin ... wir müssen ja nicht mehr hier sein.“

„Das ist ein Wort.“ Er erhob sich und riss Wolfgang sodann hoch. „Na komm schon, ich verdurste noch.“

Er sagte nichts, sondern ließ sich gefallen, dass Nils ihm wieder den Arm in aller Freundschaft um die Schultern legte. Er wollte seinem Kameraden soviel sagen, aber es ging nicht. Es ging einfach nicht. Also war es das Beste, die Zeit zu genießen, die sie jetzt zusammen verbrachten, auch wenn er eigentlich soviel mehr machen wollte.

 

Karl Beck bediente den Hubwagen und brachte die Palette mit den Getränkekisten an ihren Platz. Er fuhr mit dem leeren Wagen zurück und sah auf seine Armbanduhr – noch 15 Minuten, dann hatte er endlich Feierabend. Er beförderte noch eine Palette in den Großmarkt, bevor er wieder zurückging und erneut die Uhr überprüfte. Immer noch 8 Minuten übrig. Trotzdem empfand er, dass er für heute genug gearbeitet hatte, weswegen er den Wagen verstaute und in Richtung Toilette ging. Dort konnte er die restliche Zeit bis zum Feierabend garantiert totschlagen.

Nachdem er fertig gepisst hatte, putzte er sich langsam die Hände und sah erneut auf die Uhr. Jetzt könnte er endlich zur Stechuhr gehen.

Auf dem Weg dorthin kam ihm Ursula entgegen, die schon seit einiger Zeit ein Auge auf ihn geworfen hatte. Sie sah ihn mit einer Mischung aus Verlegenheit und Verlangen an. „Und wieder ein Tag gearbeitet“, sagte sie und lächelte ihn verführerisch an.

Er lächelte höflich zurück. „Ja. So ist das eben.“ Er ging weiter zur Stechuhr, nahm seine Karte und stempelte ab.

„Aber immer nur arbeiten macht ja auch keinen Spaß.“ Sie ging ein wenig näher zu ihm, damit er ihr neues Duftwasser bemerkte. „Man muss sich ja auch vergnügen, nicht wahr?“

„Ja“, nickte er.

Sie beäugte ihn weiter. „Ich möchte ja nicht aufdringlich sein, aber ... naja ... hast du eigentlich ... naja ... demnächst etwas vor?“

Er wusste, worauf sie hinaus wollte. Er musste vorsichtig sein. „Inwiefern?“

„Weiß nicht. Kino oder so.“

„Was läuft denn?“

„Eine Komödie, ein Krimi und ein Abenteuerfilm.“

Karl ließ sich etwas Zeit mit der Antwort. „Mmh ... da stehe ich eigentlich nicht so drauf ...“

„Nicht?“

„Nein. Entschuldigung.“

Sie lächelte wieder verlegen. „Kein Thema. Macht doch nichts.“ Sie zögerte. „Was machst du denn sonst so? Ich meine ... wenn du keine Filme guckst ...“

„Ich lese“, antwortete er ohne zu zögern.

„So?“ Ihre Augen leuchteten auf. „Das mache ich auch gerne. Liest du irgendwas Bestimmtes? Ich meine, bestimmte Autoren? Oder nur nach Gattung?“

„Durcheinander.“

„So? Naja, ich ...“ Sie sah ihn an. „Du könntest mir ja sagen, was ... naja ... lesenswert ist ...“

Er nickte schwach. „Ja. Mal gucken ...“

„Ja, klar, eilt ja nicht.“

„Gut. Bis morgen dann.“ Er ging weg.

Frau Petri kam hinzu und sah, wie Ursula Kurt nachblickte. „Herzschmerz?“

„Schön wär's. Entweder will er nicht, oder er versteht's nicht.“

Sie nahm ihre Stempelkarte. „So sind die Männer eben. Die denken, dass man immer sofort verstehen muss, was sie wollen, aber wenn man mal was von ihnen will, dann geht das nicht in den Dickschädel rein.“ Sie wandte sich direkt an Ursula. „Aber es bringt auch nichts, ewig nachzurennen, ohne zu wissen, woran man ist. Das macht nur Falten.“

Sie nickte. „Ja ... aber was soll ich machen? Ich versuch's doch schon so direkt wie ich nur kann. Bleibt ja fast nur noch, ihm mit den Brüsten ins Gesicht zu springen, damit er's endlich kapiert.“

„Na, das lass mal lieber. Überhaupt – du weißt doch gar nicht, ob er dich überhaupt mag. Kann doch sein, dass er andere Vorlieben hat. Gibt ja Männer, die mögen nur die Japanerinnen. Oder die Italienerinnen. Kann's geben, so was.“

Ursula zog eine Schnute. „Ist aber undeutsch.“

Karl hatte sich derweil bereits umgezogen und verließ nun den Großmarkt. Er ging durch die Stadt, kam am Von-Schirach-Gedenkplatz vorbei und begab sich sodann in seine Wohnung, die unter dem Dach lag. Er setzte sich hin, stieß einen Seufzer aus und entschied sich, den aufgestauten Druck in seiner Hose zu entladen.

Nachdem er sich einen runtergeholt hatte, ging er zu seinem Computer und überprüfte den Text vom Vortag nochmal, bevor er weiterschrieb. Ihm war zwar nicht danach, aber er wusste, dass er einen Abgabetermin einzuhalten hatte. Zum Glück gab es diese Computer aus den D-S-A mittlerweile zu einem erschwinglichen Preis, da die volksdeutschen Rechengehirne zwar robuster, aber teurer waren, und eine Schreibmaschine konnte er nicht in der Nacht bedienen ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Da war dieses Produkt aus Deutsch-Amerika schon eine wahre Wohltat, auch wenn es immer wieder zu Problemen kam, da die Deutsch-Amerikaner ein anderes Rechtschreibprogramm aufspielten, weswegen manche Worte falsch korrigiert wurden. Aber damit konnte man leben, bzw. musste man. Es ging nicht anders.

Er zögerte und schrieb weiter, wie Peter und Hans sich in einer verlassenen Fabrik trafen und sich danach langsam gegenseitig auszogen, ihre Fingerspitzen an ihren Körpern entlanggleiten ließen und sich dann ins Heu legten. Moment, Heu? In einer verlassenen Fabrik? Mmh, wahrscheinlich sollte er es umschrieben. Dann war es eben ein verlassener Bauernhof. Ja, das war besser. Irgendwie romantischer. Aber dann ergab es keinen Sinn, dass Peter und Hans plötzlich in einem Bauernhof waren, wenn sie gerade noch in der Stadt herumgingen. Nein, so ging das nicht. Aber er konnte auch nicht einfach schreiben, dass Peter und Hans sich auf den dreckigen Fabrikboden legten. Das war doch einfach nur unromantisch. Also musste er es ändern. Er überlegte und kam dann auf die Idee, einfach zu schreiben, dass Peter eine Felddecke mitnahm. Ja, so ging das. Peter legte also die Felddecke aus, und dann konnten sie sich gegenseitig abtasten und mit der Zunge erfühlen. Kein Problem.

Er schrieb weiter, wie Hans auf die Knie ging und Peter verwöhnte. Obwohl Karl sich zuvor einen runtergeholt hatte, wurde ihm die Hose wieder zu eng, aber er versuchte sich zu beherrschen, was ihm einigermaßen gelang. Er schrieb weiter und wurde dabei selber immer erregter, so das schließlich, als Peter und Hans zum Höhepunkt kamen, er nicht mehr an sich halten konnte und sich so schnell wie möglich nochmal befriedigte.

Er nahm ein Taschentuch, säuberte seinen Bauch und überprüfte das Geschriebene. Ja, das war annehmbar. Das sollte die Leser schon begeistern oder zumindest nicht enttäuschen. Wenn man schon seine Sicherheit riskierte, um etwas zu lesen, dann sollte es einem zumindest etwas bieten, das man sonst nicht bekam.

Karl lehnte sich zurück. Er überlegte. Diese Sex-Geschichten waren zwar nett, aber mehr auch nicht. Er sollte irgendwie etwas anderes schreiben, aber was? Er wusste es nicht. Irgendetwas anderes. Aber eben auch für seinesgleichen. Er starrte einige Momente vor sich hin, bevor er weiterschrieb und sodann die Geschichte nochmal Korrektur las. Dieses dämliche Rechtschreibprogramm kannte ja nicht einmal das Wort „Schwul“.

2.

Herr Rommler war ein älterer Mann, dem die grauen Haare aufgrund seines Bürstenhaarschnitts wie Schnittlauch nach oben standen. Er sah mit einem mürrischen Gesichtsausdruck auf Wolfgang und schien ihn regelrecht zu mustern. „Was hattest du denn in Deutsch?“

„Eine 2 minus.“

„2 minus? Du nix sprech dein Sprach?“

„Doch, schon. Aber ... dieses Plusquamperfekt und Akkusativ und so weiter ...“ Er zuckte mit den Schultern.

„Verstehe.“ Er sagte nichts weiter.

Wolfgang spürte, dass er etwas erwidern sollte. „Ich lese schon gerne, aber ... zwischen Lesen und Deutsch in der Schule ist ja ein Unterschied ...“

„Mmh-mmh. Was habt ihr denn so gelesen?“

„In der Schule?“

„Ja, in der Schule.“

Er überlegte. „Tja ... was war das ... was haben wir gelesen ... also, alles von Grimm, Klopstock, Schiller, Goethe ...“

„Das übliche eben.“

Wolfgang nickte. „Ja, genau. Das übliche eben.“

„Auch Fremdländisches?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Natürlich nicht.“

„Nicht mal “Hamlet“?“

„... das ist doch nicht fremdländisch.“ Er glaubte, dass der Alte ihn reinlegen wollte. „Das ist von Wilhelm Schäkespier. Das ist nicht fremdländisch.“

Herr Rommler atmete einmal durch. „Naja, du bist ja jung. Da sollte mich das nicht wundern.“ Er erklärte seine Aussage nicht. „Weißt du, wenn deine Mutter nicht ein gutes Wort für dich eingesetzt hätte, dann würde ich jetzt schon sagen, dass man es vergessen kann.“ Er deutet auf die prall gefüllten Bücherregale, die in seinem kleinen Geschäft standen. „Ich meine, mal unter uns – mein Laden ist nicht der bestlaufendste. Gibt Tage, da kommt hier niemand rein. Oder nur, um zu erfahren, wo denn die größeren Buchläden sind. So. Und dann kommt deine Mutter zu mir und fragt, ob ihr Junge hier arbeiten kann. Dass der hier eine Ausbildung machen kann. Das sagt mir doch einiges. Das sagt mir zum Beispiel, dass du dich nicht selber um deine Angelegenheiten kümmern kannst. Das sagt mir auch, dass du womöglich woanders keine Anstellung gefunden hast. Und das sagt mir vor allem, dass du oder deine Eltern befürchten, dass man dich zum Straßenbau einteilt, wenn du nicht irgendwo unterkommst.“ Er legte den Kopf leicht seitlich. „Du könntest immer noch zu den Soldaten gehen. Fußvolk ist da immer gefragt. Die bringen dir schon bei, wie man einen Motor repariert oder so was.“

„Schon, ja, aber ...“ Er wusste nicht, was er sagen sollte.

„Na was?“

„... ich ... weiß nicht, ob ... bei den Soldaten ... ob dass das richtige für mich wäre.“

Herr Rommler zuckte mit der Schulter. „Hat bisher noch keinem geschadet.“

„Ich weiß, aber ... es muss ja trotzdem nicht für jeden das richtige sein ... nicht wahr?“ Da keine Antwort kam, fügte er hinzu: „Bitte – ich verspreche Ihnen, dass ich mich anstrengen werde. Wenn Sie sagen, dass ich den Staub von den Büchern wischen soll, dann tue ich das. Kein Problem. Ich werde mich wirklich anstrengen.“

Der Alte musterte ihn erneut. „Mmh ...“ Er räusperte sich. „Naja, was soll's. Meinetwegen. Aber wenn du Mist baust, fliegst du.“

„Ja. Klar. Danke. Vielen Dank. Ich werde mich wirklich anstrengen.“

„Schon gut. Also“, er zeigte auf die Bücher, „du weißt, was das da ist?“

Wolfgang nickte. „Natürlich – Bücher.“

„Sehr gut. Ein Genie. Was macht man mit denen?“

„Lesen.“

„Ja, klar, kann man machen. Wir machen das aber eigentlich nicht. Wir verkaufen die. Also, was macht man mit Büchern?“

„... verkaufen.“

„Nochmal so, als hättest du es verstanden.“

Wolfgang konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Verkaufen.“

„Na also, er macht sich. Und wie müssen Bücher sein, dass sie sich verkaufen?“

„... gut?“

„Wäre wünschenswert, ist aber nicht zwingend nötig. Wie sollten sie also sein? Mmh?“ Er strich mit dem Finger über die Theke.

„... sauber?“

Er nickte. „Jawohl, sauber. Er hat es begriffen. Also – wenn du hier arbeiten willst, dann wirst du die erste Zeit wirklich nur Staub wischen. Hast ja selber gesagt, dass du damit kein Problem hast. Die in der Auslage sind zwar sauber, aber ich erwarte, dass du trotzdem drüber wischst. Auch der Boden wird von dir geputzt. Wenn du das durchhälst, bringe ich dir irgendwann bei, wie die Kasse funktioniert und man Bestellungen annimmt, und mehr ist das bei mir hier im Laden wirklich nicht. Aber das bedeutet nicht, dass ich mir gefallen lasse, wenn du mir auf der Nase herumtanzen willst. Damit das gleich klar ist – ich bin keiner, der sich so was gefallen lässt. Ich war vor Jahren in England stationiert, da haben welche von denen auch gedacht, dass man mit mir alles machen könnte. Da haben die sich aber getäuscht gehabt, das kann ich dir sagen.“

„Da brauchen Sie sich bei mir keine Sorgen zu machen. Ich kann arbeiten.“

Herr Rommler griff zur Seite und reichte ihm einen Staublappen. „Dann mach mal.“

Er nahm den Lappen und ging zur Auslage. Die Bücher waren bereits von der Sonne gebleicht, wiesen aber keine sonstige Verschmutzung auf. Trotzdem musste Wolfgang gehörig aufpassen, dass er nicht aus Versehen die sich abperlende Schutzfolie runterwischte. „Die sind etwas länger hier ...“

„Ich weiß. Aber warum soll ich neue Bücher ins Fenster stellen, wenn sich die alten noch nicht verkauft haben? Nee, nee, da mache ich ja nur noch weitere kaputt, das muss nicht sein.“

Er putzte die Bücher, stellte sie wieder zurück und wischte sodann den Staub von einigen Regalen, bevor er wieder zu Herrn Rommler ging. „So – ich wäre soweit fertig.“

Der Alte blickte auf den Boden. „Nicht ganz.“ Er erhob sich. „Der Boden muss auch gewischt werden.“

Die Ladentür wurde geöffnet. Ein adretter Mann kam herein und schien für einen Moment perplex, jemand außer dem Ladenbesitzer zu sehen. Er blickte Wolfgang verwundert an. „Ich ... ähm ...“

„Ah, ja“, sagte Herr Rommler sofort. „Ich hole Ihnen Ihre Bestellung.“ Er verschwand durch eine Tür ins Hinterzimmer.

Der Mann schien sich irgendwie unwohl zu fühlen. Er ging zu einem der Regale und ließ die Augen auf den Büchern ruhen, damit er nicht mit Wolfgang reden musste. Der Junge hatte jedoch sowieso kein Verlangen danach, sich mit dem Mann zu unterhalten. Er beachtete ihn auch gar nicht weiter. Ihm fiel zwar auf, dass der Kerl ziemlich sauber daherkam und auch gut roch, aber das ging ihm ja nichts an.

Der Alte kam wieder und schloss die Tür. „Hier, bitte.“ Er reichte dem Mann über die Theke hinweg eine gefüllte schwarze Tüte.

„Danke.“ Er nahm sie an sich. „Sind auch alle dabei?“

„Alle dabei. Wie immer.“

„Gut, gut.“ Er holte seine Geldbörse hervor und zahlte. „Danke nochmal.“

„Immer wieder gerne.“

Nachdem der Mann den Laden verlassen hatte, zeigte Wolfgang mit dem Staublappen auf die Tür. „Soll ich da auch wischen?“

Herr Rommler bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick. „Da gehst du mir nicht rein. Damit das mal ganz klar ist.“ Er schien die Sache damit auf sich ruhen lassen zu wollen, aber er bemerkte, dass der junge Mann ihn verwirrt anblickte. „Wie alt bist du nochmal?“

„17.“

„17. In dem Alter solltest du ja schon wissen, dass es ... diverse Literatur gibt, die ... nur für Erwachsene ... du verstehst?“

Er nickte. „Ich verstehe.“

Herr Rommler zuckte mit den Schultern. „Macht eigentlich jeder. Also gut, die großen Ketten vielleicht nicht. Mir egal. Die können ja machen, was sie wollen, und ich mache das, was ich will. Ab und zu kommt eben jemand rein, der mir solche Magazine bringt. Und diese Magazine werden dann gekauft. Ist für Erwachsene. Also, was soll's?“

„Schon klar.“ Er legte den Staublappen auf die Theke. „Trotzdem brauche ich einen Besen. Sonst kann ich mich nicht um den Boden kümmern.“

„Bekommst du.“ Er ging wieder durch die Tür.

Wolfgang versuchte, einen Blick hinein zu erhaschen, aber es gelang ihm nicht. Nachdem er den Besen bekam, fing er damit an, die Staubmäuse zusammenzufegen. Er langweilte sich bereits jetzt zu Tode und wollte gar nicht daran denken, wie es wäre, wenn er hier noch weitere Tage, ja Wochen und Monate regelrecht festhing. Eigentlich wollte er nur bei Nils sein, aber das ging ja sowieso nicht. Trotzdem ließ ihn alleine die Vorstellung daran die Arbeit etwas erträglicher erscheinen.

 

Bruckner baute sich vor den Kadetten auf. „So, hergehört!“ sagte er laut genug, dass es von den weißen Wänden des Ausbildungsraums abprallte. „Ihr wollt also bei uns anfangen! Das ehrt euch! Ihr wollt etwas für euer Land tun! Das ist ebenfalls ehrenvoll! Aber nur, weil ihr das wollt, bedeutet das noch lange nicht, dass ihr es auch hinbekommen werdet! Wir haben täglich auf der ganzen Welt tausende, wenn nicht gar hunderttausende von neuen Rekruten, die bei uns mitmachen wollen. Und die meisten geben bereits nach vier Tagen auf. Diejenigen, die weitermachen, geben erfahrungsgemäß nach der dritten Woche auf. Und von denjenigen, die dann noch dabei sind, werden immer noch über die Hälfte nach der achten Woche von uns aussortiert, weil sie nicht unsern Ansprüchen genügen!“ Er machte eine wirkungsvolle Pause. „Wer nach der achten Woche aussortiert wird, hat sich nichts vorzuwerfen. Es hat eben nicht geklappt. Wir nehmen nur die Besten der Besten. Wer nach der dritten Woche aufgibt, der beweist damit nur sich selber, dass er nicht aus dem harten Holz geschnitzt ist, das es bedarf, um wahre Führungspersönlichkeiten hervorzubringen. Aber wer von euch bereits innerhalb der ersten vier Tage freiwillig geht, der hat sich selber disqualifiziert! Wer von euch innerhalb der ersten vier Tage aufgibt, beweist damit nur sich selber, dass er zu nichts taugt! Dass er ein Versager ist! Dass er als Schande dieses stolzen Volkes betrachtet werden muss! Will also einer von euch aufhören, dann sollte er es jetzt tun.“ Er wartete. „Nun?“ Keine Reaktion der Rekruten. „Immer noch keiner? Immer noch alle zuversichtlich, dass die nächsten vier Tage nicht die Hölle auf Erden sein werden? Ihr denkt wohl, ich mache nur Spaß. Aber ich sage euch im Guten, dass ihr die nächsten vier Tage verfluchen werdet. Und ihr werdet wieder und wieder daran denken, dass ihr jetzt die Gelegenheit hattet, mit erhobenem Haupt zu gehen. Diese Gelegenheit bekommt ihr nicht wieder.“ Er wartete erneut. „Na, was ist? Immer noch alle hart?“ Er ging auf einen Rekruten zu. „Ihr Name?“

„Nils Breuer!“, sagte er laut.

„Nils Breuer, was? Sie denken also, dass Sie nicht innerhalb der nächsten vier Tage schlappmachen.“

„Nein!“

„Nein was?“

„Das wird nicht passieren!“

„So“, Bruckner fixierte ihn fest. „Ist das so, ja?“

„Ja! Ich gebe nicht auf!“

„Sie scheinen sich Ihrer Sache ziemlich sicher zu sein.“

„Ja! Ich werde nicht aufgeben!“

„... wir werden ja sehen.“ Er ging an den Kadetten vorbei. „Von jetzt gilt es nämlich für alle. Ab jetzt beginnen die härtesten vier Tage eures bisherigen Lebens. Und wenn ihr die überstanden habt, beginnen die erbarmungslosesten drei Wochen eures Lebens. Gefolgt von den brutalsten acht Wochen. Aber ihr habt das ja so gewollt. Also flennt nicht wie die Waschweiber und macht gefälligst das, was wir euch sagen! Verstanden?“

„JAWOHL!“, brüllten alle zusammen.

Bruckner wies mit einem Kopfnicken den Spieß an, die Kadetten zu übernehmen, während er den Raum verließ. Er ging mit zackigen Schritten den Flur entlang und erreichte den Aufenthaltsraum der anderen Offiziere, welche rauchend auf ihren Sitzen saßen und in der Zeitung lasen.

Einer von ihnen, Offizier Schmidtz, begrüßte Bruckner freundlich. „Ah, schon wieder zurück von deinen neuen Opfern.“

„Und du warst noch nicht einmal bei deinen.“

„Die müssen warten lernen. So oder so. Da kann ich denen das auch gleich einbläuen.“ Er lächelte. Da Bruckner sich an einen anderen Tisch setzte, stand Schmidtz auf und setzte sich neben ihn. „Wenn ich sie jetzt warten lasse, dann denken die, dass es hier locker zugeht. Das ist immer so. Die warten zuerst ganz stramm und still und denken, dass es gleich losgeht. Aber ich lasse sie zappeln. Also werden sie unruhig. Die denken dann, dass man sie vergessen hat. Und natürlich drückt die Blase und knurrt der Magen irgendwann. Aber ich bin immer noch nicht da. Und dann fallen langsam die Hüllen. Der Spaßvogel gibt den ersten Spruch zum besten, der Schwächling klagt über seine Blase und so weiter. Und ich bin immer noch nicht da. Und dann reden die miteinander. Woher sie kommen. Was sie hier erwarten. So was eben. Und dann, und wirklich erst dann, komme ich in den Raum und schreie sie an. Ich schreie sie in Grund und Boden. Ich gehe zu jedem einzelnen und brülle ihnen direkt ins Gesicht und ins Ohr. Jedem einzelnen. Damit rechnen die nach der langen Wartezeit natürlich nicht mehr. Die sind dann regelrecht geschockt und wissen nicht, was vor sich geht.“ Er grinste frech. „Und so trenne ich gleich die Spreu vom Weizen. Bei mir gehen die ganzen Schwächlinge gleich am ersten Tag und nicht am Ende der ersten Woche. Da kenne ich nichts. Ich will mich nicht mit Schwächlingen herumschlagen müssen. Hat ja doch keinen Sinn.“ Er hielt ihm die Zeitung hin. „Bald ist sowieso wieder Einsatz. Wenn Neuseeland und Australien nicht bald spuren, gibt es eben wieder einen bewaffneten Freundschaftsbesuch. Also brauchen wir Frischfleisch.“

„Neuseeland wird schon einlenken. Die sind nicht dumm.“

„Meinetwegen, aber was ist mit Australien?“

Bruckner zuckte mit den Schultern. „Nicht dumm, aber zu stolz für die eigene Gesundheit. Man muss wissen, wann man sich geschlagen geben sollte. Was haben die denn schon großartiges zu verlieren? Ihre Eigenständigkeit? Das ist doch nichts im Vergleich zu dem, was sie gewinnen.“

Schmidtz lachte auf. „Natürlich, aber sag das mal einem Dickschädel. Geht ja nicht rein bei dem.“ Er legte die Zeitung beiseite. „Aber sag mal, nur so unter uns ... wie war's denn?“

„Wie war was?“

Er machte einen Spitzmund. „Na, du weißt schon. Du hattest doch jetzt ein wenig Freizeit.“

„Ja. Und?“

„Na, komm schon ... du kannst mir doch nicht erzählen, dass du da nicht einen draufgemacht hast. Eine Freundin hast du ja nicht, also bleibt ja nur der Puff.“

Bruckner bemerkte, dass die anderen Offiziere nun nur noch so taten, als würden sie ihrerseits die Zeitungen lesen. In Wirklichkeit warteten sie anscheinend auf eine möglichst geistreiche Antwort von ihm. „Soll ich dir meine Rabattkarte überlassen, damit du es dir billiger besorgen kannst, oder was willst du?“

Schmidtz lachte leicht. Es klang gekünstelt. „Rabattkarte. Der war gut. Den merke ich mir. Aber deine vollgespritzten Weiber will ich gar nicht. Ich stehe nicht auf Reste.“

„Was willst du dann?“

„Nur fragen, ob du mir einen Puff empfehlen kannst, das ist alles. Ich muss mir ja auch mal wieder den Rüssel schneuzen.“ Er grinste breit und entblößte dabei seine Zähne.

Bruckner blieb unnahbar, aber trotzdem nicht zu abweisend. „Da kann ich dir leider nicht weiterhelfen.“

„Nein?“

„Nein. Du willst ja keine Fotze, in die schon ein anderer was gemacht hat. Das gibt es in keinem Puff der Welt, außer du lässt dich in die japanische Zone versetzen. Die sollen ja durchaus ein paar Kinderpuffs habe.“

Schmidtz behielt sein Grinsen, wodurch es starr wie eine Maske wirkte. „Kinderpuffs. Und das bei unseren Freunden und Alliierten. So so.“

„Natürlich. Kennt man doch, die Gerüchte. Im ehemaligen Thailand.“

Er rümpfte die Nase. „Ich bin sicher, da haben die Japaner schon aufgeräumt. So wie die Italiener in ihrem Teil von Afrika. Da gibt es nicht einmal mehr Scheiße, die schwarz ist.“

„Weil sie Unterstützung von uns hatten.“

„Natürlich – so gehört sich das ja auch.“

Bruckner wartete, dass Schmidtz ging, aber der Offizier unternahm keine Anstalten in dieser Richtung. „Wenn dir langweilig ist, dann hol meinetwegen ein paar Karten. Ich habe noch etwas Zeit, bis ich mir die ersten Versager aus meiner Gruppe antun muss.“

Er lachte auf. „Na endlich hat es der werte Herr begriffen.“ Er griff in seine Jackentasche und holte ein Kartenspiel mit nackten Weibern hervor. „Die sehen echt geil aus. Karo Bube würde ich nicht von der Bettkante schupsen.“ Er nahm das Gummiband von den Karten und durchsuchte sie. „Da. Nicht ablecken.“ Er zeigte Karo Bube – eine rothaarige Frau, die mit ihren Händen ihre Vagina spreizte.

Bruckner sah darauf und heuchelte Interesse. „Ja, die sieht gut aus. Eigentlich nicht dein Fall, was?“

„Nicht mein Fall? Was soll denn das heißen?“

„Die kannst du dir nicht leisten.“

Einige andere Offiziere kicherten leicht. Schmidtz blickte auf die Karte. „Was heißt da nicht leisten? Deren Loch stopfe ich doch dreimal und öfters. Die läuft über, wenn ich bei der dran bin. So sieht’s aus.“ Er steckte die Karte wieder rein und mischte.

Bruckner ließ seine Finger knacken und bereitete sich darauf vor, während des Spiels immer mal wieder so zu tun, als würde ihm eine Karte bzw. Frau besonders gefallen. Ein dummer Kommentar hier, eine anzügliche Bemerkung dort, und schon galt er als genauso Frauenbegeistert wie der Rest der Offiziere.

 

Wolfgangs Mutter stellte den Topf mit den Kartoffeln vom Herd, ließ das Wasser ab und füllte die Kartoffeln sodann in eine Schale um. „Kann mir mal jemand helfen?“

„Komme.“ Er ging aus dem Wohnzimmer in die Küche.

„Die Schale. Vorsicht, heiß.“

Er nahm sie und brachte sie ins Wohnzimmer, wo sein Vater vor dem Fernseher saß und eine Sportreportage ansah. Wolfgang ging zurück und half noch, die Teller zu bringen, während seine Mutter die Würstchen brachte.

„So, Essen ist fertig“, sagte sie.

„Ja, ja“, meinte der Vater abweisend und konzentrierte sich nur auf den Fernseher.

„Na los, dann essen wir eben schon.“ Sie nahm sich etwas auf ihren Teller.

Wolfgang nahm sich ebenfalls zwei Kartoffeln und eine Wurst. „Guten Appetit“, sagte er und biss etwas ab.

Sein Vater griff mit der bloßen Hand eine Wurst. „Haaaa, heiß, heiß“, machte er und pustete dagegen.

„Ach, was soll das denn? Nimm doch einen Teller.“

„Man kann auch so essen“, sagte er, biss ab und ließ seine Augen auf dem Fernseher ruhen.

Wolfgang lächelte. „Wenn du das auch mit den Kartoffeln so machst ...“

„Schnickschnack Kartoffeln – Fleisch braucht der Mensch.“

Seine Mutter rollte mit den Augen. „Junge, versprich mir, dass du nicht so wirst wie dein Vater. Das kannst du deiner Frau später mal nicht antun.“

„Keine Sorge“, meinte er ruhig.

Sein Vater kaute zu Ende. „So weit ist es also schon gekommen – hetzt die eigene Frau den eigenen Sohn gegen den eigenen Vater auf. Naja. Was soll's? Bleibt mehr Wurst für mich.“ Er biss erneut ab.

„Ach, du“, sagte sie beiläufig und wandte sich an Wolfgang. „Wie ist es denn im Buchladen?“

„Gut“, nickte er.

„Na hör sich mal einer den Jungen an. Gut. Gut, sagt er. Das war’s. Nur gut.“

„Was soll ich denn noch sagen?“ wunderte er sich. „Ist nicht so aufregend. Ich staube Bücher ab. Ich wische den Boden. Das mache ich gerade jeden Tag.“ Er zuckte mit der Schulter. „Hauptsache Arbeit.“

„Da hat der Junge recht“, meinte sein Vater und ließ etwas Stolz anklingen, das jedoch im Mampfen der Wurst unterging. „So ist er wenigstens irgendwo untergekommen. Ich meine, ist ja nicht deine Schuld, dass du nirgendwo anders etwas bekommen hast. Da mach dir mal keine Vorwürfe.“

„Tue ich auch nicht.“

„Und das ist ja auch gut so, aber nimm es auch nicht auf die leichte Schulter. Man muss sich heutzutage schon gewaltig anstrengen, um mithalten zu können, das kann ich dir sagen. Früher, also als ich in deinem Alter war, da wollte ich auch eine Menge, aber man hat mich nicht gelassen. Aber damals war das ja auch noch anders. Wenn du heute in die D-S-A oder auch nur nach England reisen würdest, ja das wäre komplett anders. Heute sprechen die ja alle deutsch, aber zu meiner Zeit war das noch nicht Gesetz. Also, eigentlich schon, ja, aber viele von den alten Leuten konnten oder wollten das nicht. Das musste denen ja erst beigebracht werden. Heute ist das ja alles kein Problem. Wenn man innerhalb von deutschen Gebieten reist, kann man sich darauf verlassen, dass auch deutsch gesprochen wird. Da habt ihr Heutigen viel mehr Möglichkeiten, weil eben alle dieselbe Sprache sprechen.“

„Aber auch nicht weltweit“, warf er ein.

Sein Vater nickte. „Na klar, das nicht. Die Italiener sprechen ihre Sprache, aber die können auch deutsch. Und die Japaner sowieso. Nur die anderen, die Neuseeländer und so was, und vor allem die Kanadier, die weigern sich ja noch. Aber das wird sich auch noch ändern, das sage ich dir. Und dann kann man überall hinreisen, weil Deutsch dann die Weltsprache ... aaah, jetzt kommt's.“ Er deutete mit dem Wurstrest in seiner Hand auf den Fernseher. „Jetzt mal alle still sein.“

„Du bist doch der Einzige, der redet“, meinte seine Frau spitz.

„Pssst“, zischte er und stellte sodann den Fernseher ein wenig lauter.