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Kai denkt sich nichts weiter dabei, als er von seinem ehemaligen Freund Thomas einen seltsamen Anruf erhält und dieser ihn darum bittet, in seiner Wohnung etwas herauszuholen und zu verstecken. Auch die folgende SMS kümmert ihn nicht wirklich, aber bereits am nächsten Tag muss er erkennen, dass Thomas anscheinend in eine Sache reingeraten ist, wegen der man ihn verfolgt. Wegen des Anrufs gerät nun auch Kai selber in Bedrängnis und wird bei seiner Arbeit von einem Unbekannten bedroht. Weil er nicht zur Polizei gehen will aber dennoch spürt, dass er in eine ziemlich unschöne Sache verwickelt wurde, wendet er sich an seinen Freund Benedikt, der zwar sehr klug ist, aber auch überaus eigenwillig. Dennoch zögert Ben nicht, wenn es darum geht zu helfen. Gemeinsam wollen sie als erstes Thomas überprüfen. Als sie zu seiner Wohnung gehen, müssen sie feststellen, dass der ehemalige Freund anscheinend spurlos verschwunden ist, und ein gewaltbereiter Kerl wartet bereits auf sie. Nur durch das vorausschauende Handeln von Ben gelingt es ihnen, aus der Wohnung zu entkommen. Sie überprüfen weitere Hintergründe und entdecken, dass Thomas nicht länger der zu sein scheint, als der Kai ihn in Erinnerung hatte. Auch Karsten, der jetzige Freund von Thomas, kommt zu Kai und will ihn wegen dem Anruf und vor allem der SMS ausfragen, obwohl diese für Kai keinen Sinn ergibt. Selbst Karsten kann sich darauf keinen Reim machen. Was mit einem Anruf und einer als nicht weiter wichtig erscheinenden SMS begann, weitet sich nach und nach immer weiter aus. Benedikt hilft seinem Freund so gut er kann, und aufgrund seines Genies hat er womöglich die Zusammenhänge bereits längst erkannt und den Fall gelöst, denn man muss nur gründlich genug gucken und genau zuhören, damit einem die Welt offen liegt. Egal wie sehr die Leute auch lügen und versuchen die Wirklichkeit an ihre Vorstellungen anzupassen – die Wahrheit kommt irgendwann immer heraus.
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Seitenzahl: 370
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Christian Kurz
Eine wilde Woche
Von Christian Kurz bisher erschienen:
Allein unter seinesgleichen ISBN, print: 978-3-86361-564
Hasch mich, ISBN print: 978-3-86361-567-3
Regenbogenträumer, ISBN print: 978-3-86361-491-1
Samt sei meine Seele, ISBN print: 978-3-86361-617-5
Die Welt zwischen uns, ISBN print: 978-3-86361-614-4
Fremde Heimat, ISBN 978-3-86361-650-2
Augen voller Sterne, ISBN 978-3-86361-672-4
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Himmelstürmer Verlag, part of Production House, Hamburg
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Originalausgabe, August 2018
© Production House GmbH
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.
Zuwiderhandeln wird strafrechtlich verfolgt
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage
Cover: 123rf.com
Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
ISBN print 978-3-86361-723-3
ISBN e-pub 978-3-86361-724-0
ISBN pdf 978-3-86361-725-7
Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt.
Mit steigender Ungeduld wartete Kai Decker vor dem Kino, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Immerhin hatte er den hübschen Volker, mit dem er bislang nur über eine Dating-App geschrieben hatte, noch gar nicht richtig von Angesicht zu Angesicht kennengelernt, weshalb er sich ihm gegenüber nicht gleich als ungeduldig und damit problematisch präsentieren wollte. Er bemühte sich deshalb, einen guten Eindruck zu machen. Alles, was er über den Hübschen wusste, war das, was sie sich gegenseitig geschrieben hatten, und anhand dessen machte sich in Kai eigentlich ein gutes Gefühl breit, dass er endlich, nach langer Zeit, wieder jemanden finden würde, mit dem es nicht gleich nach ein paar Tagen bereits vorbei wäre.
Der letzte, bei dem die Liebe länger gehalten hatte, war Benedikt gewesen, und der war zwar sehr lieb und extrem schlau, aber dennoch wollte Kai ungern zu ihm zurück. Ben war einfach eine ungestüme Naturgewalt, der mit seinem Verstand und seinem teilweise ungezügelten Verhalten nicht gerade dazu geeignet schien, dass man sich mit ihm an der Seite in der Öffentlichkeit präsentieren könnte. Kai hatte versucht es zu ignorieren, aber irgendwann war es ihm dann doch zu viel geworden, und er hatte sich von ihm getrennt. Nach Ben war dann Steffen gekommen, und der war ein ungehobelter Klotz gewesen, an den man besser keinen Gedanken verschwenden sollte. Auch Nico war ein Vollidiot, genauso wie Mike, Dirk und vor allem Thomas, weil letzterer sich nach einiger Zeit als verkappter Nazi herausstellte, und mit solchen Leuten wollte Kai einfach nichts zu tun haben. Dennoch dachte er mit einer gewissen Sehnsucht an die Zeit mit Thomas zurück, denn bevor er mitbekommen hatte, dass dieser sich ziemlich stark mit Hitler und dessen Ansichten identifizierte, war der große Schlanke eigentlich ein ganz süßer Fratz gewesen. Zwar nicht ganz so intelligent wie Ben, aber dennoch sehr schnell im Lösen von Rätselheftchen, aber eben leider auch in Fragen der aktuellen Politik, auch wenn diese Lösungen bei Thomas grundsätzlich immer nur mit Genozid zu tun hatten.
Er blickte sich vor dem Kino um, konnte den hübschen Volker allerdings noch nicht erspähen. Er hoffte sehr, dass die Gefühle, die bereits jetzt allein durch die Telefongespräche bestanden, nicht durch die tatsächliche Begegnung mit ihm ruiniert würden. Sie hatten zunächst längere Zeit gechattet und dann nach kurzer Zeit bereits ihre Telefonnummern ausgetauscht, und über zärtliche Worte und auch einige derbe Witze waren sie sich zumindest auf diese Weise bereits sehr schnell nahegekommen. Kai hatte sich bereits mehrmals zum Bild befriedigt, das Volker ihm geschickt hatte, und jedes Mal hoffte er, dass es noch viel, viel schöner werden würde, wenn sie sich endlich treffen konnten. Der Hübsche sah wirklich zum Anbeißen aus – ein süßes Lächeln, ein traumhafter Oberkörper, einfach ein Gott unter Menschen.
Die Bereitschaft zu einer Begegnung war zwar bei beiden durchaus von vornherein vorhanden gewesen, aber Volker musste viel in der Firma vom stadtbekannten Bonzen Thegwart arbeiten, weshalb es bislang nie klappte. Bei Thegwarts wollte die ganze Stadt arbeiten, also durfte man es sich dort nicht durch eine schleifende Arbeitsmoral verscherzen, wenn man es einmal geschafft hatte und dort angestellt war. Nun aber hatten sie sich zu einem Filmabend verabredet, und erstaunlicherweise schien sich der Termin mit Volkers Arbeitszeiten zu vereinbaren. Kai hatte ihm die Wahl gelassen zwischen einem aktuellen Hollywood-Blockbuster, einer deutschen Komödie oder einem alten Klassiker, der in einem Programmkino aufgeführt wurde. Zu seiner stillen Begeisterung hatte Volker sich für den Klassiker entschieden – ein Hinweis für Kai, dass ihre Geschmäcker wirklich zusammenpassten, denn auf den Blockbuster hatte er selber keine Lust, und deutsche Komödien waren für ihn immer zu harmlos, bißlos und allzu albern, ohne wirklich witzig zu sein, weswegen er gut darauf verzichten konnte.
Er überlegte, sein Handy rauszuholen und Volker eine Nachricht zu schicken, hielt sich allerdings davon ab, weil er nicht als ungeduldig erscheinen wollte. Schließlich war nichts schlimmer, als wenn man sich gleich von vornherein als Klammeräffchen aufführte. Dennoch wollte er überprüfen, wie spät es war, denn er hatte keine Lust, erst in den Klassiker zu gehen, wenn der Film bereits angefangen hatte. Der Streifen fing um 22 Uhr 30 an, und auch wenn Kai erst um 21 Uhr 55 zum Kino gekommen war, so hatte er dennoch das Gefühl, bereits seit zwei Stunden zu warten, auch wenn das nur der Vorfreude und der damit verbundenen Ungeduld zuzuschreiben war. Nach längerem Zögern griff er dann doch in seine Hosentasche und holte das Handy heraus, als er in der Ferne jemanden näherkommen sah. Blitzschnell ließ er das Handy wieder in der Tasche verschwinden, nur um sodann zu bemerken, dass es sich um eine Frau handelte, die ihn erspähte und sodann einen Gesichtsausdruck bekam, der deutlich machte, dass sie hoffte, dass er sie nicht anbaggerte oder schlimmeres mit ihr vorhatte. Er drehte sich weg und holte das Handy wieder hervor – die Frau interessierte ihn nicht, kein Stückchen weit. Er hatte sich noch nie für Frauen interessiert. Das war einfach nicht seine Welt.
Er schaltete das Handy ein und blickte auf die Uhr. 22 Uhr 15. Er behielt das Handy bei sich, ließ die Hand ein wenig sinken und blickte sich wieder um. Hatte Volker ihn etwa versetzt, oder dachte der Hübsche, dass sie sich erst um 22 Uhr 30 treffen sollten und nicht, dass zu dieser Zeit der Film bereits anfing? Kai überlegte, wie er es ihm denn genau gesagt hatte – welche Zeitangabe hatte er ihm gegenüber gemacht? Er war sich sicher, dass er die richtige Uhrzeit genannt hatte, aber natürlich konnte er sich auch irren.
Plötzlich klingelte das Telefon. Er nahm das Gespräch sofort an und ging davon aus, dass es Volker sein musste. „Hey, was ist denn los? Findest du das Kino nicht?“, sagte er scherzhaft, aber dennoch mit hörbarer Vermutung, dass der Hübsche ihn versetzen wollte.
Für einige Sekunden war auf der anderen Seite der Verbindung nur ein Geräusch wie von rennenden Schuhen zu hören, die über Gras liefen. Dann erst erklang ein Flüstern. „Bist du da? Hörst du mich?“
Kai brauchte einige Sekunden, bevor er die Stimme erkannte. „Thomas?“, sagte er verwirrt.
Am anderen Ende trat für einige Sekunden Schweigen ein. „Kai?“, gab er schließlich ebenso perplex von sich. „Bist du das?“
„Ja. Bin ich. Was ist denn los?“, fragte er, als die Verbindung beendet wurde. Er blickte auf das Display und überlegte, ob er zurückrufen sollte, um sicherzustellen, dass auch alles in Ordnung wäre, aber er entschied sich dagegen. Sie waren nicht mehr zusammen, und wahrscheinlich hatte Thomas einfach nur zu viel getrunken, oder er brauchte Geld, oder er war mit seinen Nazi-Kumpels unterwegs und hatte die falsche Nummer gedrückt, die eigentlich gar nicht mehr in seinem Handy gespeichert sein sollte.
Kai behielt das Handy in der Hand und sah sich wieder um – wenn Volker nicht bald auftauchte, würde der Film ohne sie anfangen. Immerhin schien ausgeschlossen, dass sie keinen Platz mehr bekamen, weil nicht so viele Leute in einen Visconti-Film gingen. Er selber hatte den Film bei den ersten drei Malen eher als visualisierte Schlaftablette empfunden, aber Ben war damals ganz vernarrt in den Film gewesen und hatte ihn so oft laufen gelassen, bis sich auch bei Kai irgendwann die Ignoranz zu Toleranz und schließlich zu Akzeptanz wandelte. Und genau dann hatte Ben das Interesse an dem Film verloren und wollte ihn nie wiedersehen. So war das immer bei ihm – er sprang Hals über Kopf in eine Sache hinein und analysierte sie bis in die letzte Faser, und dann wollte er von einer Sekunde auf die andere nichts mehr damit zu tun haben. Das war auch einer der Gründe, warum Kai sich von ihm trennte – er wollte nicht ebenfalls so behandelt werden, und die Wahrscheinlichkeit, dass Ben eines Tages einfach so das Interesse an ihm verlieren und ihn aus seinem Leben rausschmeißen könnte, war ihm einfach viel zu groß, als dass er es riskieren wollte.
Er schüttelte leicht den Kopf und musste über sich selber lächeln – hier stand er nun vor dem Kino und wartete auf Volker, aber alles, woran er denken konnte, war Ben, so als wären alle, die seitdem in sein Leben getreten wären, nichts wert gewesen. Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, klingelte sein Handy erneut. Er sah auf die Nummer – es war wieder Thomas. „Ich freue mich ja, dass du anrufst, aber ...“, fing er an, wurde aber sofort unterbrochen.
„Du musst mir helfen“, flüsterte sein Ex-Liebhaber. „Ich bin in Schwierigkeiten. Verdammt großen Schwierigkeiten. Ich ... ich ...“ Seine Stimme zitterte leicht. Die Worte schienen kurz davor, in ein ängstliches Glucksen umzuschwenken. „Bist du zuhause? Bist du bei dir?“
„Nein, ich ...“
„Verdammt ... verdammte Scheiße ...“
„Was ist denn los?“, wollte Kai wissen.
Schweigen, dann erklang das angespannte Atmen von Thomas. „In meiner Wohnung ... Du kennst das Versteck, ja? Du kannst dich daran erinnern?“
„Das Versteck?“, wunderte er sich. „Was meinst du?“
„Da wo ich meine Joints habe. In dem Kästchen. Das mit dem Nummernschloss. Verdammt, du musst dich doch daran erinnern.“
„Ja, ja doch. Ich erinnere mich. Aber was ist denn los?“
Thomas schwieg wieder für einen Augenblick. Als er weitersprach, war seine Stimme noch leiser als zuvor. „Hol das Kästchen. Geh zu mir nach Hause und hol das Kästchen. Sofort. Hast du verstanden?“
„Meine Güte, was ist denn los? Ist dir die Polizei auf die Schliche gekommen, oder was ist los? Versteckst du dich gerade vor der Polizei?“ Kai stieß etwas angespannte Luft aus. „Du weißt schon, dass die mich dann auch überprüfen werden. Die kontrollieren deine Anrufe, und dann sehen die, dass du mich angerufen hast. Mit so was will ich nichts zu tun haben, das weißt du doch. Du hättest mich gar nicht anrufen dürfen.“
„Hör doch zu, verdammt nochmal ...“
„Nein. Da lasse ich mich nicht mit reinziehen.“ Er beendete das Gespräch von selber. Keine zehn Sekunden später klingelte wieder das Handy, weshalb er es ausschaltete. Er steckte es in seine Hosentasche und drehte sich um, als er einen dicken Kerl vor sich sah.
Der Mann hatte kurze, aber dennoch fettige Haare, einige schlecht rasierte Bartstoppel an der Wange sowie ein schiefes Lächeln, das bräunliche Zähne offenbarte, von denen unten drei fehlten und der Rest auch eher wie Ruinen erschien. „Kai?“, sagte der Dicke erwartungsvoll.
Er wunderte sich und musterte den Unbekannten. „Ja?“
„Ich bin's – Volker. Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe, aber du weißt ja, wie das so ist. Ich muss eben schichten. Da geht das nicht so einfach, dass ich frühzeitig aus der Arbeit gehe. Das würde der alte Thegwart ja sowieso nicht erlauben. Aber egal, komm, der Film fängt gleich an.“ Er ging bereits in Richtung der Tür, um zum Kartenschalter zu gehen.
Kai blieb verwirrt stehen. „Was soll denn der Scheiß?“
Volker drehte sich um. „Was meinst du? Du wolltest doch den Film sehen. Ich kenne den gar nicht, aber wenn du den sehen möchtest ...“
„Das meine ich nicht ...“ Er deutete auf ihn. „Du siehst völlig anders aus ...“
„Was meinst du?“ Volker tat so, als wüsste er nicht, worauf Kai anspielte. „Ach so, das Bild, das ich dir geschickt hatte. Ja, das ist schon etwas älter. Ist doch egal.“
„Etwas älter? Wie alt genau?“ Er musterte ihn gründlicher, was im Neonlicht der Kinoplakatwerbung kein Problem darstellte, auch wenn um sie herum finsterste Nacht herrschte. „Du siehst überhaupt nicht aus wie auf dem Bild. Überhaupt nicht.“ Er kam etwas näher. „Sogar deine Augen sind anders. Das ganze Gesicht ... Du hast mir ein falsches Bild geschickt ...“
Volker rollte mit den Augen. „Ach, Quatsch, das denkst du nur. Das bildest du dir nur ein. Ich habe eben kein aktuelles Bild von mir. Das Bild ist zwei Jahre alt.“
„Zwei Jahre?“
„Ja. Ja, doch. Jetzt komm, wir wollten doch ins Kino.“
Kai schüttelte den Kopf. „Das ist keine zwei Jahre alt. Das bist nicht du.“
„Doch, bin ich.“
„Soll ich dir das Bild zeigen?“ Er holte sein Handy wieder hervor, schaltete es jedoch nicht an, weil er befürchtete, dass Thomas ihn weiterhin anrief. „Soll ich einen Vergleich machen?“
Volker rollte wieder mit den Augen. „Meine Güte, jetzt stell dich doch nicht gleich so an ... Ja, gut, meinetwegen, dann habe ich dir eben ein Bild von jemand anderes geschickt. Na und? Ist doch nichts dabei. Das machen auf der Webseite doch alle.“
„Ich nicht.“
„Ja, meinetwegen, du nicht. Aber alle anderen. Die schicken Bilder von anderen jungen hübschen Männern, oder sie belügen beim Alter oder sonst so was. Aber das ist doch egal. Ich meine ... wir haben uns doch ganz gut unterhalten, nicht wahr? Wir haben lange miteinander geschrieben und telefoniert, und du kannst mir jetzt nicht sagen, dass es da nicht zwischen uns gefunkt hat.“
Kai schüttelte den Kopf. „Das hat damit gar nichts zu tun. Du hast mir ein falsches Bild geschickt. Du hast mich von vornherein angelogen.“
„Meine Güte, das ist doch egal. Habe ich dir eben ein falsches Bild geschickt, na und? Ich habe doch selber gedacht, dass du mir ein falsches von dir geschickt hast. Aber man bewertet einen Menschen doch nicht nach seinem Äußeren, sondern nach dem, wie er innen ist. Und du kannst mir nicht sagen, dass wir uns nicht gut verstanden haben. Das kannst du doch jetzt nicht wegen ein paar Äußerlichkeiten wegwerfen.“
Kai schüttelte wieder den Kopf. „Sag mal, willst du mich gerade verarschen? Du hast mich belogen. Ich habe mich nicht in dich verguckt, sondern in das Bild.“
Volker wurde etwas ungehaltener. „Ach, so einer bist du also, ja? Nur auf Äußerlichkeiten aus. Charakter zählt gar nichts, oder was?“
„Das hat damit nichts zu tun. Du ...“
„Doch, das hat was damit zu tun, das hat sogar alles damit zu tun. Du bist genauso wie die anderen. Immer erst auf lieb und nett machen, aber wenn man sich dann trifft, dann wollen die plötzlich nicht mehr.“
„Wenn du jedem ein falsches Bild von dir schickst, dann darfst du dich auch nicht darüber wundern, wenn jeder angepisst ist, weil du ihn belogen hast“, konterte Kai.
Volker wollte davon nichts hören. „Ja klar doch. Als wäre das meine Schuld. Da kann ich doch nichts dafür, dass ich nicht aussehe wie ein Supermodel. Glaub mir, ich wäre auch gerne so ein zwanzigjähriger schlanker Kerl aus dem Unterhosenkatalog, so ein Kerl mit Bauchmuskeln und Sonnenbräune und perfekten Zähnen. Aber das bin ich leider nicht, und dafür kann ich nichts. Aber ich bin auch kein schlechter Kerl, nur interessiert das niemanden, weil die immer nur einen Blick auf mich werfen und dann gar nicht mit mir sprechen wollen.“
„Du bist eben nicht der Typ für diese Leute – das ist ganz normal. Mir gefallen auch nicht alle Leute, und ich gefalle selber nicht allen. Aber deswegen fängt man doch nicht an zu lügen und falsche Bilder zu verschicken.“
Volker schüttelte nun ebenfalls den Kopf. Es wurde deutlich, dass er schon oft, sehr oft sogar, sich für sein Vorgehen verteidigen musste. „Ich seh doch nicht aus wie der Elefantenmensch, aber trotzdem will keiner was von mir. Einfach weil die auf der App nur einen Blick auf mich werfen und dann gleich weiterschalten. Und genau darum geht es doch – wenn die sich auch nur mal einen Augenblick Zeit nehmen würden, um mich kennenzulernen, dann würden die schon sehen, dass ich ein netter Kerl bin und man mit mir zusammen sein kann. Aber das macht ja keiner. Und warum nicht? Weil es auf solchen Liebesseiten soviel andere Auswahl gibt, weshalb die immer gleich weiterdrücken, so als könnte man einen ganzen Menschen in weniger als einer Sekunde bewerten. Da muss ich doch irgendwie entgegensteuern, damit ich eine Chance habe. Und wenn ich anders eben keine Chance gegen diese Supermodels habe, die jeder als sein Profilbild benützt, ja dann mache ich das eben auch. Das ist doch ganz normal. Kann mir doch keiner erzählen, dass die wirklich alle so durchtrainierte junge schlanke Männer mit niedlichen Stupsnasen und perfekten Lächeln sind – ich habe die jedenfalls hier in der Stadt noch nirgendwo rumlaufen gesehen.“ Er stieß etwas Luft durch die Nase und atmete sodann angespannt ein und aus. „Wir haben uns doch ganz gut unterhalten. Nichts von dem, was ich dir geschrieben oder am Telefon gesagt habe, war gelogen.“
„Bis auf das Bild.“
„Ja. Bis auf das Bild. Na und? Machen doch alle.“
„Ich nicht“, beharrte Kai.
„Ja, du nicht. Aber du siehst immerhin auch gut aus.“ Volker blickte in Richtung der Eingangstür des Kinos. „Was ist nun? Wollen wir den Film noch sehen?“
„Der dürfte mittlerweile angefangen haben ...“
Er zuckte mit der Schulter. „Dann bekommen wir vielleicht Rabatt.“
Kai schüttelte den Kopf. „Versteh mich nicht falsch, aber mir ist für heute die Lust aufs Kino vergangen.“
Volker zog eine Schnute. „Dann vielleicht in eine Kneipe? Damit wir uns etwas aussprechen können ... Ich würde dir auch ein Bier ausgeben ... so als Entschuldigung ...“
„Musst du nicht.“
„Ich möchte aber.“
Kai blickte ihn erneut an. Auf der einen Seite hatte er durchaus Mitleid für ihn, nur würde Volker wohl nie aus seinem Verhalten lernen, wenn er jetzt nachgab, mitging und ihn dadurch für seine Lüge auch noch belohnte. „Ganz ehrlich – ich habe mich gerne mit dir unterhalten. Wirklich. Du bist durchaus ein netter Kerl ... aber man kann eine Freundschaft oder gar Beziehung nicht auf Lügen aufbauen. Das geht einfach nicht.“
„Verstehe ... und da hast du auch Recht, ganz sicher ... aber wir könnten doch jetzt einen Neuanfang machen.“ Er sah ihn treuherzig an. „Sei nicht so ... mir tut es doch leid.“
Kai schüttelte den Kopf. „Nein. Nicht böse sein, aber ... nein.“ Er wartete darauf, dass Volker noch etwas sagte, aber da dieser ihn nur mit einem undefinierbaren Blick regelrecht anstarrte, schüttelte er wieder den Kopf. „Bis dann.“ Er drehte sich um und ging weg. Für einige Meter rechnete er durchaus damit, dass Volker ihm hinterher eilte, am Arm griff und herumriss, aber nichts dergleichen geschah.
Er ging durch die Stadt, in der trotz der späten Abendstunde immer noch relativ viele Leute unterwegs waren, auch wenn es sich bei den meisten um Russen, Türken und bereits angeheiterte Jugendliche handelte. Aufgrund der lautstarken Türken musste er für einen Moment an Thomas denken, aber er hatte nicht vor, sein Handy wieder einzuschalten. Die Sache mit Volker reichte ihm für den Moment, und wenn Thomas wirklich Ärger mit der Polizei hatte, so würde das wegen des Anrufs noch früh genug zu ihm kommen.
Er ging zu seiner Wohnung, trat ein, schloss die Tür und zog die Schuhe sofort aus, bevor er sich auch der Jacke entledigte, die Hose öffnete und ins Schlafzimmer ging. Er holte das Handy aus der Tasche und legte es auf den Nachttisch, dann zog er die Hose und sein Hemd aus und stand nur in der Unterhose vor seinem Bett. Sein Blick schweifte zur Schublade, in welcher sich eine große Tube Gleitgel befand, die er extra neu gekauft hatte, da er hoffte, dass der hübsche Volker vom Bild gleich zu ihm nach Hause kommen und sie sich gegenseitig verwöhnen könnten. Aber daraus wurde ja nun nichts. Der Hübsche auf dem Bild war irgendein Unbekannter, dem er wohl niemals begegnen würde, und Volker, den er nun getroffen hatte, konnte man zwar nicht wirklich als das hässliche Stiefkind von Quasimodo bezeichnen, aber er war einfach nicht sein Typ, und mit Lügnern wollte er sich sowieso nicht abgeben.
Wieder musste er an Thomas denken. Rein aus Neugier schaltete er das Handy wieder ein und sah, dass vier Anrufe in Abwesenheit eingegangen waren, die er sofort aus dem Verlauf löschte. Dann bemerkte er, das Thomas ihm auch eine SMS geschickt hatte. Er haderte mit sich selber, ob er sie angucken oder ungelesen löschen sollte. Nach ungefähr zwanzig Sekunden klickte er sie an und las nur einziges Wort. „Siegheil“ stand zusammengeschrieben auf dem Display. Er zog eine Schnute und löschte die SMS. Selbst wenn Thomas Probleme hatte, musste er wohl immer noch den Nazi raushängen lassen, um damit vermeintliche Stärke zu beweisen.
Er legte das Handy beiseite und setzte sich auf die Bettkante. Er überlegte, was er sagen sollte, wenn die Polizei, die garantiert das Handy von Thomas überprüfte, zu ihm kommen und ihn befragen würde. Relativ schnell entschied er sich dazu, einfach die Wahrheit zu sagen. Er hatte nichts verbrochen, also konnte man ihm auch nichts anhaben.
Er blickte vor sich und überlegte, was er mit dem angebrochenen Abend noch anfangen könnte. Nach ungefähr zehn weiteren verstrichenen Sekunden zog er die Unterhose aus, öffnete die Schublade, holte das Gleitgel heraus, ließ einiges davon auf seinen Penis und den Sack herausflutschen und schloss sodann die Augen, um an den Unbekannten Hübschen vom Bild zu denken, während er sich gleichzeitig verwöhnte. Sein Penis wurde sofort sehr hart und ließ ihn die Enttäuschung des Abends schnell vergessen – wenigstens etwas, worauf man sich verlassen konnte.
Als Kai am nächsten Morgen aufwachte, rechnete er damit, dass es sogleich an der Tür klingeln und die Polizei reingestürmt kommen würde, aber nichts geschah. Er ging aufs Klo, machte sich in der Küche sein Frühstück, putzte sich hinterher die Zähne, zog sich an und setzte sich sodann aufs Bett, um sein Handy zu überprüfen. Er hatte keine weiteren Nachrichten von Thomas erhalten, was ihn eigentlich beruhigen sollte, jedoch eher dafür sorgte, dass sich seine Angst vor der Polizei verstärkte. Hatte Thomas denn keine anderen Freunde, die er damit belästigen konnte? Hatte er denn unbedingt ihn deswegen anrufen müssen? Na ja, dachte Kai und schaltete das Handy wieder aus, solange die Polizei nicht direkt bei der Arbeit auftauchte, war ja noch alles in Ordnung.
Er verließ seine Wohnung und machte sich auf den Weg zu seiner Arbeitsstelle bei einem Sonderpostengeschäft, in welchem es von Haushaltsartikeln über Spielzeug bis hin zu Gartenartikeln und in Kilo-Eimern verpackte Süßigkeiten so ziemlich alles gab, was man der auf Preisgünstigkeit achtenden Kundschaft andrehen konnte. Die Arbeit war mal hart, mal weniger anstrengend, meistens eher langweilig, aber dafür verdiente er genug, und darauf kam es schließlich an, auch wenn er am liebsten eher heute als morgen kündigen und eine andere, bessere Arbeit nehmen würde, aber mangels Angebote musste er eben weiterhin dort verbleiben. Eine Arbeit in der Fabrik von Thegwart wäre zwar ein Traum gewesen, aber daran wollte er nicht mehr denken – die Gefahr, dort zu arbeiten und Volker als Mitarbeiter oder gar Vorgesetzten zu haben, erschien ihm viel zu groß, weshalb er sich diese Überlegung aus dem Kopf schlagen konnte.
Dennoch musste er auf dem Hinweg immer wieder an den Abend zurückdenken, wobei ihm Volker eher ins Gedächtnis sprang als Thomas. Er hätte ihm nicht ein falsches Bild schicken sollen – das gehörte sich einfach nicht. Wie konnte der Dicke denn erwarten, auf so eine Art jemals jemanden für sich zu gewinnen? Sicherlich hatte Volker auch einige wahre Worte gesagt, denn in der digitalen Zeit gab es so betrachtet eine derartige Fülle an „Angeboten“, dass man sich überhaupt nicht um die Gefühle derjenigen kümmerte, die man mit einem Fingerwisch aus seiner Aufmerksamkeit verbannte. Aber das war doch kein neues Phänomen, und vor allem sollte man nicht sich selber hinter falschen Bildern verstecken, um dadurch bei anderen Interesse zu wecken und dann darauf zu hoffen (oder gar zu fordern), dass diese eine solche Vorgehensweise nicht nur billigten, sondern auch verstanden und akzeptierten. Kai musste unwillkürlich leicht seinen Kopf schütteln – Volker mochte in den geschriebenen Nachrichten zwar sein ideales Gegenstück darstellen, aber aufgrund der Profilbildlüge konnte er den verbindenden Worten keinerlei Wichtigkeit zugestehen. Immerhin konnte auch das alles erstunken und gelogen sein wie eben das Bild, unter dem sich Volker präsentierte. Nein, nein, nein – auf so einer Grundlage konnten keine wahren Gefühle entstehen, das war unmöglich. Sollte sich der Dicke noch einmal bei ihm melden, so müsste Kai den Anruf sofort unterdrücken, ohne ranzugehen. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, sein Handy sofort auf diese Funktion einzustellen, aber er unterließ es, einfach weil er selber wissen wollte, ob Volker sich tatsächlich noch einmal meldete oder nicht.
Er kam beim Sonderpostenladen an und ging in den kleinen Umkleideraum, in welchem sein schmaler Spind stand. Während er seine normale Jacke aus- und die schreiend-rote Geschäftsweste anzog, musste er wieder an Thomas denken. Er hatte seit damals, als sie sich trennten, überhaupt keinen Kontakt mehr mit ihm gehabt, und nun rief der ihn einfach so an und forderte irgendetwas wegen dem Kästchen, in welchem er seine Joints versteckte. Was sollte das denn? Thomas musste doch auch andere Freunde haben, denen er auf diese Weise Probleme bereiten könnte. Warum musste er ausgerechnet ihn anrufen? Verdammt, Kai hatte doch noch nicht einmal mehr einen Wohnungsschlüssel von ihm – selbst wenn er sich bereit erklärt hätte, das Kästchen zu holen, so hätte er zuerst die Tür eintreten müssen, und das konnte ja nun wirklich nicht auch noch von ihm gefordert werden. Und was sollte überhaupt der Blödsinn mit der SMS-Nachricht? Nur wegen diesem Nazi-Scheißdreck hatten sie sich doch überhaupt getrennt, da musste Thomas ihn nicht noch daran erinnern, vor allem nicht, wenn es um einen Gefallen ging.
Er schloss den Schrank und hoffte, dass die Polizei nicht hier auftauchen würde. Wenn sie Thomas wegen der Drogen geschnappt hätten, so würde sein ehemaliger Freund ihn zwar nicht zwingend verraten, aber das Handy kannte keine Skrupel – jeder Anruf ließ sich zurückverfolgen. Es wäre also nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei seinen Namen hatte, und dann wären sie hoffentlich so höflich, dass sie nicht mit zwanzig Mann ins Geschäft reingestürmt kamen, ihn zu Boden rangen und dann unverbindlich sagten, dass sie ganz gerne mal mit ihm über seinen drogenverkaufenden Freund Thomas reden wollten, und wenn er nichts zu verbergen hätte, dann müsste er sich ja auch noch nicht einmal einen Anwalt nehmen. So würden die doch vorgehen, daran bestand kein Zweifel, das hatte er schließlich oft genug in Filmen gesehen. Die Polizei gab sich zwar immer als Freund und Helfer, aber in der Realität bedrohten die einen ganz offen und knurrten, dass sie alles Recht der Welt auf ihrer Seite hätten. In dieser Hinsicht war Kai sich sicher, er hatte schließlich genügend Krimis gesehen, als er noch mit Ben zusammen gewesen war und dieser seine Agatha Christie – Sir Arthur Conan Doyle –Phase hatte und innerhalb kürzester Zeit alles in sich aufsaugte, nur um es dann danach wieder langweilig zu finden.
Im weitläufigen Verkaufsraum suchte Kai sodann nach der Filialleiterin Frau Brömmer, die sich bei den Hygieneartikeln aufhielt und mit einem Kartonmesser einen großen, an den Rändern eingedellten Karton mit Zahnpastatuben aufschnitt. Als sie ihn näherkommen sah, hielt sie mit der Bewegung des Messers für einen Moment inne, bevor sie den Karton öffnete. „Morgen. Auch schon da?“
„Guten Morgen. Ich habe noch zwei Minuten“, sagte er freundlich.
„Wer schon da ist, kann auch schon arbeiten“, meinte sie und deutete mit dem Kinn in Richtung der Gartenabteilung. „Wir haben vorhin eine Ladung Mulch-Packungen bekommen. Stapel die alle hin, damit die auch verkauft werden.“
„Wo soll ich die hintun?“
„Wohin wohl? Bei den Gartensachen.“ Sie griff in den geöffneten Karton und holte die Zahnpastatuben unsanft heraus, wobei sie einige quetschte und dadurch regelrecht verbog.
„Das ist mir schon klar“, meinte er. „Aber da ist doch schon alles voll.“
„Das ist mir egal. Dann machst du da eben Platz. Weißt du, wie sehr Mulch stinkt? Das bleibt mir nicht im Lager. Der Geruch geht auf die Lebensmittel über, und auf die Kleidungen, und auf alles andere auch. Dann können wir gar nichts mehr verkaufen, weil alles nach Mulch stinkt. Wer kauft schon Kleidung oder Lakritze, die danach stinkt? Keiner. Also muss das Zeug aus dem Lager raus, und zwar schnell.“ Sie ließ den leeren Karton zu Boden fallen und nahm sich einen anderen zur Hand. „Ich weiß sowieso nicht, warum man uns die Lieferung geschickt hat. Ich habe das nicht angefordert, aber gut, was soll's, Beschweren hilft nicht.“
„Wie viel ist es denn?“
„Zweihundert Säcke.“
Er riss die Augen auf. „Zweihundert Säcke? Das bekomme ich da nie hin.“
„Dann machst du da eben Platz“, wiederholte sie.
„Und wer soll das kaufen? Hier kommt doch keiner vorbei, um Mulch zu kaufen.“
Sie nickte. „Das weiß ich auch. Aber im Lager kann es nicht bleiben. Das stinkt alles voll. Hier wird es auch stinken, aber hier ist mehr Umluft. Da fällt das hoffentlich nicht so sehr auf. Und wenn sich bis Mitte nächster Woche nichts davon verkauft hat, dann mache ich ein Foto und melde es der Geschäftsleitung. Dann kann man den Mulch an eine andere Filiale weiterschicken, weil es sich bei uns nicht verkauft hat.“
Er nickte. „Aber kann man das nicht gleich so machen? Ich meine, wenn es sowieso weitergeschickt werden soll ...“
„Es ist heute morgen geliefert worden. Das kann ich nicht gleich weiterschicken. Das fällt auf. Du machst jetzt bei der Gartenabteilung Platz und räumst die zweihundert Tüten dann da hin. Je schneller der Mulch aus dem Lager ist, desto besser.“
Kai wusste, dass er nicht widersprechen konnte. Dennoch merkte er an. „Dann stinke ich hinterher aber auch danach ...“
Frau Brömmer sah ihn zunächst missmutig, dann verständnisvoll an. „Wenn du es bis zur Mittagspause schaffst, dann lass ich dich heute früher nachhause gehen, damit du dich waschen kannst. Aber das bleibt dann gefälligst unter uns, ja? Und denk nicht, dass ich dich schon vorhergehen lasse, wenn du jetzt extra schnell arbeitest.“ Sie ließ das Messer in den Karton schnellen, woraufhin an der Klinge ein Schwall weißer Paste heraus geschossen kam, da sie durch zwei Zahnpastatuben geschnitten hatte. „Verdammter Mist ...“, murrte sie und sah zu Kai. „Na, was ist? Von alleine bewegt sich der Mulch nicht.“
Er nickte und machte sich sodann an die Arbeit. Zunächst musste er für Platz bei der Gartenabteilung sorgen, was bereits etwas Geschick erforderte, denn er konnte die Gerätschaften nicht einfach so übereinanderstapeln, und an die Regale anlehnen gestaltete sich ebenfalls als schwierig. Schließlich musste die Kundschaft an die darin befindliche Ware gelangen. Er schaffte es dennoch für etwas Platz zu sorgen – es war nicht allzu viel, aber es musste reichen. So groß würden die Mulchtüten schließlich schon nicht sein.
Er begab sich ins Lager und hatte bereits beim Betreten einen seltsamen, matten Geruch in der Nase, der sich mit jedem weiteren Schritt intensivierte. Als er vor der Masse an Mulchtüten ankam, war der Gestank beinahe so stark, dass ihm übel wurde. Er war diesen Geruch einfach nicht gewöhnt, und beim Gedanken, diesen einschüchternden Berg an Tüten nun in den Verkaufsraum zu schleppen, wurde ihm leicht schummrig zumute. Er müsste sich später gründlich waschen, um den Gestank von sich zu bekommen – nicht auszudenken, wenn er sich mit jemanden treffen und weiterhin dermaßen widerlich stinken würde.
Er suchte nach einem Schubkarren und begann damit, mehrere Tüten drauf zu packen, um diese sodann bei der freigemachten Stelle in der Gartenabteilung aufzubauen. Es war reinste Sisyphusarbeit – niemand würde auch nur eine Tüte kaufen, und es stand außer Frage, wer nächste Woche den ganzen stinkenden Mulch wieder zurück ins Lager bringen musste. Am liebsten hätte er jetzt sofort auf der Stelle gekündigt, aber das war keine Option, also musste er stillschweigend seine Arbeit erledigen.
Nachdem er ungefähr die Hälfte der wuchtigen Tüten herübergebracht hatte, kam ein Mann auf ihn zu. Der Mann hatte kurze, blonde Haare und trug eine rote Weste, wodurch es für einen Augenblick den Anschein besaß, dass er zum Personal gehörte, aber seiner Weste fehlte der Geschäftsaufdruck. „Entschuldigen Sie“, sagte der Mann.
„Mmh? Was gibt’s denn?“, sagte Kai beiläufig und bemerkte dann erst, dass auf der Weste kein Aufdruck war, sein Gegenüber also kein neuer Mitarbeiter sein konnte. „Oh, entschuldigen Sie bitte – ich dachte gerade wegen der Weste ...“
Der Mann lächelte nicht, aber er wirkte auch nicht unnahbar. „Das ist mir auch schon aufgefallen. Ich würde Sie gerne etwas fragen, wenn ich darf.“
„Fragen Sie. Wenn ich helfen kann, dann helfe ich.“
„Verdienen Sie viel?“, wollte der Mann unverblümt wissen.
Kai wunderte sich. „Möchten Sie etwa hier anfangen? Dann gehen Sie am besten zu Frau Brömmer. Sie ist die Filialleiterin.“
„Ich frage Sie – verdienen Sie viel?“, sagte der Mann und wirkte irgendwie seltsam.
Kais Misstrauen wurde geweckt. „Nun, ich verdiene angemessen. Aber wenn Sie wissen wollen, wie das hier mit dem Gehalt und so weiter ist, dann müssen Sie schon Frau Brömmer selber fragen. Ich darf da gar nichts sagen.“
„So?“
„Ja. In Gehaltfragen wenden Sie sich bitte an Frau Brömmer. Ich kann Sie auch zu ihr hinbringen, wenn Sie möchten.“
Der Mann fixierte ihn. „Haben Sie in letzter Zeit Schulden gemacht?“
Kai musste blinzeln. „Bitte was? Worum geht es hier gerade?“
„Darum, dass Sie meine Fragen beantworten. Verdienen Sie genug? Haben Sie in letzter Zeit Schulden gemacht? Benötigen Sie mehr Geld?“
Er war perplex und musste leicht nervös lächeln. War der Mann vor ihm etwa ein Zivilpolizist, der ihm nun dumme Fragen stellte und auf diese Weise herausfinden sollte, ob er mit Thomas gemeinsame Sache machte? Nein, Blödsinn, so ging die Polizei doch nicht vor ... es sei denn, es handelte sich um die Drogenfahndung. Die würden so etwas wahrscheinlich schon machen. War Thomas etwa in Drogenkartell-Geschäfte verwickelt? Nein, Unsinn, das konnte er ihm nicht zutrauen, und selbst wenn, was hatte das denn dann bitteschön mit ihm zu tun? Womöglich gab es hierfür auch eine ganz einfache Erklärung. „Sind Sie von der Konkurrenz? Wollen Sie mich etwa abwerben?“, lächelte Kai immer noch nervös. „Oder sind Sie vom WKD?“
„WKD?“, hakte der Mann nach.
„Ja. Wirtschaftskontrolldienst. Warum sollten Sie mich sonst fragen, ob ich genug verdiene?“
Der Mann antwortete nichts.
„Worum geht es hier?“, wollte Kai nochmal wissen. „Wenn Sie wissen wollen, wie viel man hier verdient, dann gehen Sie bitte zu Frau Brömmer. Sie ist die Filialleiterin und wird Ihnen gerne Auskunft geben.“
Der Mann musterte ihn für einen Moment, dann drehte er sich ohne ein Wort zu sagen um und ging zu der Kasse, um danach den Laden zu verlassen.
Kai sah ihm nach und wusste nicht, was er von der Begegnung halten sollte. Er ging ins Lager zurück und machte mit seiner Arbeit weiter, aber in seinem Kopf rasten die wildesten Gedanken. War der Kerl von der Polizei? Oder ein Drogenfahnder? Oder doch vom WKD? Oder einfach nur ein blöder Vollidiot, der sich einen Spaß daraus machte, sich derartig aufzuführen? Womöglich steckte auch Volker dahinter – auf diese Weise könnte er sich wegen der Ablehnung rächen und ... nein, dachte Kai weiter, das stand eigentlich nicht zur Überlegung. Volker hatte zwar gelogen, aber er würde nicht jemanden vorbeischicken, um sich so aufzuführen. Das hätte doch auch keinen Sinn ergeben.
Während er weiter überlegte, griff er die Tüten und legte sie wuchtig auf den Rollwagen. Eine der Tüten platzte auf und ließ den stinkenden Mulch herausfallen. „Verdammt“, entfuhr es ihm, „muss das auch noch sein?“ Er zog seinen Fuß weg und wischte mit der rechten Hand so gut es ging darüber, um den darauf befindlichen Mulch wegzubekommen. Er nahm die kaputte Tüte vom Rollwagen und brachte die anderen in den Verkaufsraum, um anschließend den auf dem Boden befindlichen Mulch im Lager mithilfe einer Kehrschippe aufzuwischen. Die kaputte Tüte verschloss er so gut es ging, stellte sie an die Wand und machte mit dem Rest weiter. Es dauerte, bis die Arbeit endlich erledigt war.
Er sah auf den Haufen, den er aufgestapelt hatte, dann blickte er an sich runter. Seine Kleidung war dreckig, er selber verschwitzt, und auch wenn der Geruch zweifelsohne von den Mulchtüten vor ihm kommen mochte, so stand außer Frage, dass auch er selber ziemlich stank. Er ging zu Frau Brömmer, die immer noch in der Hygieneabteilung beschäftigt war. „Alle Tüten hingeräumt“, sagte er knapp und zeigte auf sich.
Sie verzog das Gesicht. „Das rieche ich ... Puuuuh“, machte sie und nickte sodann. „Ja, da muss ich dich auf jeden Fall nach Hause schicken. So kannst du hier heute nicht weiterarbeiten.“
„Ja.“ Er zeigte auf seine Weste. „Die nehme ich am besten mit und wasche die auch.“
„Ja, mach das mal. Und danke. Keine Sorge, du wirst für heute vollbezahlt.“
„Danke ... aber ich muss noch etwas Schlechtes sagen ...“
„So?“
„Ja ... eine der Tüten ist aufgeplatzt ...“
„Oh. Hier?“
„Nein“, er deutete nach hinten, „im Lager. Ich habe es schon aufgewischt, aber ... die Tüte ist kaputt.“
Sie nickte. „Egal. Das kann passieren. Mach dir deswegen keine Gedanken. Das stelle ich dir nicht in Rechnung.“
„Danke“, sagte er freundlich und ging zurück in den Umkleideraum, wo er sich erst einmal so gut es ging die Hände säuberte. Dann öffnete er seinen Spind und überlegte, ob er seine Jacke anziehen sollte, aber er entschied sich dagegen – dann müsste er sie auch noch waschen. Stattdessen ließ er die Weste an und ging mit seiner Jacke in der Hand aus dem Laden heraus.
Auf dem Weg zu seiner Wohnung fiel ihm durchaus auf, dass einige Leute die Nase rümpften, sobald sie in seine Nähe kamen, aber das war ihm egal. Er hatte gearbeitet, und so roch ein arbeitender Mensch nun einmal, wenn die Arbeit etwas mit Mulch zu tun hatte. Überhaupt achtete er ansonsten sehr auf sein Äußeres, da konnte er auch einmal stinken.
Auf der Hälfte des Weges hatte er plötzlich das Gefühl, dass ihn jemand verfolgte. Er blieb stehen und sah sich um, wobei er so tat, als hätte er etwas vergessen und überlegte nun, den Weg wieder zurückzugehen. Er ließ seine Augen wachsam herumirren, konnte aber niemanden sehen, der ihm verdächtig vorkam. Er ging weiter und musste zunächst wieder an Thomas denken, dann an den Unbekannten. Vielleicht war der fremde Mann ja gar kein Polizist, sondern jemand von einer Bande, an die Thomas seine Drogen verkaufte. Das wäre doch möglich. Das würde auch die seltsamen Fragen erklären, weil der Mann eben wissen wollte, ob Kai Geld nötig hätte, weswegen er und Thomas ... ja, weswegen er und Thomas was genau gemacht hatten? Das wusste Kai nicht. Alles, was er mit Sicherheit wusste, war, dass Thomas ihn zum ersten Mal seit ihrer Trennung angerufen hatte und ihm etwas wegen dem Kästchen gesagt hatte, und dass sein Ex-Freund ihm später noch eine dumme SMS schickte – alles weitere war Spekulation und damit eigentlich nicht der Rede wert.
Er überlegte, ob er Thomas nicht doch zurückrufen sollte, um auf diese Weise in Erfahrung zu bringen, ob alles in Ordnung sei oder worum es eigentlich genau ging. Aber wenn er ihn anrief und tatsächlich die Polizei oder Drogenbanden darin verwickelt wären, dann würde der Anruf ziemlich belastend erscheinen. Am besten wäre es wohl, die Sache einfach zu ignorieren, aber auch das konnte verheerende Folgen haben – wenn es sinnbildlich nach Rauch roch, musste man der Angelegenheit nachgehen und nicht die Augen verschließen in der Hoffnung, dass ein mögliches Feuer einen gnädigerweise übersah. Er musste also herausfinden, was eigentlich vor sich ging, und dafür brauchte er eine gute Vorgehensweise. Aber was sollte er tun?
Er kam zuhause an und sah in den Briefkasten, in welchem sich nur Werbung befand. In seiner Wohnung angekommen, begab er sich sofort ins Badezimmer, entledigte sich seiner Klamotten und legte die Arbeitsweste ins Waschbecken, um sie später per Hand zu waschen, damit sie bis morgen trocken wäre. Hose, Shirt und dergleichen musste er auch waschen, aber das konnte er mithilfe der Maschine erledigen. Er ging unter die Dusche und ließ das warme Wasser auf seinen Körper prasseln. Er säuberte zunächst seine Fingernägel, bevor er sich über den Rest des Körpers streifte, damit nicht aus Versehen ein Krümelchen Mulch an seinen Schritt kam – dieser Gestank hatte nichts an ihm zu suchen, und an dieser Stelle erst recht nicht.
Nachdem er sich gesäubert und abgetrocknet hatte, reinigte er im Waschbecken die Weste, die er sodann über den Duschkopf hängte, bevor er in sein Schlafzimmer ging und sich frische Kleidung anzog. Währenddessen kam ihm eine Idee, was er tun könnte, um in Erfahrung zu bringen, was es mit dem seltsamen Anruf von Thomas auf sich hatte. Er suchte ein Buch heraus, das ihm sein Ex geschenkt hatte – mit diesem würde er zu dessen Wohnung gehen und, falls Thomas da wäre, so tun, als würde er ihm das Buch zurückgeben, wobei er ihn gleichzeitig fragen konnte, ob alles in Ordnung sei. Falls anstelle von seinem ehemaligen Geliebten ein Polizist oder jemand anderes die Tür öffnete, dann könnte er immer noch sagen, dass er nur vorbeigekommen wäre, weil er Thomas das Buch zurückgeben wollte. Es schien wie ein guter Plan.
Mit dem Buch in einer Tragetasche ging Kai durch die Stadt zur Wohnung von Thomas. Er wusste nicht, ob dieser überhaupt noch dort wohnte, aber er riskierte es einfach. Auf dem Weg dachte er an die Zeit mit ihm zurück – er hatte Thomas über das gleiche Online-Dating-Portal kennengelernt wie nun auch Volker, aber im Gegensatz zu diesem war Thomas eigentlich ein sehr ehrlicher, netter Mensch gewesen. Jedenfalls war er das bis zu einem gewissen Grad, denn auch wenn er nie direkt gelogen hatte, so waren seine politischen Ansichten, aus denen er nie wirklich einen Hehl machte, dann doch etwas zu extrem ausgeprägt, als das Kai sich auch nur ansatzweise vorstellen konnte, sich damit jemals anzufreunden.
Er wusste noch ganz genau, wie es dazu kam, dass sie sich trotz des Näherkommens wieder voneinander entfernten. Es war an einem eigentlich schönen Abend gewesen – sie hatten sich gut amüsiert, zunächst in der Stadt, dann im Bett. Thomas hatte einen ziemlichen Trieb, und trotz seiner Herrenmenschenattitüde, die er mit sich herumtrug, machte es ihm nichts aus, unten zu liegen. Kai hatte ihn verwöhnt, und Thomas hatte seinen Harten dann ebenfalls zu schönen Zwecken verwendet. Kai wusste noch ganz genau, wie das Sperma in sein Gesicht spritzte und Thomas sich sofort zu ihm beugte und es ihm wie ein Hund ableckte, was beide zum Lachen brachte.
Dann aber, als sie zusammengekuschelt im Bett lagen, musste einer von beiden den Fernseher anmachen. Kai konnte sich nicht daran erinnern, wer von ihnen es gewesen war, aber er verfluchte den Augenblick, weil der Nachrichtensprecher in seiner kalten Art darüber sprach, dass schon wieder Nazis Flüchtlinge angegriffen hätten.
„Was regt der sich deswegen so auf?“, hatte Thomas gesagt. „So was gehört doch gefeiert.“
„Was meinst du? Dass die darüber berichten?“
„Nee, Quatsch. Dass man diesem Flüchtlingspack zeigt, dass die sich hier gefälligst verpissen sollen. Die haben hier nichts verloren. Die kommen hierher, weil sie auf Mitleid machen, aber kaum sind sie hier, vergewaltigen sie die Frauen, schlagen die Kinder und leben nur auf unsere Kosten. Aber wehe, man sagt da etwas. Dann heißt es gleich, dass die ja alle Opfer sind und es darum gar nicht besser wissen können. Und überhaupt sind das doch alles Muselmanen, und wenn man gegen die etwas sagt, dann ist man rassistisch – als ob eine Religion eine Rasse wäre.“
„Ist doch egal“, hatte Kai gesagt und ihm zärtlich über den Bauch gestreichelt, um die Hand dann in Richtung des immer noch halbwegs Harten runtergleiten zu lassen, damit Thomas wieder lieb wurde und den Hass vergaß, aber es brachte nichts.
„Das ist nicht egal. Wegen dieser Menschenaffen wird doch alles kaputtgemacht. Man darf ja noch nicht einmal offen sprechen, ohne dass so ein paar Volksverräter einen dafür öffentlich anprangern und ausgrenzen wollen. Aber wer ist denn dann das Opfer? Doch nur wir Deutschen, die sich nicht scheuen, die Wahrheit auszusprechen. So ein Flüchtling kann Leute vergewaltigen und rumlaufen und schreien, dass wir alle ungläubige Schweine sind, aber er bekommt trotzdem Geld und wird wie ein König behandelt. Sag du als Deutscher aber einmal Halbneger, und schon wirst du behandelt wie ein Monster. Dann grenzen dich alle aus.“
„Halbneger ist ja auch kein schönes Wort ...“