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"Rotzig und respektlos, sexy und sentimental, spannend und politisch unkorrekt." FRANK GOOSEN
Die Omma ist eine Ruhrpottikone. Sie war mal Wirtschafterin im Puff, bis sie den brutalen Zuhälter nicht mehr ertragen und ihn kurzerhand mit einer Flasche Korn erschlagen hat. Als die Mitzi, ehemalige Prostituierte und enge Vertraute der Omma, plötzlich stirbt, bricht die Omma alle Zelte in Essen ab und zieht zu ihrer Enkelin Bianca. Nach Berlin-Kreuzberg. Bianca wundert sich sehr, dass die vitale Mitzi plötzlich tot sein soll und die Omma ihr geliebtes Essen verlässt. Bianca stellt immer mehr Fragen - bis sie eine Antwort erhält, die sie nicht hören wollte ...
Anna Basener ist ein todkomischer Roman mit zwei unerschrockenen Heldinnen gelungen, die erst dann wirklich zur Familie werden, als sie gezwungenermaßen zusammenziehen.
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Seitenzahl: 370
Die Omma ist eine Ruhrpottikone. Sie war mal Wirtschafterin im Puff, bis sie den brutalen Zuhälter nicht mehr ertragen und ihn kurzerhand mit einer Flasche Korn erschlagen hat. Als die Mitzi, ehemalige Prostituierte und enge Vertraute der Omma, plötzlich stirbt, bricht die Omma alle Zelte in Essen ab und zieht zu ihrer Enkelin Bianca. Nach Berlin-Kreuzberg. Bianca wundert sich sehr, dass die vitale Mitzi plötzlich tot sein soll und die Omma ihr geliebtes Essen verlässt. Bianca stellt immer mehr Fragen – bis sie eine Antwort erhält, die sie nicht hören wollte …
Anna Basener wurde 1983 in Essen geboren. Ihr Studium in Hildesheim hat sie mit dem Schreiben von Romanheften finanziert und war laut ZEIT die »erfolgreichste Groschenromanautorin Deutschlands«. Ihr Ratgeber Heftromane schreiben und veröffentlichen gilt, so der Deutschlandfunk, als Standardwerk. Vom Groschenroman hat sie sich inzwischen gelöst, geblieben aber ist eine große Liebe für Eierlikör und Kitsch, Trash und Popliteratur.
ANNA
BASENER
Roman
Als die Omma den Huren noch Taubensuppe kochte
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München © FinePic®, München
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-3974-1
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
I’ll take my clothes off and it will be shameless’Cause everyone knows that’s how you get famous
Lily Allen
»Ja?«
»Watt ist denn datt für’n Ton?«
»Ich weiß nicht, Omma. Du rufst mich um vier Uhr nachts an. Was hast du denn erwartet?«
»Ein erquicklichen Ton. Ist doch Ersten Mai. Alles Gute zum Tag der Arbeit.«
»Bist du besoffen?«
»Datt will ich hoffen. Bei die ganzen leeren Flaschen hier.«
»Okay. Dir auch alles Gute zum Tag der Arbeit.«
»Feierst du datt denn nicht?«
»Äh … Ich feier meinen Geburtstag. Zum Beispiel. Da hast du nicht angerufen.«
»So Einwände kannst du dich sparen. Ich hab doch bei die Mitzi auf die Karte unterschrieben.«
»Jaja. Was ist denn das für ein Lärm? Feiert ihr groß?«
»Jau. Sind alle da. Nur du nicht.«
»Ich wohn in Berlin, Omma. Für mich ist der Weg weiter als für alle anderen.«
»Nee, Bianca. Datt ist nur eine Frage der Protäten.«
»Ach ja? Und was ist mit deinen Prioritäten? Du könntest mich auch mal besuchen. Oder Interesse an meiner Arbeit zeigen.«
»Watt machst du noch mal?«
»Jetzt lenk nicht ab. Vorbeikommen sollst du. Oder ihr beide. Den Tag der Arbeit in Kreuzberg. Das müsstest du mal sehen. Da brennen Autos.«
»Soll datt watt Besonderes sein? Wenn ich nur an die Experimente von dein Stratege von Vater denke … Ich kenn brennende Autos.«
»Aber hier brennen die aus Protest. Omma, es gibt wirklich tausend Gründe, mich mal zu besuchen.«
»Du, da sagt die Mitzi grad für mich, datt den Schabau alle ist. Muss auflegen.«
»Klar.«
»Halt dir gerade, Mäuseken.«
»Klar. Tschüss, Omma.«
Ich gähne und lege das Telefon weg, als die Louise durch ihre Tür brüllt: »Wenn die noch ein einziges Mal mitten in der Nacht hier anruft, dann bring ich sie um!«
Das kann die Louise natürlich gern versuchen. Sie müsste dafür nach Essen-Rellinghausen fahren, aber wenn eine Straftat ihr Begehr ist, dann bitte.
Allerdings muss man über die Omma noch wissen, dass sie in Sachen Verbrechen vom Typ her eher nicht so das Opfer ist.
Im Gegentum.
Putzen. Nicht gerade Ommas Berufung. Nur weil sie gut darin ist, heißt das nicht, dass jedes feuchte Durchwischen von Herzen kommt. Sie will es halt sauber haben, hat einen gewissen Anspruch und eine unerschöpfliche Menge an Reinigungsbenzin.
»So ein Hotel muss schließlich watt hermachen«, hat die Omma oft gesagt, den Staubwedel untern Arm geklemmt und noch einen Samtkragen gekippt. So war das an Karneval. Und an Ostern. Und selbstverständlich am Ersten Mai, und das ging dann immer so weiter durch das ganze Jahr, das kann man sich ja vorstellen. Genau genommen war das damals natürlich gar kein Hotel, sondern ein Puff. Aber das machte die Arbeit nur anspruchsvoller.
»Eine einzige Komplexät mit die Damen und die Herren und datt Geld.«
Die Omma hatte so manche Weisheit parat. Sie war stolz auf dreckfreie Flächen und hatte für jeden Kleckser ein bis drei Lösungen. Aber ihr ging es immer um mehr, aufs Putzen ließ sich die Omma nie reduzieren. Immerhin war sie ja vor allem Wirtschafterin – und zwar eine flotte. Sie hatte zum Beispiel recht schnell ne Dauerwelle, noch vor den Damen im d’Amour. Natürlich war sie auch eine der Letzten, die noch Dauerwelle hatte, als die Welle längst vorüber war, aber so ist das mit der Omma nun mal.
Bei der Arbeit gab’s Kittel über ihre Versandhaus-Shirts und die langen Ladyzigaretten im Mundwinkel. Sie raucht Eve. »Ein Hauch von Eve steht jeder Frau.« Die haben so eine Blumenborte am Ende des Filters, und die Plastikfingernägel von der Omma sind immer in einer der Farben, die in der Blumenborte vorkommen. Logisch.
Rauchen kann tödlich sein – und wenn schon. Das Leben kann tödlich sein, und davon kann die Omma aber mal ein Liedchen singen. Sie hat eine tiefe Stimme, und wenn sie besoffen ist, dann stiert sie mit Schlafzimmerblick auf die Tischplatte, stemmt ihren Ellbogen auf und singt Dolly-Parton-Songs, während Eve in ihren Fingern zu Asche wird.
Aber zurück zum Hotel, zurück zum Anfang. Die Omma war natürlich ein heißer junger Feger mit bunten Plastiknägeln, und sie hatte die Damen im Griff. Schon vor 1960, als alles anfing, hatte die alles im Griff. Wenn der Herbert nicht weiterwusste, dann hat er die Omma gefragt. Gut, er hat sie angebrüllt, und sie hat ihn ignoriert, aber das hat am Ende meistens geholfen. Wenn die Damen nicht weiterwussten, haben sie die Omma gefragt. Denn dem Herbert ist manchmal die Hand ausgerutscht, und da brauchte es einfach jemanden, der zurückschlägt. Da flogen dann die Ohrfeigen hin und her, dank der Omma war das keine Einbahnstraße. Wenn sie selbst nicht weiterwusste, dann … Nein, eigentlich wusste sie immer weiter.
Sie hat mit neunzehn im Hotel angefangen, und der Herbert hat ihr quasi ab dem ersten Tag den Hof gemacht, aber da war das Herz von der Omma längst für den Kalle entbrannt. Die schmale Mitzi aus der roten Vierzehn hat Ommas Herz in dieser Sache zugestimmt. Der Bordellbesitzer, auf den war ja kein Verlass, wenn man was Treues wollte. Wenn dem Herbert nicht die Hand ausgerutscht ist, dann ist ihm nämlich der Lümmel rausgerutscht – raus, und dann überall rein.
Aber zurück zu dem Objekt von Ommas Begierde. Der Kalle war Schweißer mit Adern auf den muskulösen Oberarmen und grünen Augen. Er war groß und stark und sanft wie ein Lämmchen. Den sollte sich die Omma mal schön warmhalten, haben auch die Mitzi und die dralle Ulla aus der lila Neun empfohlen und explizit von Warmhalten gesprochen. Aber bei aller Liebe, da hat die Omma nix von verstanden, bei der war’s immer gleich heiß. Warmhalten – tsss – l’Amour ist doch keine Erbsensuppe. Die Omma war so schnell schwanger, so schnell kannst du nicht mal Essen-Katernberg sagen.
Und dann kam die Hochzeit. Die Mitzi hat sich fein gemacht, die Ulla hat geheult, und der Herbert hat sich besoffen und in den Klingelbeutel gekotzt.
Jedenfalls haben sie und der Kalle für die Hochzeitsnacht die rote Fünf bekommen, das größte Zimmer im d’Amour, und die Omma musste drei Wochen nicht putzen. Das waren Flitterwochen, von denen ganz Rellinghausen gesprochen hat. Das Bett hat gequietscht, die morschen Dielen haben geknarzt, das ganze Hotel hat gewackelt. In rotem Plüsch und auf durchgelegener Matratze haben die sich so laut und oft geliebt, dass alle Freier Komplexe bekommen haben.
Kalles Standfestigkeit war nicht gut fürs Geschäft. Auch weil es ja ohne die Omma recht ungepflegt im Hotel war. Keiner sonst hatte ein bis drei Lösungen für den Dreck d’Amour. Meistens gab’s nicht mal eine Lösung, da gab’s nur Unrat und Blutergüsse und Hobbyflecken. Der Herbert hatte in dieser Zeit eben keinen, der zurückschlägt.
Natürlich war da dieser eine Freier, der es versucht hat. Aber den hat der Herbert ins Krankenhaus geprügelt. Das rechte Auge von dem Heiopei war danach nicht mehr zu gebrauchen, der Rest ist mehr oder weniger verheilt. Wär der Herbert nicht so voll von Klarem und Kummer gewesen, er hätt’s wahrscheinlich mitbekommen – das mit der Geschäftsschädigung, nicht das mit Kalles Standfestigkeit, die ist ihm nicht entgangen, die war ja der Grund für alles. Die hat doch erst zum Klaren geführt. Und zu den Blutergüssen.
Aber die schmale Mitzi und die dralle Ulla und die anderen haben nicht gesondert auf die verschreckten Freier oder den Dreck hingewiesen. Die haben sich für die Omma gefreut, Schläge eingesteckt und die langen Beine in den Strapsen einfach auch mal baumeln lassen. Dann blieben die Döschen halt mal eine Weile geschlossen, muss doch auch mal sein.
Es war im Großen und Ganzen für alle eine gute Zeit. Für diesen einen Freier und den Herbert jetzt nicht, aber lassen wir die halt mal außen vor. Die Omma hat nen Jungen bekommen, dann noch einen. Ja, da lag kaum mehr als ein Jahr dazwischen, der Kalle, das war schon einer.
Die schmale Mitzi hat sich privat nicht so für einen bestimmten Mann interessiert, ihr Interesse galt was anderem. Sie hat dann irgendwann angefangen, den Herbert zu bescheißen. Da wanderte eine Mark nach der anderen in Mitzis Tasche. Die dralle Ulla mochte das Geld auch, aber ihr Herz war weich und einsam. Sie hat dem Herbert deshalb klipp und klar gesagt, dass sie genug habe, jetzt nicht länger seine Hure sei und er endlich eine ehrbare Frau aus ihr machen solle. Ja, die hat von l’Amour noch am allerwenigsten verstanden und gedacht, der einzige Mann, der sie nicht fürs Bumsen bezahlt, der muss der Eine sein.
Der Herbert jedenfalls, der war eher verwirrt. Mitzis Betrügereien sind von Ullas Avancen einigermaßen gedeckt worden. Wer achtet schon auf eine neue Handtasche oder teure Schuhe, wenn man ständig Ullas dralle Brüste vor Augen hat. Und natürlich auch Ommas Glück. Sie hat gestrahlt und gelacht und war das blühende Leben. Da soll man noch an was anderes denken, wenn die Omma mit Eve im Mundwinkel und Wonneproppen an der Brust die Glücksgöttin gibt.
Aber nix währt ewig, der Dreck kommt immer wieder, und der Kalle, das war auch nicht der Oppa. Nicht meiner jedenfalls. Aber reden wir nicht von mir. Es geht gar nicht um mich. Jetzt war erst Mal Kalles Zeit gekommen. Und das hatte mit einem Kaugummiautomaten zu tun.
Es war ein Unfall. Der Kalle wollte mit dem Mofa zur Werkstatt fahren und ist nie angekommen. Er fuhr vor einen Kaugummiautomaten, nicht irgendeinen, nein, den ersten in ganz Rellinghausen. Er fuhr davor. Und starb.
Nee, das war nicht schön, aber das war so. Der Ernst des Lebens ist ein Komiker und ein Arschloch. Da war die Stimmung im Hotel monatelang im Keller. Ja, man kann alles in allem sagen, dass die Omma ein heißer Feger war, aber dennoch schlecht für die Konjunktur des d’Amour. Es hing halt doch alles von ihrem Gemütszustand ab in diesem Haus. Und sie hat emotional damals schon was erlebt. Vierundzwanzig und Witwe und alleinerziehende Mutter – und dann stand plötzlich der Papa in Aussicht.
In der Trauer ist die Omma eben schwach geworden, und der Oppa war erst neunzehn und ganz unbedarft. Ein schmucker Bergmann, den man wohl eher hätte Junge nennen müssen. Er war dann auch zu jung für eine Hochzeit, hat sich irgendwie rausschlawinert.
Da hättest du den Herbert aber mal erleben sollen. Mein lieber Kokoschinski, fuchsteufelswild ist der geworden, hätte den Oppa glatt totgeprügelt, aber der hat sich weder im d’Amour noch in Ommas Leben je wieder blicken lassen. Er verdient es eigentlich auch nicht, Oppa genannt zu werden, die Sackfresse. Nicht mal der Papa hat ihn gekannt.
Die Omma hatte also das Hotel, den Papa und die anderen zwei, das hat sie alles abgelenkt. Der Herbert machte sich Hoffnungen, die Mitzi und die Ulla machten die Beine breit, und die Omma hat die Bullen geschmiert.
Das alles war lange vor dem Prostitutionsgesetz ProstG, da war nix mit legalen Puffs. Nur gewerbliche Zimmervermietung, aber nicht im Sperrgebiet. Und Rellinghausen war Sperrgebiet. Deshalb war das Hotel d’Amour auch wirklich ein Hotel, theoretisch gesehen, und wenn die Omma einem Freier erst mal die Welt erklärt hatte, dann fand der beim nächsten Mal auch den G-Punkt der Damen.
Und dann war wieder einmal Karneval, und die Omma ist schwach geworden. Der Herbert konnte ganz lieb gucken, und seine sprechende Faust hat’s ja meistens gut gemeint. Er durfte mit den Fingern durch ihre Dauerwelle wühlen und ihre Eve in Flammen setzen. Aber die Omma hat aufgepasst, das ist für sie ganz persönlich ohne Folgen geblieben. Ja, die hat von den Parisern nicht nur gepredigt. Da saß so ein Gummi schneller auf seinem Lümmel, als der Herbert Essen-Katernberg sagen kann, und der Herbert hat eh schon immer alle Vokale verschluckt. Apropos schnell. War auch schnell vorbei, die Nacht, die die Omma von allen vielleicht am ehesten bereut.
Die Omma war keine dreißig, als der Fritz in ihr Leben trat. Mit ihm kamen eine weitere Schwangerschaft, eine bescheidene Hochzeit – bei der es keinen Klingelbeutel gab, der Herbert aber trotzdem vor Kummer und Klarem gekotzt hat – und dann noch eine Schwangerschaft.
Das macht fünf Kinder von drei Männern, auch nichts, was man als Enkelin auf dem musischen Gymnasium in Essen-Werden von seiner Familie erzählt, von dem Hotel ganz zu schweigen. Aber festzuhalten ist dennoch, dass die Omma in ihrem Leben mehr Champagner gesoffen hat als alle Arztkinder meiner Oberstufe zusammen.
Wie auch immer, das war lange nach dem Hotel d’Amour, dem braunen Backstein-Zechenhaus mit den roten Vorhängen. Ursprünglich waren da mal vier Wohnungen drin gewesen, jetzt wurde da hart gearbeitet. Da hat die Omma sich ja nie einer Illusion hingegeben. Nur weil man etwas liegend tut, ist das nicht einfach oder gesellschaftlich anerkannt. Aber es lief, die Kasse klingelte, der Herbert schnaubte zufrieden und schielte nach der Omma – vergebens. Sie putzte und zeigte ihm die kalte Schulter.
Da hätte er aus lauter Verzweiflung fast die dralle Ulla geheiratet. Aber die Omma hat interveniert. Die Ulla wollte nun mal Liebe, und das konnte der Herbert nicht geben. Das hat dann endlich auch die Ulla verstanden und ist mit hängenden Schultern weggegangen. Für immer. Die Omma hätte das betrauert, wär nicht just an dem Tag auch der Fritz gegangen.
Er hatte es mit dem Herzen, für den war das Leben mit der Omma zu heiß, zu schnell, zu viel … Er hat aufs Leben im Weiteren dann einfach verzichtet.
Die Omma hat ihn fassungslos zu Grabe getragen. Da hat sie nicht mal geweint, sondern nur den Kopf geschüttelt und gehofft, dass sie bald aufwacht. Fünf Kinder, Wirtschafterin im Puff und zum zweiten Mal verwitwet … Außerdem war der Champagner viel zu billig und die Zeiten viel zu hart.
Monatelang saugte sie einer Eve nach der anderen das Leben aus, putzte manisch, aber geistesabwesend. Sie murmelte, dass es noch nie so schmutzig im d’Amour gewesen sei und dass früher zumindest das besser gewesen wäre. Und die Omma hat der Vergangenheit sonst nie nachgetrauert. Sie hat immer nach vorn gesehen. Aber so eine Einstellung aufrechtzuerhalten, wenn es vorn keinen Herzensmenschen mehr gibt und hinten gleich zwei, das ist natürlich schwer. Sie rauchte und putzte und tat sonst nichts. So weit unten war sie vorher nie gewesen. Die Mitzi rüttelte an ihren Schultern, und die fünf Kinder – zwei davon schon erwachsen –, die rüttelten auch, allein der Herbert traute sich nicht so richtig. Je weniger er von der Omma haben konnte, desto mehr nahm er sich vom Korn. Überall im Hotel waren für und von ihm Flaschen verteilt, immer zu seiner Bereitschaft.
Und dann fand er eines Tages statt des gesuchten Korns seine Finanzbuchhaltung und hat sie halt mal aufgeschlagen. Da fehlt jetzt aber irgendwie was, hat er in einem nüchternen Augenblick begriffen. Dafür war die Omma zuständig, aber er hat sich nicht getraut, sie darauf anzusprechen, und weitergesoffen. In einem anderen nüchternen Moment Monate später fiel ihm auf, dass Mitzis rote Vierzehn um einiges besser ausgestattet war als die Zimmer der übrigen Damen. Die Mitzi hatte ihn beschissen, hatte seit unzählig vielen Jahren Geld zurückbehalten, er sah es plötzlich glasklar.
Der Herbert war kein klassischer Hotelier. Oder Vermieter. Ein Puff ist kein Streichelzoo, auch wenn das auf den ersten Blick so scheinen mag, und alle netten Anekdoten von der Omma mal beiseite, das war dunkelste Bergbau-Halbwelt.
Jedenfalls ist der Herbert explodiert und hat die schmale Mitzi grün und blau geprügelt. Die hat versucht, sich zu wehren, aber vor allem hat sie geschrien. An der war nämlich leider nix dran, wo sie irgendwelche Kraft hätte hernehmen können.
Und die anderen Damen? Die waren eher gelähmt von dem Geschrei, dachten vielleicht auch, das wär die Lust. Wer konnte sich da sicher sein?
Wer? Na, die Omma natürlich. Die war gerade mechanisch am Treppenputzen, die frisch entzündete Eve im Mundwinkel, als der Herbert an der Mitzi loslegte und das Schreien das Haus erschütterte. Da war das aber vorbei mit Lethargie, schwarzem Loch und Fassungslosigkeit ob des eigenen Witwendaseins. Da ließ die Omma den Schrubber fallen und schlitterte über die nassen Stufen hinauf in den ersten Stock.
Sie riss die Tür der roten Vierzehn just in dem Augenblick auf, als der Herbert sich die Hose öffnete. Er wollte sich von der kaputten, blutbeschmierten, grünblauen Mitzi nehmen, was er von der intakten Mitzi wahrscheinlich auch so bekommen hätte. Hätt halt nett fragen müssen.
Aber so, wie die Mitzi dalag und vor Schmerzen stöhnte, wie der Herbert seinen Lümmel hervorholte, da gingen der Omma tausend Lichter auf. Von wegen Hotel, von wegen Ohrfeige um Ohrfeige, von wegen gute Zeit, wenn man Schläge einsteckt, von wegen harte Arbeit und G-Punkt finden. Wenn das hier ein richtiges Bordell gewesen wäre, dann hätte die Wirtschafterin nicht putzen müssen. Von wegen Komplexät und anspruchsvolle Arbeit.
Von wegen. Nicht hier. Nicht so!
Da hatte die Omma plötzlich nicht nur ihren Fritz vergessen, da wusste sie auf einmal, dass sie in ihrem ganzen Leben nicht genug putzen konnte, um das d’Amour sauber zu kriegen. So einen Dreck wie den Herbert, den kriegst du nicht raus.
Also nahm die Omma die volle Flasche Korn vom Fensterbrett und zog sie dem Herbert über den Kopf.
Er taumelte. Sie holte noch mal aus und ließ ihn mit einem zweiten Schlag zu Boden gehen. Er bewegte sich nicht mehr, sein Blut mischte sich dort unten bald mit Mitzis.
Die brennende Eve noch im Mundwinkel, beugte die Omma sich zu Mitzi hinunter, half ihr auf und schleppte sie aus dem Zimmer.
Im Treppenhaus lehnte die Omma die dürre Mitzi dann an die Wand, klemmte sie halb hinters Treppengeländer und holte eine Flasche aus der Abstellkammer. Sie goss Reinigungsbenzin über die morschen Treppendielen, die trockenen, die sie noch nicht geputzt hatte. Sie tränkte auch die Vorhänge, ließ die Flasche achtlos fallen und schob die Mitzi aus dem Haus.
Kaum draußen, wandte die Omma sich um und warf den Rest ihrer brennenden Eve in den Hausflur. Die Blumenborte ertrank in einer Lache Benzin. Ommas Plastiknägel waren an dem Tag leuchtend orange.
Und dann kamen die Flammen, auf sie war Verlass. Sie leckten bald über Wände und wanderten durch das ganze Haus. Rauch quoll aus den Fenstern, die Flammen loderten hinterher und nahmen Besitz von den roten Vorhängen. Leicht bekleidete Damen hüpften hustend aus Fenstern im ersten Stock oder eilten zur Hintertür. Sie schafften es alle raus. Alle, nur der Herbert nicht.
Die Mitzi sah die prasselnden Flammen mit verquollenen, aber leuchtenden Augen. Die Omma weinte plötzlich. Um Fritz und das Hotel. Sie hätte halt gern gehabt, wenn es wirklich eins gewesen wäre oder wenn es wirklich ihrs gewesen wäre, wenn ihr Job mehr als Putzen und Ohrfeigen gewesen wäre.
War aber nicht so.
Die Mitzi und die Omma haben noch am gleichen Tag beschlossen, sich zusammenzutun und eine Pension aufzumachen. Ohne l’Amour, dafür mit Frühstück.
Und am nächsten Tag ist die Omma dann wirklich Omma geworden. Das war auch schön, hat sie gesagt und einen Samtkragen gekippt.
»Watt darf ich nicht?«, brüllt die Omma. »Datt sind aber doch die Mitzi ihre Lieblingsblumen.«
Ein geschäftiger Herr in billigem Anzug – vielleicht nicht ganz C&A, aber auf keinen Fall Armani, und so wie der aussieht, könnte der auch Sparkasse – hat seine Hand auf ihre gelegt und beugt sich zu Ommas Ohr. Er flüstert und hält sich für furchtbar diskret.
»Watt?«, bellt die Omma ihm ins Gesicht.
Er räuspert sich und rückt an seiner schwarzen Krawatte. »Sie dürfen kein Plastik in die Gräber werfen. Das verrottet nicht und stört das ökologische System des Waldes.«
Die Omma ballt eine Faust um die Plastikblumen. Alle Augen aus dem schwarzen Heer der Trauernden sind auf sie gerichtet. So viele Menschen. Hier steht quasi der komplette Pott im Wald. Wir sind in Hagen, wo man die Asche von den Toten hinbringen darf, ohne ein gesetzliches Problem zu bekommen. Ansonsten hat hier keiner irgendeine Verbindung hin. Die Trauergesellschaft kommt aus Essen, ein bisschen Bochum und Gelsenkirchen, aber sonst viel Rellinghausen und Bergerhausen. Und um mich ein Hauch von Stadtwald.
Egal.
Alles egal jetzt. Man sagt, es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. Vor allem aber braucht es eine ganze Stadt, um eine Hure zu beerdigen. Eine Metropole.
Ich war noch nicht fertig mit ihr. Das Leben war noch nicht fertig mit ihr. Ob mein Kopf irgendwann einrastet und sich die beiden Worte Mitzi und tot dort oben verknüpfen? Ich greife in meine Handtasche, packe einhändig, noch in der Tasche, eine kleine Ritter Sport Weiße Pistazie aus und schieb sie mir in die Schnute. Aber die ist so schnell weggekaut und -geschluckt, dass ich kaum was schmecke. Ich hasse Vergänglichkeit. Ich hasse das alles. Ich will nach Hause, dahin, wo die Mitzi mich immer anruft. Hier erreicht sie mich nicht. Mein Handy ist ja auch aus.
Ich hab noch eine Ritter Sport Eierlikör.
Tot. Sie ist tot.
Ob die anderen hier das begriffen haben? Die alten Freier und Freunde? Und natürlich war mehr als einer von denen schwer verliebt. Das hat die Mitzi mir alles erzählt, als sie mir gezeigt hat, wie man sich die Beine und die Muschi rasiert. Das waren bei ihr immer allumfassende Workshops. Schön war das.
Es gibt auch Solide unter den Gästen. Weggefährten von der Mitzi aus der Zeit nach dem d’Amour. Gäste der Pension, die zum Beispiel während der Equitana immer voll ausgebucht war. Mit Pferdefreaks. Seltsame Menschen in Steppwesten, die alle zusammen nicht so interessant sind wie Ullas kleiner Finger (und das ist der ohne Nagelpiercing).
Ich hätte die nicht eingeladen. Das war bestimmt der Versolutzki. Der alte Pastek mit den polnischen Wurzeln mag so aufrechte Blusenmenschen voller Tierliebe.
Ein Loch im Waldboden. Zwischen Bäumen und Holzkreuzen das letzte Bett, eins ohne Beine breit machen, dafür mit Frieden. Ich steh ganz vorn, denn ich bin die Enkelin, die die Mitzi nie hatte. War. Präteritum.
»Du hast ja wohl den Arsch offen«, schnauzt die Omma den Anzugmann jetzt an. Er ist allem Anschein nach vom Beerdigungs-Waldbestattungs-Institut und wär auch gern eine Institution. Blöd nur, dass er keine ist, die Omma dafür aber umso mehr.
»Datt hier ist die letzte Ehre von eine große Frau, und Plastik ist schickobello. Weil datt nicht verrottet. Datt ist doch datt Schöne, weil wir alle nämlich Erde und Asche werden, nur die Rosen nicht.« Sie fuchtelt damit in der Luft rum.
»Merk dich datt!«
Ich tausche einen Blick mit dem Papa, der sich ein Schmunzeln nicht verkneifen kann, denn seine Mutter ist eine Institution – die jetzt angefüllt mit Empörung die Rosenhand hebt und dem Anzugmann die Plastikblumen einmal durchs Gesicht zieht. Sie zischen durch die Waldluft und klatschen in seine Sparkassenfresse.
Die Omma schlägt munter weiter auf den Anzugmann ein, der sich die Arme schützend vors Gesicht hält. Das kostet die Plastikblumen ihre Unversehrtheit. Nach zwei Schlägen sehen die fast so mitgenommen aus, wie ich mir die Mitzi an Herberts letztem Abend vorstelle, als die Omma sie aus dem Hotel gezogen hat. Nach drei Schlägen fallen zwei Plastikrosenknospen zu Boden, und der Versolutzki zieht die Omma vom völlig perplexen Sparkassenmann weg.
»Den Wald war eine Scheißidee, Pastek«, schnauzt sie den Versolutzki an. »Lass mich. Den Sausack kriegt getz voll einen an die Glocke.«
»Änne …«, mahnt der Versolutzki.
Die Doktor Brigitte kickt die Knospen währenddessen mit ihren breiten Gesundheitstretern scheinbar unbeabsichtigt und sehr treffsicher ins Grab. Und grinst dabei.
Siebzig und ein aufrechter Gang, der sogar den Versolutzki einschüchtert, das ist die Doktor Brigitte. Eigentlich ist die längst in Rente, Praxis hat jetzt irgendeine Nichte, aber einen Nachmittag macht die noch, und dann sind die Omma und die Mitzi da und lassen sich alles verschreiben und sich sagen, sie seien so gesund. Also die Mitzi ließ sich das sagen, bei der Omma wär das ja eine Lüge.
So gesund. Yoga und alles. Die Mitzi biegsamer, als ich es je war. Und jetzt so tot. Es will mir nicht in den Kopf. Die restlichen Blumen zittern in Ommas Hand. Ihre schmalen Schultern sind hochgezogen. Sie schnaubt und röchelt. Bald sind zwei ehemalige Freier bei ihr, und einer tut lauthals kund, dass man eine Dame nicht so behandeln dürfe, weder eine Aschemitzi noch eine schwarze Trauerkriegerin wie die Omma, die ja auch einen kleinen Tüllschleier in ihren Dauerwellen hat und eine ganz königliche Ausstrahlung.
Das Sparkassengesicht hat natürlich das denkwürdige Gegenargument, dass man vor allem ihn nicht so behandeln dürfe. Denn er hat ja jetzt Striemen im Gesicht. Aber das regelt der Versolutzki mit seiner sanften Stimme und seinem jovialen Selbstbild. Und Amen.
Dann räuspert der alte Pastor sich und setzt zu seiner Rede an. Er hat da was vorbereitet, weil natürlich keiner so oft bei der Mitzi war wie er. Wie ein Stammfreier aussieht? So! Collarhemd und alles. Und er beginnt damit, dass viel Gutes in der Mitzi war.
Die Omma schnaubt. Denn was soll anderes in der Mitzi gewesen sein als Gutes und hin und wieder mal ein Lümmel? Auch dreckige. Aber das macht den Menschen doch nicht schlecht.
Die Omma hat sich am Rand des Grabs positioniert, Fußnägel natürlich pedikürt, und die dicken Onkel stehen in den Sandalen etwas über. Durch ihren wackligen Tritt wirbelt goldbraunes Laub vom letzten Herbst auf und rieselt ins Loch hinunter.
Der Laubregen begräbt die Urne leise unter sich. Die Gravur verschwindet. Es steht eine Vierzehn auf der Urne, weil die Mitzi zeitlebens die Mitzi aus der roten Vierzehn war.
Jedenfalls stellt der Versolutzki die Mitzi hin wie eine hart geprüfte Frau, die eine Kehrtwende vollzogen und ihm am Ende die Maria Magdalena gegeben hat (in Bluse). Ein Postergirl für Katholizismus, die Beichtpraxis, Vergebung und das ganze Gedöns. Denn habe sie es nicht von der Hure zur Pensionswirtin gebracht?
Ja, schon. Aber hält der das für einen Aufstieg?
Und jetzt redet er vom Fegefeuer, als wär das alles keine Brandstiftung gewesen damals. Aber was weiß der schon. Ist ja auch ewig her. Dreißig Jahre. Da war ich nicht mal geboren.
Wie man heute Sex verkauft und an wen? Hier weiß das keiner so genau.
Ich auch nicht, ich mache nämlich mehr so in Kunst. Ich bin Designerin. Und meine Schlüppi-Kollektion, die ist ein heißes Versprechen. Projekt Sinnlichkeit. Ganz große Pläne. Ich halte mich in jedem Fall stolz. Und wenn man eine Sache über mich sagen soll, dann bitte, dass ich stolz und bunt bin. Was zwei Sachen sind und auf einer Beerdigung wohl schwierig. Ohne Tränen ist das hier alles überhaupt sehr schwierig. Ich weiß, dass Weinen angebracht wäre, aber das kann ich nicht so gut. Nicht mehr, seit ich ganz klein war. Ich heule einfach nicht. Ist so.
Die Omma und die Ulla schluchzen aber quasi für mich mit und halten sich an den Händen. Und die Ulla singt Aber schön war es doch von Hildegard Knef. Es war nämlich auch schön im d’Amour, und sie will das noch einmal erleben, und die Mitzi natürlich ganz großer Knef-Fan.
Die Omma trägt eine Lackledertasche quer über der Schulter ihres knöchellangen Pannesamtkleides. Eigentlich hätte ich gedacht, dass sie nicht weint. Dass sie in Schock ist. Noch jemand, der vor ihr geht, jemand, der jünger war und immer da. Aber die Omma heult.
Am Ende bin ich mehr oder weniger die Einzige, die der Mitzi was dalassen kann. Ich habe ihr einen Schlüppi Deluxe genäht. Alles echte Seide, das ist organisch. Deshalb darf es zu ihr hinunter. Hat sie wenigstens was Schickes zum Anziehen. Eine gute Garderobe fängt immer beim Schlüppi an.
Ich sehe zur Doktor Brigitte und sehe einen weißen Arztkittel, obwohl sie schwarz trägt und in Rente ist, seit ich denken kann. Von guter Garderobe weiß die nix. Ganz zu schweigen von dem richtigen Schlüppi. Die Mama hat mich zu anderen Ärzten als der Doktor Brigitte gebracht. Aber das hat nix mit Stil zu tun. Und ich saß ja noch mit fünfzehneinhalb beim Kinderarzt, weil der um die Ecke war und ich schon in seiner Kartei. Wie praktisch.
Heute ist die Doktor Brigitte ein weißes Leiden in Schwarz. Wie kann man einem Patienten überhaupt goldene Gesundheit versprechen, obwohl der kurz danach sterben wird? Eine Doktor Brigitte hat da doch mehr als eine Verantwortung, ungezählte Verantwortungen. Ich bin sehr enttäuscht, und die Omma wechselt jetzt hoffentlich die Ärztin. Vielleicht taugt die Nichte was.
Für den Leichenschmaus geht’s zurück nach Essen. Der Papa fährt, auf’m Beifahrersitz sitzt ein ehemaliger Freier in Bergmannsuniform und mit steifem Bein – wegen Unfall im Pütt von damals, als es noch Bergbau gab – und ich hinten zwischen der drallen Ulla und der Omma. In dieser Konstellation sind wir nicht gekommen, aber die Omma will auf keinen Fall in ein Auto mit der Sparkassenfresse, die wiederum aber in jedem Fall mit dem Versolutzki fährt, weil Letzterer eine tragende Rolle spielt und jetzt noch was unterschreiben muss.
Irgendwie hat der Papa es geschafft, alle Sitze in seinem alten Opel Calibra benutzbar zu machen. Normalerweise ist dieses Auto nämlich so was wie eine fahrende Werkstatt/Rumpelkammer/Schrottplatz. Der Kofferraum hinter uns ist bis unters Dach vollgestopft.
Die Omma hat nach wie vor die lädierten und knospenlosen Plastikblumen in der Hand, die Ulla weint leise in immer neue Papiertaschentücher, die an ihrem Nagelpiercing einreißen, und der Bergmannfreier sieht mit panischem Blick vom Tacho auf die A 40, die der Papa entlangbrettert, als wär gleich nicht genug Streuselkuchen für alle da.
Die Omma sieht aus dem Fenster. Sie ist eigentlich keine nervöse Natur, wahrscheinlich ist sie immer noch wütend wegen der Ökologie des Waldes. Ich lächle sie an.
»Wenn du magst, fahren wir heute Nacht zurück und werfen die Blumen heimlich ins Grab«, sage ich, weil das wär doch mal eine Story. Die Omma und ich nachts heimlich im Friedwald, wie wir die Urne einer Hure mit Plastikrosen bewerfen.
»Da ist datt Loch doch schon zu«, sagt sie und sieht mich nicht an.
»Meinste?«, frage ich und will so tun, als könnten wir mit Ommas Wut irgendwohin. Deshalb lass ich meine vage Vermutung klingen wie umfangreiches Wissen: »Manchmal bleibt so was noch offen.«
»Watt? Wieso datt denn? Die müssen datt doch zumachen. Die sind datt doch getz schon am Zumachen.«
Ich will erschreckt zurückweichen, aber da ist die Ulla in all ihrer mächtigen Weichheit, also blinzle ich bloß irritiert. Die Omma wendet sich an den Papa.
»Die machen so watt doch zu, oder, Ulli? Nicht datt da über Nacht noch wen dran kann. An die Mitzi ihre Asche.«
»Wer soll denn an die Asche wollen?«, frage ich.
»Watt weiß ich? Haste dein Handy dabei, Ulli?«
»Jau«, sagt der Papa und zeigt auf das alte Nokia in der Freisprechanlage.
»Tu mal den Versolutzki anrufen. Den soll für den Tortenarsch von den Bestattungshaus sagen, datt die datt zumachen sollen.« Das Bein von der Omma zittert direkt neben meinem.
»Als mein Heinz gestorben ist, war die Erde noch tagelang ganz weich«, sagt die Ulla. Ihre Stimme ist hoch, fistelig. »Den hätt ich praktisch selbst wieder ausgraben können.«
»Watt?«, fragt die Omma.
»Hier ist hundertzwanzig«, sagt Ludo, der Bergmannfreier.
»Datt seh ich«, versichert der Papa, sieht es aber eher nicht, weil er gar nicht auf die A 40 schaut, sondern auf das Nokia. Er tippt sich durchs Telefonverzeichnis.
»Ulli, tu getz den Versolutzki anrufen!«, befiehlt die Omma.
»Hundert«, kommt es vom Beifahrersitz.
»Nicht dass ich den hätte ausgraben wollen«, fügt die Ulla an.
»Zumachen«, wiederholt die Omma, »und dann volle Lutsche festtreten.«
Die Omma bemerkt meinen Blick auf ihr zitterndes Bein und wischt mit den Plastikblumen durch die Luft.
»Am Schlottern kannst du dich gewöhnen. Datt hab ich schon lang. Datt ist nix.« Sie stopft die Blumen in ihre Tasche und holt eine Schachtel Eve heraus.
Ludo krallt einen Arm in den Haltegriff über der Tür. Es ist das erste Mal, dass ich jemanden sehe, der den Griff benutzt. Ich komme aus einer Welt, in der der Papa die Füße immer in der Ölwanne hat. So hab ich’s von ihm gelernt, und der Calibra und ich können auch ganz schön Strecke machen. Dass man sich anschnallen muss, hielt ich früher für ein Gerücht, das die Mama verbreitete, um mich und den Papa zu ärgern. Eigentlich denke ich das noch immer. Die Omma wahrscheinlich auch, angeschnallt ist sie jedenfalls nicht. Was mich betrifft: In der Mitte gibt’s eh keinen Gurt.
Die Ulla ist auch nicht angeschnallt, was wahrscheinlich an ihrer Leibesfülle liegt. Sie weint jetzt nicht mehr. Sie sieht mit gerunzelter Stirn auf die verkrampfte Seniorenhand am Haltegriff.
»Mensch, Ludo, du warst doch früher nicht so’n Schisser.«
»Aber zupacken kann ihn noch«, sagt die Omma und zündet sich eine Eve an. Und ihr Nagellack genau das Türkis aus der Blumenborte. Ehrensache.
Ludo kichert. »Ja, datt waren Zeiten, wa? Schade, datt datt d’Amour abgebrannt ist. Wie ist datt eigentlich dazu gekommen?«
»Datt war ein Unfall«, sagen die Omma, der Papa und ich gleichzeitig. Wir sind eben eine Familie mit einem kriminellen Geheimnis.
»Den Versolutzki ist besetzt«, meldet der Papa.
»Gib mir mal das Handy, Papa. Ich schreib ihm eine SMS.«
Er winkt ab. »Datt kann ich auch selbst.«
»Du machst mich hier wirklich datt Hemd am Flattern«, jammert der Bergmannschisser zusammengekauert auf dem Beifahrersitz.
»Ludo, du brauchst gleich ganz dringend nen Klaren«, sagt die Ulla.
»Ich auch«, murmelt die Omma.
»Gib mir das Handy«, sag ich zum Papa und warte gar nicht ab. Ich zieh mich am Beifahrersitz nach vorn und hol das Nokia aus der Freisprechanlage. Ich hänge zwischen den Vordersitzen und kann den Tacho sehen. Nur hundertdreißig. In der Achtzigerzone. Alles im grünen Bereich. Ich quetsche meinen Hintern wieder zwischen die Omma und die Ulla.
»Haste watt zugelegt, Bianca?«, fragt mich die Omma.
Ich nicke. Das mach ich nämlich dauernd. Immer ein bisschen was zulegen. Aber trotzdem muss ich sagen, dass wir drei hier hinten alle unsere Art haben, Raum einzunehmen.
Der Versolutzki macht Trainingsflüge mit seinen Brieftauben. Trotz Trauerfeier und Leichenschmaus. Ich sehe ihn in seinem Garten, der hinten links an Ommas Garten grenzt. Er tritt seinen Rasen fest und läuft sich Hohlwege hinein, während die Vögel fliegen. Denn Beerdigung hin oder her, die Reisetauben müssen in der Saison fit bleiben. Morgen ist Samstag, da müssen die wieder von wer weiß woher nach Hause finden.
Der Garten vom Versolutzki ist ansonsten leer. Grünfläche und Taubenschlag, mehr nicht. Alles andere lenkt die Tauben ab, die ja ihre Heimat in der Reisezeit ganz schnell wiederfinden müssen. Bei der Omma im Garten stehen grüne Pfeiler für die Wäscheleine. Ohne Wäsche, dafür mit Rostflecken. Total der Dorn in Versolutzkis Auge. Lenkt die Tauben ab, soll die Omma bitte wegmachen, wo sie das Ding doch eh nicht nutzt. Aber der Omma sind die scheißenden Tauben ein Dorn im Auge, und so einigen sich die beiden eher nicht.
Der Leichenschmaus ist im Frühstücksraum der Pension. Die Omma hat das alte Zechenhaus vom Fritz geerbt, und zu Messezeiten läuft es auch ganz gut. Equitana, Mode Heim Handwerk, die Motorshow und was nicht alles.
Ich treff den Papa bei den Ziertellern. Die Mitzi hat nämlich die Welt gesehen und Teller mitgebracht.
»Die Mitzi war so oft so plötzlich weg, datt ich immer noch manchmal denke, die ist nur in Urlaub.« Seine Stimme klingt dünn. »Ich denke dann, datt die hier gleich mit ihre Koffer in die Tür steht und einen neuen Teller aufhängt. Man wusste ja auch nie, wie lange die wegbleibt.«
Ich krame in meiner schwarzen Paillettentasche. »Ritter Sport?«
»Jau. Danke.« Kauend schweift sein Blick über die Teller. Er schüttelt den Kopf. Von denen sei wirklich einer hässlicher als der nächste.
»Sie hat die Teller doch nur gekauft, damit sie hinterher auch wusste, wo sie gewesen ist, Papa. Weißt du noch, wie sie eine Zeit lang überzeugt war, dass Firenze und Florenz zwei unterschiedliche Städte sind?«
Der Papa lacht. »Nur datt sie in Hamburg war, datt wusste sie immer. St. Georg.«
Ja, das wusste sie. Das tolle Hamburg, das glamouröse Superhamburg, wo sie bei einer Stiefeldame in der Lehre war und Englisch gelernt hat und die Sachen mit den Nadeln und dem Wachs.
Die Mitzi konnte zwanzig Nadeln in eine einzelne Brustwarze stechen, ohne dass es blutete. Sie konnte Schwänze zunadeln, ohne dass es blutete. Bei der Mitzi hat es nur dann geblutet, wenn sie ein Herz gebrochen hat. Aber auch das nur metaphorisch. Sie wollte mir das mit den Sadomasonadeln beibringen, aber das stelle ich mir sehr mühsam vor. Mir ist das Stecken meiner Nähte ja schon immer zu viel, und Seide hat nicht mal ein Schmerzempfinden. Während so ein Mann an seinem Schwanz natürlich die ein oder andere Verletzlichkeit aufweist.
Aber ein bisschen war ich auch dagegen, weil sie diese Dominakünste immer mit dem großartigen Hamburg verbunden und Berlin verpönt hat und mich ums Verrecken nicht besuchen wollte.
Aus Berlin hängt hier kein Teller, denn Berlin ist dreckig und grau und voller geiziger Ossis. Arm, aber sexy? Das mag für den Wowereit zusammengehen, aber für die Mitzi war das ein Widerspruch. Und da war sie voll Hass und blieb hart. Keine Chance, kein Besuch bei mir. Kein Teller aus der Hauptstadt.
Und ich bin doppelt beleidigt, wenn ich bedenke, dass ich nun wirklich keine Chance mehr habe, ihr mein Leben dort zu zeigen. Aber dieses Gefühl schlucke ich runter. Es ist ein Tag der Trauer. Ich seh wieder zur Wand.
Hier hängt auch ein Katzenfoto. Das ist neu. Ich gehe näher ran, das Bild kenne ich noch nicht. Es zeigt ein gähnendes schwarzes Katzenbaby. Graf Koks. Die Mitzi wollte immer eine Katze, die Omma nie, und dann hat die Mitzi sich vor ein paar Wochen durchgesetzt und mir am Telefon ganz aufgeregt von dem neuen Mitbewohner erzählt. Er ist niedlich mit der weißen Schnauze. Und ich hatte immer gedacht, der Name bezieht sich auf Krupp und Industrieadel. Darauf, dass die Mitzi zu denen die ein oder andere Verbindung hatte … Nun, es bezog sich wohl auf die weiße Nase.
»Den war so putzig«, sagt der Papa, trinkt Stauder aus der Flasche und lässt mich stehen. Ich streife durch den Raum. Es riecht nach Waldmeister. Die Mitzi hat Waldmeister geliebt, und die Omma hat überall im Raum kleine Sträuße des Krauts aufgestellt.
»Ich hab vorhin mit dem Versolutzki gesprochen«, erzähle ich ihr in der Küche. »Er sagt, dass das Grab jetzt schon zu ist.«
»Gut.« Sie sieht erleichtert aus. Dann mustert sie meine leeren Hände. »Willst du kein Kaffee?«
»Nein, danke. Du Omma, woran ist die Mitzi eigentlich gestorben?«
»Datt hab ich dich doch schon gesagt.«
»Hast du nicht.«
»Dann tun wir zwei beide uns getz erst mal ein Samtkragen.«
»Omma, ich mag keinen Samtkragen.«
»Wie getz? Kein Alkohol?«
»Doch, aber keinen klaren Schnaps.«
»Likör? Ich tu dich mal ein Eierlikör. Letztens erst gemacht.«
Sie gibt sich erst geschäftig, bleibt dann abrupt stehen und starrt aus dem Küchenfenster auf das Haus gegenüber.
»Omma?«
Sie räuspert sich, reißt hektisch die Vorhänge zu und dreht sich zu mir um. »Den Eierlikör ist bestimmt nicht mehr gut. Willst du ein Boonekamp? Ist auch Likör.«
»Omma, ich will wissen, woran die Mitzi gestorben ist.«
Sie fährt sich durch die ondulierten Haare und sieht an mir vorbei in den Flur. Dann runzelt sie die Stirn. »Also, getz muss ich erst mal pinkulieren. Sonst hab ich keine Ruhe.«
Vor dem Klo stehen meine Cousinen, zwei Pferdemessebesucher und drei besoffene Ex-Freier Schlange. Die Omma schaukelt an ihnen vorbei und geht als Erste ins Bad. Schlangen blendet sie aus. Anstehen ist ihr fremd. Sieht sie gar nicht ein.
Ich stehe in der dunklen Küche. Draußen ist es noch hell. Ein Sommerabend. Ich geh zum Fenster und öffne die Vorhänge. Drüben zieht offenbar jemand in die Dachgeschosswohnung ein. Hinterm Fenster steht eine Leiter, vorm Haus ein fetter BMW mit Kisten. Sonst seh ich nix. Und selbst wenn. Die Omma ist jetzt nicht so der Typ, der sich beobachtet fühlt.
Aber sie ist heute nicht sie selbst. Liegt wahrscheinlich an der Trauer. Und ob ich je eine Antwort bekomme? Die Omma ist zu fertig oder abgelenkt, oder sie weiß selbst nicht so genau, woran die Mitzi gestorben ist, was sie nie zugeben und wofür sie sich auch ein bisschen schämen würde. Weil die Omma immer alles weiß, besonders über die Mitzi.
Also wieder in den Frühstücksraum. Die dralle Ulla und der Ludo sitzen auf der eicherustikalen Eckbank und knutschen. Sie drücken einander in die braungelben Sitzpolster des Grauens. Der Versolutzki ist zurück von seinen Vögeln und sitzt am Fensterplatz wie auf einer Bühne. Um ihn herum Gardinen und kunstvoll geraffte Kurzstores. Sie wehen leicht im Wind, während der Papa inzwischen völlig verloren mitten im Raum auf einem Stuhl sitzt und fernsieht.
Er hat hinten fast schulterlange Haare, vorne Stufen und Pony. In den Siebzigern hat er sich für diesen Haarschnitt entschieden und seither keinen Grund gesehen, ihn zu ändern. Er verfolgt gespannt, was gerade alles in der Lindenstraße passiert. Beerdigung hin oder her. Er verpasst keine Folge. Rechts und links vom Fernseher stehen zwei Bände Kumpel Anton und eine Ausgabe Anita Drögemöller. Die einzigen Bücher im Haus.
Die Mitzi war ein großer Fan von Romeo und Julia. Aber eher von den Filmen. Von ausladenden Kleidern und junger Liebe, von Männern in Strumpfhosen und tödlich verlaufenden Fechtkämpfen. Und von Leo. Gelesen hat sie Shakespeare nicht. Bestimmt hat hier auch keiner Anita Drögemöller oder die Ruhe an der Ruhr gelesen. Gibt’s schließlich ebenfalls als Film.
Über den Zechenhäusern geht die Sonne unter.
Etwas abseits im Garten steht die Doktor Brigitte. Sie hat ein Glas Rotwein in der Hand. Ich geh raus. Hinter ihr auf den Steinplatten steht die Weinflasche. Sie ist noch fast voll. Ich nehme sie, proste der Doktor Brigitte zu und trinke einen großen Schluck aus der Flasche.
»Also, Frau Doktor, woran ist sie gestorben?«
Sie sieht mich wie erwachend an.
»Wie konntest du ihr sagen, dass alles gut ist? Sie war jede Woche in deiner Praxis. Sie hat gesagt, du hast gesagt, sie sei sehr gesund.«
»Hat sie das?«
»Ja, wir hatten ein sehr enges Verhältnis. Wieso hast du das nicht kommen sehen?«
Sie schweigt und leert ihr Glas.
Auch ich nehme noch einen Schluck und wische mit dem Handrücken über meinen Mund. Dann denk ich kurz an meinen Lippenstift – Lady Danger – aber dann sag ich mir, dass es hier um mehr geht. Sehr viel mehr.
»Ich will doch nur verstehen, wie sie so plötzlich sterben konnte. Herzinfarkt oder Schlaganfall? Gab es denn keine Anzeichen?«
»Anzeichen …« Die Doktor Brigitte lächelt leicht. »Zwei Abtreibungen hab ich ihr gemacht, und die Nacht nach dem Brand hab ich all ihre blauen Flecke einzeln eingecremt. Wusstest du, dass der Herbert ihr den Kiefer gebrochen hat?«
»Ey, wenn du zu alt bist, um zu praktizieren, dann ist das doch kein Weltuntergang. Du musst aber doch bemerkt haben, dass du nicht mehr auf dem Damm bist.«
»Das hat dann natürlich ein Kieferchirurg gerichtet, aber ich war die ganze Zeit dabei.«