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Sieben Kurzgeschichten, die sich mit verschiedenen Aspekten des Schwulseins befassen. Von der Unfähigkeit, sich eine eigene Identität zu verschaffen, die den Erwartungen der Leute um einen gerecht werden ("Ansichten einer Drachenmaus"), über das Leid, das durch den Anti-Schwulen-Paragraphen 175 über verliebte Männer hereingebrochen ist und ganze Leben unweigerlich zerstörte ("Träume aus Salz, Fieber und Glas"), bis hin zur Konfrontation eines Sohnes mit seinem schwulen-verachtenden Vater, der für seinen Hass eine Rechtfertigung sucht ("Samt sei meine Seele") - jede Geschichte ist ein Einblick in einen anderen Teil der vielfältigen schwulen Erfahrung. Auch Verlustängste werden angesprochen, wenn ein Autor versucht, sich sein Leben schön zu schreiben ("Der König in der Walnußschale"), oder wenn jemand nach Liebe sucht und doch nur das Gefühl erfährt, von allen ausgenutzt zu werden ("Freitag vor zwei Wochen"). Auch vor Geschehnissen aus der schlimmsten Epoche der Menschheit wird nicht zurückgeschreckt ("Feuerbluter"), denn am Ende gilt nur, dass jeder geliebt werden möchte ("Tage wie streunende Hunde").
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Seitenzahl: 424
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Christian Kurz
Samt sei meine Seele
Von Christian Kurz bisher erschienen:
Regenbogenträumer, ISBN 978-3-8636-491-1
Hasch mich, ISBN 978-3-8636-567-3
Allein unter seinesgleichen, ISBN 978-3-8636-564-2
Die Welt zwischen uns ISBN 978-3-8636-614-4
Alle Titel auch als E-books
Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,
Himmelstürmer is part of Production House GmbH
www.himmelstuermer.de
E-mail: [email protected]
Originalausgabe, Mai 2017
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.
Coverfoto: dreamstime.com
Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
ISBN print 978-3-86361-617-5
ISBN epub 978-3-86361-618-2
ISBN pdf: 978-3-86361-619-9
Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.
Schneide mich richtigSchneide mich gutUnd lass aus mir fließenDiamanten und Blut
Die Pause ist vorbei, und da fast keiner den Raum verlassen hat, will der Lehrer auch gleich weitermachen. Natürlich sind einige doch draußen und trödeln, weil sie denken, dass sie zwar damit den anderen nicht zwingend einen Gefallen tun, aber doch zumindest sich selber. Schließlich kommen auch die Nachzügler rein, und dann geht’s weiter mit Deutschunterricht. Wir müssen alle eine Passage aus „Der Prozess“ lesen, während der Lehrer etwas ins Klassenbuch schreibt. Schließlich sagt er: „So, das dürfte genug Zeit gewesen sein.“
„Nee, nee, nich’“, meint unser Klassenclown, der zwar immer und überall seine Meinung zu sagen hat, aber leistungsmäßig doch um einiges hinterherhinkt.
„Nun, dann lesen Sie eben zu Ende, während wir anderen die Stelle diskutieren. In dieser Passage geht es um den inneren Kampf, der sich mittels der Figur der Leni ausdrückt. Kann mir einer sagen, was das auffallendste Merkmal an der Figur der Leni ist?“
Der Klassenclown ruft rein: „Na, dass sie Schwimmhäute hat.“
„Stimmt, richtig, aber das ist ja nicht alles.“ Er sieht zu mir. „Eine Idee?“
„Naja, sie ist ziemlich aufdringlich“, meine ich und rede mehr mit mir selber als mit den anderen.
Der Lehrer scheint mir zuzustimmen. „Das ist richtig, oder auch nicht. Woraus begründet sich denn die Auffassung, dass Leni aufdringlich ist?“
„Sie wirft sich einfach an K ran, ohne dass der das richtig will.“
„K küsst sie doch zuerst“, meint Claudia, die Aufgedonnerte, fast schon aufbrausend. „Der hat sich doch an sie rangeworfen.“
„Sie hat ihm ihre Schwimmhäute gezeigt“, relativiere ich. „K dachte dann wohl, dass sie deswegen Minderwertigkeitskomplexe oder so was hat – die wurde doch deswegen bestimmt als Kind immer wieder aufgezogen. Also wollte er nur nett sein und hat ihr darum die Hand geküsst, aber sie missversteht das sofort als echte Zuneigung und wirft sich an ihn ran, und er will das ja eigentlich nicht. Kann man doch lesen.“
„Ja, Kafka ist für seine klare Prosa bekannt“, stimmt der Lehrer wieder zu, „aber das bedeutet nicht, dass alle Leser ihn richtig verstehen. Nehmen Sie nur die vielen unterschiedlichen Deutungsversuche zur ‚Verwandlung’. Hätte Kafka wirklich unzweifelhaft geschrieben, dann würde es nicht so viele abweichende Meinungen zu seinem Werk geben. Aber nun gut. Wenn sich K in der Geschichte, der ja durchaus als Alter Ego für den Autor stehen kann – erinnern sie sich bitte alle daran, was ich gesagt hatte, als wir dieses Buch angefangen haben – wenn also K für Kafka steht, dann stellt sich daraus die Frage, warum K sich nicht von der Leni verführen lassen möchte.“
Es herrscht Stille, und das ist nie gut, wenn ein Lehrer etwas fragt, also spekuliere ich einfach: „Naja, vielleicht mag er ja keine Frauen.“
Die Klasse lacht leicht auf, und der Klassenclown kann nicht umhin zu sagen: „Nur weil du schwul bist, heißt das noch lange nicht, dass es auch die anderen sein müssen.“
„Das habe ich auch nicht gesagt, aber es wäre doch logisch – die Leni nimmt automatisch an, dass K sie lieben muss, weil er ein Mann ist.“
„Oder weil sie eine Frau ist“, wirft Claudia ein. „Ist doch auch normal.“
Ich weiß nicht warum, aber ich sage sofort: „Ach, und ich bin nicht normal?“
„Nimm doch nicht alles persönlich“, sagt sie ein wenig genervt.
Der Lehrer greift ein. „Der Gedanke an sich ist ganz nett, das gebe ich zu. Kafka war ja ein Frauenliebling – von der Bauer zur Bloch über die Jesenska bis zur Diamant. Die Vermutung, dass er schwule Neigung haben könnte, ist daher eigentlich von vornherein ausgeschlossen.“
„Wieso? Er konnte das doch damals gar nicht zeigen. Hätte er doch nicht gedurft“, werfe ich ein. „Wenn er wirklich schwul gewesen wäre, dann konnte er das nicht ausleben. Er hat ja lange bei seinen Eltern gewohnt, da konnte er nicht einfach einen Mann mitbringen. Und selbst wenn er einen gefunden hätte und dann immer zu dem gegangen wäre, hätte das nicht lange gut gehen können, weil die Gesellschaft damals ja dagegen war. Also musste er quasi versuchen, mit Frauen zusammen zu sein, aber je näher ihm eine gekommen ist, desto mehr hat er sie abgestoßen, eben weil er nicht wollte, weil er wusste, dass er nicht der Mann sein kann, den die Frau verdient hätte.“
„Nun, Kafka hat wirklich die Frauen umgarnt und gleichzeitig abgestoßen“, meint der Lehrer nachdenklich, „aber das dürfte eher damit erklärt werden, dass er sich selber als schwach und nicht der Liebe einer Frau würdig empfand, jede Form von wahrer Zuneigung also sofort als falsch empfand. Das war wohl sein ihm eigener Charakterzug, der es ihm unmöglich machte, sich voll und ganz einem anderen Menschen hinzugeben.“
„Mag sein ...“
„Nun, ich habe sämtliche Tagebücher und Briefe von Kafka studiert, und ich habe keinen schwulen Gedanken darin gefunden“, stellt er klar.
Ich will es eigentlich nicht vertiefen, aber ich tue es trotzdem: „Sie haben sie studiert – haben Sie sie auch gelesen?“ Damit kein Missverständnis entsteht, füge ich hinzu: „Falls ich Recht habe, dass Kafka schwul gewesen ist, dann konnte er das nicht ausdrücken, weder im Leben, noch in seinem Schreiben. Er musste den Konformitäten seiner Zeit Genüge tun, und das geht eben nur, wenn er einen Mann eine Frau lieben lässt. Aber die Frauenfiguren bei Kafka sind immer grotesk, verzerrt.“
„So seht ihr Männer uns doch auch“, sagt Claudia. „Entweder Heilige oder ... naja ...“ Sie will nicht „Hure“ sagen, weil das entweder gegen ihre Überzeugung ist oder weil sie eine Strafe vom Lehrer befürchtet.
„Ich meine ja nur... das würde doch einiges erklären“, sage ich matt.
Der Klassenclown kann’s nicht lassen: „Damals gab’s doch gar keine Schwulen – war doch gesetzlich verboten.“
„Ja“, sage ich. „Paragraph 175.“
Der Lehrer nickt. „Ja, das stimmt. Da hat man immer gesagt, dass einer am 17.5. Geburtstag hat, wenn man wusste oder vermutete, dass derjenige schwul ist.“
Ich sehe ihn an. „Ist ja heute nicht mehr so, oder?“
„Natürlich nicht.“ Er merkt, dass ich was anderes auf dem Herzen habe. „Sie können doch darüber froh sein, dass dem nicht mehr so ist. Immerhin können Sie sich heute offen als schwul präsentieren, ohne dass die Klasse oder die Gesellschaft an sich Ihnen deswegen Vorbehalte macht.“
„Naja, richtige Gleichberechtigung ist das auch nicht. Ich meine ... warum muss der Schwule sich an die Gesellschaft wenden und um Akzeptanz bitten? Und wieso wird das Wort schwul immer wieder als Beleidigung benutzt? Ich hör’s doch immer wieder - ‚Ey, das ist doch schwul. Benimm dich nicht so schwul. Bist wohl schwul, oder was’.“
„Jetzt’ piß dich deswegen doch nicht an“, sagt Alexej. „Is’ ja nix dagegen zu sagen, wenn ihr Deutschen Schwule akzeptiert und so, is’ ja euer Problem, aber ihr Schwulen könnt doch nix erwarten, dass alle anderen auf euch Rücksicht nehmen, nur weil ihr jetzt nix mehr zu befürchten habt wegen Gesetz und so.“
„Genau das ist es doch, was ich meine“, sage ich, obwohl ich weiß, dass er es nicht versteht.
Der Lehrer bemerkt, dass ihm die Klasse zu entgleiten droht, also reißt er das Ruder herum: „Das hat gerade nichts mehr mit dem Thema zu tun. Das kann man ein anderes Mal diskutieren. Jetzt aber haben wir Kafka auf dem Stundenplan, und die Frage ist weiterhin, was der Charakter der Leni für eine Funktion erfüllt. Das auffallendste Merkmal an ihr sind ihre Schwimmhäute und ihre zugegebenermaßen etwas aufdringliche Art und Weise. Trotzdem kann das ja nicht ihren vollen Charakter repräsentieren. Kafka ist dafür bekannt, gerade durch seine präzise Sprache ganze Welten entstehen zu lassen, und eben auch eine fiktionale Figur durch wenige Worte zur Dreidimensionalität zu verhelfen. Betrachten wir die Passage nochmals genauer, um ...“, schnarrt er weiter, aber ich höre eigentlich nicht mehr richtig zu, da alles, was dieser Lehrer zu vollbringen imstande ist, doch nur das Töten der Prosa sein kann. Quasi das Schlachten des goldene Eier legenden Huhns. Ich habe schon früher Kafka alleine gelesen und verstanden, da brauche ich es eigentlich nicht, dass man mir hier versucht, die Worte zu bedeutungsvergewaltigen, oder was auch immer. Es ist wie damals in der Hauptschule, als die Musiklehrerin uns versuchte die Beatles näherzubringen, indem sie uns die Texte hat analysieren und dann unharmonisch nachgröhlen lassen, und erstaunlicherweise hat das wohl eher zum Gegenteil geführt. Ich habe erst vor ein paar Wochen rein durch Zufall wieder etwas von denen gehört und für gut empfinden können, weil die Lehrerin mir die Freude an deren Musik fast komplett niedergeknüppelt hatte.
So sitze ich noch einige Minuten da, bis die Glocke erklingt und alle aufspringen um nach Hause zu rennen, oder den Bus zu erwischen, oder eine zu rauchen, Hauptsache nur so schnell wie möglich hier raus und dann den Nachmittag irgendwo dumm und dusselig abhängen. Der Lehrer gibt mir ein Zeichen, dass ich noch bleiben soll.
„Sie haben noch etwas Zeit?“, fragt er höflich.
„Jetzt gibt’s Ärger“, flötet der Klassenclown und verschwindet aus der Tür.
Die anderen sind schon alle weg, bevor ich sage: „Wenn es wegen dem ist, was ich über Kafka gesagt habe ... es ist ja nur eine Vermutung ...“
„Ja. Ich weiß“, sagt er. „Mir geht es eher darum, was Sie angedeutet haben.“
„Was meinen Sie?“
„Nun, da Sie es anscheinend als Beleidigung auffassen, wenn jemand, der nicht homosexuell ist, das Wort schwul benutzt. Wenn Ihnen das nicht gefällt, dann müssen Sie das sagen.“
„Und was bringt das?“, hake ich freundlich nach. „Dass das dann durch ein anderes Wort ersetzt wird, was dann ebenfalls negativ benützt wird?“
„Nun, das Wort an sich ist ja nicht negativ.“
„Nein – aber wie es benützt wird. Das ist negativ. Und die sehen das gar nicht ...“ Ich zögere. „Ich meine, ich weiß selber, dass ich es heutzutage ja eigentlich guthabe. Ich meine, ich habe mich nicht willentlich geoutet, das ist eben einfach passiert, und zuerst hatte ich auch Angst, dass ich deswegen verprügelt werde, aber die anderen in der Klasse sind da ja ganz gut mit umgegangen. Aber nach der ersten Zeit sind die dann eben wieder ins alte Verhalten reingefallen.“
„Wie genau?“, fragt er und sieht mich seltsam an, ich kann den Blick nicht einordnen.
„Naja ... zuerst haben die mich wie ein rohes Ei behandelt, um auch ja kein falsches Wort zu sagen. Und dann plötzlich hieß es, dass das oder das oder was auch immer, dass das schwul ist, und dann wurde sofort in meine Richtung geguckt und gesagt, dass das ja gerade nicht böse gemeint gewesen ist und ich das ja auch wissen muss, ich also selber der Böse bin, wenn ich denen jetzt den Gebrauch des Wortes als böse unterstelle.“
„Man hat also vorausgesetzt, dass Sie zustimmen und keine Probleme mit der Verwendung des Wortes haben?“
Ich muss wirklich darüber nachdenken. Mir fällt ein, dass die anderen neulich, als wir den Film ‚Hitlerjunge Salomon’ gesehen haben, einige angewiderte Laute vor sich hin zischten, als sich zwei Männer im Film küssten, aber ich erwähne es nicht. „Schon irgendwie. Nicht böswillig, also das glaube ich nicht, aber eher ... naja, die sind eben ... Ich weiß auch nicht ... Schwule sind ja mittlerweile auch in den Medien stärker vertreten, oder es sind genauso viele wie zuvor, nur jetzt können die das auch offen zeigen, aber dann heißt es doch sofort, dass die zwar mitmachen dürfen, es aber gefälligst nicht zu weit treiben sollen. Ihr dürft dabei sein, aber wehe ihr schreibt uns vor, was wir sagen dürfen und was nicht, und wenn ihr uns verbietet, etwas als schwul zu bezeichnen, dann werdet ihr schon sehen, was ihr davon habt ...“ Ich schüttle den Kopf. „Ich weiß, das klingt ... aber es ist doch so ... Schwule werden immer anders betrachtet als Lesben. Beide sind homosexuell, einfach weil sie’s sind, aber man sagt nicht ‚Ey, bist du lesbisch oder was’ oder ‚Das ist doch lesbisch’, also zumindest habe ich das noch nie gehört, man sagt ‚Ey, bist du schwul oder was’ und ‚Das ist doch schwul’, also kann das doch nicht wertfrei gemeint sein. Da muss doch immer ein Vorurteil drinstecken ... Es ist in Ordnung, im Fernsehen oder in Magazinen zwei küssende Frauen zu zeigen, aber zwei küssende Männer, das würde doch sofort irgendwen dazu anstacheln über den Verfall von Sitte und Anstand zu klagen ...“ Ich zucke mit der Schulter, weil ich mir darüber zwar schon einige Gedanken gemacht, diese allerdings nicht ausreichend formuliert habe.
Er nickt. „Nun, wenn Sie das Thema so sehr interessiert, dann würde ich vorschlagen, dass Sie sich ja einen Fleißpunkt verdienen können. Schreiben Sie doch einfach mal einen Aufsatz zum Thema. Wie die Gesellschaft mit Homosexualität umgeht. Oder meinetwegen wie Sie als Schwuler selber die Situation sehen. Sie schreiben doch gern.“
„Ja ... kann ich machen.“
„Gut“, meint er freundlich.
Ich nicke, sage „Tschüss“, und gehe dann aus der Schule raus, wo der Klassenclown auf mich zu warten scheint. „Und? Ärger gekriegt?“, will er wissen.
„Nein, der wollte nur was wissen.“
„Und was?“
„Wie ich das alles so sehe als Schwuler ... und dass ich darüber ja auch einen Aufsatz schreiben könnte, quasi als Fleißarbeit.“
„Na klar“, grinst er breit. „Da sieht man doch mal wieder, wie ihr bevorzugt werdet. Uns hat der Lehrer nichts darüber gesagt – wir können kein Fleißpunkt bekommen.“
„Ihr seid ja auch nicht wie ich.“
„O-ha, was Besseres, was?“, grinst er und fügt dann wieder die entwaffnende Floskel hinzu: „Ey, weißt doch – ist doch nur Spaß – wir haben doch nichts gegen dich.“
Ich lächle und zeige damit, dass ich es akzeptiere, denn was soll ich sonst tun? „Naja, bis morgen dann“, meine ich und gehe direkt nach Hause, wo Mutter bereits das Mittagessen zubereitet.
„Wie war die Schule?“
„Wie immer. Was gibt’s heute?“
„Kartoffelbrei und Würstchen. Opa kommt doch nachher vorbei“, sagt sie und rührt den Brei um, während ich meine Schuhe ausziehe und in mein Zimmer gehe.
Die Idee, die der Lehrer mir in den Kopf gesetzt hat, ist eigentlich ganz gut, und sei es nur, um einen Fleißpunkt zu verdienen. Ich sollte mich wirklich ein bisschen mehr damit auseinandersetzen, was es eigentlich bedeutet, in der heutigen Zeit als Homosexueller zu leben. Ich weiß noch, als Mutter das rausbekommen hat – sie war zuerst verwirrt, fand es aber eigentlich fast sofort als vollkommen in Ordnung, und auch Vater hatte keine Probleme damit, und falls doch, dann hat weder er noch sie etwas dazu gesagt oder sonst wie eine Abneigung spüren lassen. Mir ist klar, dass das nicht bei allen so abläuft – manche werden von ihren Familien verstoßen, oder machen sich selber Vorwürfe, dass sie so sind, wie sie sind. Irgendwie scheinen Lesben damit wirklich keine Probleme zu haben. Ich habe noch nie gehört, dass Lesben sich aufgrund ihrer Sexualität schämen oder gar selber Gewalt antun. Das machen nur Männer. Aber gut, ich weiß ja selber, wie das bei mir war, dieses seltsame Gefühl, wenn man seine eigene Sexualität entdeckt und dann feststellen muss, dass das Bild, was einem die Medien als normal vermitteln, nicht auf einen selber zutrifft. In jeder Serie, in jedem Film, in jedem Buch und auch in jedem Musikstück, das ich mitbekommen habe und in dem es um Liebe geht, sind es immer ein Mann und eine Frau, die sich verlieben und gegen alles Böse ankämpfen, um ihre Liebe zu bewahren. Als Kind nahm ich daher selber zwangsläufig an, dass das so sein muss, und als ich dann begann mich eher für Männer als für Frauen zu interessieren, habe ich mich natürlich selber gefragt, was da nicht stimmt, was da schiefgelaufen ist mit mir, und mir fiel auch wieder ein, wie ich früher in der anderen Schule immer wieder Witze von den anderen gehört habe, in denen ein Schwuler das dümmste und widerlichste der Welt war. Ich wusste nicht, was ein Schwuler ist, und man erklärte es mir damit, dass ein Schwuler eben dumm und widerlich ist und man selber nicht so sein will, es sei denn, man ist selber dumm und widerlich. Aber so ist das natürlich nicht – Kindergerede und falsch verstandene Halbwahrheiten. Ich selber weiß, dass ich nicht dumm und widerlich bin, dass ich als Schwuler genauso Erfolgschancen oder Mißerfolgschancen besitze wie jeder andere auch, dass mein Schwulsein mich nicht auf ein Podest erhebt oder in eine Ecke verdrängt, aber dennoch sind die Dummheiten, die man mir als Kind gesagt hat, immer noch irgendwie in mir drin, und jedes Mal, wenn ich etwas Negatives über Schwule höre, wird dieser alte Haufen matschiger Erinnerungen wieder für einen Moment lebendig und präsent. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie es für jemanden früher gewesen sein muss.
Ich will den Computer hochfahren und auf Wiki ein bisschen über den Paragraphen 175 lesen, aber dann höre ich die Tür und weiß, dass Opa da ist, also gehe ich zu ihm hin. Opa ist ein seltsamer Typ, so wie alle Opas sind – schwerhörig, wenn er es sein will, großzügig, wenn er meint, dass es jemand verdient, das Neue anpreisend, wenn er denkt, dass ihm das etwas bieten kann, und hemmungslos auf alte Werte pochend, wenn er mit etwas konfrontiert wird, was ihn ankotzt. Ich weiß, dass er nicht weiß, dass ich schwul bin. Mutter und Vater haben mir deutlich gemacht, dass man ihm das besser nicht sagen soll, weil er sich darüber so sehr aufregen könnte, dass vermutlich, womöglich, unter Umständen, sein Herz aussetzen würde. Ich dachte mir damals nur: na toll, noch etwas, was man negativ mit dem Schwulsein verbinden kann – quasi der schlechteste Superheld von allen: Gay-Man – der Retter mit der Kraft, alten Leuten das Herz zu sprengen.
Nach der üblichen Begrüßung setzt er sich gleich an den Tisch, eben weil er es noch so gelernt hat, dass man ihm das Essen an den Tisch bringt. Ich helfe Mutter und setze mich dann zusammen mit ihr ebenfalls hin. Er nimmt sich sofort etwas von dem Kartoffelbrei und dann noch zwei Würstchen, bevor er zu mir rüber sieht. „Und was gibt es bei dir neues?“
„Wie war die Schule?“, hakt auch sie nach.
„Gut. Ich muss nachher noch eine Fleißarbeit schreiben“, sage ich und nehme mir ebenfalls was zum Essen.
„Fleißarbeit?“, horcht er auf. „So was nannten wir früher Streberarbeit. Oder Strafarbeit.“
„Fleißarbeit“, sage ich und lächle leicht.
„Wieso denn?“, möchte sie wissen.
Ich weiß ja, dass ich nicht so offen reden kann, jedenfalls nicht mit Opa in der Nähe, also rede ich ein bisschen drum herum. „Naja, wir nehmen ja gerade Kafka durch, und da mussten wir heute eben eine Stelle durchlesen und die dann interpretieren.“
„Ach so“, meint sie und will das Thema offensichtlich bereits auf sich ruhen lassen.
„Kafka, wie?“, meint Opa. „Den habe ich früher auch gelesen. Nicht so meine Welt. Hat doch sowieso nichts mit der Wirklichkeit zu tun, was der geschrieben hat. Der ist doch auch nur berühmt geworden, weil man den verbrannt hat. Ansonsten würde man den doch vergessen. Hat der doch selber so gewollt. Stimmt doch?“
Es klingt zwar nicht wie eine Frage, aber da er mich ansieht, muss ich wohl antworten: „Nein. Jedenfalls nicht ganz. Also verbrannt wurde der nicht, wenn du damit meinst, dass der von den Nazis verbrannt wurde. Der ist schon vorher gestorben. Und ja, der wollte, dass man seine Schriften verbrennt. Hat man aber nicht gemacht.“
„Und deshalb müssen heutzutage tausende und abertausende Schüler darunter leiden.“ Er lacht ein wenig, da er meint, dass er einen guten und originellen Witz gemacht hat. „Und was hast du über den Kaffer gesagt, dass dein Lehrer dir eine Strafe aufbrummt?“
Ich weiß, dass ich es nicht sagen sollte, aber ich tue es trotzdem – wahrscheinlich nur, weil ich insgeheim wirklich sehen will, ob sein Herz stoppt oder zumindest für einen Moment aussetzen würde. „Naja, wir sollten interpretieren, warum die männlichen Charaktere in seinen Geschichten immer von den Frauen abgestoßen sind, und da habe ich eben vermutet, dass die schwul sind, und vielleicht war Kafka selber ja auch schwul und hat das verheimlichen müssen, um nicht von der Gesellschaft geächtet zu werden.“
Mutter sieht mich an und gibt mir einen Blick, der deutlich macht, dass ich darüber nicht reden sollte, aber Opa nickt nur und sagt: „Naja, der war Jude, also war er bestimmt auch schwul.“
„Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?“, wundere ich mich.
Er sieht mich an. „Na komm, das weißt du doch selber, oder bringen die euch heute in der Schule nichts mehr bei?“ Er sieht zu Mutter. „Also die Schule ist ja nichts wert, wenn die deinem Kind nichts beibringt.“ Er wendet sich wieder an mich. „Der war Jude, das stimmt doch, nicht wahr? Und es gab auch schon vor den Nazis Gesetze gegen Juden, genauso wie gegen Schwule. Weil beides eigentlich nicht so in die Zivilisation gehört. Darf man heute ja nicht mehr so sagen, weil die Nazis eben auch gute Juden verbrannt haben. Waren ja wohl doch nicht alle schlecht. Und außerdem haben die Nazis es übertrieben. Die hätten keinen Krieg anfangen müssen mit der Welt, dann wäre das alles schön im geheimen über die Bühne gegangen. Nicht dass ich das jetzt etwa befürworten möchte, das nicht, das nun wirklich nicht. Wie gesagt, gibt ja auch gute Juden.“
„... und was hat das eine mit dem anderen zu tun?“
„Wie jetzt?“ Er gibt sich wieder halbtaub oder volldumm, eins von beiden, das ist bei ihm gelegentlich wirklich schwer zu unterscheiden.
„Ist doch egal“, mischt sich Mutter ein.
„Was hat Jude sein mit Schwulsein zu tun?“, möchte ich wissen.
Er kaut seinen Bissen zu Ende. „Naja, wenn du es wirklich wissen willst – wie gesagt, gab ja gegen beides Gesetze, nicht wahr? Also diese Schwulen wurden genauso verfolgt wie die Juden, das war bei beiden eben Rassenschande. So haben die Nazis das ja genannt, also waren die Juden und die Schwulen während des Kriegs gleichermaßen der Feind, aber nach dem Krieg, da durfte man ja keine Juden mehr auch nur falsch ansehen. Ich weiß das selber noch, ich habe früher zu Silvester mit Judenfürzen gespielt, und als ich letztes Jahr ... oder vorletztes ... keine Ahnung ... also jedenfalls bin ich in den Laden und ... doch, war letztes Jahr, ganz bestimmt, da hatte es zu Weihnachten doch die Ente gegeben ...“
„Das war vorletztes Jahr“, korrigiert Mutter.
„Bist du dir sicher? Ich meine, dass das letztes Jahr war. Ich bin nicht so verkalkt wie andere in meinem Alter, ich weiß schon noch, was ich sage und was vor einem Jahr passiert ist. Naja, jedenfalls bin ich in den Laden gegangen um Knaller zu kaufen. Also nichts Großartiges, weil das ja doch nur rausgeworfenes Geld ist. Silvester ist da eine Ausnahme, kommt ja nur einmal im Jahr. Da bin ich also in den Laden rein und habe mich umgesehen, aber nichts gefunden. Und dann gehe ich zu der Verkäuferin, so eine Ausländerin, und ich spreche schon extra langsam mit der und frage die dann, wo die denn die Judenfürze haben. Und die sieht mich an, als wäre ich gerade bei ihr und ihren Mullahs mit dem Schwert einmarschiert. Die hat nicht gewusst, was ein Judenfurz ist. Und das nur, weil man das Wort anscheinend nicht mehr benutzen darf oder soll. Weil ja das Wort Jude drinsteckt. Juden darf man nichts Böses mehr tun oder sagen, aber das ist nur wegen dem Krieg. Im Krieg waren Juden und Schwule dasselbe, das kannst du mir glauben. Das weiß ich noch ganz genau. Ein Jude zu sein war genauso schlimm wie ein Schwuler zu sein.“
Ich will nichts darauf sagen, aber ich muss einfach: „Okay ... meinetwegen ... aber trotzdem, nur weil Kafka Jude war ...“
„Du hast doch selber gesagt, dass du denkst, dass er schwul gewesen ist. Also. Ist doch dann dasselbe“, sagt er mit der unterschwelligen Betonung, dass er nicht versteht, was mich gerade irritiert und er mir doch eigentlich nur zustimmen will.
„Das ist nicht dasselbe.“
„Hört doch damit auf“, sagt Mutter entwaffnend.
Opa grinst. „Wir reden doch nur. Und überhaupt ist doch heutzutage nichts mehr dabei, wenn einer Jude ist.“
„Und wenn einer schwul ist?“, will ich wissen.
Er sieht mich für einen Augenblick streng an. „Mit solchen Leuten willst du dich nicht abgeben. Damit muss man gar nicht erst anfangen.“
„Und warum nicht?“
„Warum nicht – warum nicht“, wiederholt er und lacht ein bisschen auf, „dein Sohn kann fragen. Die lernen einem anscheinend heutzutage wirklich nichts mehr in der Schule. Weiß doch jeder, dass man sich vor Schwulen in Acht nehmen muss.“ Er sieht mich direkt an. „Du bist doch schon alt genug. Du weißt doch, wie das läuft – und Schwule, naja, die sind eben nicht richtig im Kopf. Die sind irgendwie verdreht. Können vielleicht sogar nicht selber etwas dafür, aber trotzdem muss man das ja nicht tolerieren.“
„Hat man darum deiner Meinung nach den Paragraphen 175 nach dem Krieg beibehalten?“
Er strahlt förmlich übers ganze Gesicht. „Genau, genau. Du weißt ja doch etwas darüber. Den 175er, ja, den hat man beibehalten, ja. Das war ja auch richtig so. Ich weiß noch damals, als ich meine Lehre gemacht habe, da hatten wir auch so einen, der so tuntig war. Den haben wir natürlich deswegen aufgezogen, weil wir ja mit dem immer in einem Raum sein mussten und das ist ja dann nicht richtig, wenn wir mit so was zusammen lernen sollen. Das fällt ja dann auch auf uns ab, wenn so einer eine Ausbildung mit uns zusammen macht. Der ist dann richtig frech geworden – das musst du dir mal vorstellen – richtig frech, nur weil wir einen Scherz gemacht haben. Da haben wir ihm dann natürlich die Leviten gelesen.“ Er nickt sich selber zu. „Richtig aufs Maul gegeben. Ja, so macht man das. Das hätten wir nicht gemacht, wenn er Jude gewesen wäre, großer Gott nein, also gegen Juden hatte nach dem Krieg keiner mehr etwas, die sind da absolut tabu, da darf man nicht einmal ein böses Wort denken. Aber Schwule oder Zigeuner ... Ich würde jetzt auch keinen Zigeuner in meiner Nähe haben wollen, weil die es ja im Blut haben mit langen Fingern rumzulaufen, aber da ruft man die Polizei, und dann hauen die ab, aber Schwule, ja, da kann man die Polizei rufen, und dann bleiben die da und pochen auf ihr Recht, weil sie sagen, dass sie dieselben Rechte hätten wie die anderen, die Normalen.“ Er schüttelt den Kopf. „Aber so ein Schwuler ist ja was anders als ein Zigeuner oder ein Jude. Die Juden wurden zu Unrecht verfolgt, die Zigeuner, naja, was weiß ich, aber ich weiß, dass man die Schwulen zu Recht verfolgt hat.“ Er stopft sich eine mittelgroße Portion Brei in den Mund und kaut selbstzufrieden.
Ich sehe zu Mutter, die mir mit einem weiteren Blick zu verstehen gibt, dass ich die Sache nicht weiter verfolgen soll, aber das kann ich nicht, sei es wegen jugendlichem Trotz oder einfach, weil mir Dummheit immer negativ aufstößt. „Was wäre denn, wenn ich schwul wäre?“
Er grinst. „Bist du nicht. So eine schlechte Erziehung hast du ja nicht gehabt, dass du so was wirst.“
„Und wenn ich doch schwul wäre? Was dann?“
„... naja, dann müsste ich mal ein ernstes Wort mit deiner Mutter und vor allem deinem Vater sprechen.“ Er überlegt, wie er das, was ich gesagt habe, in sein Weltbild unterbringen kann. „Lass mich raten – du fragst doch gerade nur, weil deine Fleißarbeit darin besteht, wie es wäre, als so ein Schwuler oder ein Jude oder eben als schwuler Kafka-Jude zu leben, richtig?“
„So in etwa, ja“, bestätige ich.
Er grinst wieder. „Habe ich es mir doch gedacht. Dein Lehrer ist wohl so ein Waldorf-Lehrer, die machen immer so einen Blödsinn. Ist vielleicht gut für die Note, aber Sinn und Zweck hat so was nicht, nicht wirklich. Warum soll man sich denn in so einen Schwulen reinversetzen? Damit man Mitleid mit denen bekommt? Ich sage dir, die Abschaffung vom 175er war das dümmste, was die Regierung jemals gemacht hat. Das haben nur die Schwulen gefordert. Weil die sich von dem Gesetz drangsaliert gesehen haben. Na, sag ich, ist doch auch richtig so. Dafür war das Gesetz doch auch da. Da kann ja gleich ein Mörder jammern, dass das Gesetz, das man niemanden töten darf, dass das ihn drangsaliert und man es gefälligst abschaffen soll. Das würde doch auch niemand tun oder sonst wie befürworten, aber heutzutage geht wohl alles durch.“
„Was für ein Sinn hat ein Gesetz, das Leuten verbietet, sich zu lieben?“
Er ist für einen Moment perplex. „Was soll denn das heißen? Lieben? Seit wann lieben die denn? Die lieben doch nicht. Das können die doch nicht. Der 175er war dafür gemacht, damit die Bevölkerung, also normale Leute wie ich, du, deine Mutter und dein Vater, dass die in Sicherheit sind, vor den Schwulen und den Lesben und so weiter.“
„Es reicht jetzt“, wirft Mutter erneut ein.
„Nein, nein, das muss ich jetzt sagen“, wehrt er ab. „Es gibt auch Gesetze gegen Kinderschänderei, da würde doch auch keiner sagen, dass man da die Liebe verbietet, oder?“
„Das ist nicht dasselbe“, werfe ich ein.
„Doch.“
„Nein“, beharre ich.
Er sieht mich direkt an. „Wenn du ganz ehrlich bist, dann doch, dann ist es genau dasselbe. Du weißt vielleicht, dass Schwule denken, dass sie lieben. Und so machen Kinderschänder das auch. Ist also genau das gleiche. Und gegen den Paragraphen gegen die Kinderschänder sagt keiner was, weil man eben weiß, dass das was Gutes ist. Und gegen den 175er hätte auch keiner was sagen sollen. Wem hat es denn geschadet, dass es den Paragraphen gab? Niemanden.“
„Außer den Schwulen“, sage ich sofort.
„Die haben sich doch nur selber geschadet. Der Paragraph an sich hat denen nichts getan, was die nicht schon vorher mit sich selber gemacht hätten.“
Ich versuche der Logik zu folgen, obwohl mir das, was er damit andeutet, absolut zuwider ist: „Du sagst also, dass, wenn welche wegen dem 175er verfolgt wurden, dass das dann deren eigene Schuld gewesen ist und die darum verdient haben, was ihnen wegen dem Paragraphen zugefügt wurde?“
Er nickt. „Ja, genau. Du hast es verstanden.“
Mutter unternimmt einen letzten Versuch: „Müsst ihr das jetzt wirklich am Tisch bereden?“
„Wieso denn nicht?“, sagt er und ist für eine Sekunde der typische Durchschnitts-Opa, der seinen Enkeln Süßigkeiten zusteckt, obwohl er es seinen nun zu Eltern gewordenen Kindern früher immer verboten hat. „Ich helfe deinem Sohn doch nur. Er muss doch diese Fleißarbeit schreiben. Also muss er doch auch wissen, was richtig und was falsch ist. Er muss unterschiedliche Perspektiven kennen, und wenn er jetzt eben schreiben soll, wie es ist, als Schwuler zu leben, oder was die eben als leben verstehen, ja dann muss er auch wissen, warum die grundfalsch sind, und das kann er dann in seinem Aufsatz verwenden. Also“, er wendet sich wieder an mich, „nochmal, damit da kein Fehler in deinem Schreiben ist, sonst würdest du am Ende noch eine 6 bekommen, und das will ja keiner ... Schwule sind nicht dazu in der Lage, normale Liebe zu verstehen oder eben zu geben. Das können die nicht. Die denken zwar, dass sie das können, aber sie können es eben nicht. Das musst du dann genauso schreiben. Schreib vielleicht am besten in der Ich-Perspektive oder so was, dann kannst du den Schwulen viel besser erkennen lassen, dass er zwar denkt im Recht zu sein, aber dass er eigentlich doch nur ein, naja, also Hundesohn kannst du nicht schreiben, aber nimm eben irgendwas, was du meinst, was richtig ist. Und am Schluss begibt er sich eben in Behandlung und kann dadurch was erreichen im Leben.“
„... weil Homosexuelle im Leben ansonsten nichts erreichen können?“
„Ist doch außer Frage. Nenne mir mal einen Schwulen, der es zu was gebracht hat.“
Ich brauche nicht lange zu überlegen. „Rock Hudson.“
„Naja, Schauspieler, da muss man nicht so viel machen, und der ist ja an Aids gestorben. Tun die doch eigentlich alle. Aids oder was anderes. Die passen ja nicht auf, wenn die in der Nacht rumschleichen und übereinander herfallen“, wischt er meinen Vorschlag beiseite.
„Freddie Mercury.“
„Ich weiß nicht, wer das sein soll.“
„Sänger von Queen.“
Er nickt. „Ja gut, ein Sänger. Musiker. Das ist ja auch nicht weltbewegend, nicht wahr. Singt der noch?“
„Nein. Der ist tot.“
„Bestimmt Drogen oder Aids.“
Ich gehe nicht darauf ein und nenne einen anderen Namen. „Leonardo Da Vinci.“
Er sieht mich verwirrt an. „Bist du dir da sicher?“
„Ja“, nicke ich.
Er braucht vielleicht ein, zwei Sekunden, bevor er es mit einem Schulterzucken relativiert. „Der war auch Italiener. Die sind das meistens. Wollen das aber nicht wahrhaben. – Kennst du die beiden kürzesten Bücher der Welt? ... Das Buch der italienischen Helden und das Buch der holländischen Berge.“ Er lacht selbstgefällig über den uralten Witz, bevor er immer noch freudig meint: „Du kriegst das schon irgendwie hin. Ich meine, wir haben in der Schule ja alle Sachen schreiben müssen, die dann vollkommen egal sind, aber eben dem Lehrer gefallen mussten. Schreib eben irgendwas hin, dass der Schwule eben denkt, dass der 175er ungerecht sei oder so was, aber vergiss nicht, dass in Wirklichkeit der Paragraph ganz wichtig ist. Ich sage dir, als es den noch gab, da gab es das noch nicht, dass die Jugendlichen sich so aufgeführt haben, oder das Schauspieler sich als Frauen angezogen haben.“
„Und was ist mit ‚Charleys Tante’?“, frage ich, ohne eine wirkliche Antwort zu wollen, aber der Film ist mir einigermaßen präsent, da ich den als Kind immer wieder gesehen hatte, genauso wie die ‚Graf Bobby’-Filme oder dem mit dem Spukhaus im Spessart, hauptsächlich weil die meistens vor oder nach den Cartoons liefen.
„’Charleys Tante’? Ja, der war mit Rühmann. Der war ja auch verheiratet. Der konnte das spielen, ohne wie eine Schwuchtel zu wirken. Heißt ja auch ‚Charleys Tante’ und nicht ‚Charleys Tunte’, hahahaha. ‚Die Feuerzangenbowle’, die ist auch gut, oder die ‚Quax’-Filme, ‚Quax der Bruchpilot’ und ‚Quax in Afrika’. Damals hat man eben noch gute Filme gemacht.“
„Damals gab es auch schwule Schauspieler“, werfe ich zaghaft ein. Ich will eigentlich nicht mehr mit ihm darüber reden, weil ich seine Meinung ja nun wirklich zur Genüge kenne, aber es ist eben dieser Drang in mir, da weiter nachzuhaken, auch wenn das, was da noch sein mag, nichts mehr verändern kann.
„Ja, ich weiß, der Meyernick oder wie der hieß, der hat das ja nicht versteckt und darum auch ordentlich eins auf die Mütze bekommen. Zu Recht, ganz zu Recht, muss ich sagen. Also, ich hätte den jetzt nicht gehauen, das glaube ich nicht, aber wenn ich den gesehen hätte, dann hätte ich ihm den Rat gegeben, sich doch mal behandeln zu lassen. Der hat sich ja dadurch eine ganz große Karriere versaut, weil er sich nicht hat helfen lassen, da bin ich mir sicher.“
„Also war es seine Schuld, wenn man ihn wegen eines Paragraphen verfolgt hat, den andere gemacht hatten?“
„Genau, genau“, stimmt er zu und scheint erfreut darüber zu sein, dass ich ihn und seine Sichtweise augenscheinlich vollkommen verstehe und dieser auch zuzustimmen scheine.
Ich verkneife mir die Bemerkung, dass man diese verquere Schuldzuweisung auch auf die Juden anwenden könnte. Quasi was ich mal gehört hatte, was der Chef des Zentralrats der Juden sagte, Bublitz oder so ähnlich, ich weiß es wirklich nicht mehr genau. Der sagte etwas in der Art, dass „die Nazis den Juden nie vergeben werden, dass sie ihretwegen den Holocaust machen mussten“. Und ja, ich weiß selber, dass die Verfolgung der Juden etwas Anderes gewesen ist als die Verfolgung der Schwulen, aber tot ist tot. Beide wurden verfolgt, beide wurden in KZs gesteckt und dann durch den Schornstein gejagt, damit die runterfallende Asche aufgefegt und in den Mülleimer geworfen werden kann. Die Verfolgung der Juden war genauso schlimm wie die der Zigeuner, wie die der Schwulen, wie absolut jede andere Verfolgung, aber nach dem Krieg hat man sich um alle gekümmert, um die Juden, die Zigeuner und so weiter, aber die Schwulen wurden weiter per Gesetz zu Bürgern zweiter Klasse gemacht, zu Aussätzigen deklariert, die man gefälligst melden muss und mit denen man nichts zu tun haben will. In der Schule haben wir eine Menge über den Holocaust gelernt, haben ‚Schindler’s Liste’ angesehen und das ‚Tagebuch der Anne Frank’ gelesen, und es wurde über die anderen Verfolgten zumindest ein bisschen gesprochen, aber die Homosexuellen wurden unter den Tisch gekehrt, so wie ihre Asche nach der ethnischen Säuberung. Eines der widerlichsten Beispiele ist mir selber aufgefallen, als ich, weil mich das Thema eben doch interessiert, in einem Buch über die Verfolgung durch die Nazis gelesen habe, wie der betreffende Autor mit größtem, vor Emotionalität triefendem Pathos über die eingepferchten Juden schrieb und was für ein Leid sie durchlitten mussten, nur um dann in einem Nebensatz darauf hinzuweisen, dass es auch eine Baracke für die ‚rosa Winkel’ gab, die eben gesondert eingesperrt werden mussten, da selbst die Nazis anscheinend es den Juden nicht zumuten wollten, mit solchen ‚Gesindel’ zusammen sein zu müssen. Und dann erwähnte der Autor für den Rest des Buches die inhaftierten Homosexuellen mit keinem einzigen Wort, obwohl er die Leidenswege der anderen so gut es ging nachzeichnete. Und das wiederum kann ja nur implizieren, dass das Leid und der Schmerz und die Qual und der Verlust, den ein ‚rosa Winkel’ durchlitten hat, nicht mit dem eines anderen, eben eines Juden oder so, zu vergleichen wäre, daher die Qualen des durch die Nazis drangsalierten Homosexuellen samt und sonders nichtiger Natur seien und man darüber auch nicht weiter nachdenken muss, was eben dann – beabsichtigt oder nicht – die unterschwellige Billigung dieses Vorgehens, dieser Verfolgung bedeutet. Egal ob der Autor das nun beabsichtigt hatte oder nicht.
Ich esse meinen Teller leer und stelle ihn in die Spüle, bevor ich sage, dass ich jetzt die Fleißarbeit wenigstens ein bisschen anfangen will und dann eben in mein Zimmer gehe. Ich setze mich an den Computer und höre Musik über Kopfhörer. Normalerweise höre ich auch die Charts, so wie die anderen in meiner Klasse, auch wenn da einige eine Vorliebe für Pseudo-Hassbands haben, auf die ich absolut nicht stehe. Ich weiß nicht warum, aber ich höre eben gerne melodische Musik, die andere in meinem Alter als altmodisch abtun. Aber was kümmert das denn mich, ich höre es eben gerne, und im Moment brauche ich es auch einfach, also lasse ich ‚Come and get your love’ von Redbone laufen. Das ist einfach nur ein schönes Lied und vertreibt die dummen Gedanken, die ich jetzt wegen Opa habe.
Nach einigen Minuten kommt Mutter rein – sie wird wohl an die Tür geklopft haben, aber ich hatte es nicht gehört, aber da ich sie im Augenwinkel wahrnehme, erschrecke ich nicht, als sie einfach so reinkommt. Ich nehme die Kopfhörer ab. „Er ist weg“, sagt sie, und ich merke, dass sie mich fragen will, ob alles in Ordnung ist, aber sie will es nicht direkt sagen, eben weil ich ja kein kleines Kind mehr bin. „Du weißt ja, wie er ist ... da musst du dir nichts bei denken. Er weiß es ja nicht.“
„Also wäre es besser, wenn er es wüsste und sich dann wegen mir verstellt?“, sage ich und lächle ein wenig, damit sie weiß, dass ich es nicht ernst meine.
„Er sollte es eigentlich nicht erfahren ... nicht, dass das was Falsches ist, das weißt du ja, aber er ist eben ... damals war das anders.“
„Ich weiß, aber dann ist es doch falsch, wenn jemand sagt, dass damals alles besser war und man denjenigen dann nicht darauf hinweist, dass es eben doch schlecht war.“
„Na, das darfst du bei ihm gar nicht erst sagen, sonst hält er dir einen Vortrag darüber, dass du das ja nicht wissen kannst, weil du damals nicht gelebt hast und es aus Büchern oder Filmen oder so gar nicht selber richtig wissen kannst.“
Ich nicke. „Und da hätte er wohl auch Recht, aber ich muss nicht im Mittelalter gelebt haben, um zu sagen, dass das, was ich aus Büchern darüber weiß, mir ausreicht, dass ich nicht damals hätte leben wollen.“
Sie grinst. „Ich mach dann mal den Abwasch“, sagt sie und verlässt mein Zimmer.
Ich lese auf Wiki weiter über den Paragraphen 175, aber die Internetverbindung ist ziemlich störrisch, und überhaupt habe ich keine Lust, den ganzen Tag am Computer zu versauern. Ich höre nochmal das Lied an und gehe dann aus dem Haus und in die Stadt, ohne mich zuvor großartig bei Mutter abzumelden, weswegen sie wahrscheinlich denken wird, dass ich mir das Gerede von Opa wohl doch ein wenig zu Herzen gehen lasse, obwohl sein Gequatsche nicht mal in die Nähe davon gekommen ist, sondern schnurstracks am Arsch vorbeilief.
Dennoch muss ich darüber nachdenken, muss darüber denken, dass ich ja eigentlich doch Glück habe, nicht damals geboren zu sein. Sicher, wenn ich kurz vor dem zweiten Weltkrieg auf die Welt gekommen wäre, dann wäre mein Schwulsein wohl das geringste Problem gewesen, worüber ich mir hätte Gedanken machen müssen. Dann hätte ich mich wohl verstellen müssen, verstecken und so tun als ob ich eben schüchtern bin, was mir wohl nicht schwergefallen wäre, denn ich bin ja auch jetzt noch vergleichsweise schüchtern – ich will mir nicht mal vorstellen, wie oft die anderen in der Klasse schon Sex hatten. Das ist einerseits ein widerlicher Gedanke, eben weil ich mir die Volldeppen nicht in solchen Situationen vorstellen möchte, und andererseits deprimiert mich das sowieso nur, eben weil ich keinen Freund habe, also keinen richtigen, und die anderen aus der Klasse sind ja eher in der Schule vorhanden, aber eben nicht wirklich meine Freunde, weil sie das nicht sein können oder wollen, weil sie immer so tun als wäre ich irgendwie komisch, verdreht, ja regelrecht seltsam, nicht behindert, aber doch nicht so normal wie sie. Das äußert sich dann immer in Verhaltensformen wie vorsichtiges-sprechen-wenn-er-in-der-Nähe-ist, damit sie auch ja nichts sagen, was mich aufgeilen könnte, damit ich nicht, so wie wohl alle Homos, sofort auf sie draufspringe. Keine Ahnung – ich merke eben, dass die sich in meiner Nähe anders aufführen. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Egal, was von beidem der Grund ist, es führt doch nur zu derselben Erkenntnis, eben, dass der Homo selber daran schuld ist, wie sich die anderen in seiner Gegenwart aufführen, denn wenn er nicht Homo wäre, dann würden sich die anderen wegen ihm nicht so aufführen müssen.
Ich wollte mich bereits online bei einer Kontaktseite für Schwule anmelden, um so wenigstens jemanden kennenlernen zu können, aber nachdem, was ich über reguläre Seiten erfahren habe, finde ich dort bestimmt nicht das, was ich suche. Wenn ich etwas brauche, dann jemand liebes und ruhiges, der mich akzeptiert wie ich bin und den ich dafür liebe wie er ist. Ist doch wirklich nicht zu viel verlangt. Egal ob hetero oder homo, beide wollen im Endeffekt doch nur dasselbe – Liebe. Da brauche ich es wirklich nicht, dass ich durch so eine Seite an einen gerate, der mich nur als menschliches Taschentuch benützt.
Schlagartig muss ich daran denken, dass ja lange Jahre per Gesetz den Homosexuellen effektiv das Recht auf Liebe verwehrt wurde. Eben weil die Argumentation vorgebracht wurde, dass Sex zwischen Homos nicht auf Liebe beruhen kann. Der Gesetzestext zum 175er war da ja recht eindeutig – irgendwas von wegen „wenn sich ein Mann mit einem anderen in gleichgeschlechtlicher Beziehung vereint“ oder so, totgetretenes Beamtendeutsch, das letztendlich nur darauf hinausläuft, dass Schwulen eben eine krankhafte, triebartige Sexualität unterstellt wurde, die nicht auf Liebe beruhen kann und darum auch keine hervorzubringen in der Lage sei. Ziemlich abrupt kommt mir in den Kopf, dass vielleicht meine Eltern selber jahrelang so gedacht haben. Immerhin mussten sie sich ja nie wirklich mit diesem Thema befassen. Vielleicht haben sie selber, als sie in meinem Alter waren, jemanden gekannt, der schwul gewesen ist, und haben den dann ausgelacht oder gar geschlagen. Jetzt würden sie das mir gegenüber natürlich nie zugeben, nicht zugeben können, denn dann würden sie womöglich in meiner Achtung sinken. Oder sie haben es einfach vergessen, was zugegebenermaßen weitaus schlimmer wäre, denn das würde bedeuten, dass ihnen das Leid, das sie jemanden angetan haben, so unwichtig ist, dass sie es sich nicht merken. Aber gut, das ist wohl nicht exklusiv bei Schwulenhassern – Kinder und Jugendliche tun nun einmal dumme Dinge, die sie als gerechtfertigt empfinden, und vergessen es dann, weil es ja bereits geschehen ist ... meine Güte, ich klinge ja selber wie ein verkalkter Lehrer, der nur predigt anstatt was zu tun. So kann ich die Fleißarbeit nicht formulieren, das klingt ja geradezu pathetisch. Und ich bin mir sicher, dass der Lehrer, wenn es ihm denn gefällt, den Aufsatz vorliest oder mich vorlesen lässt, in der blöden Annahme, dass ich als Schwuler ja eine Einsicht zu dem Thema habe, die den anderen abgeht, was ja so gesehen stimmt, aber nicht völlig, denn ich spreche und schreibe und lebe und denke ja nicht stellvertretend für alle anderen Homosexuellen.
Ich weiß doch auch nicht, was ich sagen soll. Warum muss ich, nur weil ich schwul bin, mich mit dem Schwulsein und der Homosexualität an sich befassen? Warum erwartet man von mir, dass ich deswegen ein erweitertes Wissen haben muss? Der Heterosexuelle hat das Problem doch wohl nicht, oder? Es kommt doch keiner zum Heterosexuellen und fragt nach, ob man zum Beispiel einen Witz über Heterosexuelle machen dürfe ... aber ja, mir fällt selber auf, dass das ein dummer Vergleich ist, denn es gibt ja mehr Heten als Homos, aber niemand hat behauptet, dass die Welt fair sei. Ich weiß aber auch noch, wie ich mal in einem Magazin über eine Schauspielerin etwas las, und unter dem Bild stand „Sie ist attraktiv, begehrt – und lesbisch ...“, also tatsächlich mit drei Punkten am Schluss – was sollte dadurch signalisiert werden? Sie ist lesbisch – na und? Sollen die drei Punkte andeuten, dass sie deswegen kleine Kinder frisst? Oder nicht zu wahrer Liebe imstande sei? Oder dass sie wie alle Homos mit ihren Augen Laserstrahlen verschießen kann? Scheiße zu Gold macht? Was will mir der Redakteur mit diesen drei Punkten sagen? Oder interpretiere ich da jetzt etwas hinein, was nicht da war, mir allerdings so vorkommt, weil ich als Schwuler, als Homo, eben eine andere Auffassung von solchen Dingen habe, haben muss? Ich weiß es doch auch nicht, meine Güte und verdammt nochmal.
Ich frage mich, ob auch andere Homosexuelle sich mit so was rumschlagen mussten. Wahrscheinlich ja, höchstwahrscheinlich nein. Sicher hatten die es damals nicht leicht, aber dann wieder doch, oder auch nicht. Keine Ahnung. Manche empfinden die neue Offenheit der Homosexuellen als eine persönliche Kampfansage und sagen jetzt erst recht einige Dinge, die wirklich nicht in Ordnung sind. Sie rechtfertigen es dadurch, dass sie ja das Recht auf freie Meinungsäußerung haben, genauso wie die Homos, also dürfen die Homos den Heten nicht vorschreiben, was diese sagen dürfen oder nicht. Seltsamerweise empfinden solche Leute ihre Selbstgerechtigkeit dann trotzdem nicht als derart konsequent, dass sie auch über Behinderte und andere Religionen herziehen, denn über Behinderte macht man sich nicht lustig, die können ja nichts dafür, dass sie so sind (anders als die Homos?), und über Religion darf man sich nicht lustig machen (jedenfalls nicht über fremde), denn dagegen gibt es ein Gesetz, und das muss jeder einhalten. Und genau darum ist es nicht in Ordnung, wenn ein Gesunder sich über einen Behinderten lustig macht, aber in Ordnung, wenn ein Behinderter über Gesunde Witze macht (quasi „lass ihn doch, der will doch nur spielen“). Und deshalb darf wohl, konsequenter- sowie logischerweise, ein Hetero durchaus Witze über Homos machen, sofern er wenigstens einen davon vorzeigen kann, mit dem er es abgesprochen hat. Wir sind also alle eine große Familie, und wie in jeder Familie gibt es auch in dieser eben die bucklige Verwandtschaft, über die man nicht so gerne spricht, die aber trotzdem irgendwie über mehrere Ecken dazugehört.
So denke ich und gehe währenddessen in Richtung der Bücherei, einfach um ein wenig herumzugucken, ob ich nicht etwas zum Thema finde, das mir geeigneter erscheint für die Fleißarbeit als eben das, was das Internet mir zu bieten hätte. Die Bücher hier sind zwar nicht direkt staubig, aber dennoch durch das Betatschen unzähliger Finger leicht dreckig, und einige Regale weisen große Lücken auf, weil mal wieder Inventur gemacht wird und die Exemplare, die nicht so häufig ausgeliehen werden, jetzt eben ins Lager kommen. Ich sehe mich weiter um und entdecke bei den Lebenshilfebüchern eines von einem Aidskranken. Im Gegensatz zu den anderen Büchern sieht dieses noch neu aus, wohl weil keiner das anfassen möchte in der Angst, dann selber damit angesteckt zu werden, denn nur Aidskranke nehmen solche Bücher in die Hand, und wenn so einer dann aufs Papier schwitzt, dann ist das ein einziger Krankheitsherd und so weiter. Ich sehe auf die Rückseite und könnte eigentlich schreien, denn der Text dort informiert mich darüber, dass das Buch eben nicht von Schwulen oder Fixern handelt, sondern von jemand ganz normalen, der durch einen bösen Zufall Aids bekam ... aber der Anfang des Satzes impliziert eben, dass normalerweise nur Schwule und Fixer so was bekommen könnten, und auch wenn der Klappentext nicht vom Autor verfasst worden sein mag, musste er ihn dennoch absegnen (denke ich mir mal), und darum hat er als „Normaler“ es selber als richtig empfunden, dass hier unterstellt wird, dass Aids eigentlich eine Schwulen- und Fixerkrankheit ist, die aber auch „Normale“ infizieren könnte. Verdammt nochmal, Schwulsein ist nicht dasselbe wie ein Fixer zu sein! Nur weil man schwul ist, rammt man sich keine Nadel in den Arm, und ein Fixer, nun gut, da kenne ich mich nicht so mit aus, eigentlich gar nicht, aber ich bin mir sicher, dass nicht alle Fixer schwul sind, oder sonst wie homosexuell, also ist die Gleichsetzung eine ziemliche Frechheit!