Erinnerungen an eine Kindheit - bell hooks - E-Book

Erinnerungen an eine Kindheit E-Book

bell hooks

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Beschreibung

bell hooks, die feministische Intellektuelle und Vordenkerin, präsentiert in den Erinnerungen an ihre Kindheit einen kraftvollen, intimen Bericht über das Aufwachsen in den Südstaaten der 50er-Jahre. Es ist ein intensives Buch über Ideen und Wahrnehmungen. Es zeigt die Entfaltung weiblicher Kreativität und den Weg eines temperamentvollen Kindes, das mehr und mehr zur Schriftstellerin wird.

Schon früh lernt bell hooks, welche Rolle Frauen und Männer in der Gesellschaft zu übernehmen haben und vor allem, wie emotional verletzlich Kinder sind. Sie wirft ein starkes Licht auf eine Gesellschaft, die die Freuden der Ehe für Männer sieht und alles verurteilt, was über das Schweigen von Frauen hinausgeht. Töchter und Väter sind Fremde unter einem Dach, und weinende Kinder bekommen jederzeit neuen Grund zum Weinen. bell hooks findet Trost in der Einsamkeit, gute Gesellschaft in Büchern.

In dem reglosen Körper des Unverständnisses entdeckt sie, dass das Schreiben ihr wichtigster Atemzug ist.

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Seitenzahl: 210

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Bone Black

Erinnerungen an eine Kindheit

bell hooks

Bone Black

Erinnerungenan eineKindheit

bell hooks

Aus dem amerikanischen Englisch von Marion Kraft

An mein bestes „Mädchen“.

Mit Hoffnung für den Jungen, den ich in meinen Armen hielt.

Wenn du denen, die du liebst, sagst, du würdest für sie sterben, ist die Wahrheit hinter diesen Worten vielleicht, dass du nicht dein physisches Leben hingibst, sondern, dass du bereit bist, in der Vergangenheit zu sterben, um in der Gegenwart wiedergeboren zu werden, wo du ganz und frei leben – und uns die Liebe geben kannst, die wir brauchen.

Vorwort

Bone Black. Erinnerungen an eine Kindheit ist keine gewöhnliche Erzählung. Es ist die Geschichte einer rebellischen Kindheit, des Kampfes um das eigene Ich und einer Identität, die sich von der Welt um mich herum unterscheidet und sie gleichermaßen einschließt. In fantasievollem Schreiben versuche ich, die reiche, magische Welt der Schwarzen Kultur des Südens heraufzubeschwören, die manchmal paradiesisch und dann wieder furchterregend war. Das Familienleben, von dem ich erzähle, kann leicht als dysfunktional bezeichnet werden. Doch bedeutsamer ist, dass diese Tatsache nichts an der Magie und dem Mysterium ändert, die allgegenwärtig waren. All dies war zutiefst bestärkend und lebensbejahend. Die Schönheit liegt darin, wie sich alles zusammenfügt und das innere Leben eines Mädchens, das sich selbst erfindet, enthüllt und beschreibt – wie es die Grundlagen seiner Selbstfindung und Identität schafft, die schließlich zur Erfüllung seiner wahren Bestimmung führen: Schriftstellerin zu werden.

Heutzutage schreiben feministische Theoretiker:innen mehr als jemals zuvor über die Bedeutung der Kindheit als eine Zeit, in der sich Mädchen frei und stark fühlen. Unsere Körper unterscheiden sich noch nicht so sehr von denen der Jungen. Und unsere Energien sind genauso intensiv wie ihre, wenn nicht noch ausgeprägter. Zu wenig ist über die Erfahrungen Schwarzer Mädchen in unserer Gesellschaft bekannt. Von allen Büchern ist einer meiner Lieblingsromane Toni Morrisons Sehr blaue Augen. Kurz nach seinem Erscheinen erklärte sie, dass sie den Wunsch hatte, über „die Menschen zu schreiben, die in der Literatur immer nur am Rande vorkamen – kleine Schwarze Mädchen, die Requisiten oder im Hintergrund waren; diese Menschen standen nie im Mittelpunkt, und ich war eine von ihnen“. Ich war noch Teenagerin als ich dieses Buch las. Es hat mich bis ins Innerste aufgewühlt. In dieser fiktionalen Erzählung gab es Fragmente meiner eigenen Geschichte – meiner Kindheit. Ich war schon immer eine besessene Leserin und hatte diesen Mangel gespürt. Zu sehen, dass dieser Abschnitt unseres Lebens ernsthaft gewürdigt wurde, war eine unglaubliche Bestätigung für mich. Nach der Lektüre dieses Buches sollte mein Leben niemals mehr dasselbe sein. Es ging nicht nur darum, dass Morrison Schwarze Mädchen in den Mittelpunkt stellte, sondern dass sie Mädchen für uns erschuf, die sich mit den Widersprüchen von Klasse, Race und Identität auseinandersetzten; Mädchen, die damit kämpften, sich dem Schmerz zu stellen und ihn zu bewältigen. Vor allem schenkte sie uns Schwarze Mädchen, die kritische Denkerinnen waren, ihr Leben analysierten, ihre Geschichte erzählten. So machten sie sich selbst zu Subjekten der Geschichte.

Viele Feminist:innen, die zurzeit über das Leben von Mädchen schreiben und sprechen, gehen davon aus, dass Schwarze Mädchen mehr Selbstachtung haben als weiße. Dies wird oft daran gemessen, dass Schwarze Mädchen selbstbewusster auftreten, mehr reden, sicherer erscheinen. Doch in den Schwarzen Traditionen des Südens wurde und wird es von Mädchen erwartet, dass sie sich gut ausdrücken und würdevoll benehmen. Unsere Eltern und Lehrer:innen haben uns immer dazu angehalten, aufrecht zu gehen und deutlich zu sprechen. Diese Charaktereigenschaften sollten dem Aufstieg der Race dienen. Sie wurden nicht zwangsläufig mit der Entwicklung weiblicher Selbstachtung in Verbindung gebracht. Ein Mädchen, das sich unverblümt äußerte, konnte sich dennoch wertlos fühlen, weil ihre Haut nicht hell genug war oder ihr Haar die falsche Struktur hatte. Dies sind Variablen, die weiße Wissenschaftler:innen oftmals nicht in Betracht ziehen, wenn sie an Schwarze weibliche Selbstachtung einen Maßstab anlegen, der für die Werte weißer Erfahrungswelten entwickelt wurde. Weiße Mädchen aller Klassen werden häufig dazu ermutigt, leise zu sein. Gegenteilige Beobachtungen in anderen ethnischen Gruppen als Zeichen weiblichen Empowerments zu interpretieren, geht an der Realität vorbei. Denn die kulturellen Codes jener Gruppen könnten völlig verschiedene Standards diktieren, an denen weibliche Selbstachtung gemessen wird. Um die Komplexität Schwarzer Mädchenerfahrungen zu verstehen, brauchen wir mehr Arbeiten, die diese Realität in all ihren Variationen und ihrer Diversität dokumentieren. Gewiss formt Klassenzugehörigkeit den Charakter unserer Kindheitserfahrungen. Sicherlich haben Schwarze Mädchen, die in materiell privilegierten Familien leben, andere Vorstellungen von Selbstachtung als diejenigen, die arm und / oder notleidend aufwachsen. Daher ist es notwendig, dass wir etwas über unsere unterschiedlichen Erfahrungen lernen. Es gibt nicht nur eine Geschichte Schwarzer Mädchenjahre.

Ich bin mit fünf Schwestern aufgewachsen und noch immer erstaunt darüber, wie unglaublich unterschiedlich unsere Erfahrungen waren, obwohl wir in demselben Haushalt lebten. Unsere Erinnerungen spiegeln diese Differenzen. Bone Black. Erinnerungen an eine Kindheit ist meine Geschichte. Ein unkonventionelles Memoir, das die Erfahrungen, Träume und Fantasien, die mich als Kind am meisten beschäftigt haben, zusammenfasst. Ich teile meine geheime Welt – die verschiedenen Namen, die ich erdacht habe. (So nenne ich zum Beispiel in meiner Imagination meine Großmutter Saru, weil sich das für mich besser anhörte als ihr richtiger Name, Sarah.) Diese Autobiografie ist Wahrheit und Mythos – ein poetisches Zeugnis. Der rebellische Autor der Beat Generation, Jack Kerouac, hat immer wieder „Erinnerungen als untrennbar von Träumen“ bezeichnet. In Bone Black. Erinnerungen an eine Kindheit versammle ich die Träume, Fantasien und Erfahrungen, die mich als Mädchen am meisten beschäftigt haben. Sie bleiben bei mir und erscheinen immer wieder in unterschiedlicher Gestalt und Form in all meinen Arbeiten. Ohne alles, was geschah, zu erzählen, dokumentieren sie alles, was am lebendigsten geblieben ist. Sie bilden die Grundlage, auf der ich mein Leben schreibend aufgebaut habe, ein Leben, das intellektuellem Streben verpflichtet ist.

Indem es die Voraussetzungen meines frühen Lebens wie einen verrückten Quilt zusammenfügt, verbindet Bone Black. Erinnerungen an eine Kindheit Fragmente zu einem Ganzen. Kleine und große Dinge verbinden sich zufällig und spielerisch auf eine irrationale Art. Und da ist das ständige Bestehen auf der Wiederholung. Denn so arbeiten die Gedanken. Sie betrachten dieselben Dinge immer wieder auf unterschiedliche Weise. Die vorherrschende Perspektive ist immer die des intuitiv und kritisch denkenden Kindes. Manchmal werden Erinnerungen in der dritten Person erzählt, indirekt, so wie wir alle manchmal von Ereignissen berichten. Wir schauen zurück, als seien wir distanzierte Beobachter:innen. Wenn wir das Leben aus der Retrospektive betrachten, sind wir gleichzeitig anwesend und abwesend, Beobachtende und Beobachtete. In ihrem Heraufbeschwören von Stimmungen und der Sensibilität von Momenten ist dies eine Autobiografie der Wahrnehmungen und Ideen. Die beschriebenen Ereignisse sind immer weniger wichtig als die Eindrücke, die sie auf die Gedanken und das Herz hinterlassen.

Das Kind, das ich war, wurde zurückgelassen.

Die mich zuerst geliebt haben, sind ohne mich weitergezogen.

Wo sie waren, ist eine Tür zur Einsamkeit offengeblieben.

Robert Duncan, Ground Work

Unsere Leben könnten weniger von unserer Kindheit bestimmt sein als durch die Art und Weise, wie wir gelernt haben, uns unsere Kindheit vorzustellen.

James Hilman, The Soul’s Code

1

Mama hat mir einen Quilt aus ihrer Aussteuertruhe gegeben. Es ist einer von denen, die ihre Großmutter gemacht hat. Er besteht aus Sternen, jedes Stück stammt von verwaschenen Baumwoll-Sommerkleidern und ist von Hand genäht. Sie hat mir einen bestickten Geldbeutel gegeben, der Sister Ray, der Mutter meines Vaters, gehörte. Sie wollen wissen, warum sie ihn mir gegeben hat, denn ich war nicht Sister Rays Liebling. Sie sagen, sie dreht sich wahrscheinlich im Grab um vor Wut, dass ich etwas von ihr bekommen habe.

Mama erzählt uns – ihren Töchtern −, dass die Mädchen in ihrer Familie anfingen, Dinge für ihre Aussteuertruhe zu sammeln, als sie noch sehr jung waren. Sie sammelten alles, was sie in die Ehe mitbringen würden. Als sie ihre Truhe das erste Mal für uns öffnet, habe ich das Gefühl mitzuerleben, wie die Büchse der Pandora ein weiteres Mal geöffnet wird, dass die Geheimnisse ihrer Jugend, die bittersüßen Erinnerungen wie ein Wasserfall herausstürzen und uns in der Zeit zurückwerfen werden. Stattdessen steigt der Geruch von Zedern in die Luft. Ich werde an Weihnachten erinnert, an verlassene Bäume, die nach den Feierlichkeiten einsam im Schnee stehen. Gewöhnlich lädt sie uns nicht ein, bei der Öffnung der Truhe dabei zu sein. Obwohl wir nahe bei ihr stehen und sie beobachten, verhält sie sich, als wären wir nicht da. Ich sehe, wie sie sich erinnert, irgendeinen Gegenstand fest in der Hand hält, ein Stück von ihr selbst, von dem sie sich hat trennen müssen, um in der Gegenwart zu leben. Ich sehe, wie sie jedes Stück betrachtet, um festzustellen, ob sich die Hoffnung darin erfüllt hat. Ich tue so, als würde ich die Tränen in ihren Augen nicht sehen. Ich bin froh, dass sie das Öffnen der Truhe dieses Mal mit uns allen teilt. Ich halte die Geschenke, die sie mir gibt, fest in der Hand, den Quilt, den bestickten Geldbeutel. Sie weiß, dass ich oft hoffnungslos bin. Sie sammelt keine Schätze für meine künftige Heirat. Ich will nicht weggegeben werden. Ich kann meine Träume nicht auf morgen verschieben. Ich kann nicht auf einen anderen warten, auf einen Fremden, der meine Hand nimmt.

In jener Nacht träume ich davon wegzugehen. Ich nehme den Bus. Mama steht da und winkt zum Abschied. Als ich später von meiner Reise nach Hause zurückkehre, muss ich feststellen, dass es gebrannt hat, von unserem Haus nichts übriggeblieben ist und ich niemanden sehen kann. Da sind nur die Dunkelheit und der schwere Geruch von Rauch. Ich stehe allein da und weine. Mein Schluchzen hört sich an wie der Schrei eines Pfaus. Plötzlich erscheinen sie mit Kerzen, Mama und all die anderen. Sie sagen, sie haben gehört, wie mein Kummer die Luft durchdringt wie der Schrei eines Pfaus, und dass sie gekommen sind, um mich zu trösten. Sie geben mir eine Kerze. Gemeinsam durchsuchen wir die Asche nach Überresten, nach irgendeinem Fragment aus unseren Leben, das vielleicht das Feuer überstanden hat. Wir finden die Aussteuertruhe, die nicht völlig ausgebrannt ist. Jemand findet ein Foto. Ein Gesicht ist verkohlt, ein anderes ist noch da. Wir reichen das Fragment herum wie Brot und Wein bei der Kommunion. Der Chor unseres Weinens ist ein Zeugnis unserer Ergriffenheit.

Lauter als unser Weinen ist eine Stimme, die uns befiehlt, unseren Tränen Einhalt zu gebieten. Wir können nicht sehen, wer spricht, aber der strenge Klang erinnert an die Stimme der Mutter meiner Mutter. Sie sagt, wir sollen in der Nacht nah beieinander im Kreis sitzen und in unserer Mitte die Kerze aufstellen. Die Kerze brennt wie ein weiteres Feuer. Doch sie sagt, dieses Mal soll es unsere Herzen wärmen. Sie sagt, Hört mir zu, ich will euch eine Geschichte erzählen. Sie beginnt damit, alles in Worte zu fassen, was bei dem Feuer zerstört wurde. Am Ende des Traums sind wir alle glücklich.

Am nächsten Tag will ich wissen, was der Traum zu bedeuten hat, wer sie ist, die Geschichtenerzählerin der Nacht. Saru, Mamas Mutter, ist die Interpretin von Träumen. Sie sagt mir, dass ich die Geschichtenerzählerin kennen sollte, dass sie und ich eins sind und sie meine Schwestern, meine Familie. Sie sagt, dass ein Teil von mir die Geschichte erschafft, die Wörter und das neue Feuer macht, dass es mein Herz ist, das im Zentrum der Flammen brennt.

2

Wir leben auf dem Land. Wir Kinder verstehen nicht, dass wir deshalb zu den Armen gehören. Wir verstehen nicht, dass die Plumpsklos hinter vielen der Häuser immer noch da sind, weil es fließendes Wasser hier erst sehr viel später als in der Stadt gab. Wir verstehen nicht, dass unsere Spielkamerad:innen Wäschestärke nicht wegen des guten Geschmacks essen, sondern weil sie manchmal gar nichts zu essen haben. Wir verstehen nicht, dass wir uns mit den schweren, geruchlosen, eigenartig geformten, selbstgemachten Stücken Laugenseife waschen, weil richtige Seife Geld kostet. Wir denken nicht darüber nach, woher die Laugenseife kommt. Wir wissen nur, dass unsere Haut davon juckt – und dass wir unseren Mund damit nicht spülen wollen. Weil wir arm sind und auf dem Land wohnen, gehen wir in die Dorfschule – in das kleine weiße Holzgebäude, wohin alle Kinder vom Land gehen. Sie kommen von überall her. Sie kommen von so weit her, weil sie Schwarz sind. In ihrem Schulbus fahren sie an vielen Schulen vorbei, in die weiße Kinder gehen können, ohne mit dem Bus zu fahren. Die müssen nicht in den frühen Morgenstunden aufstehen und manchmal das Haus noch bei Dunkelheit verlassen.

Wir müssen nicht mit dem Bus fahren. Die Schule ist nur ein oder zwei Kilometer von unserem Haus entfernt. Wir gehen zu Fuß. Wir wandern planlos die Straße entlang, bis ein Auto vorbeifährt. Wir können den Bussen zuwinken. Sie dürfen nicht anhalten und uns mitnehmen. Wir verstehen nicht warum. Daddy sagt, das Laufen zur Schule würde uns guttun. Er erzählt uns immer wieder mit strenger Stimme von seinem kilometerlangen Schulweg durch verschneite Felder, ohne Stiefel oder Handschuhe, die ihn warmhielten. Das Bild des kleinen Jungen, der meilenweit zur Schule läuft, um lesen zu lernen, damit aus ihm etwas wird, tröstet uns nicht. Wenn wir unsere Augen schließen, sehen wir ihn vor uns. Er sieht sehr traurig aus. Manchmal weint er. Das tröstet uns überhaupt nicht. Und es gibt immer Tage, an denen wir uns über den langen Weg beschweren, besonders wenn es nass und stürmisch ist.

Die Schule beginnt in der Kirche. Dort sprechen wir den Treueschwur auf die Flagge. Die Flagge sagt uns nichts. Aber die Worte gefallen uns. Gemeinsam gesprochen klingen sie wie ein Gesang. Dann hören wir einem Morgengebet zu. Wir beten das Vaterunser. Durch das Singen wird die Morgenandacht zum glücklichsten Moment des Tages. Dort lerne ich auch „Red River Valley“ singen. Es ist ein Lied über Vermissen und Sehnsucht. Ich verstehe nicht alle Wörter, nur das Gefühl – warme, feuchte Traurigkeit, wie Spielen im Frühlingsregen. Nach der Kirche gehen wir in die Klassenzimmer.

In der ersten Klasse gibt die Lehrerin Verkostungspartys. Sie bringt uns verschiedene Lebensmittel zum Probieren, damit wir sie kennenlernen, weil wir sie zu Hause nicht essen. Wir warten alle begierig auf die Freitage, wenn das Verkosten beginnt. An dem Tag, an dem sie Hüttenkäse mitbringt, weiß ich nicht, ob ich den versuchen soll. Sie überzeugt mich. Sie lässt alle ein wenig davon probieren, nur für den Fall, es könnte uns schmecken. Wir kommen von den Verkostungspartys nach Hause und erzählen unseren Eltern, wie es war. Wir bitten sie, dieses neue, gute Essen zu kaufen, besseres Essen, besser als alles, was wir je gegessen haben.

Mama sagt uns, dass man das meiste von dem, was wir probiert haben, nicht jeden Tag essen sollte, dass es Geldverschwendung ist. Wir verstehen nicht, was Geld ist. Wir wissen nicht, dass wir alle arm sind. Wir können nicht viele unserer neuen Freund:innen besuchen, weil sie meilenweit entfernt von uns wohnen. Nach der Schule haben wir einander.

3

Hier auf der Landschule müssen wir immer arbeiten, um Geld aufzutreiben − Süßigkeiten und Tombola-Lose verkaufen, Aufführungen veranstalten, für die Eintrittskarten verkauft werden: an unsere Eltern, Nachbarn, Bekannte, an Leute, die kein Geld haben und sich schämen, kleine bunte Papiere zu kaufen, die sie sich nicht leisten können, Lose, die die Schule am Laufen halten. Die Leute mit einer Menge Geld können sich viele Karten leisten. Sie können zeigen, dass sie „klasse“ sind. Ihre Haut hat oft die Farbe der Schweine im Bilderbuch. Sie haben wohl mehr Geld, weil sie heller sind, weil sie mehr und mehr rosafarben werden, weil sie ihre Haare blond oder rot färben, um das Licht, das Helle ihrer Haut zu betonen. Wir Kinder nennen sie weiß. Wir sind so durcheinander von dem, das Race genannt wird.

Wir lernen die Farben mit Buntstiften. Wir lernen den Unterschied zwischen Weiß und Rosa und dem, was sie Fleischfarben nennen. Wir finden den fleischfarbenen Buntstift lustig. Wie der weiße ist er nie auf dem Manilapapier, das sie uns zum Malen geben, zu sehen und auch nicht auf den braunen Papiertüten, die wir zu Hause zum Malen benutzen. Wir wissen, dass Fleisch nichts mit unserer Haut zu tun hat, denn wir sind braun und braun und braun wie alle guten Sachen. Und wir wissen, dass Schweine nicht so rosa oder weiß sind wie diese fleischfarbenen Leute. Insgeheim lieben wir Schweine, besonders ich. Ich beobachte sie gerne, wenn sie im Schlamm liegen, sich in dem kühlen, roten Matsch wälzen, der wie Lehm ist, der flammend rot und heiß ist wie brennende Erde. Ich schaue ihnen gerne zu, wenn sie fressen, und liebe es, sie zu füttern. Seit einigen Wochen gebe ich ihnen die tiefschwarze Kohle, mit der wir uns im Winter warmhalten. Ich gebe ihnen immer ein kleines Stückchen, um ihr knirschendes Kauen zu hören. Ich will ihnen all die Eintrittskarten zum Essen geben, damit niemand sie verkaufen muss; damit Mama sich nicht darüber beklagen muss, dass der Verkauf der Karten ihr noch größere Sorgen macht. Die Schweine ekeln sich vor den Karten. Selbst wenn ich sie mit einem Stock anstupse, wenden sie sich ab. Sie fressen lieber Kohle.

Ich muss Karten für eine Tom Thumb Hochzeit verkaufen. Das ist eine der Schulaufführungen. Sie macht den Kindern keinen Spaß. Wir müssen Hochzeitskleider aus Papier anziehen und eine Zeremonie zur Unterhaltung der Erwachsenen spielen. Mir wird schlecht von dem Ganzen, doch das kümmert niemanden. Wie jedes andere Mädchen will ich die Braut sein, aber ich werde nicht ausgewählt. Es hat immer etwas mit Geld zu tun. Die wichtigen Rollen bekommen die Kinder der Eltern, die Geld geben können und viele Eintrittskarten verkaufen. Ich habe Glück, dass ich eine Brautjungfer sein und ein rotes Krepppapierkleid tragen darf, das nur für mich gemacht wurde. Ich bin nicht begeistert von diesem Glück. Ich würde lieber kein Papierkleid tragen und nicht bei einer Scheinhochzeit mitmachen. Sie sagen mir, ich hätte Glück, dass meine Haut heller ist, nicht schwarz schwarz, nicht dunkelbraun, Glück, dass mein Haar fast glatt ist, sonst dürfte ich vielleicht gar nicht bei der Hochzeit mitmachen, sonst hätte ich vielleicht nicht so viel Glück.

Dieses Glück macht mich wütend, und wenn ich wütend bin, geht immer alles schief. Wir üben in unseren Papierkleidern den Mittelgang der Kirche entlangzugehen, während am Klavier der Hochzeitsmarsch gespielt wird. Wir üben Bräute zu sein, Mädchen, die aufwachsen, um weggegeben zu werden. Meine Beine würden lieber rennen. Es juckt sie, nach draußen zu gehen. Meine Beine träumen, es sind abenteuerlustige Beine. Sie können nicht ohne Protest vor den Altar treten. Sie gehen zu schnell. Sie gehen zu langsam. Sie halten alles auf. Das Mädchen hinter mir tritt auf das rote Kleid. Es reißt. Es bewegt sich auf meiner Haut wie Wind an rennenden Beinen. Jetzt bin ich glücklich – über diesen Riss. Ich hoffe, sie erlauben mir jetzt, mich hinzusetzen. Aber sie sagen Nein. Wir denken nicht daran, dich aus dieser Show zu nehmen. Sie wissen, wie sehr jedes Mädchen bei einer Hochzeit sein will. Der Riss muss ausgebessert werden. Das rote Kleid muss, wie das Herz einer Frau, still und heimlich zerreißen.

4

Dort, wo sie auf dem Hügel leben, gibt es nur wenige Häuser. Das ganze Land gehört einem Schwarzen Mann, der nicht weit von ihnen in einem großen Haus wohnt, in dessen Umgebung es keine anderen Häuser gibt. Er lebt ganz oben auf dem Hügel. Ihr Haus ist aus Stein und Beton. Weiße Männer hatten es gebaut, als sie anfingen, auf dem Hügel nach Öl zu suchen. Es wurde kein Öl gefunden. Sie hinterließen Überreste ihrer Maschinen und ihrer Anwesenheit. Sie hinterließen das kalte Betonhaus. In den heißen und schwülen Sommern bot die Luft darin Abkühlung, aber im Winter war es kalt und feucht. Das kalte Grau des Hauses machte den Kindern wenig aus. Sie spielten immer draußen auf den grünen Wiesen und Hügeln hinter dem Haus. Sie liefen kilometerweit in die Hügel, suchten nach Heckenkirschen und wildem Spargel und versuchten, den Schlangen aus dem Weg zu gehen. Sie hatten nicht immer Angst vor Schlangen, aber sie wussten, dass sie vorsichtig sein mussten, dass Schlangenbisse gefährlich sein konnten.

Sie ging gerne zu ihrem Lieblingsbaum auf dem Hügel und spielte mit einer leuchtend grünen Schlange, einer Baumschlange, die dort lebte. Sie konnte mit der Schlange reden und ihr zuhören. Sie erzählte ihr von den Problemen, die sie damit hatte, rechts und links zu unterscheiden. Die Schlange verstand ihre Frustration, ihre Tränen, wenn alle schon gehen wollten und sie noch damit kämpfte, ihre Schuhe richtig anzuziehen. Die Schlange verstand, dass Strafen die Aufgabe nicht einfacher machten. Sie dachte, es läge an den Schuhen. Große Buster Brown Schuhe, die sie und ihr Bruder trugen. Die grüne Schlange wickelte sich wie ein Armband um ihr Handgelenk und riet ihr, diese Schuhe jeden Tag mitzunehmen und auf den Abfall zu bringen. Vielleicht würden sie dann zusammen mit allen ungewollten Dingen verbrannt. Jede Nacht schlich sie aus dem Haus und legte die Schuhe sorgfältig zum Verbrennen auf den Müllhaufen. Jeden Morgen wurde sie dafür bestraft und musste die Schuhe zurückholen. Doch sie machte weiter, bis ihr Daddy endlich sagte: Kauf ihr ein anderes Paar Schuhe. Sie wurde für ein Problemkind gehalten, eines das entschlossen war, seinen Willen zu bekommen. An jenem Tag ging sie allein los, um der Schlange für ihre Hilfe zu danken. Auf ihrem Heimweg entdeckte sie einen neuen Pfad. Ohne nachzudenken, folgte sie ihm. Er führte zu einem riesigen Garten. Sie wusste nicht, wer ihn angelegt hatte. Sie ging langsam die Reihen wachsender Pflanzen entlang, darauf bedacht, nicht auf sie zu treten. Ihr wurde schwindelig von dieser Art zu gehen. Vielleicht stolperte sie deshalb, fiel hin und schürfte sich beide Knie auf dem Kies und der Erde auf, als sie etwas den Hügel hinunterrollte. Sie blieb weinend liegen, verloren und allein. Ein Mann, den sie nicht kannte, hob sie auf. Er war nicht alt. Seine Haut war rosa, wie die der Schweine. Sein Haar war schwarz und lockig. Als er sie aufhob, sagte er, er würde sie nach Hause tragen. Sie war sicher, dass die Schlange ihn geschickt hatte. Sie erzählte ihm alles von der Schlange – dass sie ihre einzige Freundin war. Er lachte und fragte sie, ob er ihr Freund sein könne. Bei Schlangen war sie sich sicher, aber nicht bei fremden Männern. Also sagte sie nichts. Er trug sie den ganzen Weg nach Hause. Sie hatten schon ihren Namen rufend die Hügel nach ihr abgesucht.

Zu Hause stellte sich der Mann als Sohn des Grundherrn vor. Bevor er ging, versprach er, sie zu heiraten und wiederzukommen, wenn sie älter war. Die Erwachsenen schienen das für eine gute Idee zu halten. Sie flüsterte ein Geheimnis in sein Ohr. Sie sagte ihm, sie könne ihn nicht heiraten, weil sie der Schlange schon versprochen hatte, dass sie für immer in der Nähe ihres Lieblingsbaums zusammenleben könnten.

5

Er hatte ein altes Auto. Es wurde nie bewegt. Es versank im Schlamm, als wäre es wie jede andere Pflanze darin gewachsen. Nur, dass es eindeutig keine Pflanze war. Es war im wahrsten Sinne des Wortes eine menschengemachte Kreatur. Ihre Hände streichelten das dunkelrote Leder, das sich wie Seide auf der Haut anfühlte. Sie wussten, dass es aus Fleisch und Blut war – wussten, dass es die Ehrfurcht in ihren Berührungen spüren konnte. Sie spielten in dem Auto. Es war eines ihrer Lieblingsverstecke. Wenn sie wie ängstliche Tiere auf dem Boden kauerten, träumten sie davon, wie es wäre, niemals gefunden zu werden. Doch sie wurden immer gefunden.

Sie mochte es besonders, sich in dem Auto zu verstecken und alle Türen zu verriegeln, so dass niemand hineinkommen konnte. Es gefiel ihr, durch das Fenster in die Gesichter der Erwachsenen zu grinsen, die sie baten, die Türe zu öffnen. Es gefiel ihr, deren Entsetzen zu beobachten. Manchmal war sie selbst entsetzt.

Als ihre Mutter einmal im Krankenhaus war, kam Sister Ray, die Mutter ihres Vaters, um auf sie aufzupassen. Sie verstanden nie, warum irgendjemand auf sie aufpassen sollte. Tief im Innern hatten sie Angst, dass dieser anonyme irgendwer kommen würde, um den Platz ihrer Mutter einzunehmen. Sie wollten keine andere Person, die sich um sie kümmerte. Sie wollten nur ihre Mama. Weil sie nicht Sister Rays Liebling war, fürchtete sie deren Kommen. Doch sie kam, ihr strenges Gesicht in der Farbe glänzend strahlender Kohle – die Farbe der Dunkelheit, die sie an ihren Sohn weitergegeben hatte. Man munkelte, dass sie diese besondere Kleine nicht mochte, weil ihr Gesicht noch nicht einmal daran dachte, braun genug zu sein. Es nahm selbst in der Sonne keine Farbe an. Diese besondere Kleine hörte das Flüstern. Sie nahm diesen Hass, diese erste Ablehnung bitterlich übel. Sie wollte sich davor verstecken, und wählte natürlich das Auto. Es war das sicherste Versteck. Dort konnte man gleichzeitig gefunden und nicht gefunden werden. Doch sie wollte sich nicht allein verstecken. Also machten ihr Bruder und ihre Schwestern mit. Zunächst kurbelten sie die Fensterscheiben nicht hoch. Sie verriegelten nur alle Türen. Sie warteten darauf, dass Sister Ray entdeckte, dass sie alle verschwunden waren, dass das Haus zu still war. Als sie die Abwesenheit der Kinder schließlich bemerkte, und sie nicht im Haus finden konnte – sie hörten sie rufen – suchte sie draußen nach ihnen. Schnell kurbelten sie die Fenster hoch und duckten sich auf den Sitzen. Ihre warmen jungen Körper berührten sich, als sie lachten. Es funktionierte nicht. Sie dachte nicht daran, in das Auto zu schauen. Sie kurbelten die Fenster herunter und riefen sie.