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»Wir brauchen eine Karte, die uns bei unserer Reise zur Liebe den Weg weist – und sie beginnt damit, dass wir wissen, was wir meinen, wenn wir von Liebe reden.« In ihrem provokativen und zutiefst persönlichen Werk entwirft die bekannte Wissenschaftlerin, Kulturkritikerin und Feministin eine neue Ethik für unsere Gesellschaft der Lieblosigkeit – eine polarisierte Gesellschaft, so bell hooks, der es nicht etwa an Romantik mangelt, sondern an Fürsorge, Anteilnahme und Gemeinschaft. An einem Leitbild für die Liebe. Wie können wir die Kluft überwinden, die uns trennt, und unser kulturelles Paradigma ändern, das Liebe in Sehnsucht und Sex erfüllt sieht? Wie können wir wieder echte Anteilnahme lernen und das gemeinschaftliche Leben in unseren Familien, Schulen oder Arbeitsplätzen festigen? Mit scharfem Verstand stellt sich bell hooks der schwierigen Frage, was Liebe bedeutet. Ihre Antworten sind immer bestechend und treffen bis ins Mark. Und am Ende erschließt sich eine neue Sicht auf die Liebe: einer angstbefreiten Liebe, die von sakraler Kraft getragen, erlösend und heilsam ist – nicht nur heilsam für Individuen, sondern für eine ganze, in sich gespaltene Nation. »Ein warmherziger Beweis, dass Liebe möglich ist. New York Times Book Review
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Seitenzahl: 282
Zum Buch
In ihrem provokativen und zutiefst persönlichen Werk entwirft die bekannte Literaturwissenschaftlerin und Feministin bell hooks eine neue Ethik für unsere Gesellschaft, der es nicht etwa an Romantik mangelt, sondern an Fürsorge, Anteilnahme und Gemeinschaft. An einem Leitbild für die Liebe. Wie können wir unser kulturelles Paradigma ändern, das Liebe allein in Sehnsucht nach Zweisamkeit und Sex erfüllt sieht? Wie können wir unsere Familien, Schulen oder Arbeitsplätze festigen? Mit scharfem Verstand stellt sich bell hooks der schwierigen Frage, was Liebe in einer Gesellschaft bedeutet. Ihre Antworten treffen bis ins Mark.
Die Autorin
bell hooks, geboren am 25. September 1952 als Gloria Watkins in Hopkinsville, Kentucky, war eine US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Aktivistin. Seit den 1970er-Jahren zählt sie zu den bedeutendsten Stimmen für Frauen- und Bürgerrechte. Sie unterrichtete u. a. an der Yale Universität und am Oberlin College und lehrte zuletzt als Professorin am Berea College in Kentucky. bell hooks ist der Name ihrer indigenen Großmutter und war ihr Pseudonym. bell hooks starb am 15. Dezember 2021 in Kentucky.
Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem TitelAll About Love bei HarperCollins Publishers, New York.
© 2000 by Gloria Watkins Deutsche Erstausgabe © 2021 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Published by arrangement with William Morrow Paperbacks, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC Covergestaltung von Mumtaz Mustafa, Deborah Kuschel Coverabbildungvon flovie/Depositphotos E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783749951147
www.harpercollins.de
der erste liebesbrief, den ich je schrieb, ging an dich, genau wie ich dieses buch im gespräch mit dir geschrieben habe, anthony, du bist mein innigster zuhörer. ich werde dich immer lieben.
im hohelied salomos steht: »da fand ich, den meine seele liebt. ich hielt ihn und ließ ihn nicht los.« auf das festhalten, auf den erneuten moment der verzückung und der erkenntnis, in dem wir einander so begegnen können, wie wir wirklich sind, ohne list und täuschung, nackt, ohne uns zu schämen.
Als Kind war mir völlig klar, dass ein Leben ohne Liebe nicht lebenswert ist. Ich wünschte, ich könnte sagen, ich wäre zu dieser Erkenntnis aufgrund der Liebe gekommen, die ich in meinem eigenen Leben erfuhr. Doch es war der Mangel an Liebe, der mir ihre Bedeutung aufzeigte. Ich war die erste Tochter meines Vaters. Bei meiner Geburt betrachtete man mich zärtlich und liebevoll, ich wurde umsorgt und man gab mir das Gefühl, auf dieser Welt und in meinem Zuhause willkommen zu sein. Ich kann bis heute nicht sagen, wann mich das Gefühl verließ, geliebt zu werden. Ich weiß nur, dass ich eines Tages kein kostbarer kleiner Schatz mehr war. Diejenigen, die mich ursprünglich geliebt hatten, wandten sich von mir ab. Ihre fehlende Anerkennung und Wertschätzung trafen mich tief. Ich war untröstlich und wie gelähmt.
Kummer und Schmerz überwältigten mich. Ich wusste nicht, was ich falsch gemacht hatte. Und nichts, was ich unternahm, konnte es wiedergutmachen.
Keine andere Bindung konnte die Wunde dieses ersten Verlassenwerdens heilen, der ersten Verbannung aus dem Paradies der Liebe. Über viele Jahre hatte ich keinen festen Halt im Leben, ich war gefangen in der Vergangenheit, unfähig, mich in Richtung Zukunft zu orientieren. Wie jedes verletzte Kind wollte ich einfach nur die Zeit zurückdrehen und wieder in dieses Paradies zurückkehren, zu diesem Moment der Glückseligkeit, als ich mich geliebt fühlte, als ich ein Gefühl der Zugehörigkeit verspürte.
Doch wir können nicht zurück. Das weiß ich heute. Wir können nur vorwärts. Wir können die Liebe finden, nach der sich unser Herz sehnt, aber erst, wenn wir den Kummer über eine Liebe überwunden haben, die wir vor langer Zeit verloren haben, als wir klein waren und keine Stimme hatten, um die Sehnsucht in unserem Herzen in Worte zu fassen. In all den Jahren in meinem Leben, in denen ich dachte, ich würde nach Liebe suchen, hatte ich rückblickend betrachtet versucht, das wiederzubekommen, was ich verloren hatte. Ich wollte in mein erstes Zuhause zurückkehren, zur Glückseligkeit dieser ersten Liebe. Ich war nicht wirklich bereit, in der Gegenwart zu lieben oder geliebt zu werden. Ich trauerte immer noch – klammerte mich an mein gebrochenes Herz, an die zerrissenen Bindungen. Erst als diese Trauer nachließ, war ich wieder bereit zu lieben.
Ich erwachte aus meiner Trance und stellte verblüfft fest, dass die Welt, in der ich lebte, nicht mehr offen für die Liebe war. In meinem Umfeld stieß ich überall auf Belege dafür, dass Lieblosigkeit das Gebot der Stunde war. Ich spüre, wie sich unser Land von der Liebe abwendet, ich spüre das so intensiv, wie ich den Liebesentzug in meiner Kindheit spürte. Doch mit dieser Abkehr von der Liebe riskieren wir eine seelische Verödung und spirituelle Verwirrung, die dafür sorgt, dass wir womöglich nie wieder nach Hause finden werden. Ich schreibe über die Liebe, um auf die Gefahr dieser Entwicklung hinzuweisen und zu einer Rückkehr zur Liebe aufzufordern. Die Liebe kann uns erlösen und wiederherstellen und uns das Versprechen des ewigen Lebens zurückbringen. Wenn wir lieben, können wir unser Herz sprechen lassen.
Gnade: Berührt von der Liebe
Es ist tatsächlich möglich, direkt mit dem Herzen zu sprechen. Die meisten alten Kulturen wissen das. Wir können mit unserem Herzen kommunizieren, als wäre es ein guter Freund. In unserem modernen Leben sind wir so sehr mit alltäglichen Angelegenheiten und Gedanken beschäftigt, dass wir die wesentliche Kunst vergessen haben, uns Zeit zu nehmen und mit unserem Herzen zu kommunizieren.
– Jack Kornfield
In meiner Küche hängen vier Schnappschüsse eines Graffitis, das ich vor Jahren an einer Baustelle auf dem Weg zur Yale University sah, an der ich damals unterrichtete. In leuchtenden Farben stand dort: »Die Suche nach Liebe hält auch großen Widrigkeiten stand.« Meine Beziehung war nach 15 Jahren gerade in die Brüche gegangen, daher wurde ich oft von Kummer überwältigt, der sich anfühlte, als ob eine riesige Welle aus Schmerz mein Herz und meine Seele fortspülen würde. Überwältigt von dem Gefühl, in die Tiefe gezogen zu werden und zu ertrinken, suchte ich ständig nach Halt, um mich über Wasser zu halten und sicher zurück ans Ufer zu kommen. Die Aussage auf der Mauer des Rohbaus, umgeben von wie mit kindlicher Hand gezeichneten, nicht genau identifizierbaren Tieren, hob stets meine Laune. Wenn ich an der Baustelle vorbeikam, gab mir die Botschaft von der Kraft der Liebe, die sich über die ganze Mauer zog, stets Hoffnung.
Die Worte, die ein lokaler Künstler mit seinem Vornamen signiert hatte, sprachen direkt zu meinem Herzen. Bei ihrem Anblick war ich mir sicher, dass der Künstler gerade eine Krise durchmachte und mit einem Verlust kämpfte oder mit der Möglichkeit eines Verlusts. In Gedanken führte ich mit ihm imaginäre Gespräche über die Liebe. Ich sagte ihm, dass seine spielerische Graffitikunst ein Rettungsanker für mich war und mir den Glauben an die Liebe wiedergab. Ich sprach mit ihm darüber, wie seine Botschaft vom Versprechen der Liebe, die nur darauf wartet, gefunden zu werden, mich aus dem Abgrund emporhob, in den ich gestürzt war. Ich empfand eine tiefe, verzweifelte Traurigkeit, ausgelöst durch die Trennung von meinem langjährigen Partner. Doch meine Verzweiflung gründete auch in der Angst, die Liebe würde womöglich gar nicht existieren und könne daher auch nicht gefunden werden. Und selbst wenn sie irgendwo im Verborgenen schlummerte, würde ich sie womöglich mein Leben lang nicht kennenlernen. Es fiel mir schwer, weiterhin an das Versprechen der Liebe zu glauben, wenn überall, wohin ich mich wandte, die Faszination der Macht oder der Schrecken der Angst den Willen zur Liebe überschatteten.
Als ich eines Tages auf dem Weg zur Arbeit war und mich schon auf die Meditation über die Liebe freute, zu der mich der Anblick des Graffitis immer anregte, musste ich entsetzt feststellen, dass die Baufirma die Wand mit weißer Farbe übertüncht hatte, die so grell war, dass man darunter nur noch schemenhaft das ursprüngliche Kunstwerk erkennen konnte. Fassungslos, dass eine Botschaft, die für mich zu einer rituellen Bestätigung für die Gnade der Liebe geworden war, nicht mehr länger da war, um mich täglich zu grüßen, erzählte ich jedem von meiner Enttäuschung. Schließlich wurde mir das Gerücht zugetragen, dass das Graffiti übertüncht worden war, weil es Bezug auf HIV-Infizierte nähme und der Künstler womöglich schwul sei. Vielleicht. Doch es könnte auch gut sein, dass sich die Verantwortlichen, die die Mauer streichen ließen, von diesem öffentlichen Bekenntnis zur Liebe bedroht fühlten – von einer Sehnsucht, die so intensiv ist, dass man ihr nicht nur Ausdruck verleiht, sondern gezielt danach sucht.
Nach langer Suche machte ich den Künstler schließlich ausfindig und konnte mich persönlich mit ihm über die Bedeutung der Liebe unterhalten. Wir sprachen darüber, wie Kunst im öffentlichen Raum ein Vehikel für den Austausch lebensbejahender Gedanken sein kann. Und wir brachten beide unseren Kummer und Ärger darüber zum Ausdruck, dass die Baufirma eine starke Botschaft der Liebe so gefühllos übertüncht hatte. Zur Erinnerung schenkte mir der Künstler einige Schnappschüsse des Graffitis. Seit dieser Begegnung habe ich die Fotos immer über der Spüle in meiner Küche hängen, egal wo ich wohne. So habe ich sie jeden Tag vor Augen, ob ich nun einen Schluck Wasser trinke oder Geschirr aus dem Schrank nehme, und werde daran erinnert, dass wir uns nach Liebe sehnen – dass wir sie suchen –, selbst wenn wir die Hoffnung aufgegeben haben, sie tatsächlich zu finden.
In unserer Kultur wird derzeit kaum noch öffentlich über die Liebe diskutiert. Allenfalls in der Populärkultur ist unsere Sehnsucht nach Liebe ein Thema. Filme, Musik, Zeitschriften und Bücher sind unsere Anlaufstellen, wenn wir unserer Sehnsucht nach Liebe nachgehen wollen. Allerdings ist das nicht der lebensbejahende Diskurs der Sechziger- und Siebzigerjahre, als uns der Leitspruch »All you need is love« vermittelt wurde. Heutzutage sind vor allem Botschaften populär, die uns die Sinnlosigkeit der Liebe verkünden, ihre Irrelevanz. Ein typisches Beispiel für diesen kulturellen Wandel war die enorme Popularität eines Songs von Tina Turner, in dem forsch gefragt wurde »What’s Love Got to Do with It«. Und in einem Interview antwortete mir eine bekannte Rapperin, die mindestens zwanzig Jahre jünger ist als ich, zu meiner großen Bestürzung auf die Frage nach der Rolle der Liebe mit beißendem Sarkasmus: »Liebe, was soll das sein – Liebe ist eine Erfahrung, die ich noch nie in meinem Leben gemacht habe.«
Die Jugendkultur von heute geht zynisch mit der Liebe um. Und dieser Zynismus beruht auf dem umfassenden Gefühl, dass die Liebe nicht zu finden ist. Harold Kushner formuliert diese Sorge in seinem Buch When All You’ve Ever Wanted Isn’t Enough: »Ich fürchte, wir ziehen eine Generation junger Leute groß, die als Erwachsene Angst vor der Liebe haben werden, Angst davor, sich voll und ganz auf einen anderen Menschen einzulassen, weil sie erfahren haben, wie schmerzlich es sein kann, das Risiko der Liebe auf sich zu nehmen, wenn eine Beziehung nicht funktioniert. Ich fürchte, sie werden aufwachsen und nach Intimität ohne Risiko suchen, nach Vergnügen, ohne sich emotional einzubringen. Sie werden so große Angst vor dem Schmerz der Enttäuschung haben, dass sie auf Liebe und Freude verzichten werden.« Junge Menschen sind zynisch, wenn es um Liebe geht. Doch am Ende ist Zynismus die Maske eines enttäuschten und betrogenen Herzens.
Bei meinen Vorträgen über Rassismus und Sexismus reagiert meine Zuhörerschaft, vor allem die jüngere, irritiert oder gereizt, wenn ich über den Stellenwert der Liebe in einer Bewegung für soziale Gerechtigkeit spreche. Dabei haben alle bedeutenden Bewegungen für soziale Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft stets den Wert der Liebesethik betont. Dennoch reagieren junge Leute zurückhaltend, wenn es um die Vorstellung von Liebe als transformative Kraft geht. In ihren Augen ist Liebe etwas für die Naiven, die Schwachen, die hoffnungslosen Romantiker*innen. Ihre Haltung gibt die der Erwachsenen wieder, an die sie sich auf der Suche nach Erklärungen wenden. Als Sprecherin einer desillusionierten Generation erklärt Elizabeth Wurtzel in Bitch – ein Loblied auf gefährliche Frauen: »Niemand von uns wird beim Lieben besser: Unsere Angst wird immer größer. Wir sind dafür nicht richtig ausgerüstet und unsere bisherigen Entscheidungen verstärken nur unser Gefühl, dass es hoffnungslos und nutzlos ist.« Ihre Worte bringen all das zum Ausdruck, was ich bereits von einer älteren Generation über die Liebe gehört habe.
Wenn ich mit meiner Generation über Liebe sprach, stellte ich fest, dass fast alle nervös oder ängstlich reagierten, vor allem wenn ich sagte, dass ich mich nicht genügend geliebt fühle. In Gesprächen mit Freund*innen wurde mir mehrfach geraten, eine Therapie zu machen. Einige Freund*innen hatten wohl einfach genug davon, dass ich immer wieder das Thema Liebe zur Sprache brachte, und dachten, wenn ich zur Therapie ginge, hätten sie Ruhe. Doch die meisten hatten einfach Angst vor dem, was bei einer Beschäftigung mit der Liebe und ihrer Bedeutung in unserem Leben zutage käme.
Wenn eine alleinstehende Frau über vierzig auf das Thema Liebe zu sprechen kommt, wird oft vermutet, sie sehne sich »verzweifelt« nach einem Mann. Diese Annahme gründet in einer sexistischen Denkhaltung. Niemand glaubt, dass sie schlicht ein leidenschaftliches intellektuelles Interesse am Thema hat, niemand denkt, dass sie eine philosophische Frage erörtern will und sich bemüht, die metaphysische Bedeutung der Liebe im Alltag zu verstehen. Nein, sie wird einfach wahrgenommen als eine, die auf dem Weg zu einer »verhängnisvollen Affäre« ist.
Enttäuschung und ein durchdringendes Gefühl der Trostlosigkeit brachten mich dazu, mich eingehender mit der Bedeutung der Liebe in unserer Kultur zu beschäftigen. Meine Sehnsucht nach Liebe bewirkte nicht, dass ich meinen Sinn für Vernunft oder jegliches Augenmaß verlor; ich verspürte einfach den Anreiz, mehr über die Liebe nachzudenken, darüber zu sprechen und populäre und wissenschaftliche Werke zum Thema zu lesen. Bei meiner Lektüre stellte ich überrascht fest, dass die große Mehrheit der besonders »geschätzten« Bücher, die als Referenzwerke gelten, und selbst die so populären Selbsthilferatgeber von Männern verfasst wurden. Mein Leben lang hatte ich geglaubt, Liebe sei ein Thema, über das Frauen mit größerer Intensität und mehr Eifer nachdenken als die männlichen Bewohner unseres Planeten. Das glaube ich immer noch, obwohl dem visionären weiblichen Denken zum Thema bislang noch nicht genügend Wertschätzung entgegengebracht wird, im Gegensatz zum Denken und Schreiben der Männer. Männer theoretisieren über die Liebe, Frauen praktizieren sie. Die meisten Männer haben das Gefühl, Liebe zu empfangen, und wissen daher, wie es sich anfühlt, geliebt zu werden; Frauen haben oft den Eindruck, sich stärker nach Liebe zu sehnen; wir wollen Liebe, doch wir bekommen sie nicht. In Das kleine Buch der großen Liebe, einer Anthologie, die der Philosoph Jacob Needleman zusammengestellt und kommentiert hat, stammen praktisch alle Berichte über die Liebe von Männern. Seine Liste der bedeutenden Beispiele enthält kaum Werke von Frauen. Von meiner Promotion im Fach Literaturwissenschaft kann ich mich nur an eine Dichterin erinnern, die als Hohepriesterin der Liebe gerühmt wurde – Elizabeth Barrett Browning. Allerdings galt sie als zweitklassige Poetin. Dennoch kannten auch meine nicht ganz so belesenen Kommiliton*innen die Anfangszeile ihres bekanntesten Sonetts: »How do I love thee? Let me count the ways?« (»Wie ich dich liebe? Lass mich zählen wie.«) Das war jedoch noch in präfeministischer Zeit. Im Gefolge der heutigen Frauenbewegung wird die griechische Dichterin Sappho nun als weitere Liebesgöttin verehrt.
Sämtliche Kommiliton*innen, die sich während meines Studiums in den Kursen für Kreatives Schreiben an Liebeslyrik versuchten, waren Männer. Tatsächlich hatte mir auch der Partner, den ich nach vielen Jahren verließ, mit einem Liebesgedicht den Hof gemacht. Er war eigentlich emotional zurückhaltend und interessierte sich überhaupt nicht für die Liebe, weder als Gesprächsthema noch als Bestandteil des täglichen Lebens, trotzdem war er davon überzeugt, dass er etwas Essenzielles zum Thema zu sagen hätte. Ich hingegen betrachtete all meine Versuche, in meinem Erwachsenenleben Liebesgedichte zu verfassen, als schnulzig und jämmerlich. Mir fehlten die Worte, wenn ich versuchte, über die Liebe zu schreiben. Meine Gedanken schienen mir sentimental, dumm und oberflächlich. Als Mädchen hingegen schrieb ich Gedichte mit dem gleichen Selbstvertrauen, wie ich es in meinem Erwachsenenleben nur bei männlichen Autoren beobachtete.
In meinen Mädchenjahren, beim Verfassen meiner ersten Gedichte, dachte ich, Liebe sei das einzige Thema, die wichtigste Leidenschaft überhaupt. Tatsächlich trug das erste von mir veröffentlichte Gedicht, das ich mit zwölf verfasst hatte, den Titel »a look at love« (»ein Blick auf die Liebe«). Irgendwann, beim Übergang vom Mädchen zur Frau, wurde mir vermittelt, dass Frauen der Welt nichts Wesentliches über die Liebe zu sagen hätten.
Von da an war der Tod mein bevorzugtes Thema. In meinem Umfeld bezweifelte niemand, weder Professor*innen noch Studierende, dass eine Frau ernsthaft über den Tod und das Sterben schreiben konnte. Und so ging es gleich im ersten Gedicht meines ersten Gedichtbands, in »The woman’s mourning song« (»Trauerlied einer Frau«), um den Verlust eines geliebten Menschen und die Erinnerung, die nicht durch den Tod zerstört werden soll. Betrachtungen über den Tod haben mich schon immer zurück zur Liebe geführt. Bezeichnenderweise begann ich, intensiv über die Bedeutung der Liebe nachzudenken, als ich miterleben musste, wie viele Freund*innen, Wegbegleiter*innen und Bekannte jung und unerwartet verstarben.
Als ich mich der vierzig näherte, wuchs die Angst vor Krebs, die im Leben vieler Frauen so allgegenwärtig ist, dass sie fast schon Routine zu sein scheint. Doch beim Warten auf Laborergebnisse war mein erster Gedanke, dass ich noch nicht bereit war zu sterben, weil ich noch nicht die Liebe gefunden hatte, nach der mein Herz sich sehnte.
Kurz nach dieser Krise erkrankte ich schwer, ja lebensbedrohlich. Angesichts meines möglichen Todes war ich von der Bedeutung der Liebe in meinem Leben und in unserer gegenwärtigen Kultur förmlich besessen. Meine Arbeit als Kulturkritikerin bot mir die Möglichkeit, aufmerksam zu verfolgen, wie die Liebe in den Massenmedien dargestellt wird, vor allem in Filmen und Magazinen. Meistens wird uns vermittelt, dass wir uns alle nach Liebe sehnen, jedoch bei der alltäglichen Umsetzung der Liebe große Verwirrung herrscht. In der Populärkultur ist Liebe immer Stoff der Fantasie. Vielleicht bleibt es deshalb größtenteils Männern überlassen, über die Liebe in der Theorie zu schreiben. Die Fantasie ist überwiegend ihre Domäne, sowohl im Bereich des kulturellen Schaffens als auch im alltäglichen Leben. Die männliche Fantasie wird als etwas betrachtet, das Realität schaffen kann, während die weibliche Fantasie als reine Realitätsflucht gilt. Damit bleibt der Roman das einzige Genre, in dem Frauen mit einem gewissen Maß an Autorität über Liebe sprechen. Wenn sich jedoch Männer dieses Genre zu eigen machen, wird ihre Tätigkeit deutlich stärker belohnt als die schriftstellerische Tätigkeit der Frauen. Ein Buch wie Die Brücken am Fluss ist dafür ein Paradebeispiel. Wenn eine Frau diese sentimentale, seichte Geschichte (die durchaus ihre Qualitäten hat) geschrieben hätte, wäre daraus aller Wahrscheinlichkeit nach kein so großer alle Genregrenzen überwindender Erfolg geworden.
Dabei werden Bücher über die Liebe hauptsächlich von Frauen gelesen. Allein mit männlichem Sexismus lässt sich der Mangel an Büchern über die Liebe, die von Frauen verfasst wurden, nicht erklären. Offensichtlich hören sich Frauen bereitwillig und gern an, was Männer über Liebe zu sagen haben. Weibliches sexistisches Denken verleitet eine Frau möglicherweise zu der Haltung, sie wüsste bereits, was eine andere Frau zum Thema zu sagen hat. Eine solche Leserin hat vermutlich den Eindruck, es sei für sie anregender zu erfahren, was Männer darüber denken.
Früher las ich Bücher über die Liebe, ohne über das Geschlecht des Verfassers oder der Verfasserin nachzudenken. In meinem Bemühen zu verstehen, was gemeint ist, wenn wir von Liebe sprechen, dachte ich nicht groß über den Einfluss nach, den das Geschlecht auf die Perspektive eines Autors oder einer Autorin hat. Erst als ich begann, mich ernsthaft mit dem Thema Liebe auseinanderzusetzen und darüber zu schreiben, überlegte ich, ob Frauen eine andere Herangehensweise haben als Männer.
Bei der Beschäftigung mit der Literatur über Liebe fiel mir auf, dass nur wenige Autoren und Autorinnen über die Auswirkung des Patriarchats sprechen, darüber, wie die Dominanz der Männer über Frauen und Kinder der Liebe im Weg steht. Eins meiner Lieblingsbücher zu diesem Thema ist John Bradshaws Creating Love: The Next Great Stage of Growth. Darin stellt Bradshaw eine Verbindung zwischen männlicher Dominanz (der Institutionalisierung des Patriarchats) und der mangelnden Liebe in Familien her. Bradshaw, der vor allem für seine Arbeit berühmt ist, in der das »innere Kind« im Mittelpunkt steht, ist der Ansicht, dass ein Ende des Patriarchats einen Schritt in Richtung Liebe bedeuten würde. Leider haben seine Gedanken über die Liebe nie die gebührende Aufmerksamkeit und Anerkennung erfahren – im Gegensatz zu den Arbeiten von Männern, die bei ihrem Schreiben über die Liebe sexistisch definierte Geschlechterrollen bestätigen.
Dabei sind tiefgreifende Veränderungen in unserem Denken und Handeln notwendig, wenn wir eine Kultur der Liebe schaffen wollen. Männer, die über die Liebe schreiben, erklären stets, sie hätten Liebe empfangen. Diese Position verleiht ihrer Aussage Autorität. Frauen hingegen sprechen in den meisten Fällen aus einer Position des Mangels, nicht die Liebe erfahren zu haben, nach der wir uns sehnen.
Eine Frau, die über Liebe spricht, wirkt nach wie vor suspekt. Das liegt vielleicht daran, dass das, was eine kluge Frau über die Liebe zu sagen hat, als direkte Bedrohung und Herausforderung für die von Männern angebotenen Visionen wahrgenommen wird. Ich schätze Rumi und Rilke sehr, die Worte dieser männlichen Dichter rühren mein Herz. Männer greifen oft auf die Fantasie zurück, wenn sie über die Liebe schreiben, auf das, was sie sich erträumen, anstatt auf das, was sie konkret wissen. Heute wissen wir, dass Rilke nicht so lebte, wie er schrieb, dass uns viele Worte großer Autoren im Stich lassen, wenn wir uns der Realität stellen. Aber obwohl mich John Grays Werk furchtbar nervt und ärgert, muss ich gestehen, dass ich Männer sind anders. Frauen auch – Männer sind vom Mars, Frauen sind von der Venus immer wieder lese. Ich will wie viele Frauen und Männer mehr über die Bedeutung der Liebe jenseits der Fantasie erfahren – jenseits dessen, was wir uns vorstellen. Ich will die Wahrheiten der Liebe kennen, wie wir sie leben.
Fast alle kürzlich erschienenen und von Männern verfassten populären Ratgeber über die Liebe, von Werken wie Männer sind anders. Frauen auch bis zu John Welwoods Durch Liebe reifen – Partnerschaft als spiritueller Weg, berücksichtigen auch feministische Perspektiven in Bezug auf Geschlechterrollen. Letzten Endes bleiben die Autoren jedoch einem Glaubenssystem verhaftet, das besagt, dass es grundlegende vorgegebene Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt. Dabei zeigen konkrete Belege aus der Forschung, dass sich die Perspektive von Frauen und Männern zwar oft unterscheidet, es sich bei diesen Unterschieden jedoch nicht um angeborene oder »natürliche« Wesenszüge handelt, sondern um erlernte Eigenschaften. Wenn die Vorstellung zutreffen würde, dass Frauen und Männer völlig gegensätzlich sind und ganz unterschiedliche emotionale Universen bewohnen, wären Männer nie zur obersten Autorität beim Thema Liebe avanciert. Wenn man sich an die Geschlechterstereotypen hält, die Frauen Gefühle und emotionale Handlungen zuschreiben und Männern die Vernunft und überlegtes Handeln, würden »echte Männer« davor zurückschrecken, über die Liebe zu schreiben.
Obwohl Männer als »Autoritäten« zum Thema gelten, äußern nur wenige offen, was sie über die Liebe denken. Im alltäglichen Leben sind Männer wie Frauen beim Thema Liebe relativ schweigsam. Unser Schweigen überdeckt unsere Unsicherheit. Wir wollen die Liebe kennen. Doch wir haben schlicht Angst, dass der Wunsch, mehr über die Liebe zu wissen, uns näher an den Abgrund der Lieblosigkeit treibt. Obwohl wir in einem Land leben, in dem die große Mehrheit der Bürger*innen einem Glauben anhängt, der die transformative Kraft der Liebe verkündet, haben viele Menschen das Gefühl, nicht zu wissen, wie man eigentlich liebt. Und praktisch alle durchleben eine Glaubenskrise, wenn es darum geht, biblische Theorien der Liebe im Alltag umzusetzen. Es ist leichter, über Verlust zu sprechen als über Liebe. Es ist einfacher, den Schmerz angesichts fehlender Liebe zu äußern, als das Vorhandensein und die Bedeutung der Liebe in unserem Leben zum Ausdruck zu bringen.
Da uns beigebracht wurde, dass der Verstand, nicht das Herz, der Sitz der Erkenntnis ist, denken viele, sie würden als schwach oder irrational wahrgenommen werden, wenn sie mit emotionaler Intensität über die Liebe sprechen. Und es fällt besonders schwer, über die Liebe zu sprechen, wenn aus dem, was wir sagen, hervorgeht, dass unser Leben stärker von einem Mangel an Liebe geprägt ist als von ihrem Vorhandensein, und dass viele von uns nicht so recht wissen, was wir meinen, wenn wir von Liebe sprechen, und auch nicht sicher sind, wie man sie zum Ausdruck bringt.
Alle wollen mehr über die Liebe erfahren. Wir wollen wissen, was es heißt zu lieben, was wir in unserem alltäglichen Leben tun können, um zu lieben und geliebt zu werden. Wir wollen wissen, wie man diejenigen verführt, die an der Lieblosigkeit festhalten, wie man die Tür zu ihrem Herzen öffnet, damit die Liebe Einzug halten kann. Doch so stark dieser Wunsch auch sein mag, unsere allgemeine kulturelle Verunsicherung hinsichtlich der Liebe bleibt weiterhin bestehen. Wir hören zwar überall, wie wichtig die Liebe ist, erleben aber viel häufiger ihr Versagen. In der Politik, in den Religionen, in unseren Familien und in unserem Liebesleben findet sich kaum ein Hinweis darauf, dass die Liebe Einfluss auf unsere Entscheidungen nimmt, unsere Vorstellungen von Gemeinschaft festigt oder unseren Zusammenhalt stärkt. Doch diese traurige Erkenntnis ändert nichts an unserer Sehnsucht. Wir hoffen nach wie vor, dass sich die Liebe durchsetzen wird. Wir glauben immer noch an das Versprechen der Liebe.
Genau wie mein Lieblingsgraffiti es proklamierte, liegt unsere Hoffnung in der Tatsache, dass so viele von uns weiterhin an die Macht der Liebe glauben. Wir glauben, dass es wichtig ist, die Liebe zu kennen. Wir glauben, dass es wichtig ist, nach den Wahrheiten der Liebe zu suchen. Ich hörte in überwältigend vielen Gesprächen und öffentlichen Diskussionen vom zunehmenden Mangel an Liebe in unserer Kultur und von der Angst, die dieser Mangel in vielen Herzen auslöst. Die Verzagtheit bei der Liebe ist gepaart mit einem gleichgültigen Zynismus, der bereits den Hinweis belächelt, Liebe sei so wichtig wie Arbeit, so unverzichtbar für unser Überleben als Nation wie das Streben nach Erfolg. Erstaunlicherweise herrscht in unserem Land mehr als in vielen anderen Ländern eine Kultur, die von der Suche nach Liebe geprägt ist (die Liebe ist Thema in unseren Filmen, in der Musik und Literatur), obwohl wir so wenig Möglichkeiten haben, die Bedeutung der Liebe zu verstehen oder zu erfahren, wie man die Liebe in Worten und Taten verwirklicht.
Doch unsere Nation wird nicht nur von der Sehnsucht nach Liebe getrieben, sondern auch von sexuellem Verlangen. Es gibt keinen Aspekt der Sexualität, der nicht untersucht, besprochen oder demonstriert wird. Für jede Dimension der Sexualität gibt es Ratgeber und Kurse, selbst für Masturbation. Schulen der Liebe findet man hingegen keine. Wir gehen alle davon aus, instinktiv zu wissen, wie man liebt. Obwohl so unfassbar viel dagegenspricht, erkennen wir immer noch die Familie als die wichtigste Schule der Liebe an. Von denjenigen, die in der Familie nicht gelernt haben zu lieben, erwartet man, dass sie Liebe in ihren Partnerschaften und Beziehungen erfahren. Aber diese Liebe bleibt uns oft versagt. Wir verwenden unser ganzes Leben darauf, den Schaden zu beheben, den Grausamkeit, Vernachlässigung und alle Arten von Lieblosigkeit in der Familie und in unseren Beziehungen, bei denen wir einfach nicht wussten, was wir tun sollten, angerichtet haben.
Nur die Liebe kann die Wunden der Vergangenheit heilen. Doch die Intensität der Verwundung führt oft dazu, dass wir unser Herz verschließen, weshalb wir nicht mehr in der Lage sind, Liebe zu geben oder die uns geschenkte Liebe zu erwidern. Um unser Herz für die Kraft und Gnade der Liebe zu öffnen, müssen wir uns eingestehen, wie wenig wir über die Liebe in der Theorie und Praxis wissen. Wir müssen uns der Verwirrung und Enttäuschung stellen und uns klarmachen, dass vieles, was wir über die Liebe gelernt haben, keinen Sinn ergibt, wenn man es auf unser tägliches Leben anwendet. In Auseinandersetzung mit der Praxis der Liebe im Alltag und im Nachdenken darüber, wie wir lieben und was nötig ist, um eine Kultur zu entwickeln, in der die heilige Gegenwart der Liebe überall zu spüren ist, schrieb ich diese Meditation.
Wie der Titel Alles über Liebe – Neue Sichtweisen verrät, soll es um eine Kultur gehen, in der die Liebe gedeihen kann. Wir alle sehnen uns nach einem Ende der Lieblosigkeit, die in unserer Gesellschaft immer weiter um sich greift. Mein Buch soll einen Weg aufzeigen, wie wir zur Liebe zurückkehren können. Alles über Liebe eröffnet radikale Wege, die Kunst des Liebens neu zu denken, und bietet eine hoffnungsvolle, freudvolle Vision von der transformativen Kraft der Liebe. Es zeigt uns, was wir tun müssen, um wieder zu lieben. Als Ansammlung der Weisheit der Liebe zeigt es uns, was wir tun müssen, um die Barmherzigkeit der Liebe wieder zu spüren.
Alles über Liebe
Klarheit: Die Liebe in Worte fassen
Als Gesellschaft ist uns Liebe peinlich. Wir behandeln die Liebe, als ob sie etwas Obszönes wäre. Wir lassen uns nur zögernd darauf ein. Schon wenn wir das Wort aussprechen, geraten wir ins Stottern und werden rot. Liebe ist das Wichtigste in unserem Leben, eine Leidenschaft, für die wir kämpfen oder sterben würden, dennoch zögern wir, uns mit dem Begriff auseinanderzusetzen. Doch ohne ein geeignetes Vokabular können wir nicht richtig darüber sprechen oder darüber nachdenken.
– Diane Ackerman
Die Männer in meinem Leben gehörten schon immer zu den Menschen, die das Wort »Liebe« nur mit Vorsicht in den Mund nehmen. Sie sind vorsichtig, weil sie glauben, Frauen würden zu viel Aufhebens um die Liebe machen. Und sie wissen, dass das, was wir uns darunter vorstellen, nicht immer das ist, was Liebe ihrer Meinung nach bedeutet. Unsere Verwirrung bei der Verwendung des Wortes »Liebe« ist der Ursprung der Probleme, die wir mit der Liebe haben. Wenn unsere Gesellschaft eine gemeinsame Vorstellung von der Bedeutung der Liebe hätte, wäre das Lieben nicht so verwirrend. Definitionen in Wörterbüchern legen den Schwerpunkt meist auf die romantische Liebe und bezeichnen Liebe in erster Linie als »innige, leidenschaftliche Zuneigung zu einem anderen Menschen, vor allem, wenn diese auf sexueller Anziehung basiert«. Natürlich gibt es noch andere Definitionen, welche die Leserschaft darüber informieren, dass man die beschriebene Zuneigung auch in einem nicht sexuellen Kontext empfinden kann. Dennoch ist tiefe Zuneigung keine ausreichende Beschreibung für die Liebe.
Die Autor*innen der Bücher zum Thema Liebe scheinen größtenteils bestrebt, eine klare Definition zu vermeiden. So erklärt etwa Diane Ackerman in der Einleitung zu ihrem Buch A Natural History of Love: »Liebe ist das große Unfassbare.« Einige Sätze weiter stellt sie fest: »Wir alle räumen gerne ein, dass Liebe wunderbar und notwendig ist, allerdings können wir uns nicht darauf einigen, was Liebe eigentlich ist.« Und ergänzt etwas beschämt: »Wir verwenden das Wort Liebe so beliebig, dass es so gut wie alles oder nichts bedeuten kann.« In ihrem Buch findet sich keine einzige Definition, die dabei helfen könnte, die Kunst des Liebens zu erlernen. Doch Ackerman ist nicht die Einzige, die so über die Liebe schreibt, dass unser Verständnis eher behindert als befördert wird. Wenn bereits die Bedeutung des Wortes mysteriös ist, überrascht es nicht, dass die meisten Menschen Probleme haben, Liebe zu definieren.
Stellen wir uns doch einmal vor, wie viel einfacher die Liebe für uns wäre, wenn wir von einer gemeinsamen Definition ausgehen könnten. »Liebe« wird meist als Substantiv definiert, doch diejenigen, die es mit dem Begriff genauer nehmen, sind der Ansicht, dass wir alle besser lieben würden, wenn wir den Schwerpunkt auf das Verb legen würden. Ich habe jahrelang nach einer sinnvollen Definition gesucht und war sehr erleichtert, als ich endlich eine fand, und zwar in dem klassischen Ratgeber des Psychiaters M. Scott Peck, Der wunderbare Weg –Eine neue Psychologie der Liebe und des spirituellen Wachstums, der bereits 1978 in den USA erschien. Peck greift die Arbeit von Erich Fromm auf und definiert Liebe als »den Willen, das eigene Selbst auszudehnen, um das eigene spirituelle Wachstum oder das eines anderen Menschen zu nähren«. Er erklärt weiter: »Liebe ist das, was Liebe tut. Liebe ist ein Willensakt – nämlich sowohl eine Absicht als auch eine Handlung. Wollen beinhaltet auch eine Wahl. Wir müssen nicht lieben. Wir entscheiden uns zu lieben.« Weil man sich bewusst dafür entscheiden muss, das spirituelle Wachstum zu fördern, bildet diese Definition einen Gegenentwurf zur weitverbreiteten Annahme, wir würden instinktiv lieben. Alle, die das Wachstum eines Kindes vom Moment seiner Geburt an verfolgt haben, wissen, dass Babys auf liebevolle Zuwendung reagieren, noch bevor sie sprechen oder die Identität von Personen erkennen können. Meist reagieren sie mit Geräuschen oder einem freundlichen Gesichtsausdruck. Mit zunehmendem Alter reagieren sie auf liebevolle Zuwendung mit Zuneigung und geben beim Anblick einer Bezugsperson ein freudiges Jauchzen von sich. Doch Zuneigung ist nur ein Aspekt der Liebe. Um wirklich zu lieben, müssen wir lernen, verschiedene Elemente zu kombinieren – Fürsorge, Zuneigung, Anerkennung, Respekt, Hingabe und Vertrauen sowie eine ehrliche und offene Kommunikation. Wenn wir in jungem Alter fehlerhafte Definitionen von Liebe lernen, fällt es uns im späteren Leben schwer zu lieben. Wir starten auf dem richtigen Weg, gehen aber in die falsche Richtung. Die meisten von uns lernen schon früh, Liebe als Gefühl zu betrachten. Wenn wir uns stark zu einer Person hingezogen fühlen, kommt es zur »Kathexis« oder Besetzung, das heißt, wir verknüpfen Empfindungen oder Emotionen mit der oder dem anderen. Dabei investieren wir Energie in einen geliebten Menschen, der uns viel bedeutet. In seinem Buch hebt Peck zu Recht hervor, dass die meisten diese »Besetzung mit Liebe verwechseln«. Wir alle kennen Beispiele, dass eine Person, die sich durch den Vorgang der Kathexis mit einer anderen verbunden fühlt, darauf besteht, diese Person zu lieben, obwohl sie sie verletzt oder vernachlässigt. Aufgrund der Kathexis beharrt man darauf, dass es sich bei diesem Gefühl um Liebe handelt.