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Mehrere Menschen werden von einem Unbekannten angegriffen und entweder aufs schwerste verletzt oder sogar grausam getötet. Die Polizei geht bei jedem Fall von unterschiedlichen Einzeltätern aus. Lediglich Benedikt Davis, der wegen einem Toten hinzugerufen wird, erkennt sehr schnell, dass alle Vorkommnisse miteinander verbunden sind. Aber Davis verhält sich in letzter Zeit noch seltsamer als es der ohnehin sehr eigenwillige Kluge bislang getan hat, weshalb seine Erkenntnis angezweifelt wird. Kai Decker, seinem Mann, fällt das veränderte Verhalten seines Partners ebenfalls auf, aber er wird von Ben mit plausibel klingenden Erklärungen beruhigt. Währenddessen gelingt es dem unbekannten Angreifer, weitere Menschen brutal zu verletzen, ohne dass die Polizei den Täter fassen oder gar ein zusammenhängendes Motiv finden konnte. Die Zeit drängt, um den Täter zu finden, nur benimmt sich Benedikt weiterhin seltsam, ja manchmal geradezu dumm, was ihm ganz und gar nicht entspricht. Kommissar Gernhardt, der Ben bereits seit längerem kennt, bespricht sich deswegen mit Kai, damit dieser Ben ausspioniert, um in Erfahrung zu bringen, was mit ihm los ist. Falls es Kai nicht gelingen sollte, von Ben eine befriedigende Antwort zu erhalten, schreckt Gernhardt nicht davor zurück, den Klugen zwangsweise medizinisch untersuchen und womöglich sogar in eine Psychatrie zu stecken. Kai muss deshalb seinen Freund aushorchen, obwohl er selber ebenfalls mit einigen Problemen zu kämpfen hat, denn der Sonderpostenladen, in welchem er bislang arbeitete, schließt, weswegen er sich nach einem neuen Job umsehen muss. Eigentlich würde er Ben dazu um Hilfe fragen, aber dieser benimmt sich auch weiterhin so, als wäre er nicht länger Herr seiner Sinne. Zudem macht ein neuer Kommissar Ben das Leben schwer, weil dieser seiner Meinung nach nicht bei polizeidienstlichen Ermittlungen mithelfen sollte und die Vermutung, dass es sich bei den Übergriffen um einen Einzeltäter handelt, komplett ausschließt. Der Einzige, der in diesen Zeiten den Überblick zu bewahren scheint, ist Ben, aber niemand hört auf ihn.
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Seitenzahl: 350
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Christian Kurz
Unruhige Wochen
Von Christian Kurz bisher erschienen:
Allein unter seinesgleichen ISBN, print: 978-3-86361-564-2
Hasch mich, ISBN print: 978-3-86361-567-3
Regenbogenträumer, ISBN print: 978-3-86361-491-1
Samt sei meine Seele, ISBN print: 978-3-86361-617-5
Die Welt zwischen uns, ISBN print 978-3-86361-614-4
Fremde Heimat, ISBN print: 978-3-86361-652-6
Augen voller Sterne, ISBN 978-3-86361-672-4
Eine wilde Woche, ISBN 978-3-86361-723-3
Die Zeit der bitteren Freiheit, ISBN 978-3-86361-717-2
Alle Bücher auch als E-book
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Originalausgabe, September 2019
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Zuwiderhandeln wird strafrechtlich verfolgt
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage
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Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de
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Printed in Germany
ISBN print 978-3-86361-774-5
ISBN e-pub 978-3-86361-775-2
ISBN pdf 978-3-86361-776-9
Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt.
Michael Aurich schraubte in der Werkstatt noch an einem Auto herum, als die Wanduhr ihm anzeigte, dass nun Feierabend wäre. Er machte noch einige Handbewegungen, damit er sicherstellen konnte, dass die Schraube auch wirklich festsaß, bevor er seine Werkzeuge zur Seite legte.
„So, das wär’s für heute“, meinte er und drückte den Rücken durch, der ihm von der gebückten Haltung ein wenig schmerzte.
Roland, sein älterer Kollege, der einen leichten Buckel vorzuweisen hatte, grinste ihn schief an.
„Die hätte eben früher kommen müssen, dann hättest du den Wagen heute schon noch fertigbekommen. Jetzt muss die eben noch einen Tag den Mietwagen nehmen. Den Chef wird’s freuen.“ Er nickte ihm zu.
„Stimmt. Ich hab Feierabend. Da mache ich jetzt nicht mehr weiter. Das würde zulange dauern. Keine Ahnung, wie lange die schon damit rumgefahren ist, aber das kann niemals erst vor drei Tagen zum ersten Mal aufgefallen sein. Die muss das schon seit längerer Zeit ignoriert haben.“
Michael schüttelte den Kopf und ging an Roland und seinen anderen Kollegen vorbei, um sich im Umkleideraum die Hände zu waschen. Als er dort ankam, sah er den neuen Mitarbeiter, der gegen einen der Spinde lehnte und ganz und gar in sein Handy versunken war.
„Auch schon fertig?“, sagte Michael und wartete darauf, dass Finn den Kopf hob, was dieser auch sofort tat.
„Mmh? Ich bin erst in einer Stunde fertig, aber ich muss was Wichtiges nachsehen“, gab der junge Mann von sich und blickte sofort wieder aufs Handy.
Michael ging zum Waschbecken und säuberte seine Hände. Ihm gefiel der junge Mann sehr, aber er konnte sich denken, dass es sinnlos war, Finn nach einer Verabredung zu fragen. Er glaubte nicht, dass der junge Mann mit dem süßen Gesicht und der frechen und modischen Frisur ebenfalls wie er schwul wäre und überhaupt war der Altersunterschied für seinen Geschmack bereits ein wenig zu groß. Immerhin war Michael bereits zweiundvierzig, und Finn gerade mal achtzehn. Natürlich sollte so etwas kein Hindernis sein, wenn beide sich liebten, aber Michael rechnete nun einmal nicht damit, dass Finn schwul wäre, und selbst wenn er es wäre, ja dann wäre er immer noch sein Kollege, und bislang hatte Michael es vor seinen Kollegen immer noch geheim gehalten, dass er schwul war. Die Geheimhaltung erfolgte einfach aus praktischen Gründen, weil er schon seit Jahren in diesem Betrieb arbeitete und damals gleich als erstes von den damaligen Mitarbeitern einige homophobe Witze und Bemerkungen gehört hatte. Weil er die Arbeit wollte, hatte er es damals ignoriert und nichts gesagt. Er hatte noch niemals das Gefühl gehabt, sich gegenüber den Kollegen outen zu müssen. Er erledigte seine Arbeit und was er zuhause machte, ging niemanden auf der Arbeit etwas an, also konnte er selber auch problemlos weghören, wenn mal doch einer eine schwulenfeindliche Äußerung machte, denn er war damit schließlich nicht persönlich gemeint.
„Du solltest dich nicht mit dem Handy erwischen lassen“, meinte er vorsorglich. „Das wird bei der Ausbildung nicht gerne gesehen.“
„Ist aber wichtig“, nuschelte Finn halblaut.
„Kann es gerne sein, aber wenn es nicht um Leben und Tod geht, dann versteht der Chef da eigentlich keinen Spaß.“
„Willst du es ihm sagen?“ Finn blickte ihn mit einem Gesichtsausdruck an, der zwischen selbstgerechten Missmut und jugendlichen Unvermögen schwankte.
Michael erkannte in dem Blick, dass der junge Kollege in ihm wohl nur einen alten Knacker sah, denn für einen so jungen Burschen war wohl jeder, der auch nur fünf Jahre älter sein mochte, einfach nur ein verkalkter Dinosaurier von vorgestern, der absolut nichts von der aktuellen Welt wusste. Höchstwahrscheinlich waren Finns Vater und Michael sogar gleichalt, was den Jungen natürlich automatisch dazu veranlasste, sich ihm gegenüber etwas aufzuspielen, selbst wenn es nur mit der Attitüde war, die sich gerade in seinem Gesicht abzeichnete.
„Nein, keine Sorge. Aber wenn du die ganze Zeit hier drin bist, dann fällt das auf, und wenn er dann mal nach dir guckt und dich auf dein Handy starren sieht, dann war’s das vielleicht.“
„Mir doch egal“, meinte er geradezu trotzig.
„Wieso? Gefällt es dir hier nicht? Ist doch gute Arbeit.“
Finn machte ein abwertendes Geräusch. „Ich bin nur hier, weil mein Alter mich sonst rausgeschmissen hätte. Und zwar einfach so, von einem Moment auf den anderen. Das geht ja nicht. Da wäre ich komplett aufgeschmissen. Also habe ich mir eine Ausbildung suchen müssen und Autos reparieren war da das erste, wo ich genommen wurde.“
„Was willst du denn sonst für eine Arbeit machen?“, wollte er ehrlich interessiert wissen und ging zu seinem Spind, um seine Sachen zu holen.
„YouTuber“, sagte Finn.
„YouTuber?“
Der junge Kollege senkte das Handy. „Ja. Kennst du doch auch, oder?“
„Natürlich kenne ich das. Ich bin auch online.“
„YouTuber ist mein Traumberuf. Mein Alter denkt zwar, dass so was nichts Richtiges wäre, aber der ist eben noch komplett analog. Der nimmt sein Handy nur zum Telefonieren. Der weiß also gar nicht, wie das heute eigentlich so läuft. Aber ich will mit meinem Kanal auf YouTube Karriere machen. Als YouTuber kann man Millionen verdienen.“
Michael schloss seinen Spind. „Mmh, und was willst du da so machen, wenn man fragen darf?“
„Alles mögliche“, nickte Finn. „Das geht nicht mehr so einfach, dass man sich nur auf einen Style beschränkt. Wenn man erfolgreich sein will, dann muss man sich anpassen können. Ich habe bereits seit längerem einen Kanal, und da mache ich manchmal Musikreviews, aber die werden immer wieder wegen Copyright gesperrt. Ich habe auch schon ein paar Games gestreamt, aber weil ich wegen der Arbeit hier nicht genügend Zeit habe, kann ich mich nicht darauf konzentrieren, und dann spiele ich natürlich schlecht, und keiner will zugucken, wenn ich wie ein verdammter Noob spiele.“
Michael wusste, dass mit diesem Begriff ein Spieleanfänger gemeint war, weshalb er nicht nachfragen musste. Dennoch wollte er etwas anderes wissen. „Wie heißt denn dein Kanal?“
„Finntomenal-Deluxe-1“, lächelte der junge Mann sofort.
„Finntomenal-Deluxe-1?“
„Genau. So wie Phänomenal, aber eben mit meinem Namen und Deluxe-1. Ich habe aber noch nicht so viele Followers, aber wenn ich mich ganz darauf konzentrieren könnte, dann wäre das kein Problem, da bin ich mir sicher. Aber mein Alter stresst deswegen. Wenn ich nachher nachhause komme, dann fragt der mich wieder, was ich alles in der Arbeit gemacht habe, so als denkt der, dass ich nicht gegangen wäre. Der behandelt mich wirklich wie ein kleines Kind. Und wenn ich dann in meinem Zimmer bin, dann motzt er rum, wenn ich mal Ruhe brauche und ein Video für meinen Kanal drehen will.“ Er schüttelte den Kopf. „Ehrlich, ich wäre bereits der beste YouTuber auf der ganzen Welt, wenn ich eine eigene Wohnung hätte.“
Michael nickte. In seinem Kopf blitzte für einen Augenblick die Idee auf, dem hübschen Mann anzubieten, dass er bei ihm wohnen könnte, aber dieser Einfall wurde sofort verworfen, auch wenn Finn einfach nur sehr schön war und er ihm am liebsten näherkommen würde.
„Du kannst doch zum Amt gehen und dir eine Wohnung geben lassen. Du musst einfach nur sagen, dass du mit deinen Eltern immer Streit hast, und dann gibt man dir eine.“
„Als ob das so einfach wäre“, wehrte Finn sofort ab. „Die fragen ja dann auch bei den Eltern nach, ob das stimmt, und wenn mein Alter sagt, dass er mir Stress macht, weil ich YouTuber werden will, dann werden die Affen vom Amt ihm doch Recht geben. Das sind schließlich auch so alte Säcke. Die wissen doch gar nicht, wie es heute abläuft.“
Er wollte ihm noch etwas sagen, aber er unterließ es. Stattdessen merkte er etwas anderes an. „Wenn es dir nichts ausmacht, dann hast du nachher einen neuen Abonnenten.“
„Wieso sollte mir das etwas ausmachen? Ich freue mich doch, wenn ich welche dazu bekomme. Kannst mir ja morgen sagen, wie du meine Sachen so findest“, strahlte der junge Mann ihn an.
„Werde ich machen. Bis dann.“
Michael verließ den Umkleideraum, verabschiedete sich bei den restlichen Kollegen, ging aus der Werkstatt raus zu seinem Auto und fuhr los. Seine Gedanken kreisten um Finn und dass er dank der YouTube-Videos den Hübschen nun so oft und lange angucken konnte wie er wollte, ohne dass die Gefahr bestand, dass es jemand mitbekam.
Michael lenkte den Wagen nach einigen Minuten auf einen Parkplatz vor einem Lebensmittelgeschäft, in welchem er sich eine Packung Wurst, ein paar Brötchen sowie drei Flaschen Radler-Bier kaufte. Dann fuhr er weiter und kam nach ungefähr zwanzig Minuten zuhause an. Er überprüfte seinen Briefkasten, ging die Stufen zu seiner Wohnung hoch und ärgerte sich leicht über den Dreck, der sich auf den Stufen befand. Er musste wie jeder andere im Haus für die von der Hausgesellschaft angeheuerten Reinigungskräfte zahlen, aber geputzt wurde so gut wie nie. Ein Nachbar hatte ihm gesagt, dass die Putzleute nur alle drei Wochen auftauchten und dann nicht einmal vier Minuten für das ganze Haus aufwenden würden. Der Nachbar hätte versucht, mit ihnen zu sprechen, aber die hätten ihm nur irgendetwas in einer fremden Sprache entgegen gezischt und eine Beschwerde bei der Hausgesellschaft hatte zu nichts geführt, also musste man sich wohl entweder eine andere Wohnung suchen und hier ausziehen, oder man lernte damit zu leben, dass man viel für einen Dienst zahlte, der nicht richtig ausgeführt wurde.
Michael ging in seine Wohnung, schloss die Tür, legte den Einkauf in der Küche ab und zog sich sodann die Schuhe aus. Seine Füße schmerzten leicht, aber es hielt sich im erträglichen Rahmen. Sein Rücken machte ihn da schon deutlich mehr Probleme, aber er versuchte es zu ignorieren. Er wusch sich nochmals die Hände, machte sich ein belegtes Brot, öffnete eine der Bierflaschen und ging dann zu seinem Computer, um sich den Kanal seines Kollegen anzugucken.
Die Videos, die Finn hochgeladen hatten, waren amateurhaft und verfügten über nur sehr weniger Aufrufe, aber das war Michael egal. Er stoppte ein Video an einer Stelle, bei der man Finn sehr gut sehen konnte. Er betrachtete seinen jungen Kollegen sehr lange, geradezu sehnsüchtig, trank etwas von seinem Bier und seufzte sodann leicht, einfach weil es ihn innerlich schmerzte, dass er und der Hübsche wohl nie zusammenkommen würden und Finn sah wirklich einfach nur phänomenal gut aus.
Noch während er auf das angehaltene Video blickte, klingelte es an der Tür. Michael stellte sein Bier zur Seite und ging zur Haustür. „Ja?“, sagte er und öffnete sie, als der Unbekannte vor der Tür auch bereits nach ihm schlug und ihm mit einem Messer den Hals aufschnitt.
Michael riss die Augen auf. Er spürte den Schmerz, aber er realisierte wegen der Schnelligkeit der Ereignisse nicht wirklich, was gerade geschah. Er griff sich mit der rechten Hand an den Hals und fühlte das warme Blut, das aus dem groben Schnitt herausfloss. Mit großen, ungläubigen Augen blickte er auf den Unbekannten, der einen Plastikregenmantel trug und nun mit dem Messer erneut nach ihm schlug. Die Schneide zerschnitt die linke Gesichtshälfte und zog auch das Auge schlimm in Mitleidenschaft.
Michael wich zurück. Er war vor Angst wie gelähmt. Was passierte gerade nur? Wer war der Unbekannte? Was wollte die Gestalt von ihm? Warum wurde er mit einem Messer angegriffen? Er wusste es nicht, und er würde auch nie eine Antwort darauf erhalten. Der Angreifer hielt das Messer wie einen Speer und lief auf ihn zu – mit der linken behandschuhten Hand fasste die Gestalt Michael an der Schulter und rammte ihn mit der rechten das Messer in die Brust, wobei beide nach hinten zurücktaumelten und gegen die Wand prallten. Die Schneide drang in die Brust ein und zerschnitt das Herz beinahe mühelos.
„Bastard“, zischte der Angreifer mit einem Flüstern und drehte das Messer in der Wunde herum, bevor die Klinge wieder herausgezogen wurde. Der Unbekannte steckte das Messer ein, verließ die Wohnung und schloss die Tür, um sodann im Treppenhaus den blutbespritzten Regenmantel auszuziehen und das Messer darin zu verstecken. Mit dem Plastikmantel in der Hand verließ die Gestalt das Haus, ohne von jemandem bemerkt zu werden.
Michael lehnte tot an der Wand und starrte mit seinen leblosen Augen ins Leere …
Sechs Tage später.
Kai Decker wachte in seinem Bett auf und wollte am liebsten liegenbleiben. Vor drei Wochen hatte die Geschäftsleitung angekündigt, dass der Sonderpostenladen wegen „unattraktiver Lage“ innerhalb von sechs Wochen geschlossen werden würde. Damit die Mitarbeiter nicht einfach zuhause blieben, versicherte man den Angestellten einen Bonus, wenn sie bis zur endgültigen Schließung weiterhin ihre Arbeit erledigten, aber von Frau Brömmer wusste er bereits, dass sich dieser Bonus auf gerademal hundertfünfzig Euro belaufen würde. Hätte er bereits eine andere Arbeit gefunden, dann wäre er wohl tatsächlich liegengeblieben, aber so stand er eben doch auf, um sich anzuziehen.
Er aß ein kleines Brötchen zum Frühstück, trank etwas und machte sich auf den Weg, während er an Ben dachte. Sie waren immer noch zusammen, auch wenn sein Freund gelegentlich doch etwas anstrengend war, aber das war durchaus zu verkraften. Allerdings hatte Ben gerade wieder eine seiner Phasen, in welcher er unbedingt Dinge beweisen wollte, die keinerlei erkennbare Relevanz besaßen. Damit sie beide sich deswegen nicht stritten, hatte Kai die letzten Tage eher bei sich verbracht als bei ihm, denn sie hatten sowieso Auszeiten voneinander vereinbart, aber heute würden er und Ben sich nach der Arbeit wieder treffen und er freute sich bereits darauf.
Im Geschäft angekommen zog Kai sich um und ging sodann zu Frau Brömmer, die bei den nun nur noch zur Hälfte gefüllten Regalen stand und die Gegenstände näher zusammenschob, um die entstandenen Lücken zu verringern. Aufgrund der Schließung waren die Artikel drastisch reduziert worden und die Kundschaft war in den ersten Tagen wie Heuschrecken über die Sachen hergefallen. Nun waren die besten Stücke bereits ausverkauft und der Rest, der noch im Geschäft lag, bestand hauptsächlich aus Gegenständen, für die es nicht unbedingt eine Verwendung gab. Wer brauchte auch schon Ziervögel aus bemaltem Bimsstein, maschinell geflochtene Traumfänger oder gar Terrakotta-Schweinchen, die sowieso bereits stellenweise angebrochen waren? Dennoch musste auch dieser Plunder verkauft werden, wenngleich die Nachfrage realistisch betrachtet irgendwo bei Null lag.
„Morgen“, begrüßte Kai seine Chefin.
„Morgen.“ Sie drehte sich zu ihm um. „Gut, dass du schon da bist. Räum mal bitte die Sachen von den beiden Regalen auf dieses hier um. Wenn du damit fertig bist, kannst du die leeren Regale auseinanderschrauben. Ich muss noch bei der Geschäftsleitung anrufen. Die haben mir doch tatsächlich eine weitere Lieferung gesendet.“
„Wirklich?“
„Ja. Die ist vor zehn Minuten geliefert worden. Ich habe dem Fahrer gesagt, dass wir schließen und darum keine neuen Waren brauchen, aber er hat gesagt, dass er seinen Auftrag hat und bevor ich sagen konnte, dass ich bei der Leitung deswegen anrufen werde, ja da hat er auch schon damit angefangen, die Kisten abzuladen. Kann man sich sowas vorstellen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Kein Wunder, dass hier alles drunter und drüber geht.“ Sie ging los. „Mach das also bitte, ja? Ich krieg’ hier beinahe die Krise …“ Ohne ein weiteres Wort von sich zu geben verschwand sie in Richtung des Büros.
Kai erledigte seine Arbeit gewissenhaft und räumte die Verkaufsartikel alle auf ein Regal, bevor er sich für einen Moment den großen und nun geradezu gespenstisch leeren Laden ansah. Dort, wo noch vor einigen Wochen Unmengen an unterschiedlichsten Dingen gestanden hatten, herrschte jetzt meterweise Freiraum. Es war ein seltsamer Anblick, von dem er sich nach einigen Sekunden losriss, um anschließend die anderen Regale auseinanderzubauen. Er brachte die Einzelteile dann ins Lager und sah dort die neugelieferten Kisten. Ein Blick auf den Transportschein verriet, dass es sich um Gartenzwerge handelte. Kai musste unwillkürlich grinsen – solche Dinger verkauften sich ohnehin sehr schlecht, und jetzt, so kurz vor Filialaufgabe, würden sie sich garantiert nicht besser verkaufen.
Sein Handy klingelte. Normalerweise wäre er nicht rangegangen, aber ein schneller Blick aufs Display verriet, dass Ben anrief.
„Hallo“, begrüßte er ihn. „Ist alles in Ordnung?“
„Hallo. Geht so. Warum fragst du?“
„Weil du weißt, dass ich noch arbeite und normalerweise rufst du nicht an, wenn nichts Wichtiges wäre. Darum habe ich es vermutet.“
Ben schwieg für einen Moment. „Wirst immer klüger.“ Es klang wie ein aufrichtiges Kompliment, oder zumindest für eines, das man von ihm erwarten konnte. „Gernhardt hat mich vorhin angerufen. Ich soll zum Revier kommen.“
„Damit du wieder bei einem Fall helfen kannst?“
„Ja. Ich bin also nachher wahrscheinlich nicht zuhause. Du wolltest doch heute wiederkommen oder hast du es dir anders überlegt?“
„Nein, hatte ich nicht.“ Kai zögerte, dann hakte er doch nach. „Wie geht es denn bei deinen Nachforschungen?“
„Da bin ich schon wieder drüber weg.“
„So?“
„Ja. Schon seit drei Tagen. Ich hätte dich zwar angerufen, aber ich will auch nicht so rüberkommen, als bräuchte ich nur mit den Fingern schnippen, damit du kommst. Ich weiß ja, wie ich bin, wenn ich mich in eine Sache reinsteigere. Gerade bin ich aber ganz ruhig. Aber das kann sich auch wieder ändern, je nachdem, was Gernhardt von mir will.“
„Hat er denn nicht gesagt, um was für einen Fall es sich handelt?“
„Nein“, antwortete Ben sofort. „Am Telefon geht das auch nicht so einfach. Darf ja keiner wissen. Ich gehe gleich zu ihm aufs Revier und höre dann, was los ist. Mal gucken, ob ich etwas lösen kann oder nicht.“
„Wenn einer etwas lösen kann, dann du.“
„Ja, ja“, meinte er abwehrend. „Hör mal, ich weiß ja wie gesagt, dass ich manchmal eine Nervensäge bin und ich wollte heute eigentlich ganz lieb und freundlich sein und so weiter, aber …“
„Wenn es heute nicht passt, dann verstehe ich das. Keine Sorge“, versicherte Kai.
Ben atmete hörbar ein und aus. „Das ist sehr nett von dir, aber ich muss mich selber auch anstrengen, damit ich lerne, auf andere Rücksicht zu nehmen.“
Er blinzelte verwirrt. „Oookay“, sagte er langgezogen.
„Tue nicht so überrascht. Wir sind jetzt schon seit einiger Zeit zusammen, da weißt du doch selber am besten, dass ich nach meinen Nachforschungen gelegentlich etwas sanfter werde. Na ja, was soll ich sagen? Ich liebe dich und ich will nicht, dass du mich nicht mehr erträgst, und eigentlich hätten wir uns heute einen schönen Abend gemacht, aber wenn ich nachher bei Gernhardt gewesen bin, dann kann es sein, dass ich wieder komplett auf den Fall eingeschossen bin … und du weißt ja, wie ich dann bin … Und ja, ich weiß, ich muss gerade komplett seltsam rüberkommen, aber … was soll ich sagen …“
„Du brauchst nichts sagen. Ich verstehe es.“
Ben schwieg für einige Sekunden. „Danke.“
„Kein Problem. Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich.“
„Soll ich dich nachher anrufen oder rufst du …“, sprach Kai weiter, aber das Gespräch wurde einfach beendet. Er blickte aufs Handy und steckte es wieder ein. Er wusste noch nicht, ob er warten sollte, bis Ben ihn wieder anrief oder ob er nachher auf gut Glück bei ihm vorbeiging, aber er wusste immerhin, dass er seinem Mann beistehen würde. Er konnte sich nicht einmal auch nur ansatzweise vorstellen, wie es manchmal in Ben aussehen mochte, aber die kurzen Momente, in denen sein Freund tiefstes Bedauern darüber verlauten ließ, dass er nun einmal etwas verschroben war und es nicht so einfach unter Kontrolle bringen konnte, bestärkten Kai darin, seinem Mann den Halt zu geben, den er ganz offensichtlich benötigte.
Einige Zeit später saß Ben im Büro von Kommissar Gernhardt. Der Kommissar holte einen Kollegen, der eine dünne Aktenmappe mit sich trug.
„Kommissar Willers“, stellte sich der andere Beamte vor. „Sie sind also dieser Davis, ja?“
„Wenn Sie damit meinen, dass ich derjenige bin, der Dinge aufklären kann, dann ja, dann bin ich dieser Davis“, meinte Ben ruhig.
Willers blickte zu Gernhardt. „Und das hat seine Richtigkeit?“
Gernhardt nickte. „Hat es. Herr Davis hat schon oft der Polizei geholfen und er hat niemals etwas an die Presse oder andere weitergeleitet.“
„Mmh“, machte Willers. „Dennoch finde ich es eigentlich nicht richtig, einen Außenstehenden mit hinzuzuziehen. Wir haben zwar keine Anhaltspunkte, aber die Angelegenheit ist ja auch noch relativ frisch.“
Der Kommissar setzte sich auf seinen Stuhl. „Ich biete es an. Wenn kein Bedarf an seiner Hilfe besteht, dann können wir die Sache auch lassen. Aber er ist sehr gut darin, was das Aufklären von seltsamen Fällen betrifft.“
Willers musterte Ben eindringlich. „Gut, meinetwegen. Aber nur, weil Kommissar Gernhardt darauf besteht, dass Sie ein Genie sind.“
Benedikt zuckte mit der Schulter. „Wer bin ich, dass ich ihm widerspreche?“
Gernhardt lächelte schnell. „Gut, dann wäre das ja geklärt.“
Willers atmete einmal durch. „Okay, gut … wie läuft das jetzt? Ich gebe ihm sämtliche vertraulichen Unterlagen und er spuckt dann die Antwort aus?“
Nun musterte Ben ihn. „Wenn Sie Bedenken haben, dann hätten Sie das Kommissar Gernhardt bereits sagen können, bevor ich hierhergekommen bin.“
„Stimmt, aber um ehrlich zu sein, habe ich Sie mir anders vorgestellt.“
„Wie darf ich das verstehen?“
„Na ja, Sie sitzen hier in alten, bequemen Klamotten vor uns und bei diesem Anblick denke ich nicht, dass ich ein Genie vor mir hätte, sondern eher einen …“ Er ließ den Satz offen.
Ben grinste schief. „Tut mir leid, dass ich nicht rumlaufe wie Sherlock Holmes, aber so was würde die Aufmerksamkeit auch nur unnötig auf meine Person lenken. Nächstes Mal mache ich Ihnen gerne eine Freude und komme mit einem Deerstalker-Hut hierher, aber dann wird jeder sehen, dass ich aufs Revier gekommen bin.“
Willers sah wieder zu Gernhardt, der eine Bewegung mit der rechten Hand machte. „Sagen Sie ihm einfach einige Fakten. Die polizeilichen Ermittlungsbilder muss er ja nicht sofort sehen“, meinte Gernhardt.
Willers nickte. „Gut, meinetwegen. Aber wenn irgendetwas von dem, was ich Ihnen jetzt sage, in der Presse oder im Internet auftaucht, dann werde ich Sie wegen Behinderung von polizeilichen Ermittlungen drankriegen.“
Ben machte eine Schnute. „Er ist noch nicht so lange hier, oder?“
„Zwei Monate“, bestätigte Gernhardt.
„Mmh, in der Zeit hätte er eigentlich genug über mich hören können …“
Willers atmete durch. „Kann ich mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen? Ich muss das wissen. Normalerweise lässt man Außenstehende nicht derartige Informationen zukommen.“
„Ja, weil man schließlich nicht weiß, ob der Täter es mitbekommen könnte. Ich arbeite aber nicht mit Tätern zusammen. Also, wenn Sie etwas von mir wissen möchten, dann sagen Sie es mir jetzt, ansonsten gehe ich wieder. Ich habe noch andere Dinge zu tun, und ich bin sicher, dass Sie den Fall auch selber lösen können. Das könnte aber unter Umständen etwas länger dauern, als wenn Sie mir den Fall jetzt zeigen.“
Willers zögerte für einen Moment. Er ließ die Akte geschlossen und setzte sich auf den Tisch. „Gut, meinetwegen. Aber Sie bekommen von mir nur einen ungefähren Überblick über die Lage. Spezifische Informationen bleiben Sache der Polizei.“
„Wenn Sie mir nicht alle nötigen Informationen zukommen lassen, dann kann man die Sache hier auch gleich vergessen“, sagte Ben schnell. „Wenn ich nicht auf dem gleichen Niveau bin wie Sie auch, dann kann ich nicht sofort alles in Betracht ziehen, weil ich mich informationsbezogen erst auf Ihr Niveau hocharbeiten muss und das bedeutet nichts weiter, als dass wertvolle Zeit verschwendet wird. Und wertvolle Zeit verschwenden wir auch jetzt gerade in diesem Augenblick. Also, was wird es nun? Ganz oder gar nicht.“
Wieder blickte Willers zum Kommissar und ließ erkennen, dass er der Sache nicht traute.
„Er ist zuverlässig“, bestätigte Gernhardt erneut.
Widerwillig öffnete Willers die Akte. „Es geht um Mord an einem Automechaniker mit homosexuellem Hintergrund Sie sind auch schwul, soweit ich das mitbekommen habe. Darum bin ich auch dagegen, dass man Sie mit allen Fakten vertraut macht.“
„Verstehe ich nicht“, sagte Ben irritiert.
„Nun, es könnte doch sein, dass Sie und der Tote sich kannten, oder dass Sie und der Mörder sich kennen.“
„Weil der Tote schwul gewesen ist?“
„Ja“, nickte Willers. „Zum jetzigen Zeitpunkt gehe ich von einer Tat aufgrund von verschmähter Liebe aus oder Schwulenhass. Eines von beiden.“
„Weil der Tote schwul gewesen ist?“, wiederholte Ben.
„Ja.“
„Und darum muss es gleich Eifersucht oder Schwulenhass gewesen sein?“
„Die Umstände sprechen dafür“, meinte der neue Kommissar.
„Ach, tun sie das, ja? Wie wäre es, wenn Sie mir diese Umstände auch mal sagen, damit ich mir ein Bild davon machen kann?“
Gernhardt nickte Willers zu. „Sämtliche Fährten führen ins Dunkle, also schadet es nicht, ihn wenigstens nach seiner Meinung zu befragen.“
Willers blickte in die Akte und holte das erste Blatt heraus. „Meinetwegen. Der Tote heißt Michael Aurich. Er hat als Automechaniker bei der Werkstatt Dübler gearbeitet. Vor sechs Tagen wurde er in seiner Wohnung auf ziemlich brutale Weise getötet. Haben Sie etwas davon mitbekommen?“
Ben schüttelte den Kopf. „Nein. Ich kenne ihn nicht und ich war auch nie bei Werkstatt-Dübler. Ich bin also in diesem Fall vollkommen unbefangen, wenn Sie das wissen wollten.“
„Das wollte ich wissen.“ Er gab ihm das Blatt.
Benedikt nahm es an sich und las die Todesursache. „Mmh, ziemlich heftig.“ Er überlegte. „Es wurde nichts gestohlen?“
„Nein. Wenn etwas fehlen würde, wäre die Angelegenheit auch verständlicher. So aber drängt sich wegen der Härte der Tötung der Verdacht auf, dass der Täter den Verstorbenen persönlich gekannt haben musste. Ansonsten hätte Aurich ihn nicht in die Wohnung gelassen.“
„Der Täter kann doch auch gleich an der Tür zugeschlagen haben.“
„Kann sein, aber das halte ich für unwahrscheinlich. Die Härte des Verbrechens spricht dagegen“, sagte Willers und erklärte: „Wenn der Täter tatsächlich einfach so an der Tür geklingelt und ihn dann ermordet haben sollte, dann müsste der Mörder bereits zuvor auf diese Weise agiert haben. Der Täter müsste bereits Erfahrung darin besitzen, jemanden auf diese Weise zu töten, aber wir haben keinen ähnlichen Fall gefunden. Ein Vorwissen müsste aber vorhanden sein, falls der Täter tatsächlich einfach so an der Haustür angriff. Ansonsten wäre er ein ziemliches Risiko eingegangen. Immerhin war Aurich erst zweiundvierzig Jahre alt und noch dazu als Automechaniker tätig, da hätte der Mörder doch damit rechnen müssen, dass Aurich sich erfolgreich zur Wehr setzen könnte. Wir wissen von der Autopsie, dass zuerst der Kehlschnitt erfolgte, aber selbst das hätte bei jemanden wie Aurich noch genügend Reaktionszeit übriggelassen, damit er sich gegen den zweiten und den dritten, tödlichen, Messerstich zur Wehr hätte setzen können. Es erfolgte aber keine Gegenwehr. Darum gehe ich davon aus, dass er den Täter kannte. Ohnehin halte ich es, wie gesagt, für unlogisch, von einem Mörder auszugehen, der einfach so an einer x-beliebigen Tür klingelt und dann einen Mord an einer Person begeht, die er nicht kennt.“
„Psychopathen gibt es überall.“
„Sicher, aber wie ich ebenfalls bereits anmerkte, müsste in einem solchen Fall auch andere Mordopfer bekannt sein, die auf diese Weise gestorben sind. Die entsprechenden Nachforschungen ergaben aber nichts in dieser Richtung.“
„Mmh. Und gestohlen wurde wirklich nichts?“
„Nichts, was uns aufgefallen wäre“, bestätigte Willers. „Sogar das Geld in der Brieftasche war noch vorhanden. Es fehlen auch keine Elektrogegenstände wie Fernseher oder dergleichen. Nein, ein Raubüberfall war das nicht.“
„Also ein Mord aus verschmähter Liebe?“
„Oder Schwulenhass.“
Ben reichte das Blatt zurück. „Was denken Sie denn, wie es abgelaufen ist?“
Er steckte das Blatt in die Mappe. „Zwei Möglichkeiten. Beide setzen aber voraus, dass Täter und Opfer sich gekannt haben. Am wahrscheinlichsten ist für mich nach aktueller Sachlage ein Mordmotiv aufgrund von verschmähter Liebe. Wie gesagt, Aurich war schwul. Das bedeutet, dass er über eine Menge wechselnder Sexualpartner verfügte, und vielleicht wollte einer von diesen ehemaligen Partnern eine feste Beziehung. Deshalb ist der Täter dann zu ihm in die Wohnung gekommen, um über alles zu sprechen. Und weil Aurich die feste Beziehung nicht eingehen wollte, hat der Täter ihn im Wahn getötet.“
Ben schüttelte den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht.“
„Und auf welche Fakten stützen Sie diese Annahme, wenn ich fragen darf?“
„Auf dieselben wie Sie“, meinte er salopp. „Nur weil jemand schwul ist bedeutet das noch lange nicht, dass er Unmengen an wechselnden Sexualpartnern haben muss. Und selbst wenn, dann müsste es sich wegen der Präzision, mit der vorgegangen wurde, um einen Liebhaber handeln, der so etwas schon öfters gemacht hat, und das ist ja, wie Sie selber sagten, nicht der Fall.“
„Präzision?“, horchte Gernhardt auf.
„Natürlich“, bestätigte Ben sofort. „Zuerst wurde die Kehle frontal aufgeschnitten, damit Aurich nicht schreien konnte. Der zweite Messerstich erfolgte am rechten Auge, damit er desorientiert war. Der Täter hätte auch längs über beide Augen schneiden können, aber dazu hatte er entweder nicht die Gelegenheit, oder aber er wollte, dass Aurich sieht, was er als nächstes tut.“
„Also kannten er und Aurich sich?“, hakte Willers nach.
Ben schüttelte den Kopf. „Das habe ich nicht gesagt. Ich gehe aber davon aus, dass jemand, der es fertigbringt, einmal längs über die Kehle zu schneiden, auch problemlos einen zweiten Schnitt ausführen kann. Allerdings könnte Aurich nach dem ersten Schnitt die Hände schützend hochgerissen haben und dann blieb dem Täter keine Handlungsfreiheit, um das Messer längs über beide Augen zu ziehen. Hat der Täter sich allerdings dafür entschlossen, absichtlich nur ein Auge zu zerstören, dann wollte er, dass Aurich ihn weiterhin ansieht. Das bedeutet aber nicht, dass sie sich kannten. Es wäre möglich, ist aber nicht als Fakt zu werten. Vielleicht wollte der Täter auch einfach nur die Angst im Auge sehen. Kann ja sein.“
Willers nickte. „Sicher, das klingt logisch.“
„Weil es logisch ist. Sie haben doch bestimmt noch andere Vermutungen, oder? Ansonsten wären Sie ziemlich abrupt auf die Vermutung mit der verschmähten Liebe gekommen.“
„Das habe ich in der Tat“, bestätigte der Kommissar. „In der Wohnung des Getöteten war der Computer noch eingeschaltet. Irgendwer, vielleicht Aurich oder der Täter, hat das Internet angemacht und ist auf einen YouTube-Kanal gegangen. Wir haben sofort herausbekommen, dass der Betreiber des Kanals ein gewisser Finn Jansen ist. Jansen ist achtzehn Jahre alt und macht gerade eine Ausbildung bei Werkstatt-Dübler.“ Er sagte die Worte bedeutsam.
„A-ha. Und jetzt vermuten Sie, dass Aurich sich in ihn verguckt hat, ihn vielleicht sogar angebaggert hat und weil dieser Jansen das nicht mochte, hat er ihm gleich mit dem Messer abgestochen, oder wie?“
Willers nickte. „Das ist eine Vermutung, die mir offen gesagt auch am wahrscheinlichsten erscheint. Es ist schließlich nicht homophob zu sagen, dass gerade bei Schwulen auf Altersunterschiede nicht sonderlich geachtet wird. Da werden Sie mir doch wohl auch recht geben, oder?“ Er bekam keine Antwort, weshalb er etwas eingeschnappt weitersprach. „Aurich war jeden Tag von Jansen umgeben. Es ist zu vermuten, dass Aurich sich in den jüngeren Kollegen verguckt hat. Ich gehe davon aus, dass er ihn zu sich nach Hause eingeladen hat. Dann hat Jansen ihm den YouTube-Kanal gezeigt und vielleicht ist Aurich dann etwas handgreiflich geworden. Jansen wollte das nicht und ist zur Tür gegangen und Aurich kam ihm hinterher. Es kam zu weiteren Handgreiflichkeiten und dann hat Jansen ihn ermordet, weil er sich eben nicht vergewaltigen lassen wollte. Anschließend ist Jansen Hals über Kopf aus der Wohnung geflohen, ohne den Computer auszuschalten oder gar den Browserverlauf zu löschen.“
„Mmh. Wenn dem so wäre, dann wäre ich ja nicht hier. Warum funktioniert ihre Vermutung nicht?“, wollte Ben wissen.
„Weil Jansen ein wasserdichtes Alibi hat. Zum Tatzeitpunkt befand er sich gerade im Büro seines Chefs und wurde wegen seinem Handykonsum getadelt. Ich gehe nicht davon aus, dass der Chef ein Interesse daran hätte, ihm ein falsches Alibi zu geben.“
„Wohl weniger, aber Sie haben sowieso eine Sache übersehen.“
„So?“
„Ja. Das Messer. Woher kam das Messer?“ Ben wandte sich an Gernhardt. „Ich bin mir sicher, dass Jansen nicht einfach von vornherein mit einem Messer zu Aurich gekommen wäre und laut dem, was ich auf dem Befund gelesen habe, handelt es sich um eine große Klinge. Meinetwegen ist es ein Combat-Taschenmesser, aber das muss man ja auch erst aufmachen. Wenn Jansen also wirklich vor Aurich in der Wohnung weggelaufen wäre, dann hätte Aurich ihn doch bestimmt vorher erwischt, bevor die Klinge ausgeklappt wurde. Und selbst wenn Jansen sich dann erst zur Wehr gesetzt hätte, dann müssten die Wunden anders aussehen. Es waren nur drei Messerstiche. Das spricht für Planung. Ein verängstigter Jugendlicher hätte um sich geschlagen, und wenn Aurich dann zu Boden gegangen wäre, hätte Jansen doch im Wahn noch auf ihn eingetreten und weiter blindwütig eingestochen.“ Er sah wieder zu Willers. „Und Fingerabdrücke hätten Sie in einem solchen Fall auch vorfinden müssen, aber das haben Sie nicht. Ansonsten wäre der Fall bereits geklärt.“
„Stimmt. Dennoch habe ich Jansen intensiv verhören lassen.“
„So. Und?“
„Natürlich sagt er, dass er es nicht gewesen ist. Auf den Umstand angesprochen, dass der Computer auf den Kanal eingestellt war, hatte Jansen nur zu sagen, dass er und Aurich sich zuvor darüber unterhalten hätten und dass Aurich den Kanal von Jansen abonnieren wollte.“
„Klingt ja auch logisch“, stimmte Ben zu. „Meinetwegen hat Aurich ein Auge auf Jansen geworfen. Kann ja sein. Aber wenn Jansen sowieso ein wasserdichtes Alibi hat, dann hat es doch keinen Sinn, weiter über ihn als Tatverdächtigen nachzudenken.“
„So kann man das nicht sagen“, wehrte Willers ab. „Sie vergessen, dass als Tatmotiv immer noch Homophobie im Raum steht. Wie gesagt, es war kein Raubüberfall und die Art, wie der Mord begangen wurde, spricht dafür, dass der Täter bereits zuvor jemanden getötet hat. Und dass ein Serienmörder herumläuft, der einfach so von Tür zu Tür geht und wildfremde Leute umbringt, zu denen er keinen Bezug hat, halte ich für ausgeschlossen. Dann hätte man bereits etwas dazu im Computer gefunden.“
„Also vermuten Sie, dass jemand herausgefunden hat, dass Aurich schwul war und ihn deswegen umgebracht hat?“
„Natürlich. Nichts für ungut, Sie sind ja selber schwul, aber Sie wissen doch selber, dass es einige Menschen gibt, die etwas gegen Leute wie Sie haben.“
Ben nickte. „Ja, da haben Sie leider recht. War Aurich denn offen schwul?“
„Soweit wir wissen ja.“
„Also wussten es auch die Kollegen bei seiner Arbeit? Kollegen wie Finn Jansen?“
Willers schwieg für einen Moment. „Er war offen schwul, aber das bedeutet nicht, dass er es seinen Kollegen auf die Nase gebunden hat.“
„Mmh, und was bedeutet dann, dass er offen schwul gewesen ist, wenn es niemand in seinem täglichen Umfeld wusste?“
Der neue Kommissar antwortete schnell. „Dass er auf schwulen Webseiten aktiv gewesen ist.“
„Er ist auf schwulen Webseiten aktiv gewesen?“ Ben bedachte ihn mit einem langen, drögen Blick, bevor er den Kopf schüttelte. „Und das bedeutet für Sie, dass er offen schwul gewesen ist?“
„Natürlich. Er hat seine Homosexualität nicht versteckt.“
„Er hat sie nicht versteckt, meinetwegen, aber nur, weil er auf schwulen Webseiten gewesen ist, muss er damit ja nicht gleich hausieren gegangen sein. Selbst wenn er Privat-Pornos gedreht haben sollte ist eine virtuelle Präsenz im Internet nicht das gleiche wie eine Präsenz im echten Leben.“
„Wenn Sie das sagen“, murrte Willers.
„Habe ich.“ Ben sah zu Gernhardt. „Hört der mir überhaupt zu?“
„Das tut er“, versicherte Gernhardt.
„Gut …“ Ben legte den Kopf in den Nacken, blies etwas Luft aus dem Mund und sah die beiden sodann abwechselnd an. „Fakt ist, dass Aurich ermordet wurde. Soweit sind wir uns einig, ja?“ Er wartete für einen Moment, bis die Kommissare ihm leicht zunickten, dann sprach er weiter. „Diesen Finn Jansen können Sie als Täter ausschließen. Wie Sie selber sagten, hat sein Chef ihm ein Alibi bestätigt.“
„Solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind, wird kein Verdächtiger ausgeschlossen“, gab Willers knapp von sich. „Sie können nicht einfach so sagen, dass er als Verdächtiger auszuschließen wäre. Sie haben sich noch nicht einmal das Verhörprotokoll durchgelesen.“
„Weil Sie es mir nicht gegeben haben, also halten Sie es ganz offensichtlich selber für nicht sonderlich relevant.“
Der neue Kommissar wurde hörbar verstimmter, als er es ohnehin bereits war. „Ich habe es Ihnen nicht gegeben, weil Sie als Privatperson keinerlei Recht haben, polizeirelevante Akteneinsicht zu erhalten.“
Ben machte ein unschuldiges Gesicht. „Ach, und warum bin ich dann hier?“
Willers bedachte ihn mit einem abwertenden Blick. „Ja, das frage ich mich auch.“ Er sah zu Gernhardt. „Das war eine dumme Idee. Außenstehende haben nichts bei polizeilichen Ermittlungen zu suchen.“ Er ging zur Tür.
„Einen Moment“, sagte Gernhardt, aber Willers verließ das Büro und schloss die Tür hinter sich energisch. „Musste das sein?“, meinte er launisch zu Ben.
„Wieso? Was habe ich denn gemacht?“
„Du hast dich arrogant verhalten“, sagte der Kommissar.
„Ich habe mich arrogant verhalten? Ich arbeite gerade an mir, damit ich nicht so abweisend auf andere Leute wirke. Nichts von dem, was ich gerade gesagt oder getan habe, war arrogant. Er selber hat sich arrogant verhalten. Ich habe gleich bemerkt, dass er meine Hilfe gar nicht wollte.“
Gernhardt nickte. „Er ist noch neu hier. Er weiß nicht, wie wertvoll deine Hilfe für das Revier ist. Das musst du verstehen.“
„Was ich so alles muss …“ Ben machte ein Gesicht wie ein kleines Kind, das mit der Situation unzufrieden war.
„Egal … aber was sagst du zu dem, was du über die Sache weißt?“
„Ich sage, dass ich zu wenig über die Sache weiß und darum nichts sagen kann.“
Gernhardt wartete einen Moment. „Also?“
Ben überlegte. „Finn Jansen halte ich nicht für den Täter. Ich brauche ihn nicht mal zu sehen. Er hat ein Alibi, und ich habe erklärt, warum er nicht einfach so Aurich getötet haben kann. Das Angriffsmuster würde anders aussehen. Nein, der Täter ist jemand, der schon mal getötet hat.“
„Es gibt in der Datenbank keine ähnlichen Einträge. Morde mit Messern passieren zwar zuhauf, aber nicht so.“
„Ja. Es war zu präzise. Ein Räuber – und wir wissen ja, dass es kein Raub gewesen ist – hätte meinetwegen den ersten Schnitt über die Kehle gemacht, aber dann hätte er ihm entweder gleich ins Herz gestochen oder ihm das Messer noch mehrmals in den Bauch gerammt, nur um ganz sicher zu gehen.“ Er überlegte weiter und schüttelte den Kopf. „Schwulenhass halte ich eigentlich auch für ausgeschlossen. Solche Arschlöcher tendieren dazu, den Opfern noch die Geschlechtsteile zu verstümmeln, weil sie sich dadurch in ihrer heterosexuellen Überlegenheit bestärkt fühlen.“ Er schwieg für einen Moment. „Gab es denn im Treppenhaus Blutspuren?“
„Nein. Darum gehen wir ja auch davon aus, dass Aurich den Täter zumindest in die Wohnung gelassen haben muss und es dort hinter verschlossener Tür geschehen ist.“
„Mmh. Die Halswunde muss doch gespritzt haben.“
„Hat sie. Wir haben Blutspuren im Flur gefunden, nahe der Tür. Das hätte Willers dir eigentlich auch sagen können.“
„Hätte, hat er aber nicht.“ Ben grübelte. „Der Täter muss auch Blutspritzer abbekommen haben.“
„Davon gehen wir auch aus, aber niemand in der Nachbarschaft will etwas gesehen haben.“ Er wartete, dass Benedikt wieder etwas sagte, aber da nichts kam, hakte er selber nach. „Was denkst du?“
„Ich denke, dass ich zu wenig Fakten habe, um mir ein gründliches Bild von der Situation zu machen. Am besten wäre es natürlich, wenn ich mir die Wohnung des Toten ansehen könnte. Vielleicht finde ich ja doch etwas, was ihr übersehen habt.“
Gernhardt nickte. „Ich werde gucken, ob ich da weiterhelfen kann. Es ist Willers Fall. Wenn er sich dagegen sperrt, dann kann ich nichts tun. Ich rede mit ihm.“
„Gut.“ Er nickte ebenfalls und blieb sitzen.
Gernhardt wusste, dass er es ihm sagen musste. „Du wärst dann hier fertig.“
„Ah, gut.“ Ben stand auf, ging zur Tür, öffnete sie, blieb stehen, stutzte und drehte sich zum Kommissar um. „Bis dann“, sagte er, weil er wusste, dass man sich verabschieden sollte. Er verließ das Büro, schloss die Tür und war ganz in Überlegungen versunken. Draußen angekommen nahm er sein Handy zur Hand und schrieb Kai eine SMS, bevor er sein Handy wieder einsteckte und weiterging.
Kai öffnete seine Tür. „Hallo. Alles in Ordnung?“ Er wartete, bis Ben durch die Körperhaltung anzeigte, dass er ihn küssen konnte.
„Geht so.“ Er gab ihm einen Kuss und blieb vor der Wohnung im Treppenhaus brav stehen. „Darf ich?“
„Da brauchst du doch nicht fragen.“ Er ging einen Schritt zur Seite und ließ ihn hinein, um danach die Tür zu schließen.
„Doch, ich muss fragen. Das gehört sich so. Ich will ja lernen, mich zusammenzureißen.“ Ben rang sich ein Lächeln ab. „Du sollst dich schließlich irgendwann auch so mit mir sehen lassen können, ohne dass du Angst haben musst, dass ich mich seltsam verhalte …“
„Ach, jetzt sei doch nicht so.“ Kai gab ihm noch einen Kuss. „Du bist, wie du bist. Daran habe ich mich doch mittlerweile gewöhnt. Und wir sind immerhin schon einige Zeit zusammen.“
„Trotzdem …“ Er zuckte mit der Schulter. „Eigentlich hätten wir uns heute bei mir getroffen, aber im Moment ist es mir lieber, wenn ich bei dir sein kann. Aber nur, wenn es dir wirklich nichts ausmacht. Ich will mich nicht aufdrängen.“
Kai streichelte ihm die Arme. „Du drängst dich nicht auf. Möchtest du etwas essen?“
„Noch nicht, aber nachher. Danke.“ Er zog seine Jacke und Schuhe aus, ging ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. „Im Moment möchte ich einfach nur bei dir sein.“
„Gerne“, lächelte Kai. Er empfand das neue, rücksichtsvolle Verhalten seines Mannes zwar als ein wenig seltsam, aber er konnte nicht wirklich sagen, dass es ihn störte. Lieber hatte er eine zahme Hauskatze als einen ständig unberechenbar um sich wütenden Tiger. Er setzte sich dicht neben ihn hin. „Was hat der Kommissar denn gewollt?“
„Darf ich nicht sagen.“
„Nein?“
„Nein.“
„Aber bei der anderen Sache hast du es mir doch auch gesagt.“
Ben nickte. „Sicher, aber der letzte Fall war bereits kalt. Da hat das nichts ausgemacht. Und du hast mir schließlich bei der Lösung geholfen.“
„Von wegen. Du hast alles alleine gelöst“, lächelte er ihn an.