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Migration prägt unsere Gesellschaft grundlegend und trägt maßgeblich zur Diversifizierung der Gesellschaft bei. Dieser Einfluss zeigt sich nicht zuletzt in den Bildungsinstitutionen. Der zweite Band der Reihe "Migration, Diversity und Bildung" skizziert aktuelle Herausforderungen für das Handlungsfeld allgemeinbildende Schulen in der Migrationsgesellschaft und leitet daraus wissenschaftliche, pädagogische sowie bildungspolitische Weichenstellungen ab. Auch die pädagogische Professionalisierung wird hierbei in den Blick genommen. Der Band gibt einen Überblick über zentrale aktuelle Diskursfelder sowie empirische Befunde in einzelnen Handlungsfelden, zu Themen wie der Repräsentation von migrationsgesellschaftlichen Aspekten in den Lehrplänen, zur gesellschaftlichen Relevanz der LehrerInnenbildung, zu rassismuskritischen Perspektiven auf Sprache, zur Transnationalität von SchülerInnen und der Notwendigkeit, diverse religiös-weltanschauliche Orientierungen von Jugendlichen in Schulen zu berücksichtigen. Mit einem Beitrag aus Kanada wird eine internationale Vergleichsperspektive zu dem Umgang von Schulen mit Mehrsprachigkeit angeboten.
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Seitenzahl: 249
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Cover
Titelei
Vorwort
Einleitung
Literatur
1 Schulfunktionen transnational – Implikationen für Migration und Mobilität
Einleitung
1.1 Transnationale Migration und Mobilität in Schulen
1.2 Schulfunktionen nach Fend
1.3 Überarbeitete Schulfunktionen und Implikationen für Migration und Mobilität
1.3.1 Sinnsystem-Reproduktionsfunktion
1.3.2 Kohäsionsfunktion
1.3.3 Politische Stabilisierungsfunktion
1.3.4 Qualifizierungsfunktion
1.3.5 Legitimierungsfunktion
1.3.6 Betreuungsfunktion
1.4 Fazit
Literatur
2 Lehrpläne für die Schule der Migrationsgesellschaft
Einleitung
2.1 Design und Methode der Lehrplanstudie Migration und Integration
2.2 Lehrplanentwicklung
2.3 Ergebnisse der Lehrplananalyse
2.3.1 Die Realität Deutschlands als Einwanderungsgesellschaft spiegelt sich nicht systematisch in den Lehrplänen wider
2.3.2 Migrations- und Integrationsphänomene werden überwiegend mit krisenhaften Entwicklungen verknüpft
2.3.3 Lehrpläne gewichten die Themen Migration und Integration je nach Land und Fach unterschiedlich
2.4 Schulische Praxis im Spiegel von Interviews
2.5 Empfehlungen für Lehrpläne in der Migrationsgesellschaft
2.5.1 Deutschland als Einwanderungsland in den Lehrplänen
2.5.2 Diversitätssensible Lehrplanentwicklung
2.5.3 Über Lehrpläne hinaus
2.5.4 Weitere Forschung vorantreiben
Literatur
3 Was kann es bedeuten, Lehrer:innen (nicht) als Pädagog:innen zu denken? Anfragen aus der Perspektive erziehungswissenschaftlicher Migrationsforschung
3.1 Plädoyer für das Pädagogische (in) der Lehrer:innenbildung – eine Hinführung
3.2 Lehrer:innen als spezifische (Handlungs-)Expert:innen? Zur Frage nach dem »Zweck«
3.3 Die Funktionalisierung und Technisierung der Lehrer:innenbildung: Der Fall ›Migration‹
3.4 Lehrer:innen als Politiker:innen und Künstler:innen – ein Schluss
Literatur
4 Migrationsbezogene Mehrsprachigkeit und Deutsch als Zweitsprache in der Schule
Einleitung
4.1 Mehrsprachigkeit
4.1.1 Theoretische Grundlagen
4.1.2 Lebensweltliche vs. bildungsidealisierte Mehrsprachigkeit
4.2 (Zweit-)Sprachaneignung im Kontext von Migration
4.3 Umgang mit sprachlicher Vielfalt und Deutsch als Zweitsprache in der Schule
4.4 Fazit und Ausblick
Literatur
5 Religiöse und weltanschauliche Diversität in der Schule
5.1 Ausgangspunkt: Schulen als Laboratorien des Religionskontakts
5.2 Eckpunkte der religiös pluralen Konstellation in Deutschland
5.3 Religiöse Diversität: Schulorganisatorische und pädagogische Aspekte
5.4 Entgrenzung und Begegnung: Religiöse Diversität im Unterricht
5.5 Fazit: Jenseits der Religionisierungsfalle
Literatur
6 Eltern in der Schule der Migrationsgesellschaft – eine rassismuskritische Perspektive
Einleitung
6.1 Theorie: Rassismus in der Schule der Migrationsgesellschaft
6.2 »Eltern stärker in die Pflicht nehmen«: Verhandlungen von Elternschaft im politischen Diskurs
6.3 »Es ist in ihrer Kultur so«: Schulische Konstruktionen von ›migrationsanderen Eltern‹
6.4 »Als Mutter muss man täglich gegen solche Erfahrungen ankämpfen«: Elterliche (Rassismus-)Erfahrungen in der Schule
6.5 Elternbeteiligung als Teil rassismussensibler Schulkultur denken
Literatur
7 Multilingualism, Language Education, and the Politics of Comparison
Introduction
7.1 The Canadian Context
7.2 Research Design
7.3 Regulating Multilingualism in Ontario Schools
7.4 Multilingual Learners, Their Experiences, and How They are Imagined to Be in Ontario Schools
References
Autor:innenverzeichnis
Migration, Diversity und Bildung
Herausgegeben von Viola B. Georgi und Yasemin Karakaşoğlu
Migration prägt unsere Gesellschaft und ihre Bildungsinstitutionen grundlegend und trägt maßgeblich zur Diversifizierung der Gesellschaft bei. Das Thema Migration bildet deshalb den zentralen theoretischen und bildungspolitischen Kern der Reihe, die sich an einer gedachten Bildungsbiografie über die verschiedenen Lebensphasen hinweg orientiert.
Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:
https://shop.kohlhammer.de/migration-diversity-und-bildung
Die Herausgeberinnen
© Isa Lange
Viola B. Georgi ist Professorin für Diversity Education und Direktorin des Zentrums für Bildungsintegration: Diversity und Demokratie in Migrationsgesellschaften an der Universität Hildesheim. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Schule in der Migrationsgesellschaft, Diversity Education, historisch-politische Bildung, Erinnerungskultur, Bildungsmedien und Citizenship Education. Stationen in Forschung und Lehre führten sie u. a. an die York University (Kanada), die Universität Uppsala (Schweden) und die Harvard University (USA). Georgi wirkt als Mitglied in verschiedenen Fachbeiräten und Expertengremien, u. a. im Rat für Migration.
Yasemin Karakaşoğlu ist Professorin für Bildung in der Migrationsgesellschaft am Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Bremen. Sie lehrt, forscht und publiziert u. a. zu Schul- und Hochschulentwicklung sowie Lehrer:innenbildung in der Migrationsgesellschaft, Transnationalität und Bildung sowie Islam im Kontext von Schule. Karakaşoğlu ist Mitglied im Vorstand des DAAD und engagiert sich auch zivilgesellschaftlich in verschiedenen Beiräten, u. a. als Kuratoriumsmitglied der Freudenberg Stiftung und als Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Bundesverbandes der Migrantenelternverbände für Bildung und Teilhabe (bbt).
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1. Auflage 2023
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:ISBN 978-3-17-041488-4
E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-041489-1epub: ISBN 978-3-17-041490-7
Der vorliegende Band »Allgemeinbildende Schulen in der Migrationsgesellschaft. Diversitätssensible Ansichten und Perspektiven« setzt die Reihe »Diversity, Migration und Bildung« fort.1 Unter einer diversitätssensiblen und diskriminierungskritischen Perspektive präsentiert die Reihe, die sich in der Abfolge der Bände an einer gedachten Bildungsbiographie über die verschiedenen Lebensphasen hinweg orientiert, aktuelle Forschungsergebnisse und Konzepte der Bildung im Kontext von Diversity und Migration. Mit Diversity, Migration und Bildung werden dabei nicht drei voneinander unabhängige Analysekategorien, Dimensionen und Felder in den Blick genommen, sondern uns interessiert gerade die Interdependenz dieser drei Beobachtungsschwerpunkte. Sie bildet den verbindenden theoretischen Bezugsrahmen der in den einzelnen Bänden versammelten Aufsätze. Die Autor:innen mit ihren unterschiedlichen Forschungs- und Praxisperspektiven leuchten diese Interdependenz jeweils spezifisch, am Beispiel unterschiedlicher Gegenstände in diesem Band etwa bezogen auf die Zusammenarbeit mit Eltern, sprachliche Bildung, religiöse Pluralität, Lehrer:innenbildung und schulische Curricula, aus. Auf diese Weise wird den Leser:innen ein Einblick in vielfältige aktuelle Diskurse über theoretische und empirische Zugänge, Methoden und Konzepte von und zu Bildung im Kontext von Diversity und Migration geboten. Gleichwohl kann und will nicht der Anspruch erhoben werden, das gesamte mögliche Spektrum an Aspekten, die bezogen auf Bildung im Kontext von Diversity und Migration in den jeweiligen Lebensphasen denkbar wären, abzudecken.
Bildung wird von uns dabei im umfassendsten Sinne der Bedeutung dieses Wortes als pädagogisches Konzept verstanden, das Zielvorstellungen, Prozesse und Ergebnisse von Sozialisation, Erziehung, Lernen und (in Band 2 bezogen auf grundlegende Aspekte Allgemeinbildender Schulen) auch Unterricht umfasst. Bildung in diesem Sinne zielt auf die Entwicklung von Handlungs- und Urteilsfähigkeit ab und vermittelt zentrale Grundlagen für eine aktive und selbstbestimmte Partizipation an einer von Pluralismus geprägten, demokratisch verfassten Gesellschaft (vgl. Horlacher 2010, S. 61; Reichenbach 2010, S. 87).
Diversity steht als Analysekategorie zum einen für die Mannigfaltigkeit der gesellschaftlich wirksamen Differenzlinien und die Heterogenität individueller und kollektiver Identitäten bzw. ihrer historischen und aktuellen gesellschaftlichen Konstruktionen, etwa bezogen auf soziale Herkunft, Ethnizität, Religion, Sprache, sexuelle Orientierung, Behinderung, Alter, Geschlecht etc. Mit der Verwendung des Diversity-Begriffs (anstelle von Diversität) richten wir den analytischen Blick jedoch nicht verkürzt auf Diversität als einfache Beschreibung von Vielfalt, als fraglos gegeben in ihren verschiedenen Ausprägungen, sondern auf die Komplexität und Interdependenz im Sinne von intersektionaler Wirksamkeit von Diversitätsdimensionen für Identitätskonstruktionen, Zugehörigkeitsordnungen, Selbst- und Fremdzuschreibung. Dabei interessieren wir uns nicht zuletzt für historisch bedingte und gesellschaftlich verankerte hierarchische Kategorisierungen entlang von Diversitätsmerkmalen. Damit schließt unser Verständnis von Diversity an macht- und herrschaftskritische Ansätze an, mit denen eine besondere Aufmerksamkeit der Frage gewidmet wird, weshalb bestimmte soziale, kulturelle, sprachliche oder religiöse Orientierungen und Zugehörigkeiten von Individuen z. B. im Bildungssystem mit Benachteiligung, Diskriminierung und Exklusionen einhergehen, während andere Zugehörigkeiten privilegiert werden.
Gerade Formen migrationsbedingter Diversität, die einen thematischen Fokus dieser Reihe darstellt, können durch nach wie vor gängige und simple Unterscheidungen, etwa zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund, Mehrheitsgesellschaft und Minderheit, nicht angemessen erfasst werden. Um die gesellschaftliche Realität in einer hoch diversifizierten deutschen Migrationsgesellschaft zu beschreiben, bedarf es komplexerer Kategorien, wie sie etwa die Diversityforschung bereithält (vgl. Georgi 2018).
Migration, die unsere Gesellschaft und ihre Bildungsinstitutionen grundlegend prägt und maßgeblich zur Diversifizierung der Gesellschaft beiträgt, bildet den zentralen theoretischen und bildungspolitischen Verweisungszusammenhang der Reihe. Migration ist in unterschiedlicher Intensität und Ausprägung allgegenwärtig in städtischen und ländlichen Regionen. Dies drückt sich aus etwa in Form der Zunahme von Mobilitätserfahrungen, von transnationalen Lebensentwürfen und damit verbunden in der alltäglichen Erfahrung religiöser, sprachlicher und kultureller Vielfalt. Alle heute in Deutschland lebenden und aufwachsenden Menschen sind je spezifisch von den Wirkungsweisen und Auswirkungen von Migration als die Gesellschaft transformierender Tatsache betroffen. Im Bildungserwerb über die Lebensspanne hinweg spielen unterschiedliche formale, informelle und non-formelle Bildungsinstitutionen und -instanzen eine spezifische Rolle, welche in der Reihe systematisch ausgelotet werden soll. Dabei geht es beispielsweise um die Erfahrung und Förderung von Selbstwirksamkeit und gesellschaftlicher Teilhabe, von Wissenserwerb und Sozialisation, um spezielle oder allgemeine Zugänge von Institutionen im Umgang mit Migration, um die Auseinandersetzung mit Identitätskonstruktionen und Fragen nach Selbstermächtigung und Vergemeinschaftung, um Erfahrungen von Zugehörigkeit und Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus im Kontext von Bildung und Bildungsinstitutionen (vgl. dazu auch Mecheril et al. 2016; Gogolin et al. 2018).
Migration als die Gesellschaft transformierendes Faktum wird noch immer als besondere Herausforderung für die Bildungsinstitutionen und -instanzen von der Kita bis zur Hochschule beschrieben. Dies ist maßgeblich darauf zurückzuführen, dass das weitgehend an nationalen Paradigmen orientierte Bildungssystem und die Regierungspolitik, die bis weit in die 2000er Jahre hinein die Entwicklung Deutschlands zu einer Einwanderungsgesellschaft negiert hat, lange versäumt haben, die notwendigen, mit Migration einhergehenden Veränderungen auch strukturell und inhaltlich in die Wege zu leiten (Karakaşoğlu 2014). Im Ergebnis formulieren auch heute noch die im Handlungsfeld Bildung tätigen pädagogischen Fachkräfte nicht selten Probleme damit, den Umgang mit Diversity in ihr professionelles Selbstverständnis zu integrieren und Migration als Normalfall zu betrachten (Doğmuş et al. 2016). Auch der Thematik der pädagogischen Professionalität und Professionalisierung in der Migrationsgesellschaft soll daher in der Reihe durchgehend Rechnung getragen werden. Jeder Band endet mit einem englischsprachigen Originalbeitrag, der exemplarisch für transnationale Perspektiven auf das Thema aktuelle empirische Forschungsergebnisse zu einem spezifischen nationalen Kontext präsentiert. Die Entscheidung, diesen Beitrag nicht ins Deutsche übersetzen zu lassen, beruht auf der Überlegung, dass jede Übersetzung eine Interpretation bedeutet und wir in die Autonomie nicht deutschsprachiger Autor:innen nicht eingreifen wollen.
Wie alle Bände dieser Reihe richtet sich auch dieser Band an vielfältige Zielgruppen. In diesem Fall sind dies Pädagogik-Studierende, in Schule und allen Phasen der Lehrer:innenbildung Tätige, Mitarbeiter:innen in der Bildungsadministration und Bildungspolitik sowie alle am Thema Interessierte.
1Unser besonderer Dank gilt Caroline Schäfer, die als studentische Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Interkulturelle Bildung an der Universität Bremen alle Phasen der Entstehung dieser Buchpublikation mit großem Engagement, klugen Ideen und themenbezogenem Sachverstand maßgeblich unterstützt hat.
Yasemin Karakaşoğlu & Viola B. Georgi
Mit dem Schwerpunkt auf »Allgemeinbildenden Schulen« legen wir hiermit den zweiten Band der Reihe Migration, Diversity und Bildung vor, die in der Reihenfolge des Erscheinens der Bände einer im Bildungssystem selbst angelegten, idealtypisch gedachten Bildungsbiographie folgt. Dabei sind wir uns bewusst, dass die Tatsache der Migration diese idealtypische Vorstellung in mindestens zweifacher Hinsicht herausfordert: erstens hinsichtlich der Annahme, dass über jahrgangsbezogene Klasseneinteilungen Homogenität der Bildungsvoraussetzungen geschaffen werden könne, sowie zweitens hinsichtlich der weitgehenden Orientierung am nationalen Kontext bezogen auf unterrichtliche Inhalte und Zukunftsperspektiven der Lernenden.
Migration als Erfahrung von Menschen in der Migrationsgesellschaft ist gekennzeichnet durch in Vergangenheit und Gegenwart praktizierte transnationale Grenzüberschreitungen und Beziehungen, durch unterschiedliche Bleibewünsche und -perspektiven, Familienleben zwischen Staaten und Kontinenten, unterschiedliche Bezüge zur deutschen Verkehrs- und Schulsprache, unterschiedliche Ausprägungen von Mehrsprachigkeit, unterschiedliche Wissensgrundlagen und Perspektiven auf weltgesellschaftliche Zusammenhänge, religiös-weltanschauliche Pluralität etc. Diese Differenzmerkmale bilden auch die Matrix, auf der Zuweisungen von Positionen in der Gesellschaft vorgenommen werden. Hier können Mitgliedschaftsrechte und damit Partizipationsmöglichkeiten eröffnet, aber auch verhindert oder gar verweigert werden. Diese Konstellationen sind heute mittelbar und unmittelbar Teil der Sozialisationserfahrungen der jungen Generation in der deutschen Migrationsgesellschaft. Nationale Bildungssysteme, auch solche, die weitere geographische Räume wie etwa Europa adressieren, sind in Anerkennung dieser auf Migration bezogenen Pluralitäten wie auch ihrer intersektionalen Verknüpfung mit anderen Diversitätsdimensionen gefordert, sich strukturell und inhaltlich neu ins Verhältnis zu den gesellschaftlichen Realitäten zu setzen.
Schulische Bildung hat neben anderen das Ziel, zu akkulturieren, in einen kulturellen Kontext zu sozialisieren und jungen Menschen Kompetenzen für das Sich-Einfädeln und Überleben in der Gesellschaft zu vermitteln. Freilich ist dieser Kontext nicht statisch, denn es wird nicht in etwas Bestehendes ›integriert‹, das so immer schon da war, sondern das, was besteht, ist selbst schon Ergebnis eines kontinuierlichen Wandels (Georgi & Keküllüoğlu, 2018). Und die in Schule handelnden Akteur:innen – allen voran Lehrkräfte, Schüler:innen, Sozialpädagog:innen und Eltern – sind selbst Teil dieses Wandels, dem sie auf unterschiedliche Weise begegnen: gleichgültig, widerständig, auf dem »Status quo« verharrend oder Veränderungen aktiv einfordernd und (mit-)gestaltend.
Wir wollen Schule hier als Ort verstehen, der einen substanziellen Beitrag zur Gestaltung eines neuen gesellschaftlichen Wir leisten kann, eines Wir, das ganz selbstverständlich auch supranational und transkulturell ausgeformt ist. Aus dieser Perspektive gilt es, gewohnte Praxen und tradierte Ordnungsschemata von Schule in Nationalstaaten, hier wie anderswo auf der Welt, zu reflektieren und grundlegend zu überdenken (Heidrich et al. 2021). Alle in Schule Tätigen sind dazu aufgefordert, die selbst- und/oder fremdzugeschrieben Identitäten und Bildungsbedarfe der pluralen Mitglieder der Gesellschaft stärker als bislang sichtbar zu machen und zu berücksichtigen. Denn Schule ist einer der zentralen Orte zur Aushandlung und Anerkennung von Diversität. Die Kultusministerkonferenz adressiert dieses bildungspolitische Anliegen in ihren Empfehlungen zur Interkulturellen Erziehung und Bildung in der Schule (2013) folgendermaßen:
»Schule soll Vielfalt zugleich als Normalität und als Potenzial für alle wahrnehmen. [...] Unterrichtsmaterialien und Unterrichtspraxis sollen geprüft werden im Hinblick darauf, ob die vielschichtige, auch herkunftsbezogene Heterogenität der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt ist.« (KMK 2013, S. 8)
Die allgemeinbildende Schule wird damit dazu aufgefordert, einen Transformationsprozess auf unterschiedlichen Ebenen in Gang zu setzen und zu durchlaufen. Der Schule wird die Aufgabe übertragen, notwendige Anpassungsleistungen zu erbringen, damit sie den Ansprüchen von Bildungs- und Chancengerechtigkeit in der pluralen Demokratie entsprechen kann.
Der vorliegende Band will mit den Beiträgen der Autor:innen, in denen sich unterschiedliche fachliche Expertisen zu Schule unter den Bedingungen von Migration und Diversität spiegeln, an exemplarischen Teilaspekten von Schule und Allgemeinbildung den Fragen nachgehen, inwiefern dieser Perspektivwechsel – verstanden als Anpassungs- und Transformationsleistung – in Deutschland bislang gelingt bzw. welcher Entwicklungsbedarf nach wie vor besteht und welche Ideen (auch) praxisorientiert aus der aktuellen Forschung dazu formuliert werden können. Wie in allen Bänden dieser Reihe finden sich unter den Beiträgen die Schwerpunkte »Mehrsprachigkeit« und »Religiös-weltanschauliche Pluralität« ebenso wieder wie eine internationale Vergleichsperspektive, die dieses Mal aus Kanada kommt.
Wie die Aufsätze zeigen, sind Antworten, wie das System Bildung konstruktiv auf migrationsgesellschaftliche Veränderungen in intersektionaler Perspektive reagieren müsste, auf unterschiedlichen Ebenen zu suchen, bei denen auch die Dynamik des aktuellen Migrationsgeschehens stets mitzudenken ist (Karakaşoǧlu & Mecheril 2019, S. 27):
1.
auf der strukturellen Ebene im Sinne der Angebote an Schulformen, die in jeder Hinsicht inklusiv und auch international anschlussfähig sind,
2.
auf der Ebene der Ressourcen, etwa über die Ausstattung mit (multi-)professionellem Personal und mit Schulgebäuden, die so vielfältige, anregende, zeitgemäße Lernarrangements bieten wie auch Erfahrungsräume für individuelle Entwicklungen und soziales Miteinander,
3.
auf der Ebene der pädagogischen Konzepte, etwa den didaktischen Methoden und Lehrmitteln, und der dort vermittelten Lehrinhalte,
4.
auf der Ebene der Zusammenarbeit mit Eltern als wichtigen Partner:innen in der Erziehung und Bildung der Kinder und Jugendlichen und nicht zuletzt
5.
auf der Ebene der Ausbildung zentraler Akteur:innen im Feld, der Lehrer:innen.
Die hier skizzierten Ebenen sind unter der Bedingung einer grundlegenden Ungewissheit pädagogischen Handelns (Helsper et al. 2005) zu betrachten. Diese Ungewissheit prägt heute vielleicht stärker als in der Vergangenheit die schulischen Lehr- und Lernsituationen und somit das pädagogische Handeln. Pädagogisches Handeln steht heute zudem stärker unter dem Druck eines stetigen und beschleunigten Zerfalls der Gültigkeit von Wissen. Hinzu kommt eine durch Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung ebenfalls beschleunigte Pluralisierung von Lebenslagen und Lebensmodellen. Unter Berücksichtigung der damit einhergehenden, vielfältigen Ungewissheiten ist professionelles pädagogisches Handeln herausgefordert, scheinbare Handlungssicherheiten immer wieder reflexiv (also in der Aushandlung mit sich selbst und anderen) einzuholen und sie gleichzeitig fortwährend auf ihre Gültigkeit für und Übertragbarkeit auf andere Situationen zu überprüfen.
Es sind immer noch zu wenige Schulen in Deutschland, die die mittel- bzw. unmittelbar durch Migration mitbedingte Vielfalt ihrer Schüler:innenschaft als Bereicherung und Potenzial für die Gestaltung von Zukunft begreifen. Im Gegenteil geht in der Praxis mit den Beschreibungen von Schule in der Migrationsgesellschaft häufig immer noch die Benennung von Problemen einher (verdichtet im Bild der sog. ›Brennpunktschule‹). In der Folge der für Deutschland seit ihrer ersten Veröffentlichung 2001 fortwährend eher ernüchternden PISA-Ergebnisse hat man sich auf Anpassung der Schüler:innengruppe mit sog. »Migrationshintergrund« an die Erfordernisse der deutschen Schule konzentriert. Die Lernenden aus Einwandererfamilien wurden dabei als defizitär imaginiert, insofern ihnen die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bildungsbiographie in der deutschen Schule nicht zugetraut bzw. zugeschrieben wurden.
Migrationsgesellschaftliche Öffnung wurde weitgehend verstanden als Etablierung spezifischer Fördermaßnahmen insbesondere im Hinblick auf die Schulsprache Deutsch für die Zielgruppe derjenigen, denen die Statistik einen sog. Migrationshintergrund bescheinigt – und das sind in den westdeutschen Großstädten über 50 % der Schulanfänger:innen. Eine grundlegende Inventur dazu, inwiefern Schule der migrationsgesellschaftlichen Realität mit ihren Inhalten, Strukturen, Ressourcen, Routinen noch gerecht wird, hat bislang nicht stattgefunden, auch wenn die Hinweise auf Reformbedarf aus der Praxis und der Wissenschaft ebenso zahlreich erfolgt sind wie die daraus abgeleiteten Vorschläge zur Umsetzung (vgl. etwa Georgi 2015; Karakaşoǧlu 2011). Man darf darin ein großes Versäumnis sehen, denn bereits mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention 2008 wurde dem deutschen Bildungssystem die Aufgabe übertragen, sich zu einem vollständig inklusiven System zu entwickeln, und dessen Grundprinzip einer Wendung des Blicks von Nicht-Passung spezifischer Schüler:innengruppen mit den Anforderungen des Systems hin zu den Defiziten des Systems, allen Schüler:innen in einem gemeinsamen Lernsetting gerecht zu werden zu beachten. Damit verbunden ist die Identifikation systematischer institutioneller Ausschlüsse der Zugänge zu Bildung, die nicht nur bezogen auf einzelne Diversitätsdimensionen, sondern insbesondere auch an der Intersektion von Diversitätsmerkmalen wirksam werden.
Die Beiträge im vorliegenden Band adressieren die oben benannten Ebenen auf vielfältige Weise, indem sie die Normalitätserwartungen und Regularien des bestehenden allgemeinbildenden Schulsystems daraufhin befragen, ob und inwiefern sie der Diversität der Migrationsgesellschaft gerecht werden. Ausgehend von aktueller qualitativer und quantitativer empirischer Forschung wird außerdem gefragt, welche Alternativen zu den etablierten Routinen und Praxen der Schule in den Blick genommen werden sollten, um Schulrealität und Lebensrealität der Schüler:innen angesichts (welt-)gesellschaftlicher Veränderungen stärker Rechnung zu tragen.
Daher beginnen wir mit einer transnationalen Erweiterung des Blicks auf die Funktionen von Schule im Beitrag von Dita Vogel. Sie formuliert in dieser Konsequenz weitreichende Implikationen für den schulischen Umgang mit Migration und transnationaler Mobilität. Es werden Ergebnisse aus dem Forschungs- und Entwicklungsprojekt »Transnationale Mobilität in Schulen« TraMiS (https://tramis.de/) vorgestellt, in welchem die Autorin gemeinsam mit einem Forschungsteam der Universität Bremen und zehn engagierten Schulen aus dem gesamten Bundesgebiet erforscht hat, mit welchen praxisrelevanten Ansätzen Schule dem Umstand begegnet bzw. begegnen sollte, dass nicht alle Schüler:innen ihren gesamten Bildungs- und Lebensweg in Deutschland verbringen. Die Verwendung des Mobilitäts-Konzepts als theoretischer Grundlage ermöglicht ihr eine Erweiterung der Perspektiven auf bereits erfolgte bzw. potenzielle transnationale Bewegungen aller Schüler:innen und ihre Bedeutung für den Wandel von Schule – ein angesichts der jüngeren Fluchtmigrationsbewegungen aus Syrien, Afghanistan und der Ukraine hochaktuelles Thema. Es geht damit also um die Frage, wie sich Schule für die Bedarfe der vielfältigen Schüler:innen öffnet, die aus unterschiedlichen Gründen transnational mobil waren, sind und sein werden. Als theoretische Matrix der Studie werden die von dem Bildungssoziologen Helmut Fend in seiner »Theorie der Schule« entwickelten gesellschaftlichen und individuellen Funktionen von Schule zugrunde gelegt. Mit einer kritischen Diskussion und migrationsgesellschaftlich orientierten Ausdifferenzierung und Ergänzung von Schulfunktionen wird ein theoretisches Gerüst gebaut, auf dessen Basis die erhobenen Daten interpretiert werden, denen in anschaulichen Fallvignetten dargestellte, typische Situationen transnationaler Mobilität von Schüler:innen zugrunde lagen. Schließlich plädiert sie basierend auf den entlang des Paradigmas von Transnationalität erweiterten Schulfunktionen dafür, Migration und Mobilität als inhärente Kennzeichen der gegenwärtigen Gesellschaft anzuerkennen, und somit gesellschaftliche Transformationsprozesse stärker als bisher unter der Perspektive von Transnationalität zu begreifen. Daraus wird eine Verantwortung für das Regelsystem der öffentlichen allgemeinbildenden Schulen hergeleitet: Es müsse den im transnationalen Raum entstehenden diversen Bedarfen aller Kinder und Jugendlichen gerecht werden und die so erweiterte Perspektive auf die Bildungsbedarfe aller Schüler:innen zur eigenen Transformation nutzen. Hierzu gehöre auch ganz selbstverständlich die Adressierung junger Menschen, deren Zukunft nicht zwangsläufig auf Deutschland ausgerichtet ist oder nicht ausgerichtet sein kann, da sie sich aus unterschiedlichen Gründen nur temporär in Deutschland aufhalten. Exemplarisch für die Öffnung schulischer Perspektiven gegenüber ihren Bedarfen nennt Vogel die Erprobung neuer Beschulungsmodelle für geflüchtete ukrainische Schüler:innen.
Auf eine andere Ebene der migrationsgesellschaftlichen Transformationsbedarfe allgemeiner Bildung verweist der Beitrag von Hans Vorländer und Ender Yilmazel. Sie stellen in ihrem Artikel die Forschungsergebnisse ihrer aktuellen »Lehrplanstudie Migration und Integration« vor. Exemplarisch wurden in dieser die Lehrpläne der Bundesländer Bayern, Berlin, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Sachsen aus Gymnasium, Real-/Ober- und Gesamtschule in den Fächern Geographie, Geschichte und Politik analysiert. Außerdem wurden qualitative Interviews mit Lehrkräften und Akteur:innen von Schulentwicklungsinstituten, Landesbehörden sowie mit Lehrkräftefortbildungseinrichtungen geführt. In den gesammelten empirischen Daten wurden Antworten auf die Fragen gesucht, wie oft und in welchen Kontexten Migration und Integration in Lehrplänen thematisiert werden, wie die Lehrplanentwicklung organisiert ist und welche Chancen und Herausforderungen beim Transfer von Lehrplänen in die Unterrichtspraxis bestehen. Die Ergebnisse sind vielfältig und aus migrationsgesellschaftlicher und insbesondere diskriminierungskritischer Perspektive aufschlussreich. So wird etwa herausgearbeitet und moniert, dass Deutschland als Einwanderungsgesellschaft in den Lehrplänen bislang kaum thematisiert und somit als gesellschaftliche Realität und gemeinsames Identifikationsangebot für alle Schüler:innen nicht sichtbar werde. Erhebliche Mängel sehen die Autoren der Studie auch in der Verwendung eines problematischen, auf Herkunft verengten Kulturbegriffs und der mangelnden Thematisierung von Diskriminierung und Rassismus als sowohl struktureller gesellschaftlicher Problematik wie auch Problem individueller Haltungen und Handlungen in den Lehrplänen. In der praktischen Konsequenz aus diesen Befunden werden abschließend Empfehlungen für die künftige inhaltliche Ausgestaltung von Lehrplänen formuliert. Die Ergebnisse der Studie sind sowohl für die Bildungsadministration und -politik wie auch sehr konkret für Lehrer:innen interessant, da sie ihnen eine kritische Sicht auf den bildungspolitischen und -administrativen Diskursrahmen bieten, der sich in den Lehrplänen spiegelt. Damit wird Lehrer:innen die Möglichkeit eröffnet, sich informiert und reflektierend zu diesen in ein Verhältnis zu setzen sowie die auf dieser Basis erstellten Lehrmaterialien einer kritischen Revision für die Anwendung im Unterricht zu unterziehen.
Saphira Shure befasst sich in ihrem Beitrag aus der Perspektive kritischer erziehungswissenschaftlicher Migrationsforschung mit dem Stellenwert des ›Pädagogischen‹ in der Lehrer:innenbildung. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie angesichts der Gefahr der Technologisierung der Lehrer:innenbildung diese ihre Aufgabe Migrationsgesellschaft zu vermitteln erfüllen kann. Ihr Blick richtet sich theoretisch wie empirisch fundiert auf die in der Lehrer:innenbildung geführten Auseinandersetzungen mit dem Stellenwert, der Zielrichtung, den Einflussfaktoren und Referenzen der dort verankerten bildungswissenschaftlichen Anteile. In diesem Zusammenhang setzt sich Saphira Shure kritisch mit kompetenztheoretischen Ansätzen in der Professionalisierungsforschung als bildungswissenschaftlich breit referenzierten Ansätze auseinander. Hier erkennt sie ein auf die Aneignung von situativer Handlungsfähigkeit verkürztes Verständnis von Professionalität und kritisiert, dass die reflexive Auseinandersetzung mit bestehenden gesellschaftlichen Anforderungen an den Lehrer:innenberuf als Element der Professionalisierung zu kurz komme. Problematische Effekte derartiger Tendenzen würden in der Beschäftigung mit dem allgemeinpädagogisch relevanten Topos Migration in der Lehrer:innenbildung besonders offenkundig, was sie exemplarisch mit der Analyse empirischen Materials verdeutlichen kann. Daraus abgeleitet formuliert sie in Anschluss an Paulo Freire Anforderungen an die (Re-)Aktivierung des ›Pädagogischen‹ in der Lehrer:innenbildung und arbeitet die hierfür notwendige Stärkung einer programmatischen Idee von Lehrer:innen als Politiker:innen und Künstler:innen heraus.
Andrea Daase greift in ihrem Beitrag »Migrationsbezogene Mehrsprachigkeit und Deutsch als Zweitsprache in der Schule« ein wichtiges Thema des Umgangs mit Diversität im monolingual orientierten deutschen Schulsystem auf. Ausgehend von der Feststellung, dass gesellschaftliche und individuelle Mehrsprachigkeit Deutschland maßgeblich prägen, und damit unter Verwendung eines erweiterten Verständnisses von Mehrsprachigkeit richtet sie den Blick auf empirische Studien zur Mehrsprachigkeits- und Zweitspracherwerbsforschung. Sie präsentiert aktuelle Erkenntnisse, die weit verbreiteten Vorstellungen einer Problematik des mehrsprachigen Aufwachsens für die Aneignung des Deutschen als Zweitsprache deutlich widersprechen. Denn Mehrsprachigkeit wird bislang aus der Perspektive der Schule noch häufig als Risikofaktor für den Bildungserfolg wahrgenommen. Andrea Daase entfaltet in ihrem Beitrag einen Begriff von Mehrsprachigkeit, die nicht zwangsläufig mit eigener oder familiärer Migrationserfahrung verbunden sein muss, und kann damit alle Schüler:innen und ihre diversen Sprachbiographien in die weiteren Überlegungen für die Vermittlung von allgemeiner (sprachlicher) Bildung einbeziehen. Hieran anknüpfend macht sie den Begriff der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit im Kontrast zur bildungsidealisierten Mehrsprachigkeit stark, indem sie die sprachlichen Verhältnisse in Migrationsgesellschaften sowie die daraus resultierenden Implikationen für die Mehrsprachigkeit von Kindern und Jugendlichen systematisch herausarbeitet. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Darstellung der individuellen Entwicklung der Zweitsprache Deutsch gelegt. Es werden konkrete Aufgaben und Verantwortlichkeiten von Schule insgesamt, nicht nur bezogen auf das Fach Deutsch, sondern fächerübergreifend, für den Umgang mit und den Ausbau von sprachlicher Vielfalt benannt und innovative Ansätze und Konzepte skizziert, wie etwa Translanguaging in allen Fächern, nicht ohne abschließend auf die weiterhin bestehenden Herausforderungen im Handlungsfeld Mehrsprachigkeit in der Schule hinzuweisen.
In seinem Beitrag »Religiöse und weltanschauliche Diversität in der Schule« beschreibt Alexander-Kenneth Nagel Schulen als Orte der konkreten interkulturellen und interreligiösen Begegnung. Er konzeptualisiert Schulen deshalb als »Laboratorien des Religionskontakts«, in denen unter Bedingungen gesellschaftlicher Pluralisierung und Individualisierung religiöse und nicht-religiöse Geltungsansprüche auch jenseits von Religionsunterricht verhandelt werden. Hieraus erwachse für die Schule eine zentrale pädagogische Gestaltungsaufgabe, die darin bestehe, »Erfahrungen von Pluralität und Differenz in pluralistische oder tolerante Werthaltungen zu übersetzen« und gewissermaßen ein kultiviertes interreligiöses Miteinander einzuüben. Ausgehend von einer Beschreibung der Verfasstheit der religiösen und weltanschaulichen Pluralität in Deutschland diskutiert Alexander-Kenneth Nagel vielfältige rechtliche und schulorganisatorische Aspekte, die daraus abzuleiten wären. Er skizziert die religionspädagogischen Implikationen religiöser Pluralisierung im Klassenzimmer und macht auf die Notwendigkeit religionssensibler Haltungen im gesamten Handlungsfeld Schule ebenso aufmerksam wie auf die ›Religionisierungsfalle‹, der zufolge allzu oft pauschal Religion bzw. (zugeschriebene) Religionszugehörigkeit als Deutungsfolie für Verhalten Verwendung finde. Schließlich wirbt er dafür, religiöse Prägungen auch im Zusammenspiel mit anderen Diversitätsdimensionen zu thematisieren, Religion als Ressource jugendlicher Selbstpositionierung in den Blick zu nehmen und den religiösen und weltanschaulichen Lebenswelten der Schüler:innen mit einer fragenden und suchenden Perspektive zu begegnen. Er resümiert, dass die Zunahme religiöser/weltanschaulicher Vielfalt und konfessionsloser Lebenshaltungen in der Migrationsgesellschaft eine Öffnung religionspädagogischer Formate erfordere, die auch Kooperationen zwischen dem Staat und den beteiligten Religionsgemeinschaften berühre.
Ellen Kollender präsentiert in ihrem Beitrag zwei empirische Untersuchungen zu Eltern im Kontext der Institution Schule in der Migrationsgesellschaft. Aus rassismustheoretisch informierter Perspektive analysiert sie am Beispiel des Bundeslandes Berlin bildungspolitische und schulische Konstruktionen von Eltern mit sog. Migrationshintergrund. Die Blaupause für die Studie bilden einschlägige machtkritische Analysen von schulischen Bildungsungleichheiten im deutschsprachigen Forschungsraum, die u. a. den ›Migrationshintergrund‹ als erklärende Variable für ›Bildungsproblematiken‹ kritisieren, insbesondere in Verknüpfung mit essentialisierenden und kulturalisierenden Bezugnahmen auf den familialen Hintergrund bzw. das Elternhaus von Schüler:innen. Kollender kann so empirisch nachweisen, dass Rassismus nicht nur Schüler:innen und Pädagog:innen betrifft, sondern sich auch auf das Verhältnis von Eltern und Schule insgesamt auswirkt. Im Zentrum der Analyse von Ellen Kollender steht die Auseinandersetzung mit rassistischen Logiken, die das Verhältnis von Eltern und Schule konfigurieren. Es wird u. a. aufgezeigt, welche Erfahrungen Eltern mit institutionellen und individuellen Formen von Rassismus und Diskriminierung in der Schule ihrer Kinder machen. Die elterlichen Erfahrungen werden vor dem Hintergrund der aktuellen (bildungs-)politischen Diskurse beleuchtet und im Kontext schulischer Wissensbestände und Routinen reflektiert. Dabei werden vorherrschende und pejorative Bilder bezogen auf Elterngruppen bestimmter natio-ethno-kultureller Zuschreibungen sichtbar, die das Denken und Handeln von Pädagog:innen prägen. Kollender leitet aus ihren Untersuchungsergebnissen ab, wie Eltern künftig sowohl differenz- wie auch rassismussensibel adressiert und stärker an der Gestaltung von Schule beteiligt werden können. Sie plädiert dafür, Elternbeteiligung grundlegend als Teil rassismussensibler Schulkultur zu denken.
Jeff Bale bereichert den Band mit seinem Beitrag »Multilingualism, Language Education, and the Politics of Comparison« um eine kanadische Perspektive. Er führt ein in kanadische Debatten um Mehrsprachigkeit und rüttelt damit am Mythos der toleranten, offenen und multikulturellen kanadischen Gesellschaft, die oft als Modell für Europa und im schulischen Kontext Deutschlands als Vorzeigeland für Bildungsgerechtigkeit bemüht wird. Bale argumentiert, dass man am Beispiel Kanadas viel über das Management von Vielsprachigkeit und Mehrsprachigkeit im Bildungssystem lernen könne, aber eben nicht nur Vorbildliches. Er konfrontiert die Lesenden mit dem historischen (Stichwort: Siedler-Kolonialismus) und gegenwärtigen Rassismus der kanadischen Gesellschaft, der über bildungs- und sprachpolitische Maßnahmen aufrechterhalten werde. Wer Kanada nur als positives Vorbild für den Umgang mit Mehrsprachigkeit und Multikulturalität beschreibe, ignoriere die etablierten und kaum hinterfragten rassistischen und sprachlichen Hierarchien und Ordnungen an kanadischen Schulen, insbesondere bezogen auf die verschiedenen Gruppen von indigenen Bevölkerungsgruppen Kanadas, deren Sprachen bis heute marginalisiert seien. Bale macht es sich daher in seinem Beitrag zur Aufgabe, die hier wirksamen machtvollen Ordnungen zu benennen und deren Wirkung auf rassifizierte mehrsprachige Lernende empirisch nachzuweisen. In diesem Zusammenhang präsentiert er Analysen und Beispiele aus Interviews mit Schüler:innen und Lehrkräften, die im Rahmen einer aktuellen Studie erhoben wurden, welche er mit einem Forschungsteam an der University of Toronto durchgeführt hat. Hier werden zunächst die politischen und damit strukturellen Rahmenbedingungen kritisch unter die Lupe genommen, an denen die curriculare Gestaltung und die Organisation des schulischen Sprachunterrichts in der Provinz Ontario (Kanada) ausgerichtet sind. Anschließend werden die Folgen und Wirkungen dieser sprach- und schulpolitischen Maßnahmen im Hinblick auf die Lebens- und Lernerfahrungen rassifizierter und mehrsprachig aufwachsender Schüler:innen an Ontarios Schulen untersucht. Schließlich werden konkrete Möglichkeiten aufgezeigt, wie Lehrkräfte die sprachliche und rassistische Ordnung durchbrechen und mehrsprachige Lernende effektiver begleiten und unterstützen können.
Doğmuş, A.; Karakaşoğlu, Y. und Mecheril, P. (Hrsg.) (2016): Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Georgi, V. (2015): Vielfalt lernen und leben. In: U. Kober (Hrsg.): Klasse Vielfalt – Chancen und Herausforderungen der interkulturellen Öffnung von Schule. (S. 7 – 28). Gütersloh: Bertelsmann Verlag.
Georgi, V. & Keküllüoğlu, F. (2018): Integration-Inklusion. In: I. Gogolin, V. B. Georgi, M. Krüger-Potratz, D. Lengyel & U. Sandfuchs (Hrsg.): Handbuch Interkulturelle Pädagogik (S. 41 – 46). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.