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Glücksmomente, die das Leben schreibt: Der Nostalgie-Sammelband »Als wir kleine Helden waren« von Bestsellerautorin Barbara Noack als eBook bei dotbooks. Was tun Kinder am liebsten? Das Leben ihrer Eltern mit allerhand Schabernack durcheinanderwirbeln! Und wenn die gerade mal nicht da sind? Na, dann ist’s Zeit, die Rasselbanden-Freunde zusammenzutrommeln, für eine Piratenjagd mit selbstgebautem Floß, die Verteidigung einer Räuberhöhle oder den Besuch im Wanderzirkus … Mit einem Augenzwinkern erinnert Bestsellerautorin Barbara Noack uns daran, dass in uns allen noch immer das Kind von damals schlummert – und gibt uns ein Stückchen dieses Zaubers zurück. Humorvoll und herzlich erzählt sie von unbeschwerten Kindheitstagen: damals, als jeder Tag ein neues Abenteuer versprach und der Fantasie Flügel verlieh, als das Leben von Leichtigkeit und Glück eingehüllt war. »Heitere Geschichten von der Großmeisterin der Unterhaltungsliteratur.« Welt am Sonntag »Barbara Noacks Wortwitz und Charme werden nur noch von ihrem Scharfsinn übertroffen.« Bestseller-Autorin Viola Alvarez Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der heitere Sammelband »Als wir kleine Helden waren« von Bestsellerautorin Barbara Noack mit den nostalgischen Kindheitserzählungen »Auf einmal sind sie keine Kinder mehr«, »Ferien sind schöner«, »Flöhe hüten ist leichter«, »Eines Knaben Phantasie hat meistens schwarze Knie«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 575
Über dieses Buch:
Was tun Kinder am liebsten? Das Leben ihrer Eltern mit allerhand Schabernack durcheinanderwirbeln! Und wenn die gerade mal nicht da sind? Na, dann ist’s Zeit, die Rasselbanden-Freunde zusammenzutrommeln, für eine Piratenjagd mit selbstgebautem Floß, die Verteidigung einer Räuberhöhle oder den Besuch im Wanderzirkus …
Mit einem Augenzwinkern erinnert Bestsellerautorin Barbara Noack uns daran, dass in uns allen noch immer das Kind von damals schlummert – und gibt uns ein Stückchen dieses Zaubers zurück. Humorvoll und herzlich erzählt sie von unbeschwerten Kindheitstagen: damals, als jeder Tag ein neues Abenteuer versprach und der Fantasie Flügel verlieh, als das Leben von Leichtigkeit und Glück eingehüllt war.
»Heitere Geschichten von der Großmeisterin der Unterhaltungsliteratur.« Welt am Sonntag
»Barbara Noacks Wortwitz und Charme werden nur noch von ihrem Scharfsinn übertroffen.« Bestseller-Autorin Viola Alvarez
Über die Autorin:
Barbara Noack, geboren 1924, hat mit ihren fröhlichen und humorvollen Bestsellern deutsche Unterhaltungsgeschichte geschrieben. In einer Zeit, in der die Männer meist die Alleinverdiener waren, beschritt sie bereits ihren eigenen Weg als berufstätige und alleinerziehende Mutter. Diese Erfahrungen wie auch die Erlebnisse mit ihrem Sohn und dessen Freunden inspirierten sie zu vieler ihrer Geschichten.Ihr erster Roman »Die Zürcher Verlobung«, der nun unter dem Titel »Fräulein Julies Traum vom Glück« neu bei dotbooks erscheint, wurde zweimal verfilmt und besitzt noch heute Kultstatus. Auch die TV-Serien »Der Bastian« und »Drei sind einer zu viel«, deren Drehbücher die Autorin verfasste, brachen in Deutschland alle Rekorde und verhalfen Horst Janson und Jutta Speidel zu großer Popularität.
Eine Übersicht über weitere Romane von Barbara Noack finden Sie am Ende dieses eBooks.
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Sammelband-Originalausgabe Juli 2020
Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2020 dotbooks GmbH, München.
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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: dotbooks GmbH, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von Adobe Stock / hamara
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96655-493-0
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Barbara Noack
Als wir kleine Helden waren
Vier Romane in einem eBook
dotbooks.
Der Umzug von Berlin nach München fällt dem neunjährigen Philip nicht leicht. Nur langsam gewöhnt er sich an die unbekannte Umgebung und an die Nachbarskinder, die zunächst wenig Interesse an dem schüchternen Jungen haben. Doch furchtlos stellt er sich den ihm abverlangten Mutproben und erkämpft sich somit die Anerkennung der anderen – und gewinnt einen ganz besonderen Freund. Denn mit dem gleichaltrigen Joschi erlebt er von nun an Tage voller Fantasie, Abenteuer und Nervenkitzel …
Gleich am Einzugstag, beim Auspacken der Bücherkisten, schaute ich zufällig einmal aus dem Fenster und sah einen Knaben vom Nebengrundstück über zwei quergenagelte Bretter im Lattenzaun steigen und auf unserer Seite zwischen die Büsche plumpsen.
Das war der Joschi, damals elf Jahre alt.
Im Hof traf er sich mit einem Jungen aus dem Hause. Gemeinsam betrachteten sie meinen vor der Garage parkenden Wagen mit der Berliner Nummer.
»Saupreißin« sagte der Ältere, der Bill hieß und ein zugezogener Amerikaner war. »Der werden wir’s zeigen.«
Darauf traten sie mit den Hacken in meine Reifen. Noch mal und noch einmal – haarscharf am Kotflügel vorbei, voller Bedauern vorbei, sie hätten zu gerne, aber ihnen fielen noch rechtzeitig die Reparaturkosten ein und der damit verbundene Ärger mit ihren Vätern.
Ich riß das Fenster auf und brüllte: »Seid ihr noch zu retten?« auf sie nieder.
Bill grinste nur und verzog sich, einen Kiesel wie einen Fußball vor sich herdribbelnd, Richtung Garten.
Joschi war neben meinem Wagen stehengeblieben und sah herausfordernd zu mir hoch – rot vor Zorn. Wie kam ich dazu, ihn anzubrüllen? Wer war ich denn? Eine Zugereiste. Ein Eindringling.
Am selben Tag begegneten wir uns auf der Uferpromenade. Ich führte den Hund aus, und Joschi radelte mit hocherhobenem Sterz an mir vorüber. Und schaute nicht etwa fort, nein, er bremste sein heftiges Tempo und suchte meinen Blick, um all seine Verachtung in ihn hineinzukippen.
Ich kippte zurück, was sehr unklug von mir war, denn ich mußte an Philip denken, meinen Sohn, der zu Beginn der Osterferien hier anreisen würde.
Der Abschied von Berlin fiel ihm schwer genug. Es war ja nicht nur Abschied von einer vertrauten Umgebung, in der er gern gelebt hatte, von einem geräumigen Haus zum Toben, von all seinen Freunden, sondern vor allem der Abschied vom ständigen Zusammenleben mit seinem Vater.
Abends telefonierte ich mit ihm. Er wollte wissen, ob sich sein Hund schon eingelebt hatte. Danach die bange Frage: »Und sind da Kinder, wo wir jetzt wohnen? Und sind die nett?«
»Sicher«, sagte ich, »du wirst schon sehen.«
Ich dachte an Bill und Joschi. Wenn sie mit Philip genauso umgehen würden wie mit meinen Autoreifen …
Gemeinsam mit seinem Spaniel Sascha holte ich ihn vom Flugplatz ab. Sein Vater begleitete ihn, um sich unser neues Zuhause anzuschauen.
Sascha, im Gefühlsleben durch keine Hemmungen gebremst, bellte vor Glück, seine kleine Familie wieder beisammen zu haben, die Lautsprecheranlagen nieder. Kein Mensch im Umkreis verstand, welche Maschine gerade aufgerufen wurde.
Ein Flughafenfotograf hat die Szene festgehalten: Hund beißt in Philips neue, auf Zuwachs gekaufte Cordhosen. Philip, sehr schmal, weißblond in einem ausgewachsenen Trenchcoat, schaut verlegen in die Kamera.
Aus seinem vertrauten Milieu gerissen, bei abgedrehtem Mundwerk, wirkte er fast zart.
Wir fuhren über die Autobahn in unser neues Domizil. Ich zeigte ihm sein Zimmer in der kleinen Etagenwohnung und den Blick auf den See mit seinen braunschilfigen Ufern und dem langen Steg.
Um diese Jahreszeit, es war Ende April, lag er noch breit und unberührt da. Durch das nackte Geäst der Bäume schimmerten die Alpen mit Neuschnee.
»Ist das nicht schön hier?« fragte ich, um Anerkennung besorgt.
»Ja, danke«, sagte er, von nun an beängstigend höflich und still, »ein bißchen wie der Wannsee.«
Nach dem Mittagessen ging er allein in den Garten hinunter und lernte den ersten Jungen kennen. Mit Pistole. Hansi hieß er, leider war er erst fünf. Philip war immerhin schon neun.
Sein Vater mußte zurück nach Berlin.
Bei diesem Abschied auf dem Flughafen wurde Philip wohl zum ersten Mal bewußt, daß die Reise nach Oberbayern kein Osterausflug gewesen war, sondern etwas Endgültiges.
Seine Eltern hatten sich vor einem Monat getrennt, nachdem sie eingesehen hatten, daß es besser für ein Kind ist, in einer friedlich geschiedenen als in der äußerst gespannten Atmosphäre einer kaputten Ehe aufzuwachsen.
Um ja nichts gegen seinen Wunsch zu entscheiden, hatten wir Philip sogar gefragt, ob er wirklich mit mir nach München gehen, wo ein guter beruflicher Vertrag auf mich wartete, ob er lieber bei seinem Vater in Berlin bleiben wollte.
Es war die törichtste Frage, die wir ihm hatten stellen können, das ersahen wir aus seiner gequälten Antwort. »Was immer ich jetzt darauf sage, einer von euch ist traurig. Und das ist Papi.
Er war voller Erwartungen auf das Neue nach Bayern gekommen. Nun war er enttäuscht. Wie sehr, hat er mir nicht gesagt aus Rücksicht auf meine Bemühungen, es ihm schön zu machen.
Die Fremde bedrückte ihn. Es gab zwar zwei größere Jungen hier, Billy und Joschi, aber die schauten durch ihn hindurch, als ob er gar nicht vorhanden wäre. Außer dem fünfjährigen Hansi gab es nicht einen Jungen im Umkreis, so viel hatte er schon herausbekommen.
Somit war er auf seine ständig in beruflichen Terminnöten lebende Mutter angewiesen und auf seinen Hund.
Ein Glück, daß wenigstens Sascha mit umgezogen war. Auch er hatte seine Probleme mit der neuen Umgebung.
Dreiviertel des Tages lag er auf dem Balkon mit der Schnauze zwischen den Gittern und dem sehnsüchtigen Blick ins Grüne. In Berlin waren seinem Freiheitsdrang keine Grenzen gesetzt – davon zeugten die Buddelstellen unterm Zaun.
Nun war er Etagenhund, der nicht einmal frei über Land gehen durfte wegen der Tollwutgefahr.
Da gab es so viel grüne Weite voller Gerüche und Fährten – alles umsonst.
Er litt unter seinem unerlösten Freiheitsdrang. In seinen Träumen holte er mit zitternden Lefzen und wild rudernden Pfoten verhinderte Abenteuer nach.
Am liebsten hätten sich beide eine Rückfahrkarte gekauft.
Philip überstand den Abschied von seinem Vater mit tapferem Grinsen.
Erst auf der Heimfahrt vom Flughafen schüttelte ihn ein kurzes Schluchzen, das er in seinen Ärmel wischte. Es war ihm peinlich, aber was sollte er machen?
»Ich hab ihn doch so gern.«
»Du kannst Papi immer sehen. Pfingsten fliegst du nach Berlin … Pfingsten ist ja bald …«
Wir gingen Hähnchen essen und Eis. Er durfte sich alle Comics kaufen, die er haben wollte.
Gemeinsam standen wir vor den Ansichtskarten im Schaufenster eines Fotogeschäftes.
Wenigstens auf Ansichtskarten wollte ich ihn bekannt machen mit dem landschaftlichen Zauber seiner neuen Umgebung, der seit Tagen im Grau eines blasigen Dauerregens unterging.
Aber welchen Neunjährigen interessiert schon Landschaft!? Einmal schaute Philip auf seine Armbanduhr und sagte: »Jetzt ist Papi schon zu Haus.«
Von meiner Schreibmaschine aus konnte ich ein Stück des Hofes überblicken und jenen heckenumwucherten Zaun mit den zwei quergenagelten Stufen, die aus der Zeit stammen mochten, als die Kinderbeine noch zu kurz zum selbständigen Überklettern gewesen waren. Und eines Nachmittags schwang sich Joschi herüber, um den großen Bill zu suchen. Bill war nicht zu Haus.
Nur Philip. Er kickte einen Fußball gegen das Garagentor, wieder und wieder, es klang demonstrativ in meinen Ohren, so: Was soll ich denn sonst hier alleine machen!?
Er hatte Joschi wohl gesehen, wartete jedoch ab. Philip ließ immer die anderen zuerst kommen, das war so seine Art.
Nun wußte Joschi nicht, was er machen sollte. Mit der Skepsis und Wachsamkeit eines Hundes, der einem fremden Artgenossen begegnet, strich er um die Garage herum, bereit, beim ersten warnenden Lefzenheben des Fremdlings, der in sein ureigenes Revier eingedrungen war, schneller anzugreifen als dieser.
Joschi lebte seit seiner Geburt im Haus nebenan mit dem frühzeitig erworbenen Eigentumsbewußtsein der Alteingesessenen.
Einerseits hätte er Philip fortgebissen, andererseits gab es keine Jungen akzeptablen Alters im Umkreis. Ein Zuzug von neun Jahren bedeutete immerhin eine Bereicherung. Man sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, den Anfang zu machen.
»Du schießt ganz falsch«, sagte er abfällig.
Philip kickte stur weiter. »Ich mach das so, wie ich will.«
Und Joschi, nach einer längeren Pause: »Laß mich mal.«
Philip überließ ihm den Ball und sah zu, wie Joschi ihn gegen das hölzerne Garagentor donnerte.
»Auch nicht anders wie ich«, meinte er dazu und war nun wieder mit Kicken dran. Im Parterre wurde ein Fenster aufgerissen, und eine entnervte Frauenstimme verlangte: »Ruhe! Das ist ja nicht zum Aushalten!«
Einen Augenblick lang standen die beiden Buben unschlüssig voreinander. Wie sollte es nun weitergehen? »Ich weiß, wo die Schwäne ihr Nest bauen«, sagte Joschi schließlich.
Ein Boot schlenkerte in Schlangenlinien über den See. Das lag an Philips ersten Ruderversuchen. Er mühte sich verbissen mit den langen Paddeln ab. Joschi hockte im Bug und hielt sich den Bauch vor Lachen über so viel Hilflosigkeit. Philip hob ein Paddel aus dem See mit der Absicht, das schadenfrohe Lachen totzuschlagen.
»Wenn du denkst, ich bin zu doof zum Rudern, dann biste aufm falschen Dampfer!« schrie er dabei.
Wer weiß, wie ihr erster Streit ausgegangen wäre, wenn nicht der Schwan flügelrauschend auf ihr Boot zugeschossen wäre. Die Furcht vor seinem zischenden Zorn einte beide Jungen auf dem nassen Boden des Kahns, der nun ruderlos mit der Strömung trieb bis unter unseren Steg. Dort verfing er sich zwischen den Pfosten, das war ihr Glück.
Der Schwan verfolgte sie, schwamm wachsam um sie herum. Sobald einer den Kopf hochzustrecken wagte, um nachzuschauen, ob er noch da war, hob er sich aus dem Wasser wie ein Düsenjäger beim Start und »kchchchchte«. Und hatte so viel Ausdauer. Und keine kalten Füße.
»Sauviech, undankbares«, schimpfte Joschi mit der Nase in der Kahnpfütze.
»Wieso undankbar?« fror Philip.
»Weil ich hab ihn den ganzen Winter gefüttert.«
So fing das mit den neuen Nachbarn an.
Wenn Bill mitten im Hof an sich selber lehnte, verbreitete er Lebensüberdrüssigkeit. Sein brünettes Auge schien sich vor allem zu ekeln, was ihm als Anblick zugemutet wurde. Mit vierzehn hatte er das Leben satt.
Joschi beneidete ihn voll stiller Bewunderung um seine Weltverachtung, ohne selbst an ihr teilzunehmen, geschweige denn sie zu begreifen. Er fand das Leben schön.
Ab und zu raffte sich Bill zu etwas auf, was er als eine positive Unternehmung bezeichnete, das heißt, er stellte etwas Schlimmes an, lieber noch, er ließ anstellen. Auch der kleine Hansi mußte ab und zu was Schlimmes für ihn tun. Dafür bezog er von seinem Vater Keile, darauf verriet er den Namen des Anstifters, darauf bezog Hansi noch mal Keile vom Billy fürs Petzen. Aus Rache pinkelte er in Billys Boot. Billy paßte Joschis Umgang mit Philip nicht. »Wir haben doch ausgemacht, daß wir mit dem Preußen nicht spielen wollen.«
»Er ist ganz nett«, gab Joschi zu bedenken.
»Trotzdem. Ehe er uns nicht bewiesen hat, daß er würdig ist, mit uns zu verkehren, guckst du ihn nicht mehr an. Verstanden?« Joschi gehorchte. Schließlich hatte der große Bill das Sagen im näheren Umkreis. Und Philip spielte wieder allein.
Über Nacht deckte tiefer Schnee den weiß und gelb und blau blühenden Frühling zu. Philip kramte seinen Rodelschlitten aus dem Keller und traf im Hof auf Bill und Joschi.
»Du, komm mal mit«, sagten sie zu ihm.
Er folgte ihnen in den Garten. Seinen schlenkernden Sprüngen sah man die Erleichterung an, wieder mitspielen zu dürfen.
Aber Spielen war nicht geplant. Die beiden Großen verlangten Mutproben von ihm. Ich sah plötzlich eine Tannenkrone ungewöhnlich schwanken und ihre Schneehaube stäubend abschütteln.
Aus der Baumspitze rief Philips atemlose Stimme: »Bin oben.«
»Okay«, sagte Billy lässig, »kannst wieder runterkommen.« Und überlegte, als Philip aus dem glitschigen Geäst abwärtsrutschend mit einem Plumps zu seinen Füßen landete: »Was nun mit dem Preußen?« Joschi hatte eine Idee. Er holte seine Skier und fuhr den steilen Abhang hinunter. Auf der Hälfte wurde dieser von einem Weg durchkreuzt, der zu einer Sprungschanze ausgebaut worden war.
»Jetzt du«, sagte Billy zu Philip.
»Aber ich kann nicht Ski laufen!«
»Dann wird’s Zeit, daß du’s lernst! Oder fürchtest du dich? Joschi, was sagst du, der Preuße traut sich nicht!«
Der Preuße ließ sich die Skier unterschnallen, die Bindungen paßten nicht, es war sowieso egal.
Joschi gab ihm einen Schubs, und Philip schoß abwärts, kam auch noch über die kleine Schanze, hob ab und mußte anschließend am Kopf genäht werden.
Aus diesem Grunde wurde die nächste Mutprobe auf den folgenden Tag verschoben.
Weil der Nachmittag aber noch eine Stunde bis zum Dunkelwerden enthielt, verlangten sie eine Geschicklichkeitsübung von ihm. Dazu mußte er fünf rohe Eier aus unserem Kühlschrank verschwinden lassen.
Beim Abendbrot fragte ich ihn: »Was hast du denn mit den Eiern gemacht?«
»Wir waren auf dem Bahndamm und haben damit den Eilzug beschmissen.« Er wartete, leicht besorgt, meine Reaktion ab. Ich verpaßte den spontanen Moment für eine wirkungsvolle Beanstandung, weil ich mir erst optisch vorstellen mußte, wie das war – rohe Eier gegen einen Zug ballern. »Alle fünf?«
»… und die, die Joschi bei sich geklaut hat. Ich habe drei Abteilfenster getroffen – platsch!« Er genoß nachträglich noch einmal die eindrucksvolle Wirkung. »Joschi hat fünf Fenster, davon zwei erster Klasse. Aber er meint, meine drei wären für den Anfang ganz gut.«
»Was heißt für den Anfang!? Das machst du nie wieder, verstanden? Wenn sie euch dabei kriegen!«
»Können sie gar nicht. Müssen sie ja die Notbremse ziehen.« »Und Bill?« fragte ich.
»Hatte Pech.« Das freute mich.
»Du traust dich nicht, ins Wasser zu gehen bis zum Hals«, sagten Bill und Joschi am nächsten Tag.
Philip traute sich wirklich nicht, ihm grauste vor kaltem Wasser. Mein Versuch, ihn nach seinem abendlichen Warmbad mit einer kalten Brause abzuhärten, war in brüllendem Protest untergegangen. Philip wollte nicht abgehärtet werden. Er liebte es schön warm und gemütlich.
»Wieviel Grad hat denn der See?« erkundigte er sich, bedrückt am verschneiten Ufer stehend.
»Na – so acht vielleicht«, sagte Joschi.
»So wenig?«
»Tust du es nun oder nicht?«
»Aber nur, wenn ihr auch mitgeht«, sagte Philip.
Billy fiel noch rechtzeitig ein, daß er mit seinem Freund Kurti verabredet war, und verduftete.
Joschi seufzte: »Ja, mei – wanns di net allein traust…«
Aber vorher holte er sich noch seine Handschuhe.
Und dann marschierten sie Schritt für Schritt in den eisigen See bis zum Kragen. Fünf Minuten später läutete es Sturm an unserer Wohnungstür. Vor uns stand mein Sohn – schlotternd, pfützend, aber unheimlich zufrieden mit sich selbst. Er hatte es geschafft.
»Ich hoffe, das war jetzt die letzte Mutprobe«, sagte ich und ließ ihm ein heißes Bad ein.
Am selben Abend betrat Joschi zum ersten Mal unsere Wohnung. Er sagte: »Grüß Gott« und lachte mich an. Ich lachte zurück, und niemand wäre bei unserer Begrüßung auf die Idee gekommen, daß wir uns schon länger vom gegenseitigen demonstrativen Verachten her kannten.
Als ich gegen sieben Uhr abends aus München kam, war Philip nicht zu Haus. Nicht im Garten, nicht beim Joschi drüben, und Bill, den ich auf der Treppe traf, wußte auch nicht, wo er war: »Bin ich sein Kindermädchen?«
»Sascha«, sagte ich zu seinem Hund, »wo ist Philip?«
Er wuselte wedelnd durch alle Zimmer und setzte sich schließlich vor mich hin. Ausgerechnet in dem Augenblick rief sein Vater an. Berufstätige Mütter leiden sowieso unter chronisch schlechtem Gewissen ihren Kindern gegenüber, weil sie sich nicht genügend um sie kümmern können. Aber eine frisch geschiedene, mit dem alleinigen Sorgerecht ausgerüstete berufstätige Mutter, die gerade festgestellt hat, daß ihr Sohn verschwunden ist und nun mit seinem Vater sprechen soll, der voll Sehnsucht und Sorge nach ihm fragt –!
»Er ist bei seinem Freund«, log ich ins Telefon.
»Wie geht’s ihm? Er erzählt ja nichts. Jedes Wort muß man aus ihm herausziehen. Hat er sich ein bißchen eingelebt?«
»O ja.«
»Wer ist sein Freund?«
»Der Joschi von nebenan. Das geht ganz gut.«
»Was machen sie denn so?«
»Dasselbe wie in Berlin. Sie schießen durch die Gegend. Ich glaube, sie spielen Kriminalkommissar und Gangster-auf-der-Flucht.«
Von den Mutproben erzählte ich ihm nicht. Philip hatte sie ihm auch tunlichst verschwiegen. Eingeschworenen Städtern fehlt das Verständnis für Spaziergänge in den See bei acht Grad Wassertemperatur. Sie denken gleich an Lungenentzündung und Absaufen.
Von der genähten Platzwunde an seines Sohnes Kopf erwähnte ich ebenfalls nichts, um nicht beschimpft zu werden, daß ich den bodenlosen Leichtsinn zugelassen hatte, mit dem er sich unter den Nachbarsjungen als Neuling bewähren mußte.
Philips Vater – in seiner Jugend ein berüchtigter Rabauke und wegen haarsträubender Frechheiten von zwei Schulen geflogen – hätte seinen eigenen Sohn vor lauter Sorge am liebsten unter eine Käseglocke gesperrt.
Aber unter einer Käseglocke konnte Philip nicht lernen, sich im Leben durchzusetzen.
»Ich muß jetzt leider Schluß machen«, sagte ich ins Telefon, »unsem Sohn abholen.«
»Abholen«. Das klang nach umsichtiger Mutter in seines Vaters Ohren.
O Jesus, wenn der wüßte!
Eine halbe Stunde lang suchten Sascha und ich in der Finsternis nach Philip.
Wir fanden ihn schließlich in einem verwilderten, unbebauten Seegrundstück, an einen Baumstamm gebunden. So eng, daß er sich nicht einmal kratzen konnte, wenn es juckte. Vaters Augapfel am Marterpfahl! Er schrie und heulte vor Zorn. »Diese Schweine! Diese verdammten, hinterrücksichtslosen Arschlöcher, die!«
»Wer?« fragte ich, ihn losbindend.
Das sagte er nicht. Ich wußte sowieso, daß es nur Bill und Joschi gewesen sein konnten.
Den Grund, der diese schlimme Strafe ausgelöst hatte, habe ich nie erfahren. Aber ich bin sicher, daß Philip nicht ganz unschuldig in der engen Umgarnung eines zerfledderten Segeltaus gehangen hatte.
Dieser zartgliedrige Junge mit den verträumten, dunkelblauen Augen führte selbst seine Mutter zuweilen optisch in die Irre. Er wirkte so sensibel und schutzbedürftig. Dabei hausten nicht weniger Teufel in ihm als in Bill und Joschi. Und schließlich hatte sein aggressives Mundwerk in Berlin seine Ausbildung erhalten. Aber zwei Große gegen einen Kleinen, das war nicht fair. Das war »ge-mei-en«, wie Philip schrie.
Wir gingen bedrückt nach Hause. Er hatte nichts dagegen, daß ich den Arm um ihn legte. Ich spürte sein Heimweh in den mageren Schultern.
Warum mußten wir bloß hierherziehen? War doch so schön in Berlin.
»Laß nur«, sagte ich, »morgen kommst du in die neue Schule. Da lernst du viele Kinder kennen.«
Er wollte nicht viele Kinder, sondern den Joschi von nebenan.
Seinetwegen hatte er die verflixten Mutproben durchgestanden. Nun waren sie umsonst gewesen.
»Aber ich räch mich, Mensch!« drohte er in die Dunkelheit. »Wie ich mich rächen werde!«
»Gar nichts wirst du«, beschwor ich ihn. »Dem Joschi tut es sicher schon leid, daß er da mitgemacht hat. Er wäre bestimmt noch gekommen, dich loszubinden.«
»Der? Ph – Määnsch! Der traut sich bei der Düsterkeit doch gar nicht auf das Grundstück.«
»Wieso nicht?«
»Wegen dem Toten, den sie hier mal gefunden haben! Wenn’s im Gebüsch knackt, dann ist der das! Der spukt!!!«
Hat der Mensch Töne!? Da pinnten sie den Kleinen nicht nur an einen Baum in der Wildnis, sie würzten seine hilflose Lage auch noch mit Schauergeschichten.
Mein Gluckenzorn loderte, aber ich durfte ihn mir nicht anmerken lassen.
»Du wirst jetzt nichts unternehmen, verstanden?«
»Warum nicht? Ich muß! Sonst platz ich!«
»Platz zu Hause. Aber halte dich ihnen gegenüber zurück.«
»Warum?«
»Weil es alles nur viel schlimmer macht. Denk daran, du mußt hier leben!«
Das war ja das Schlimmste für ihn und nun auch für mich. Er mußte hier leben, wo man ihm das Dasein wirklich nicht freundlich gestaltete.
»Der Joschi wird schon wiederkommen.«
Philip ging nun bereits eine Woche in die neue Schule, in der man ihn herzlich aufgenommen hatte, vor allem die Mädchen, aber was sollte er mit Mädchen –!? Die Buben waren gutmütiger und weniger aggressiv als in der Großstadt. Sie übten noch keine Kritik an der Obrigkeit, welcher auch immer, fügten sich in das Gegebene. Ich glaube, sie waren meinem Sohn ein bißchen zu harmlos, vor allem zu gleichaltrig.
Es zog ihn zu den Größeren, zu denen, die schon elf waren und darüber.
Nachmittags hockte er in seinem Zimmer mit dem Blick auf den blauen, böigen See, auf dem Bleßhähne mit imponierend aufgestelltem Gefieder um eine lässig im Abseits schwimmende Henne kämpften. Vor seinem Fenster wehte und blühte und zwitscherte der Frühling in knospenden Buchen.
»Geh doch raus«, drängte ich, »es ist so schön.«
Manchmal klingelten Kinder aus seiner Klasse am Tor. Sie wollten sehen, wo er wohnte, und sein Spielzeug kennenlernen. Philip führte sie in sein Zimmer, danach zum See hinunter und kehrte bald wieder ohne sie in seine selbstgewählte Klausur zurück.
Es war zum Verzweifeln mit ihm.
Joschi kam täglich ins Haus, um Billy zu besuchen. Sie pusteten Seifenblasen aus dem Fenster und ließen gekochte Spaghetti auf fremde Baikone niederschlängeln. Sie langweilten sich.
Darum radelte Bill zu einem Schulfreund, der ein paar Straßen weiter wohnte.
Nun hatte auch Joschi niemanden zum Spielen.
Auf diesen Zeitpunkt schien Philip gewartet zu haben, denn er gab plötzlich sein Eremitendasein auf, zog die Gummistiefel an und knallte mit dem Satz: »Ich schau mal nach, ob Hansi da ist«, die Wohnungstür hinter sich zu. Hansi, das fünfjährige »Baby«, letzte Notlösung für die Großen, wenn sie überhaupt keinen annehmbaren Gleichaltrigen auftreiben konnten.
Ich hörte sie im Garten schießen – pengpengpeng. Hansi war der Gangster, der tot Umfallen mußte. Er tat ja alles für die Großen, wenn sie ihn nur mitspielen ließen. Die Knallerei mußte auch Joschi nebenan gehört, ja geradezu darauf gelauert haben. Auf einmal war er da mit einem selbstgebastelten Schnellboot, das er wie zufällig von seinem Ufer in unsere seichten Hoheitsgewässer hinüberlenkte.
Das Pengpengpeng verstummte.
Dafür schimpfte Hansi wie ein Rohrspatz. Mit Recht.
Kaum kümmerte sich ein älterer Knabe um ihn, indem er ihn als Gangster auf der Flucht totschoß, erschien Joschi, und schon war er ihn los. Joschi war gemein. Der sollte machen, daß er übern Zaun kam. Oder zum Bill gehen! Oder sonstwas. »Schleich di, fuxlujal!«
Unberührt von Hansis Protestgeschrei standen Joschi und Philip im Wasser und ließen das Schnellboot fahren. Dabei liefen ihre Gummistiefel voll. Sie zogen sie aus und stülpten sie um, bis kein See mehr in ihnen war, und zogen sie wieder an.
Philips nasse Socken klemmten später im Briefkastenschlitz. Er hatte keine Zeit gehabt, sie heraufzubringen.
Joschi war wieder da, und das Wichtigste – er war zuerst gekommen.
Noch am selben Tag schenkte er ihm seinen Hamster Moritzl.
»Das ist aber nett von ihm«, sagte ich.
Philip erklärte: »Sie wollen ihn drüben nicht mehr haben. Er kneift immer aus und nagt ihre Bücher an.«
Was tat Moritzl von nun an bei uns?
Er kniff aus und nagte unsere Bücher an. Und brachte Sascha nervlich auf den Hund, weil er ihm immer wieder entwischte.
Bill aus dem zweiten Stock, an einem Donnerstag Anfang Juni, als er aus der Schule kam.
Er sollte die Mülltüten heruntertragen. Dabei verlor er wie immer so manches auf der Treppe.
Vor der Haustür stellte er die Tüten ab, um sein Fahrrad zu holen. Inzwischen kippten die Tüten um und ziemlich aus.
Bill sammelte zornknirschend wieder das Schlimmste in sie zurück, hängte sie rechts und links an die Lenkstange und fuhr die acht Meter bis zu den Müllkästen. Dort ließ er sie einfach fallen.
Das sah zufällig der Hausmeister und brüllte ihn an.
Darauf nahm Bill die Tüten und schleuderte sie aufs Garagendach mit dem wütenden Aufschrei:
»Scheißbürgermüll!!«
Darauf holte der Hausmeister Bills Vater. Der sagte ganz ruhig: »Billy, hol die Tüten vom Dach.«
Darauf zog Bill seine Schuhe aus und feuerte sie den Tüten nach, stieg auf sein Rad und sauste auf Socken vom Hof.
Stieg sozusagen auf Socken in einen neuen Lebensabschnitt um. Seine Kinderschuhe blieben mit dem Müll auf dem Dach, bis es zu regnen anfing.
Da kletterte sein Vater hinauf und holte alles herunter, und das haben manche Leute im Haus nicht verstanden.
Sie sagten, der ist viel zu gut und zu weich mit dem Jungen, dem gehören die Hosen strammgezogen.
Bills Vater hat das Gerede nicht gestört. Andere Leute sind immer so schlau, wenn es sich nicht um ihre eigenen Kinder handelt.
Bill ließ von Stund an sein Äußeres verwahrlosen. Machte nur noch das, wovon er sicher war, daß es Anstoß erregen würde. Haßte wild um sich herum. Tat nichts mehr für die Schule.
War ihm doch so egal.
Eines Tages begegnete er Felicitas, genauso fünfzehn wie er.
Fee stieg auf sein Rad mit auf, stieg gar nicht wieder herunter. Wurde zum einzigen Wesen in seiner wirren, pubertären Einsamkeit, von dem er verstanden sein wollte.
Und blieb ebenfalls in der Schule sitzen.
Was mich an dieser Entwicklung freute: Bill hatte nun keinen Spaß mehr daran, einen zugezogenen neunjährigen Preußen zu schikanieren.
Aus den Händen einer leidenschaftlichen Verfechterin der Ganzheitsmethode, die den verschusselten Philip daran hinderte, Orthographie statt akustisch erfaßter Lautmalerei zu erlernen, geriet er übergangslös unter die Fuchtel eines Paukers alter Schule.
Vierschrötig, Spitzbart, Kasemenhofton. Den Rohrstock ersetzte er durch einen locker strafenden Handrücken – klitschklatsch um Knabengesichter fegend, bis sie rosig blühten. Wie oft Philips Wangen mit dieser fleischigen, kurzfingrigen Rechten in Berührung kamen, hat er mir sicherheitshalber verschwiegen aus Sorge, für meinen Aufstand hinterher büßen zu müssen.
Ihm reichten die vielen Strafarbeiten, zu denen er verdonnert wurde.
Joschi, der vier Jahre lang unter jenem Pauker gedient und sich in dieser Zeit zu einem Routinier in Strafaufgaben entwickelt hatte, gab Philip Tips. »Du mußt vor allem groß schreiben, damit die Seite schnell voll ist. Wenn es zum Beispiel heißt: Ich darf im Unterricht nicht schwatzen, schreibst du erstens: Ich darf nicht schwatzen, weil es den Unterricht stört. Zweitens: weil ich dadurch meine Nachbarn vom Zuhören ablenke, und drittens: weil es verboten ist.«
»Und wenn ich schreiben muß: Ich darf nicht lachen, wenn mein Lehrer ein Lied auf der Geige kratzt?«
»Schreib dasselbe«, sagte Joschi, »es stimmt immer.«
Philip glaubte ihm bedenkenlos.
Das brachte mir die erste Vorladung bei seinem Klassenlehrer ein – übrigens keinem Bayern.
»Wie macht sich Philip denn so?« eröffnete ich das Gespräch.
Zur Antwort wurde mir seine letzte Strafarbeit über den Tisch gereicht. Ihr Thema: Ich darf kein Mädchen auf dem Pausenhof schubsen.
Darunter stand:
»1. Weil ich daduch den Unterricht stöhre.
Weil ich daduch meinen Nachbahn ablänke.
Weil es verboten ist.«
»Was sagen Sie dazu?« griff er mich an. Und ehe ich etwas sagen konnte: »Der denkt überhaupt nicht nach. Ein Tagräumer. Ein kompletter – na ja.« (Er wollte wohl Idiot sagen, fing aber noch rechtzeitig meinen warnenden Blick auf. Was er sich nicht verkniff, war auch nicht milder.) »Der Bengel ist ein Weichling. Überhaupt kein Mumm in den Knochen. Und dazu die Orthographie. So was kommt nun aus Berlin – thh.«
Ich verknotete meine Zehen, meine Finger und mein Gebiß, weil ich an Philips Warnung dachte: Bleib bitte, bitte ruhig, sonst kriege ich dein Fett ab.
Wir sahen uns nur an – sein Klassenlehrer und ich. Er genoß meine Ohnmacht.
»Sonst noch was?« fragte ich.
»Ja.« Hände in elastischen Hosenträgern, Überlegenheit demonstrierend. »Ihr Bübchen ist ein wahrer Einstein im Rechnen.«
»Das hat er von mir«, versicherte ich.
»Dann darf ich Ihnen vielleicht die Aufgabe mitteilen, die ich ihm gestern gestellt habe. (Räuspern.) Also: ›Du bist zehn Jahre alt und dein Vetter ist zwanzig. Wie alt ist er, wenn du fünfzig bist?‹ Na, was glauben Sie wohl, hat er darauf geantwortet?«
Tja, was glaubte ich wohl –?
»Hundert!!«
»Das hat er wirklich von mir.« Ich stand auf. Er brachte mich nicht einmal bis zur Tür des Lehrerzimmers. Auf der Heimfahrt fuhr ich vor lauter Zorn beinah auf meinen Vordermann auf.
»Was hat er gesagt?« wollte Philip wissen, als er aus der Schule kam.
»Du sollst dich mehr konzentrieren. Und ehe du das nächste Mal eine Strafarbeit ablieferst, zeig sie mir.«
Ende Juli läutete es Sturm an unserer Tür: Mischa, der Junge, mit dem Philip in Berlin wie ein Bruder aufgewachsen war, kam auf der Durchreise vorbei, um ihn zu besuchen.
Die Wiedersehensfreude verlief beulenreich, so heftig umarmten sie sich. Sascha, der Spaniel, biß Mischa vor Glück in den Hintern.
Zu dritt rannten sie in den Garten und den langen Steg bis zum Ende, wo er sich zu einem Plateau verbreiterte mit einer Bank und einer Laterne, um die abends die Mücken tanzten.
Philip zeigte ihm die jungen silbergrauen Schwäne und den kleinen Hafen, den er mit Joschi gebaut hatte, und das Kistenbrett mit der Leine, auf dem sie Wellenreiten spielten. Sie hatten zwar keine großen Wellen und kein Motorboot zum Dranhängen, aber wenn zwei Jungen an den Leinen zogen und damit den Steg hinunterrannten, kam der dritte auf dem Brett aus dem Wasser hoch und fuhr immerhin fünf Meter.
Sascha brachte seinem Freund aus Berliner Zeiten einen toten Fisch als Präsent.
Philip sagte: »Schade, daß du gestern nicht da warst.«
Am Abend zuvor war er mit Joschi in die phosphor glitzernde, auf kleinen Wellen schwimmende Mondbahn hineingerudert. Mischa hatte für all diese Herrlichkeiten nur ein müdes Lächeln, denn er verfügte inzwischen über einen Vater, und der war so reich! Mit Motorjacht im Hafen von Antibes und einem Porsche und noch viel mehr. Für Wasserski hatte er ein Rivaboot extra.
Nach einer halben Stunde kehrten sie spürbar verstimmt vom See zurück und standen bei uns Müttern herum.
»Könnt ihr euch nicht allein beschäftigen?« Wir hatten so viel zu erzählen, was für Söhneohren nicht bestimmt war.
»Ich weiß was«, sagte Philip und verschwand. Wir dachten, er würde ein Spielzeug aus seinem Zimmer holen, aber er war noch nicht zurück, als sich Mischa und seine Mutter eine Stunde später verabschiedeten.
»Wo bist du gewesen?« pfiff ich ihn abends an.
»Beim Joschi drüben.«
»Sag mal, spinnst du? Da kommt Mischa extra her, um dich zu besuchen, und du haust ab. Mir war das so peinlich.«
»Der mit seinem neuen Vater! Wie der mit dem angibt. Kann man gar nicht hinhören«, stöhnte Philip.
»Er ist eben stolz auf ihn.«
»Quatsch, er ist stolz auf das, was der alles hat.«
»Bist du eifersüchtig?«
»Aber Mami!« Er sah mich kopfschüttelnd an. »Worauf denn? Ich hab’s ja gut hier. Aber’n blöden Dorfheini laß ich mich von dem noch lange nicht nennen!«
»Und was hast du ihn genannt?«
»Das – das weiß ich nicht mehr.«
So endete eine fünfjährige brüderliche Freundschaft innerhalb einer Stunde ohne einen Funken Trauer.
Der See lichtete sich. Die Badesaison war vorüber, und die wehende Unruhe weißer Segel und bunter Spinnaker vereinzelte.
Unter einem wochenlang blauen Himmel verfärbten sich die Ufer rot und gold. Jeder Baum wirkte wie angezündet.
Das ging so bis in den November hinein. Auf den Wiesen blühten Frühlingsblumen, die Obstbäume hatten dicke Knospen angesteckt, und die Bauern fluchten über den knochentrockenen Acker, der sich schwer umpflügen ließ.
Joschi und Philip hockten mit einer selbstgemachten Angel auf dem Steg und warteten auf das, was im Wasser vorüberschwänzelte und aus Versehen anbiß. Man hörte bis zum Ufer ihre friedlich streitenden Stimmen.
Sie waren nie einer Meinung. Ihr ständiger Widerspruch artete jedoch nur noch selten zu einem handfesten Krach aus.
Seit die Ufer verödeten und die Ferienjungs, mit denen sie gespielt hatten, wieder zur Schule gingen, waren sie aufeinander angewiesen. Hockten also auf dem Steg, angelten nichts Besonderes und ließen dabei die weite, träge, plätschernde Stille auf sich einwirken.
Im Herbst gehörte der See wieder ihnen allein …
Während halb München am Wochenende auf die Berge rannte – so einen idealen Wanderherbst hatte es lange nicht gegeben –, begann das anhaltend gute Wetter unsere Knaben zu irritieren.
Sie hatten nun alle Sommerspiele wieder und wieder probiert, bis in den November hinein.
Um nicht ganz mit ihrem Spielplan durcheinanderzukommen, zogen sie sich ins Haus zurück und begannen mit dem für vernieselte Tage vorgesehenen Programm. Dazu gehörte auch Historisches.
Eines frühen Nachmittags, als ich vom Hof fahren wollte, hielt ein Taxi vor unserem Tor. Auf dem Fond ragten zwei Jungenköpfe.
Während Joschi zahlte, stieg Philip schon aus und erschrak leicht, als er mich sah.
»Hallo, Mami –«
»Sagt mal, piept es bei euch? Taxi! Könnt ihr nicht laufen?«
»Laufen schon, aber nicht tragen«, erfuhr ich.
Gemeinsam hievten sie eine große Kiste aus dem Taxi, mit hölzernen Forts, Wachtürmen, Kutschen, Planwagen. »Toll, gell?«
»Keine Sorge. Ist alles aus zweiter Hand. Haben wir einem Jungen abgehandelt«, versicherte Philip.
Und Joschi: »Für sagenhaft billiges Geld!«
»Kostet fast überhaupt nichts. Und davon zahlt jeder bloß die Hälfte.«
Joschi holte eine Supermarkttüte aus dem Wagen, die von Soldaten überquoll. Die hätten sie noch dazugekriegt. Sechzig Südstaatler und Nordstaatler!
Zugekriegt?
Sie guckten mich mit sanftem Tadel an: immer dieses erwachsene Mißtrauen. Kannst ja den Jungen fragen, von dem wir sie haben. Ruf ihn doch an.
Sie wußten genau, daß ich nicht anrief, weil ich wiederum wußte, daß der Junge alles beteuern würde, was Joschi und Philip ihm eingebleut hatten. In ihren Unternehmungen gab es keine Lücke, in die das Mißtrauen der Erwachsenen erfolgreich einstechen konnte.
Um mir zu beweisen, daß ihre Anschaffung kein Luxus war, sondern im Gegenteil, sagte Joschi, sie hätten in der Schule gerade den amerikanischen Bürgerkrieg durchgesprochen. »Es übt so historisch, wenn man die Schlachten zu Hause nachkämpft.«
Damit, so fanden sie, war ihr Großeinkauf vom pädagogischen Stand aus völlig gerechtfertigt, ja geradezu lobenswert – oder?
Als ich zwei Stunden später zurückkam, stand der Hof voller Hausbewohner. Sie gestikulierten Empörung, zeigten nach oben (dorthin, wo meine Wohnung war) und sahen mich an, als ob ich die Mutter von Al Capone wäre.
Da platzte mir der Kragen. Immer Joschi und Philip sollten die Sünder sein. Warum beschwerten sie sich nicht einmal bei Bills Eltern oder denen von Anita, dem einzigen Mädchen im Haus, das mit seinen zahllosen Freundinnen, schrill gackernd, Garten und Steg überschwemmte –!? Das war manchmal nicht zum Aushalten, dagegen sagten sie nichts. Aber wenn Joschi und Philip mal ein bißchen knallten, gab es gleich Ärger.
Ich rauschte hochmütig ins Haus – und glaubte nicht, was ich hörte. Von Stufe zu Stufe wurde es lauter. Dazwischen Saschas hohes, entnervtes Bellen. In Philips Zimmer tobte die Schlacht von Bull Run über den ganzen Fußboden. Philip bewegte die Südstaatler, Joschi die Nordstaatler.
Große Verluste auf beiden Seiten. Einschläge über Einschläge. Es knallte, brannte, qualmte und stank infernalisch.
»Seid ihr wahnsinnig geworden?«
Die beiden schauten verschreckt hoch – mein vulgärer Aufschrei hatte ihre zarten Gemüter und Ohren verletzt –, was wollte ich denn auch, sie spielten doch nur Sezessionskrieg.
»Sofort aufhören!« Ich trat mitten in die Schlacht, es knirschte, und entriß ihnen die verflixten Pfennigschwärmer alias Schweizer Kracher, eine milde Sorte von Silvesterfeuerwerkskörpern, aber im geschlossenen Raum und in so geballter Form gehörzerfetzend. All meine Streichholzschachteln, ein ganzes Paket, hatten sie mit Kleister zu Barrikaden zusammengepappt. Sie zischten und loderten auf Meißener Untertassen.
Da hob Philip etwas auf und sah mich klagend an: »Oh, Mami, das war General Lee. Du hast General Lee zertreten!«
»Na und?« Erwartete er etwa, daß ich mich dafür entschuldigte? »Das ganze Haus tobt! Wenn wir eine Kündigung kriegen, seid ihr schuld!«
Sie guckten erschrocken. Das hatten sie nicht gewollt. Wirklich nicht. Und es tat ihnen furchtbar leid. Ehrlich.
Joschi und Philip entglitten meinen Vorwürfen durch blanke Einsicht. Bloß keinen Widerstand leisten. Zerknirschung zeigen. Höflich bleiben. Verkitschter Jagdhundblick. Wer brüllt, hat unrecht. Also ließen sie mich brüllen. Nur ja keinen Wind in meine Segel blasen. Immer schön die Flaute pflegen.
»Und so was wie euch habe ich auch noch in Schutz genommen.«
»Das war irre nett von Ihnen, vielen Dank«, sagte Joschi und schüttelte meine Hand. Philip küßte mich.
»Wir werden uns gleich entschuldigen«, versicherten sie und zogen eilfertig los.
Ich hörte sie durchs Treppenhaus traben und klingeln. Sie hausierten mit ihren Entschuldigungen von Tür zu Tür.
Zehn Minuten später waren sie wieder da. Mit Bonbons. Die hatte ihnen Frau L. geschenkt.
Erboste Nachbarn erwarten das Schlimmste von kleinen Buben, nur keine Einsicht in ihre Schandtaten und keine freiwilligen Entschuldigungen. Völlig entschärft, weil überrumpelt, standen sie da und erteilten Absolution.
Mir hingegen nahmen sie noch lange übel, daß ich die beiden verteidigt hatte, denen sie inzwischen Bonbons schenkten.
Eines Samstagabends im Januar raffte Philip seine Buntkarierten zusammen, legte obenauf den Pyjama und die Zahnbürste, küßte mich und sagte, zum Frühstück wäre er wieder da. Zu jener Zeit schlief er ab und zu beim Joschi oder der Joschi bei ihm.
Vom Fenster aus sah ich Philip mit seinem Bettzeug über den Zaun turnen. Zuerst verlor er die Pyjamahose, dann das Kopfkissen, dann bummerte er an Joschis Tür, worauf dieser ihm öffnete. Dann kam Philip noch einmal zurück, um seine Zahnbürste zu suchen. Dann ging das Gartenlicht aus und die Jalousie drüben herunter. Gute Nacht, Philip und Joschi.
Erst würden sie noch eine Weile Blödsinn machen und dabei eine Menge Guttis futtern.
Sehr lange dauerte es mit dem Joschi abends nie, dafür stand er um so früher morgens auf.
Im allgemeinen kehrte Philip mit seinen Betten so gegen halb neun über den Zaun zurück. Aber an diesem Wintermorgen klingelte er bereits um sieben. Er wirkte zwar etwas müd, aber sonst ganz normal. Mir fiel nur auf, daß er es danach ein paar Tage vermied, zum Joschi zu gehen. Er hatte es lieber, wenn der zu uns kam.
Was sich in jener Nacht alles zugetragen hat, erfuhr ich erst ein halbes Jahr später durch puren Zufall.
Wir begegneten einem Polizisten, bei dessen Anblick Philip rote Ohren vor Verlegenheit kriegte. Der Polizist sagte: »Na, Komiker?«, und Philip grinste: »Grüß Gott«, so um die Ecke.
»Woher kennst du denn den?«
»Ach, der saß im Streifenwagen in der Nacht, wo …« Philip brach ab.
»Wo was?« fragte ich.
»Aber das war ja im Winter – und es war auch nicht mehr Nacht, bloß eben noch dunkel und ein irrer Schnee, Mami, was glaubst du, was ich plötzlich Lust auf Skilaufen habe, fahren wir dieses Jahr wieder nach Kitz, ja?«
»Was für eine Winternacht, Philip?« wollte ich wissen und nicht abgelenkt werden.
Philip seufzte belästigt auf. Ich fragte ihm zuviel.
»Halt wie ich beim Joschi geschlafen hab. Er ist Frühaufsteher.«
»Was hat das mit dem Polizisten zu tun?«
»Er hat mich schon vor fünf geweckt.«
»Der Polizist?«
»Nei-en, der Joschi natürlich.«
»Ja und?«
»Hatten wir plötzlich beide irren Appetit auf Pommes frites, verstehst du?«
»Nein.«
»Aber es war so. Ehrlich.«
»Und was hat das mit dem Polizisten zu tun?«
»Gar nichts. Wir haben uns überlegt, wo es am Sonntag um fünf Uhr früh Pommes gibt.«
»Willst du mich schon wieder vom Polizisten ablenken?« fragte ich mißtrauisch.
Er sah mich kopfschüttelnd an. »Ich will dir erzählen, wie es wirklich war, aber du läßt mich ja nicht ausreden.«
»Also gut«, sagte ich. »Ihr habt überlegt, wo es um fünf Uhr früh Pommes frites gibt.«
»Am Bahnhof, hat der Joschi gemeint. Es gibt doch schon Züge um fünf, da muß die Bahnhofswirtschaft ja auch schon aufhaben. Haben wir uns eben angezogen und sind auf Joschis Rad zum Bahnhof. Ich hintendrauf.«
»Und Joschis Eltern?«
»Die haben nichts gemerkt«, sagte Phil, »die schlafen doch in einer anderen Richtung von dem Haus.«
»Und am Bahnhof?«
»Das Restaurant hatte noch zu.«
»Da seid ihr also wieder umgekehrt.«
»Nein«, sagte Philip, »wir haben uns gesagt – wo wir nun schon auf sind und in der Kälte unterwegs – es war ja irre kalt!« Er sah mich mitleidheischend an, jedoch vergebens.
»Was habt ihr da gemacht?«
»Wir haben uns gesagt, wo wir nun schon unterwegs sind, können wir auch gleich beim Kino vorbeifahren und schaun, was es in der Kindervorstellunggibt. Undsosindwirebenzum Kino geradelt.«
»Und dann?«
»Kam die Funkstreife vorbei. Und hielt. Und die Polizisten stiegen aus und fragten, was wir da machen. Wir haben gesagt, wir wollen nachschaun, was es in der Kindervorstellung gibt, und da haben sie gefragt, ob uns keine noch blödere Ausrede eingefallen sei, aber es war doch die Wahrheit. Wir haben ihnen erzählt, daß wir um fünf aufwachten und Appetit auf Pommes frites hatten und zum Bahnhof geradelt sind, und wie die da noch nicht aufhatten, sind wir weiter zum Kino …«
Ich versetzte mich kurzfristig in die Rolle eines Streifenpolizisten, der im Dunkel eines frühen, klirrend kalten Wintersonntagmorgens zwei Knaben auf einem Rad vorm Kino erwischt – der eine zwölf, der andere zehn, beide schlotternd vor Kälte und Behördenangst – und dann diese Geschichte –!
»Was haben sie mit euch gemacht?«
»Ich mußte zu ihnen in den Funkwagen steigen, und Joschi mußte mit dem Rad vorausfahren. Der am Steuer hat gesagt, das, was wir beiden Komiker erzählt hätten, wäre so idiotisch, daß es beinah schon wieder stimmen könnte. Er hätte einen Sohn, der kriegte so was auch fertig. Aber der andere, der neben ihm saß, der konnte sich das nicht vorstellen. Er hat gesagt, das sind Automatenknacker. Das sind die Automatenknacker, die wir schon lange suchen. Dann hat er mit dem Polizeirevier telefoniert und unsere Namen durchgesagt, und man sollte Joschis Eltern benachrichtigen. Dann hat der nette Polizist gesagt, das sind doch Buben aus ordentlichen Familien. Aber der andere hat gesagt, die aus den ordentlichen Familien sind manchmal die schlimmsten. Als wir mit der Polizei heimkamen, stand Joschis Mutter schon in der Tür. Vor ihren Augen haben sie unsere Taschen untersucht und nichts gefunden und sind wieder abgefahren.
»Und dann?«
»Dann hat uns Joschis Mutter was erzählt.«
Dafür hatte ich lebhaftes Verständnis.
»Aber warum hast du mir die Sache verschwiegen?«
Philip überlegte lange und entschloß sich für die Lösung: »Du hattest damals so furchtbar viel um die Ohren. Warum sollte ich dir mit der Sache noch mehr Ärger machen? Es war ja auch ganz harmlos –. Und heute lachst du drüber, ja?«
Ich lachte nicht, aber ich gab mir schon eine Weile Mühe, ernst zu bleiben.
Philip lebte nun im dritten Sommer am See und gehörte zu ihm wie Joschi, der hier geboren war.
Es kamen die großen Ferien, von denen er die Hälfte bei seinem Vater zu verbringen pflegte.
Eines Abends telefonierte er mit ihm. »Ja, Papi – ich komm gern mit, aber nicht gerade jetzt, wo wir das Floß geerbt haben. Wir wollen eine Hütte drauf bauen. Der Joschi weiß, wo es alte Bretter gibt… verstehst du das nicht, Papi? Lieber am Ende der Ferien, da hab ich mehr Zeit – hallo, Papi? Bist du noch dran?« Philip sah mich bekümmert an.
»Er hat eingehängt. Jetzt ist er sauer. Was mach ich denn nun?«
»Natürlich mitfahren.«
»Ins Tessin? Mit seiner Freundin, die ich nicht leiden kann! Und mit wem soll ich da spielen? – Sprich du doch mal mit Papi. Sag ihm, daß ich jetzt unmöglich verreisen kann.« Er drückte mir das Telefon in die Hand und verschwand unter Mitnahme unseres gesamten Handwerkzeugs und aller Nägel.
Drei Tage lang hörte man ihr Hämmern und Diskutieren vom See her. Joschi, Philip, ihr Freund Toni und die beiden Sommerjungs Mario und Ari. Sie beschimpften sich gegenseitig »Mann, du Depp« und »Idiot«.
Dann war die Floßhütte fertig. Außer dem Handwerkszeug vermißte ich ein Laken, das sie zum Abdichten der Innenwände benötigt hatten, damit es nicht so durch die Ritzen zog, ein Kissen und unseren Tütekessel. Beim Joschi drüben verschwanden Kopftöpfe, Scharniere, ein Stück Teppich und Geschirr.
Toni hatte zu Haus einen Riesenärger, als seine Eltern die Dachpappe auf ihrem Schuppen vermißten.
Die Innenbeleuchtung – eine Petroleumlampe – organisierte Mario von einer Baustelle, und wo der Rettungsring herstammte, den sie zusammen mit einem Kochtopf neben der Eingangsluke aufhängten, fragten wir lieber nicht.
Im Ufergebüsch hockte Hansi und sah neidisch zu. Nun ging er längst zur Schule und blieb dennoch der Kleine, der nicht mitspielen durfte.
Zu alt für etwas zu werden, ist schlimm, aber es ist genauso schlimm, für etwas zu jung zu sein.
Die Floßhütte war wohl der liebenswerteste Schandfleck, der jemals auf unserem See geschwommen ist. Auf ihrem Dach mit der fetzend überhängenden geteerten Pappe wehte ein selbstgemalter Totenkopf mit gekreuzten Knochen auf einem Stück Laken. Selbst die Anwohner, die das tagelange Hämmern zur Weißglut getrieben hatte, schwiegen überwältigt, als sie das windschiefe Ding in seiner Endfassung erblickten. Es war so schäbig-schön. Und erweckte in jedem Beschauer, der sich noch einen Funken Romantik bewahrt hatte, die Erinnerung an einen verpaßten Jugendtraum.
Unsere fünf Erbauer waren an Protest gewöhnt und rechneten damit, samt Floß verjagt zu werden.
Die unerwartet auf sie zuschwappende Sympathiewelle stimmte sie beinah mißtrauisch. Bekannte und sogar Freunde drückten ihnen plötzlich herzhaft die Hand und fragten, ob sie mal hineinschauen dürften. (Dürften!!)
Als immer mehr Interessenten kamen, kassierten die Floßbesitzer fürs Rüberrudern und den Eintritt fünfzig Pfennig pro Person. Von diesem Geld kauften sie einen Spirituskocher und Vorhängeschlösser.
Auch wir Eltern kamen und feierten Wiedersehen mit all den Sachen, die wir zu Hause vermißten. Ich nahm mein Tafelsilber und ein großes, stilles Staunen mit von Bord.
Diese Wohnkultur! Wer hätte das gedacht. Rote Sets auf der Obstkiste, die ihnen als Tisch diente. Ein Bücherregal. Und die Henkeltöpfe, aus denen uns sonnenwarmer Apfelsaft angeboten wurde, wusch mein Sohn anschließend im See ab und hängte sie an ihre Wandnägel zurück.
Philip, die Erzschlampe, als umsichtige Hausfrau!
Mario hatte die Bordküche unter sich. Er konnte nichts anderes als Tütensuppen und glibbrige Spiegeleier herstellen. Die kamen den Knaben bald zu den Ohren heraus. Einmal verlangten sie Pudding von ihm, aber nur einmal. Keiner mochte gerne Angebranntes.
Die Küche war nicht ihr einziges Problem, sondern auch die Liebespärchen, die nachts zum Floß schwammen, um darin zu nisten: Sie waren gezwungen, ein Schild zu malen:
BETRETEN VERBOTEN!
DIE BESITZER.
Ausnahmen müssen begründet sein.
(Notfall!!)
Es kamen auch Schwäne und Bleßhühner und schissen die Planken voll.
Von nun an übernachteten sie selbst auf dem Floß – immer zwei Jungen, mehr paßten nicht hinein. Wenn Philip und Joschi in der Hütte kampierten, nahmen sie Sascha als Alarmsirene mit.
Die übrigen drei schliefen im Zelt am Ufer, schliefen ziemlich unruhig, weil nie sicher, ob nicht die Floßler mitten in der Nacht ans Ufer plätscherten und das Zelt über ihnen einstürzen oder kübelweise See in ihre Träume kippten.
Das Ärgerliche war, daß sie sich nicht rächen konnten wegen Sascha, der jeden Angreifer rechtzeitig meldete. Mistköter.
Joschi wachte meistens als erster auf und rüttelte an dem blauen Schlafsack, in den sich Philip verkrochen hatte.
Sie öffneten die Floßluke und schauten, auf dem Bauch liegend, den Kopf in die Hand gestützt, auf den spiegelglatten, noch farblosen See.
Fischerboote tuckerten an ihnen vorbei zu ihren Fangplätzen. Über dem Ostufer bereitete sich der Sonnenaufgang vor.
Während sie sich leise unterhielten, um die Stille nicht zu stören, kraulten sie den Hund, der zwischen ihnen döste.
Diese frühen Morgen auf dem Floß waren wirklich schön.
Mitte Juli fand das Seefest statt mit großem Feuerwerk und Prämiierung des bestdekorierten Bootes.
Einen Tag lang wienerten unsere Floßbesitzer an ihrem Eigentum herum und garnierten sein Dach mit Lampions – grinsenden Monden und Laternen.
Um sieben Uhr abends stakten sie los, um rechtzeitig gegen elf zur Preisverteilung am Strandcafe anzukommen – das waren etwa vierhundert Meter Seelinie.
Dort waren sie als windschiefe Mickrigkeit zwischen teuer geschmückten Booten eingeklemmt, gingen völlig unter neben so viel Pracht.
Aller Größenwahn rutschte ihnen in die Jeans. Wer waren sie denn schon – fünf kleine Buben zwischen elf und dreizehn, die mit ihrem Selbstgemachten aufgebrochen waren, um an der Konkurrenz der Großen teilzunehmen. Sie harrten trotzdem bis zur nächtlichen Preisverteilung aus. Schon wegen dem Feuerwerk.
Rote, grüne und gelbe Sonnen zerplatzten am Nachthimmel, riesige Fontänen sprudelten dazwischen – endlich einmal keine vom Regen aufgeweichten Raketen, die müde in die Höhe torkelten und vor der Explosion verglühten.
Die fünf Floßbesitzer kauerten übereinander vor der Hüttentür, den Kopf im Nacken und staunten: »Ohh!«
Dann war das Feuerwerk vorüber, die letzte Fontäne tropfte blutrot in schwarze Uferbäume.
In die Stille nach der feierlichen Knallerei sagte eine Lautsprecherstimme: »Es folgt die Prämiierung des originellst geschmückten Bootes, auf welche Sie nun schon so lange gewartet haben.«
Den Sieg hatten die Zuschauer längst einer als Hai verkleideten Motorjacht zugesprochen.
»Nach einmütigem Beschluß der Schiedsrichter fallt der erste Preis an die kleine Floßhütte. Ich bitte die Gewinner, sich auf dem Podium einzufinden.«
Unsere fünf waren so verschreckt, daß sie erst einmal sitzenblieben.
Von den umliegenden, mit bunten Lampenketten erhellten Booten prasselte Beifall auf sie nieder. Selbst der enttäuschte Hai hupte Salut.
Joschi pustete die Backen auf: »Die meinen uns!«
»Mich laust’n Affe«, »Des derf net woahr sein«, »Meiohmei«, stöhnten sie durcheinander.
»Wer geht denn nun?«
»I trau mi net.«
»I a net.«
Es wurde beschlossen, daß die beiden Ältesten – Joschi und Mario – den Preis in Empfang nehmen sollten.
Es dauerte ziemlich lange, bis sie das Ufer erreichten. Man mußte sie von Bord über Bord zum nächsten Bord weiterreichen, bis sie endlich Land unter den Füßen hatten. Mit hochroten Gesichtern stolperten Joschi und Mario aufs Podium.
Und es tat mir sehr leid, daß Philips Vater den Spaß nicht miterleben konnte. Jetzt hätte er Verständnis für seines Sohnes Weigerung gehabt, mit ins Tessin zu fahren.
Den Sommer auf der Floßhütte würde Philip ein Leben lang nicht vergessen.
Joschi nahm einen Blechpokal mit Gravierung und eine Zweiliterflasche Sekt entgegen. An sich war der erste Preis ein Fäßchen Rum gewesen, aber wer konnte denn ahnen, daß ihn fünf kleine Buben gewinnen würden?
Um Mitternacht hat sie ein Motorboot heimgezogen. Ein schnelles Rivaboot, in dessen Schlepptau ihr Seeräuberfloß hing, das so aussah, als ob es von dem Mann erfunden wurde, der am meisten von Jungenträumen verstanden hat: Mark Twain. In seinem Innern hockten fünf preisgekrönten Knaben und tranken reihum voll tapferem Ekel zwei Liter warmen Sekt aus.
Danach sind sie stumm an Land und in einem Schlenker durch und mit allen Klamotten an in ihre Betten, welche sehr geschaukelt haben sollen.
Diese Ferien voll hochsommerlicher Trägheit, in denen selbst solch ein Skeptiker wie ich an die Dauer von Glück zu glauben begann! Ich hatte damals ein heiteres Privatleben, Philip sein Floß, und Sascha lebte mit den Jungs.
Er war von klein auf daran gewöhnt, sich gegen eine Horde Buben zu behaupten, und mischte bei all ihren Unternehmungen mit – rauh und wild wie sie und bei einbrechender Müdigkeit genauso zärtlich.
Sascha liebte das Floß. Ab und zu trieb ihn der Hunger nach Haus und das Bedürfnis, sich einmal ungestört auf der Balkonliege auszuschlafen.
Außerdem hatte er noch laufende Interessen in der näheren Umgebung, die er nicht vernachlässigen durfte.
Bei so einem Landausflug eines Nachmittags stürzten sich zwei Schäferhunde auf ihn und haben ihn getötet.
Philip, der in den Ort geradelt war, um neue Tütensuppen und Gummibärchen für den Floßhaushalt einzukaufen, kam zufällig vorbei und sah ihn liegen – ein stiller Haufen blutigen Fells, noch feucht vom See, mit gebrochenem Genick und Bißwunden überall.
Er hielt nicht an, sondern radelte wie von Sinnen weiter gegen den Strom der Autofahrer.
Ich fand ihn schließlich auf einer Wiese, mit hämmernden Fäusten, den Kopf im Gras –
»Mami – mein Sascha …«
– und nahm ihn in den Arm und ging mit ihm nach Haus, das uns so leer vorkam.
Einen Tag lang mied er die anderen Jungen. Ging ziellos umher, nicht ansprechbar, mit tiefen Augenringen und Saschas Halsband in der Jeanstasche.
Joschi kam über den Zaun und wünschte ihm herzliches Beileid, wie er es für Todesfälle gelernt hatte.
Nach angemessener Trauerzeit kehrte Philip auf das Floß zurück und nahm an allen Spielen wieder teil, wenn auch gedämpft. Es saß ihm noch immer die Erschöpfung vom Weinen in den Knochen und die Traurigkeit.
Sascha fehlte ihm überall. Nachts auf dem Floß, wenn es kalt wurde, war kein Fell mehr da, um das er sich rollen und an dem er sich wärmen konnte, und morgens, wenn sie im Ausguck lagen und dem Sonnenaufgang zusahen, war das Vermissen am schlimmsten in den Fingern. Es lag niemand mehr zwischen ihnen, den er kraulen konnte.
Ihre Floßhütte war nun berühmt.
Fotografen kamen von einem Journal für modernen Wohnbau und von einer Zeitschrift. Auch Zeitungsreporter meldeten ihr Interesse. Alle mußten tüchtig zahlen, bevor sie knipsen durften. Bei so viel Interesse für ihr Floß hatten seine Besitzer bald kein Privatleben mehr. So ist das nun mal mit dem Ruhm.
Aber sie verdienten einen Haufen Geld, genug, um die windschiefe Hütte einreißen und dafür ein stabiles, größeres Haus auf das Floß bauen zu können. Wasserdicht von oben und unten. Mit Komfort innen und Platz für vier zum Schlafen. Mit einem Spitzdach, das sie mit Schilf abdeckten. Sie waren sehr stolz darauf.
Aber auf einmal hatten sie nichts als Ärger mit den Erwachsenen, die ihnen den neuen, nüchternen Kasten persönlich übelnahmen. Ein alter Herr weinte beinah:
»Ach Jungs, warum habt ihr das getan? Warum habt ihr meinen Jugendtraum zerstört!«
Die Erwachsenen hatten nie in der Hütte gelegen: von unten feucht und die eine Wand bei starkem Wind im Kochtopf.
Und außerdem – was taten denn sie, wenn sie zu Geld kamen? Dann rissen sie auch das romantische Morsche ein und bauten dafür moderne Kästen, die als plumpe Ausrufungszeichen die Landschaft zerstörten.
Das Hundstagwetter hielt an.
Bei Einbruch der Dunkelheit flackerten Feuer an den Ufern auf. Lärm von Sommerfesten hallte über den See und Musik. Der Nachtwind, der durch das Schilf wischte, duftete nach Grillwürsteln.
Eines Abends wurde Joschi dringend ans Ufer gerufen.
Ein Krankenwagen fuhr ins Grundstück nebenan und mit Blaulicht und eingeschalteter Sirene wieder fort. Unsere Nachbarin hatte es gesehen.
»Da muß was passiert sein«, raunte sie im Haus herum.
Als Philip am nächsten Morgen über den Zaun zum Joschi stieg, kam er gleich wieder zurück, im Gesicht dieses leere Grinsen, mit dem er auf Hiobsbotschaften zu reagieren pflegte.
»Joschis Vater ist heut nacht gestorben«, sagte er. »An einem Herzinfarkt.«
Philip schaute vom Küchenfenster zu ihm hinüber. »Erst mein Sascha und jetzt sein Vater. Und der Besitzer von unserer Wohnung auf der Inntalautobahn… alles in drei Wochen. Bei uns geht der Tod um«, sagte er. Weiß der Himmel, wo er diesen Satz aufgeschnappt hatte. »Für den Joschi ist das schlimm. Er hat sehr an seinem Vater gehangen.«
»Du mußt ihm einen Brief schreiben«, sagte ich.
»Warum?«
»Das tut man, wenn einem Freund der Vater stirbt.«
»Ja, aber was soll ich denn schreiben?«
»Daß es dir sehr leid für ihn tut.«
Philip, den bereits Danksagebriefe für Geburtstagspräsente in einen geistigen Ausnahmezustand versetzten, hockte an seinem Schreibtisch mit Blick auf den See, hockte hilflos denkend vor der Karte mit dem schwarzen Rand, die ich in der Bahnhofspapierhandlung für ihn gekauft hatte. Ihm fiel nichts ein. Beim besten Willen nicht.
»Kannst du mir nicht helfen, Mami? Du bist doch Schriftsteller!«
»Aber nicht für Kondolenzschreiben.« Die hatte mir bisher immer meine Mutter aufgesetzt.
Philip rief seine Großmutter in Berlin an. Nun hatte er zwar den Text, aber seine Niederschrift wimmelte von orthographischen Fehlern. »So kannst du das nicht abschicken«, sagte ich.
»Den Joschi stört’s bestimmt nicht«, versicherte er.
»Trotzdem, auf einem Beileidsschreiben muß alles stimmen, Junge.«
Ich fuhr zum Bahnhof und holte noch einen Packen Kondolenzkarten.
Der vierte Versuch war endlich fehlerfrei und leserlich. Philip wollte ihn über den Zaun tragen. Ich sagte, das geht nicht.
»Du mußt ihn beim Joschi am Tor einstecken.«
Zum ersten Mal wurde es formell zwischen den Nachbarsknaben.
Bis zur Beerdigung und noch einen Tag blieb Joschi für sich.
Er trauerte sehr um seinen Vater, aber er war halt ein Kind, und das Leben ging weiter, und so stieg er wieder über den Zaun auf unseren Hof, wo Philip schon auf ihn lauerte.
Sie begrüßten sich ernst.
Und radelten ernst in den Ort, um dort sehr ernst neue Schwimmflossen für Joschi zu kaufen.
Die letzten Ferientage sollte Philip bei seinem Vater verbringen. Was bedeutete, ihn von Grund auf landfein zu gestalten.
Das fing beim Mittagessen an, als mein Blick sinnend auf seinem Kopf ruhte, will sagen, auf dem, was sich in weißblonden Fransen über seinen Hemdkragen stülpte und auf seine Augen niederzipfelte, so daß sie schielen mußten, wenn sie etwas sehen wollten.
Philip blinzelte mißtrauisch zu mir herüber: »Was ist’n nun schon wieder?«
»Deine Haare«, sagte ich. »Du schaust aus wie ein Penner.«
»Mir doch wurscht.«
»Deinem Vater aber nicht.«
Nachdem er mich beim Friseur mehrmals bis auf die Knochen blamiert hatte – er betrat den Salon wie ein Schlachtopfer, aber eines, das die Bestimmungen des Tierschutzvereins genau studiert hatte, und rebellierte bereits beim Eintritt gegen das Geopfertwerden übernahm ich das Schneiden selbst. Ich hatte darin genügend Erfahrung bei unserem Sascha gesammelt. Sobald der mich mit Kamm und Schere aufkreuzen sah, startete er eine wilde Jagd durch sämtliche Räume über Sofas, um jeden Tisch herum, unter Stühlen durch – bis ich ihn schließlich eingefangen und zwischen die Knie geklemmt hatte.
Philip bot mir dieselben Jagdfreuden. Wenigstens schnappte er nicht nach mir, wenn ich ihn einfing und mein Schnibbelwerk begann. Dafür pöbelte er.
»Feine Mutter! Mit der Hundeschere ihren eigenen Sohn.«
Ich ließ mir Beleidigungen gefallen, die man gar nicht wiedergeben kann. Egal. Hauptsache, ich hatte seinen krampfhaft gebeugten Kopf unter der Schere.
Nach dieser Prozedur verschwand er fluchend über den Zaun zum Joschi. Der sah ihn bloß an und wußte Bescheid: »Da war wohl deine Mutter am Werk!«
Er sprach aus Erfahrung. Daß diese Mütter ihre armen, netten Söhne nie zufrieden lassen konnten. Was hatten sie an ihrem Kopf zu suchen!? Immer mußten sie an ihnen herumfummeln.
Als nächstes gingen wir Hosen kaufen. Außerdem brauchte er Schuhe, deren Kappen nicht steinhart vom ständigen Kontakt mit Seewasser waren.
Wir setzten uns wie üblich in die Kinderabteilung, ich nannte der Verkäuferin seine Nummer vom Frühjahr. Philip streifte freiwillig die verwitterten Clarks ab – Schuhekaufen ging er gerne – und bewegte die Zehen in gestopften Socken mit fadenscheinigen, entfärbten Sohlen, dabei hatte er drei Paar neue, aber wenn wir Schuhe kauften, überraschte er mich immer mit den ältesten Fetzen an seinen Füßen. Genierte ihn überhaupt nicht.
Die Größe vom Frühjahr paßte nicht mehr. Er stieß mit den Zehen vorne an.