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Ergreifend, warmherzig, voller Zuversicht: „Ein Stück vom Leben“ von der Bestsellerautorin Barbara Noack jetzt als eBook bei dotbooks. Kann Freundschaft selbst die schrecklichsten Erlebnisse überstehen? Gemeinsam haben Jola und Luise den Krieg erlebt und überstanden. Inzwischen sind aus den beiden Mädchen junge Frauen geworden, und obwohl sie sich langsam aber stetig auseinander leben, schweißt der Überlebenskampf der Nachkriegszeit die beiden immer wieder zusammen. In der Fortsetzung des Erfolgsromans „Eine Handvoll Glück“ erzählt Barbara Noack einfühlsam und mit autobiographischen Erfahrungen die Geschichte von zwei Freundinnen, die sich in einer schweren Zeit immer wieder ihr Recht auf das persönliche Glück erkämpfen. Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Ein Stück vom Leben“ von der Bestsellerautorin Barbara Noack. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 398
Über dieses Buch:
Kann Freundschaft selbst die schrecklichsten Erlebnisse überstehen?
Gemeinsam haben Jola und Luise den Krieg erlebt und überstanden. Inzwischen sind aus den beiden Mädchen junge Frauen geworden, und obwohl sie sich langsam aber stetig auseinander leben, schweißt der Überlebenskampf der Nachkriegszeit die beiden immer wieder zusammen.
In der Fortsetzung des Erfolgsromans »Eine Handvoll Glück« erzählt Barbara Noack einfühlsam und mit autobiographischen Erfahrungen die Geschichte von zwei Freundinnen, die sich in einer schweren Zeit immer wieder ihr Recht auf das persönliche Glück erkämpfen.
Über die Autorin:
Barbara Noack, geboren 1924, hat mit ihren fröhlichen und humorvollen Bestsellern deutsche Unterhaltungsgeschichte geschrieben. In einer Zeit, in der die Männer meist die Alleinverdiener waren, beschritt sie bereits ihren eigenen Weg als berufstätige und alleinerziehende Mutter. Diese Erfahrungen wie auch die Erlebnisse mit ihrem Sohn und dessen Freunden inspirierten sie zu vieler ihrer Geschichten. Ihr erster Roman »Die Zürcher Verlobung« wurde zweimal verfilmt und besitzt noch heute Kultstatus. Auch die TV-Serien »Der Bastian« und »Drei sind einer zu viel«, deren Drehbücher die Autorin verfasste, brachen in Deutschland alle Rekorde und verhalfen Horst Janson und Jutta Speidel zu großer Popularität.
Barbara Noack veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Romane »Die Zürcher Verlobung«, »Der Bastian«, »Danziger Liebesgeschichte«, »Drei sind einer zuviel«, »Brombeerzeit«, »Das Leuchten heller Sommernächte«, »Die Melodie des Glücks«, »So muss es wohl im Paradies gewesen sein«, »Jennys Geschichte«, »Der Duft von Sommer und Oliven«, »Der Zwillingsbruder«, »Das kommt davon, wenn man verreist«, »Auf einmal sind sie keine Kinder mehr«, »Was halten Sie vom Mondschein?«, »Valentine heißt man nicht«, »Der Traum eines Sommers« und »Eine Handvoll Glück. Schwestern der Hoffnung - Band 1«. Auch bei dotbooks erschienen ihre Erzählbände »Flöhe hüten ist leichter«, »Eines Knaben Phantasie hat meistens schwarze Knie« und »Ferien sind schöner« sowie die Sammelbände »Valentine heißt man nicht & Der Duft von Sommer und Oliven« und »Schwestern der Hoffnung - Die Saga in einem Band«.
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eBook-Neuausgabe Mai 2016
Copyright © der Originalausgabe 1984 by Albert Langen Georg Müller Verlag GmbH, München Wien
Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Rudy Balasko
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-543-3
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Barbara Noack
Ein Stück vom Leben
Roman
dotbooks.
Meist ist der Ausgang dort,
wo der Eingang war.
Stanislaw Jerzy Lec
Nur unser Herz ist eigentlich
unsre eigne Geschichte;
die Begebenheiten teilen wir
mit Stadt und Land.
Jean Paul
In tragischen Momenten erinnerte Ludmillas langer, schmaler mittelgescheitelter Kopf an die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff. Sie lag auf dem alten Kapitänsbett, als meine Koffer hinausgetragen wurden, lag da mit eingezogenem Fahrgestell, ein heller Haufen Fell, ihr Auge brach.
Ludmilla vermag sehr demonstrativ zu leiden. Sie vermasselt mir dadurch die Freude am Verreisen – es sei denn, ich nehme sie mit. Dann vermasselt sie die Reise überhaupt durch übertriebenes Pflichtbewußtsein, indem sie glaubt, mich gegen jedermann verteidigen zu müssen.
Ich sah mich noch einmal um, ob ich auch nichts vergessen hatte, genoß zum letztenmal die warme, unordentliche Gemütlichkeit unseres Zuhause an einem frühen Morgen.
Heimweh setzte bereits ein, als die Haustür hinter mir zuklappte. Mein Sohn David Kaspar, den alle seit seiner Kinderzeit Jux nennen, weshalb das angestrengte Nachdenken über seine Namensgebung ein herausgeworfenes Nachdenken gewesen war, fuhr mich zum Flughafen und lud mein Gepäck vorm Berlin-Schalter der PAN AM ab. »Geh schon«, sagte ich, »du mußt nicht warten.«
Sein Kuß zum Abschied enthielt Pauschalreue für alle Mißstimmungen der letzten Wochen, an denen er schuldgewesen war. Auch mir tat es nachträglich leid, daß ich oft unbeherrscht gebrüllt hatte.
»Tschüs du, mach’s gut. Kümmer dich um Ludmilla, sei nett zu Omi und vergiß nicht, Montag abend die Mülltonnen hinauszustellen.«
»O Mami.« Er seufzte. »Das hast du mir schon zwanzigmal gesagt.«
»Ja, ich weiß, ich wiederhole mich gern. Das ist eine Alterserscheinung.«
»Grüß die Hanna«, sagte Jux.
»Vergiß nicht, ein Telegramm zu ihrem Geburtstag zu schicken. Am Siebten.«
»Das hast du mir auch schon mehrmals gesagt.«
Er ging. Hochgeschlagener Trenchcoatkragen, den Gürtel wie einen Strick um die Taille geschnürt. Mir fiel auf, daß er schiefe Absätze hatte.
Gleich nach Jux’ Abgang teilte eine weibliche Lautsprecherin zuerst in deutsch und danach in zerknautschtem Englisch, das wohl bayerisches Amerikanisch darstellen sollte und kaum zu verstehen war, den Ausfall der Berlin- Maschine mit. Die nächste ging erst um zwölf Uhr zehn. Ich suchte mir eine unbesetzte offene Plastikmuschel mit Telefon und rief Hanna Barris in Berlin an, um ihr mitzuteilen, daß ich erst später eintreffen würde. Sämtliche Flughafengeräusche nahmen ungefiltert an unserem Gebrüll teil, darum verstand ich nur »Kuchen« und »Freu mich« von dem, was Hanna in den Hörer schrie. Ja, ich freute mich auch auf sie. Meist flog ich nur für ein, zwei Tage nach Berlin, da blieb selten Zeit, sie zu besuchen.
Vor einer Woche hatte ich einen Brief von ihr erhalten. »Liebe Luise, wir hatten einen Rohrbruch im Haus. Der Keller stand bis zum Knie unter Wasser. Ich dachte, das würde Dich interessieren, weil der Persilkarton, den Du vor Jahren für einen Tag bei mir untergestellt und nie wieder abgeholt hast, vorübergehend abgesoffen ist. Dadurch hatte ich endlich einen überzeugenden Grund, ihn zu öffnen und nachzusehen, was drin ist. Es handelt sich um Tagebücher und Maschinengeschriebenes, wofür ich Dir sehr dankbar bin, denn Deine Schrift ist nicht allzu leserlich. Zur Zeit hängt alles zum Trocknen in der Waschküche auf der Leine. Sollte Dir noch etwas an Deiner Vergangenheit liegen, so werde ich sie in Kartons packen und nach und nach zur Post bringen.
Übrigens werde ich am 7. September 77 Jahre alt. Ich teile Dir das rechtzeitig mit, um Dich vor einem schlechten Gewissen und langatmigen Ausreden zu bewahren, falls Du meinen Geburtstag wieder einmal vergessen solltest. Es werden immer weniger. Else Hahn, eine Freundin von uns, Du kennst sie sicher von unseren Festen, jammerte ständig, wie furchtbar es ist, alt werden zu müssen. Und ob wir nicht wüßten, was man dagegen tun kann. Barris sagte: Da gibt’s nur eins, Else, du mußt vorher sterben. Danach hatten wir Ruhe vor ihr.
77 Jahre, am 7. September. Schreib’s Dir auf. Übrigens hat Jola versprochen zu kommen. Ich glaube erst daran, wenn sie in der Tür steht. Hast Du nicht zufällig auch in Berlin zu tun? Euch beiden Mädchen hier zu haben, das wäre gar nicht auszudenken schön. Ihr habt euch doch auch ewig nicht gesehen.
Grüß Deine Mutter, Rieke und Jux herzlich von mir.
Deine Hanna Barris.
P. S. Du wohnst natürlich bei mir, wenn Du kommst. Jola wohnt lieber im Hotel.« »Sollte Dir noch etwas an deiner Vergangenheit liegen«, hatte Hanna geschrieben.
Lag mir noch etwas an ihr? Zumindest dachte ich selten zurück. Erinnern bedeutet, der Gegenwart Zeit und Gedanken zu stehlen.
Erinnern bedeutet ja auch das Befassen mit den vielen Fehlern, die man einmal gemacht hat. Bloß nicht dran rühren. Lieber ein paar Büsche drüber pflanzen. Vielleicht hatte ich deshalb auch nie den Wunsch verspürt, den Persilkarton aus Hannas Keller abzuholen. Nun beunruhigte mich die Vorstellung, daß meine jahrelang unter Verschluß gehaltenen Aufzeichnungen auf einer Leine in einer Gemeinschaftsküche trockneten, jedem interessierten Auge zugänglich, sofern noch lesbar nach dem Rohrbruch. Das mußte ja nun nicht sein. Noch am selben Tag, an dem ich ihren Brief erhalten hatte, rief ich Hanna an.
»Hier ist Luise, ich danke Ihnen für Ihren Brief.« »Luischen!« So freut sich bloß ein Mensch, der nur noch selten Anrufe erhält. »Warte, ich hol mir eine Zigarette.« Sie konnte also noch immer nicht telefonieren, ohne dabei zu rauchen.
Im Hintergrund rief eine kehlige Stimme: »Hanna, was machst du?«
»Ich hole mir eine Zigarette.«
»Was machst du?«
»Ach, halt die Klappe, Otto. Ich möchte jetzt mit Luise reden.«
»Haben Sie Besuch?« fragte ich.
»Das ist Otto, mein Mamagei. Kennst du ihn nicht? Ich habe ihn bald drei Jahre. So lange warst du also nicht mehr hier!« »Dafür komme ich zu Ihrem Geburtstag, und ich wohne gern bei Ihnen. Aber ich hab eine Bitte: nehmen Sie meine Aufzeichnungen von der Leine. Der Gedanke, fremde Leute– «
»Keine Sorge, sie liegen längst auf meinem Nachttisch«, beruhigte sie mich. »Ich bin gerade an einer sehr spannenden Stelle. Warte, ich hole mal das Manuskript ...« »Bitte, Frau Barris!«
»Hast ja recht. Zum Vorlesen am Telefon ist es zu lang. Und du kommst ja auch bald. Komm schon am Fünften, damit wir noch einen Tag für uns alleine haben. Wenn Jola erst da ist – wer weiß, was sie vorhat – mit dir kann ich auch besser über Barris reden. Schenk mir ein bißchen Zeit, Luise.«
»Tschühüs«, rief ihr Papagei im Hintergrund.
»Ich mach ja schon Schluß«, versprach sie ihm und verabschiedete sich von mir.
***
Im Flughafenrestaurant wartete ich auf den Abflug der nächsten Maschine nach Berlin. Bestellte zuerst einen Tee, später eine Königinpastete und bat den Ober, mir die Worcestersauce zu bringen. Ich sprach sie korrekt »Wüster« aus.
Darauf guckte mich der Ober mitleidig an. »Sie meinen wohl Worschäster, meine Dame.« Ich nickte, was sollte ich mich streiten, darauf er: »Wer Fremdwörter nicht beherrscht, sollte sie lieber nicht gebrauchen.«
Diese Bemerkung machte mich sehr ärgerlich. »Ich möchte keine Belehrung, sondern die Soße, ja?«
Aber daraus wurde leider nichts wegen der Diskussion, die sich zwischen dem Ober und den umliegenden Tischen, die zugehört hatten, entspann.
Es ging darum, ob die Soße nun Wuster oder Worschäster ausgesprochen wurde. Die meisten plädierten für Worschäster, es war aber ein Schauspieler vom Württembergischen Staatstheater dabei, der versicherte, daß in Shakespeares »Heinrich IV.« der Earl of Worcester wie Wüster ausgesprochen wurde. Er mußte das wissen, denn er hatte ihn selbst gespielt. Der Ober entgegnete rüde, was hätte Shakespeare mit der Soße zu tun, er habe auch drei Jahre Englisch gehabt und sage Worschäster. Basta.
Vom Tisch eines einzelnen Herrn, der nicht an der Diskussion teilgenommen hatte, weil zu weit entfernt, griff er die Soße mit rabiatem Schwung, wobei sein Ellbogen das große Helle umstieß, das vor dem einzelnen Herrn stand und nun demselben über die Hose strömte. Ein großes Helles bedeutet sehr viel Bier für eine Hose. Der einzelne Herr tat bekümmert kund, daß er auf dem Wege nach Hannover sei, um sich dort bei einer seriösen Firma vorzustellen, aber wie denn so klitschnaß und im Geruch an eine Eckstehbierkneipe erinnernd? Der Ober knallte mir die Soße mit dem Vorwurf »Nu sehn Se, was Sie mit Ihrem Wüster am Anrichten sind!« vor die Nase.
Ich sah und roch es, legte Geld auf den Tisch, ergriff mein Handgepäck und verließ fluchtartig das Restaurant, obgleich mir keiner Schuld bewußt. Aber manchmal ist es eben besser, rechtzeitig zu gehen. Vor allem, wenn man über ein leicht aus der Kontrolle zu schleuderndes Mundwerk verfügt.
Nun saß ich in der Abflughalle zwischen anderen Wartenden, von denselben milde lächelnd betrachtet, vor allem meine rechte Hand. In ihr hielt ich die Handschuhe, eine zusammengerollte Zeitung und die Worcestersoße.
Ich wollte lesen auf dem Flug, aber meine Gedanken lasen nicht mit, sie waren bei Hanna Barris.
Hanna war immer jung, wenn ich an sie dachte, und ihre Tochter Jolande und ich waren noch Kinder: Wir kommen aus der Schule. Hanna steht mädchenhaft schmal in ihrem fleckigen Malerkittel am Küchenherd und verlängert das Mittagessen für die unvorhergesehenen Gäste, die Barris aufgegabelt und mit nach Hause gebracht hat. Auf dem Rand des Küchentisches raucht sich ihre abgelegte Zigarette ins Holz. Ihr Profil ist fein trotz der etwas zu langen Nase, das dunkle Haar in einem unordentlichen Knoten im Nacken zusammengerafft.
Ich habe Hanna nie überrascht erlebt, nie ungeduldig, sie nahm alles so, wie es kam. Es gab kaum einen Mann, der nicht verliebt in sie gewesen wäre – das lag wohl an ihrer heiteren Gelassenheit, ihrem großzügigen Herzen und ihrem sehr weiblichen Verstand, denn die Männer, die zu Barris kamen, waren keine Männer, die sich in eine junge Frau verliebten, nur weil sie ein attraktives Gesicht und eine gute Figur zu bieten hatte.
Ich freute mich sehr auf sie.
In Berlin regnete es seit Tagen. Der Taxifahrer fluchte auf det scheißige Wetta und ob es in München auch – aber ich sagte lieber nicht, daß in Oberbayern der tiefblaue, wolkenlose Himmel kein Ende nehmen wollte, sonst hielt er womöglich an und setzte mich samt Koffern auf der Stadtautobahn aus.
»Scheißwetter, Scheißverkehr, Scheißpolitiker – allesamt, kannste hinkieken, wohin de willst, und von solche Heinis is nu unser aller Schicksal abhängig, und wat det noch mal werden soll, Mensch, denkste lieba nich nach, sonst kannste dir gleich ne Bohne durch’n Kopp ballern. Scheißfehlinvestitionen – nu kieken Se sich det Monstrum aus Beton an! Dafür wer’n nu unsre Steuergelder rausjeschmissen – Scheißfahrerin vor uns, so ne doofe Nuß, läßt mir nich vorbei – aaaba mit lila Hut! O Mann, o Mann!«
Wenn ich eine beschwichtigende Bemerkung wagte, fuhr er mir über den Mund. Er wollte nichts Beschwichtigendes hören, hing geradezu abgöttisch an seiner schwarzen Laune. Also sagte ich gar nichts mehr, bis wir vor dem Haus im Grunewald hielten, in dem Hanna Barris heute wohnt.
Ich zahlte, er steckte mißmutig das Trinkgeld ein, offensichtlich tat es ihm leid, daß er aussteigen und mein Gepäck aus dem Kofferraum heben mußte. Und dann plötzlich, ohne seine schlimme Stimmung aufzugeben, der Ratschlag, mir keene nassen Füße zu holen, und noch allet Jute in Berlin.
Das Haus lag nahe dem Elsterplatz, ein ehemals feudales Mietshaus, das den Krieg unbeschädigt überstanden hatte. Seine Achteinhalbzimmerwohnungen waren in kleine Apartments umgebaut worden.
An einem Fenster im ersten Stock erkannte ich Hanna Barris neben der zurückgezogenen teefarbenen Gardine. Wer weiß, wie lange sie schon dort stand und auf mich wartete.
Ich winkte hinauf, bevor ich mein Gepäck vom Bürgersteig aufnahm.
Sie empfing mich oben an der Treppe, eine plumpe Gestalt in einem langen, in vielen Blautönen gestreiften Hänger. Der knabenhaft schlanke Garçontyp von einst war schwer geworden und grau.
Hanna breitete lachend die Arme aus.
»Da bist du endlich!«
Ich spürte ihre festen, warmen Ausmaße, ihren Bauch, und noch immer benutzte sie Nelkenparfum.
»Gib mir deinen Koffer –«, ich protestierte, »dann wenigstens die Tasche.« Sie trug sie vor mir in die Diele. »Meine Wohnung und ich sind seit Stunden auf Empfang präpariert, nun sind wir schon ein bißchen abgestanden. Deine Koffer stellen wir ins Schlafzimmer. Auspacken kannst du später. So. Geh schon rein. Ich komme gleich.« Während sie leichtfüßig wie ein Igel ihren plumpen Leib in die Küche rollte, betrat ich den Wohnraum. Hohe, verräucherte Stuckdecke. An den Wänden Barris’ alte, durchhängende Regale mit seinen Büchern, Katalogen und Manuskripten. Die Idee, seine Arbeiten in Ordnern zu sammeln, wäre ihm nie gekommen. Allein das Wort Aktenordner hätte ihn bereits verstört. Da stapelten sich außerdem » Wasmuths Monatshefte für Baukunst«, »G«, »La révolution surréaliste« und andere Zeitschriften, die ihren muffigen Geruch seit dem Tage, an dem wir sie unter feuchtem Schutt hervorgezogen, nicht verloren hatten. Ich erkannte einige von Barris’ alten Möbeln wieder – Stahlrohrstühle von Le Corbusier und Breuer, einen Weißenhofstuhl, seinen Schreibtisch und vor allem das braune, abgewetzte, durchgesessene Ledersofa mit geplatzten Nähten. Der Graupapagei Otto, von Hanna zärtlich Mamagei genannt, stellte sofort sein Pfeifen ein, als ich hereinkam.
»Hallo, Otto«, sagte ich.
Er drehte mir den Rücken zu – langsam, ganz langsam, damit mir auch kein Zweifel blieb, daß er mit mir nichts zu tun haben wollte.
Hanna Barris kam mit einer Flasche und Sektgläsern herein. »Zwei Stunden wird er jetzt keinen Ton von sich geben, um dir seine Verachtung zu zeigen. Aber viel länger hält er nicht durch, dazu quasselt er zu gern. « Sie stellte die Gläser auf den Schreibtisch. »Jola hat mir mal Geld geschickt. Ich sollte einen neuen Teppich kaufen, damit sie sich wegen meinem alten schäbigen nicht zu schämen braucht, wenn ihre feine Mischpoche nach Berlin und hier auf die Idee kommt, mich zu besuchen. Weil ich aber Ansprache nötiger brauche als den Teppich, habe ich für das Geld den Vogel erworben. « Sie hielt eines der Gläser gegen das Licht. »Th – wie kommt bloß der Staub in den Küchenschrank!?« Mit ihrem Taschentuch wischte sie beide aus. »Seither schickt Jola mir kein Geld mehr für Extraausgaben, sondern kauft selber, was ich ihrer Meinung nach brauche. Am meisten stört sie Barris’ Sofa. Das gehört auf den Sperrmüll, sagt sie, aber man müßte sich schämen, es dafür auf die Straße zu stellen. Ja, sage ich, man müßte sich schämen, und darum behalte ich es in meinem Zimmer. Auf diesem Sofa werde ich sterben. Nachher soll sie mit uns machen, was sie will.« Sie beschäftigte sich kurz mit dem Verschluß der Flasche, dann reichte sie sie an mich weiter. »Mach du sie auf.«
»›Krug‹«, staunte ich.
»Hat Jola mal mitgebracht.«
»Heben Sie die für Ihren Geburtstag auf, Frau Barris.« »Da trinken wir was anderes. Diese Flasche hier möchte ich mit dir ganz allein – wenn Jola erst da ist – falls sie wirklich kommt …«
Der Korken sprang heraus, Hanna hielt die Gläser unter.
»Wieso? Glauben Sie etwa, sie sagt noch ab?«
»Es wäre nicht das erste Mal, bei ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen …«, sie kappte die Ironie in ihrer Stimme, »aber was kann ich von ihr erwarten – ich hatte ja früher auch wenig Zeit für sie. Was ist mit euch beiden? Habt ihr noch Kontakt?«
»Die üblichen Weihnachtskarten mit handgeschriebenem Gruß drunter. Gesehen haben wir uns nicht mehr seit – ach, das ist ewig her, mindestens fünfundzwanzig Jahre.«
Hanna sank in die Mitte des Sofas, das Kinn auf der Brust. Über ihrem ehemaligen grazilen Elfenbeinnacken wölbte sich ein rundes Fettpolster. »Jola sorgt sehr gut für mich. Ohne ihre monatliche Apanage könnte ich kaum existieren. Aber dafür verlangt sie auch, daß ich nach ihrem Geschmack existiere – sie schämt sich für mich, so wie ich bin und aussehe!« Ihre schwarzen, klugen Augen lächelten mich an. »Ich werde mich nicht mehr ändern « Jetzt bemerkte sie das Champagnerglas in ihrer Hand. »Wir haben noch gar nicht getrunken. Willkommen, Luise, ich freu mich, daß du da bist.« Sie kostete und stellte beeindruckt fest: »Hmm – schmeckt edel. Das ist bestimmt kein Sonderangebot!« Mit einer leichten Geste trank sie dem Foto auf dem Schreibtisch zu. Barris’ starkes, reizvoll-häßliches, sensibles, genußfreudiges, unendlich gescheites, menschenfreundliches Gesicht grinste zurück.
Hanna und Barris – eine große Liebe mit einer nie endenden Leidenschaft füreinander. Eine Einheit über 32 Jahre. Nach seinem Tod verbrannte sie ihre weiblichen Sehnsüchte und Reize mit seiner Leiche – die Frau in Hanna starb mit Barris. Aber ich habe sie nie jammern hören.
»Zweiunddreißig Jahre – wer hat schon das Glück, so lange Zeit zu lieben und geliebt zu werden? Da muß ich doch dankbar sein, nicht wahr, Luise?« Was Barris ihr in dieser Zeit alles zugemutet hatte, trug sie ihm schon zu Lebzeiten nicht nach. »Jeder Mann nach ihm wäre nur eine Notlösung gewesen, aus Angst vor der Einsamkeit, mit einer ärgerlichen Reue hinterher. Es ist nur leider kaum noch jemand übrig, mit dem ich über ihn sprechen kann«, bedauerte sie. »Die meisten Freunde von früher sind gestorben oder fortgezogen.« Sie hielt mir ihr geleertes Glas hin. »Gib mir noch was, ist gut für den Kreislauf. Nimm du dir auch.«
Sie fragte weder nach meiner Familie noch nach meinem Beruf, noch nach meinem Wohlergehen. Für sie war allein wichtig, daß sie mit mir über Barris reden konnte, diesen trinkfreudigen, vitalen Balten. Ich glaube, ich war acht oder neun Jahre alt, als ich zum erstenmal die Atelierwohnung in der Teplitzer Straße im Grunewald betrat. Jolande, damals noch bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater, dem Kunstkritiker Barris, lebend, war krank, ich mußte ihr die Schulaufgaben bringen. Barris öffnete mir die Tür, um zwölf Uhr mittags noch in Bademantel und Pyjama, unrasiert, mit ungekämmten schwarzen Locken – ich fragte mich, ob der Mann wohl auch krank war, aber dafür klang seine tiefe Stimme viel zu fröhlich …
Bei meinen nächsten Besuchen begriff ich, daß sein Lebensrhythmus nicht der eines normalen Bürgers war. Wenn andere ins Büro fuhren, war für ihn Mitternacht, denn er pflegte bis zum Morgengrauen mit Freunden zu diskutieren.
Barris hatte nie Geld, aber die Großzügigkeit eines Mäzens. Er half jedem, der in Not war, und es waren damals viele in Not.
Barris half auch mir wie kein anderer Mensch in einer Zeit, als mein Spiegelbild mir täglich bestätigte, daß ich ein häßliches Entchen war und fürchten mußte, in diesem Leben keinen Mann abzukriegen. Seine Warmherzigkeit nahm mich – ohne Rücksicht auf meine steife Schüchternheit – in die Arme. Seine Komplimente gaben mir das Gefühl, ein begehrenswertes Mädchen zu sein, und ich glaubte ihm verzweifelt gern.
Auch später, als ich kein häßliches Entchen mehr war, blieb diese amouröse Herzlichkeit zwischen uns. Wie die meisten weiblichen Wesen konnte auch ich mich nicht seiner erotischen Ausstrahlung entziehen.
»Also deine Aufzeichnungen«, kam Hanna zur Sache. »Was du da über uns geschrieben hast …«
»Sollten Sie etwas Abfälliges gelesen haben, sind Sie selber schuld«, erinnerte ich sie. »Man geht nicht an fremde Intimsachen.«
»Ja, ich weiß, Herzchen, aber ich hab ja nur Erfreuliches über uns gefunden. Da war so viel, was ich längst vergessen hatte. Beim Lesen war Barris plötzlich wieder so spürbar nah …« Ihr Lächeln voll zärtlicher Erinnerungen brach in einem Hustenanfall zusammen.
»Wann geben Sie endlich die Raucherei auf?« fragte ich. »Wozu? Für wen sollte ich mich schonen? Ich habe ja bloß noch Otto – und der überlebt mich, ob ich rauche oder nicht. Papageien werden bis zu sechzig Jahre alt. Übernimmst du Otto, wenn ich sterbe? Er heißt nach Bismarck, weil er ihm irgendwie ähnlich sieht, findest du nicht?«
»Naja, der stechende Blick …«
»Halt die Klappe«, nuschelte Otto, er wurde schon zutraulicher.
»Wann kommt Jola?«
»Morgen am Vormittag. Ich habe aufgeschrieben, mit welcher Maschine. Sie weiß nicht, daß du da bist. Du bist meine Überraschung.«
»Wenn das mal gutgeht …« Oft ist der Überraschende selbst der Überraschte.
»Wieso eigentlich nicht? Ihr seid euch doch nicht böse.«
»Überhaupt nicht. Wir sind nicht mal das«, sagte ich. »Wir haben uns einfach vergessen.«
Hanna schüttelte den Kopf. »Mir unverständlich – nach allem, was ihr zusammen durchgestanden habt. Zeitweilig verlief doch euer Leben wie zwei ineinander verhedderte Fäden.«
»Vielleicht deshalb.« Ich dachte an Jola zurück. »Im Grunde waren wir völlig verschieden. Wir hatten weder dieselben Ansichten noch dieselben Interessen – aber immer wieder hat uns die Not in einen Topf geworfen. Jetzt bin ich schon sehr gespannt, sie wiederzusehen.« Hanna gähnte. »Alkohol am Tage habe ich noch nie vertragen. Ich hole uns mal Kuchen.«
Sie erhob sich mit einem kleinen Stöhnen und ging aus dem Zimmer.
Ich ging ihr nach. »Wie sieht sie denn heute aus?« »Jola? Wie ihr Vater. Ich möchte immer Achim zu ihr sagen. Sie ist auch so ordentlich wie er. So korrekt. Mir ist sie eine Spur zu snobby – und zu kühl. Aber ich liege ihr ja auch nicht. Ich bin sicher, sie hätte lieber eine andere Mutter, eine zum Vorzeigen.«
Hanna hatte das Konditorpapier von einem größeren Tablett entfernt. Ich staunte auf Cremeschnitten, Mohrenköpfe, Liebesknochen, gefüllten Bienenstich. »Wer soll denn das alles essen?«
»Ich nicht«, sagte Hanna. »Ich esse nie Kuchen. Aber als Kinder habt ihr so was doch sehr gerne gemocht.«
Ich mußte lachen. »Als Kinder haben wir auch mit Murmeln gespielt.«
»Ihr werdet immer für mich Kinder bleiben.«
Nachdem sie den Kuchen auf einen großen Teller umgeräumt hatte, trug ich ihn ins Wohnzimmer. Sie folgte, ihren Rücken stützend.
»Schmerzen?« fragte ich.
»Die Bandscheibe, das arme Ding. Im hohen Alter mute ich ihr noch solche Belastung zu. Ich bin fett geworden, nicht wahr, Luise? Ehe ich mich abends ausziehe, drehe ich Barris’ Bilder um, damit er mich nicht so sieht.«
»Ist Jola noch so schlank?« fragte ich.
»Dünn wie ein Fotomodell.«
»Dann nehme ich lieber keine Cremeschnitte«, sagte ich. Nicht, daß ich dick war, im Gegenteil, aber unter welchen Opfern!
»Du wirst dich jetzt hinsetzen und lesen«, befahl Hanna. »Wenn du liest, wie wir gehungert haben, wirst du schon Appetit kriegen.«
»Was soll ich? Jetzt die Tagebücher lesen?«
»Ja, wann denn sonst?«
»Na, zu Hause, wenn ich wieder in München bin. Ich möchte mich gern mit Ihnen unterhalten, Frau Barris.« »Ich mich auch mit dir, aber erst hinterher. Erst lesen!« Deswegen hatte sie mich also einen Tag früher als Jola nach Berlin bestellt. Wenn ich das geahnt hätte!
»Es ist noch Schampus in der Flasche. Iß Kuchen. Mach’s dir bequem. Ich muß mich jetzt hinlegen. Um halb fünf kommt die Pediküre – damit ich wieder in meine Schuhe passe. Ich kann schließlich nicht in Pampuschen mit euch ausgehen. Was würde meine Tochter dazu sagen!«
Und so etablierte ich mich resigniert auf Barris’ uraltem Sofa, was gar nicht einfach war. Entweder saß ich auf einer Spirale oder hing durch. Kein Wunder, daß Hannas Bandscheibe protestierte.
»Bis später –.« Sie verließ mich, ich hörte das Schließen ihrer Zimmertür, nur ihr Husten blieb mir erhalten, dank Otto. Er bellte wie ein Kettenraucher am Morgen. Mit allen schrecklichen Nebengeräuschen. Und diesen Vogel sollte ich einmal erben? Mit dem Husten–?
Mit zwei Kissen im Kreuz, die Füße gegen die brüchige Armlehne gestemmt, einen Stoß vergilbter Blätter und Kalikohefte neben mir, versuchte ich mich einzustimmen.
***
Also da waren einmal zwei kleine Mädchen, die hießen Jolande Genthin und Luise Hartwig, beide Einzelkinder. Sie gingen in Berlin-Grunewald in dieselbe Volksschulklasse und wurden Freundinnen.
Luise lebte in einer kultivierten Bürgeratmosphäre, in der alles seine Ordnung hatte, auch die Eltern.
Jolande wuchs bei ihrer Mutter und deren zweitem Mann Olrik Barris in einer Atelierwohnung in derselben Straße auf. Luise war fasziniert von ihrem großzügigen Milieu, das die übrigen Hausbewohner als Bohemewirtschaft bezeichneten. Jolande hingegen begann sich mit zunehmend kritischem Verstand für Barris’ Lebensstil zu schämen, auch für seinen Umgang mit Menschen, die, rassisch oder politisch belastet oder als »entartete Künstler« eingestuft, aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgestoßen waren.
Eines Tages verließ Jola diese Boheme, um bei ihrem Vater, dem Rechtsanwalt Dr. Achim Genthin, und ihren Großeltern in Wannsee zu leben. Wenig später kaufte auch Luises Vater ein Haus in diesem Vorort. Nun wohnten die beiden Mädchen wieder nah beieinander. Das großbürgerliche Genthinsche Milieu zog Luise zwar weniger an als zuvor die Atelierwohnung, aber dafür lag das Haus in einem riesigen Garten direkt am Wannsee, und dieses Leben am See, fern von den Realitäten der Großstadt, war voller Abenteuer und Romantik. Selbst der Zweite Weltkrieg konnte ihm zunächst nichts anhaben.
Damit ist der idyllische Teil von unserer – Jolandes und meiner – Geschichte bereits zu Ende.
Was nun kam, war Kriegseinsatz im Lazarett und in der Munitionsfabrik, war Bombenhagel Tag und Nacht, das Grauen im Feuersturm zerstörter Stadtteile und die Nachricht vom Tod geliebter Menschen.
Das Siegen war längst vorbei, die Fronten zusammengebrochen, das Großdeutsche Reich schrumpfte immer mehr, die Rote Armee befand sich im Anmarsch auf Berlin. Greuelberichte von Flüchtlingen aus dem Osten und die Meldungen aus dem Propagandaministerium legten sich wie Stricke um unseren Hals. Angst nistete sich ein vor diesem Nicht-mehr-entrinnen-Können, das Gefühl, zappelnde Fliegen im Netz zu sein, auf die Spinne wartend. Niemand sprach noch von Zukunft. Verzweifelte Optimisten schrien ungehört gegen die Weltuntergangsstimmung an. Leben bedeutete die winzige Hoffnung auf Überleben irgendwie.
Eines Tages stand Hanna, anzusehen wie ein Gespenst, vor unserer Tür, Barris war seit Beginn des Rußlandfeldzuges Soldat. Nachdem der Zugang zu Hannas Atelierruine verschüttet worden war, hatte sie Nacht für Nacht bei anderen Freunden kampiert und wurde mit ihnen immer wieder ausgebombt. Dann begann der Kampf um die Trümmer von Berlin. Die Russen besetzten einen Stadtteil nach dem andern. Hanna hatte sich zu uns nach Wannsee geflüchtet.
Das Genthinsche Grundstück lag am Ostufer des Sees. Dort erwartete man täglich die Russen. Wir wohnten auf der anderen Seite. Jolas Großmutter sagte sich, bis die Hartwigs Frontgebiet werden, ist der Krieg sicher schon zu Ende, es muß ja endlich mal kapituliert werden – und schickte ihre Enkelin zu uns herüber. So kam Jola wieder mit ihrer Mutter zusammen.
Kurz darauf sprengten deutsche Pioniere die drei Verbindungsbrücken und machten den Ort Wannsee mit dem angrenzenden Dorf Stolpe und den Waldgebieten wieder zu dem, was sie ursprünglich einmal waren: eine Insel. Großmutter Genthin ahnte nicht, daß sie ihre Enkelin auf einen der letzten, heftig umkämpften Stützpunkte geschickt hatte.
***
Unser Haus war mit Soldaten besetzt, unser Keller von Nachbarinnen mit Kleinkindern und Gepäck, weil sie ihren eigenen vier Wänden mißtrauten. Außerdem hatten wir Guido und Rosina, ein italienisches Gärtnerehepaar, aufgenommen.
Während Granateinschläge unseren Garten zerfetzten und Tiefflieger in die Fenster schossen, wütete im Keller der Kleinkrieg unter unserer Einquartierung. Einer beschuldigte keifend den andern, ihn beklaut zu haben. Was auch stimmte. Meine Mutter hielt das nicht länger aus. Sie zog mit mir zu ihrer Nachbarin von gegenüber, Hanna Barris und Jola nahmen wir mit. Frau Bellmanns Keller war geräumiger als unserer, außerdem beherbergte er nur eine ostpreußische Flüchtlingsfamilie namens Kaunap.
Die Bellmannsche Arztpraxis war verwaist, der versprochene Vertreter erst gar nicht erschienen. Viele Ärzte, auch aus den Krankenhäusern und Lazaretten, hatten sich unter Mitnahme von Operationsbestecken, Medikamenten und sogar Krankenwagen in Richtung Westen abgesetzt.
Frau Bellmann, ehemals Sprechstundenhilfe ihres verstorbenen Mannes, bildete Jola und mich im Schnellverfahren zu Laienschwestern aus und lief mit uns in Gefechtspausen auf die Straße, um Verwundete notdürftig zu versorgen.
Die Russen waren inzwischen auf die Insel gedrungen und kämpften im Dorf, am Golfplatz und in den Wäldern.
Eines Tages hörte der Beschuß überhaupt nicht mehr auf. Stalinorgeln heulten durch die Straßen. Unsere Wasservorräte wurden knapp. Der Weg zur nächsten Pumpe kam einem Himmelfahrtskommando gleich.
Unsere Welt bestand nur noch aus wenigen Straßenzügen. Die Schlinge zog sich immer fester zu.
Meine Aufzeichnungen begannen am 2. Mai 1945.
Mitten in der Nacht hörte der Geschützdonner plötzlich auf. Die Stille danach war beklemmend.
Als es hell wurde, sahen wir keinen deutschen Soldaten mehr auf der Straße. Einmal fuhr ein Parlamentär mit weißer Flagge am Haus vorbei zum Hochbunker, um den Befehlsstab zur Übergabe aufzufordern.
Zum Frühstück kochten wir unseren letzten Kaffee mit unserem letzten Wasser auf dem Herd in der Waschküche. Danach ging meine Mutter in ihr Haus hinüber, auf ihren eigenen Kommandostand, wie sie sagte, um schlimmstes Unheil unter ihrer Kellerbesatzung zu verhüten, wenn die Eroberer anrückten. Wie sie sich denn das vorstelle, fragte Frau Bellmann hinter ihr her. Darauf hatte sie nur ein zuversichtliches Achselzucken. Hanna Barris begleitete sie.
Aber wir Mädchen sollten uns auf gar keinen Fall auf der Straße blicken lassen!
Dazu hatten wir sowieso keine Zeit, denn ein Schwerverletzter wurde gerade ins Bellmannsche Sprechzimmer geführt – ein vierschrötiger Mann, der die Hand gegen die rechte Schläfe preßte. Zwischen seinen Fingern spritzte helles Blut wie Wasser aus einem durchlöcherten Schlauch. Frau Bellmann sagte, die Arterie wäre durchschlagen, wir müßten einen Druckverband anlegen, sonst würde er verbluten. Der Mann stöhnte vor Schmerzen, seine Frau, die ihn begleitet hatte, fiel in Ohnmacht, die Russen waren vergessen. Wir drei hatten nur eine Sorge: der Verletzte könnte uns unter den Fingern sterben.
Nachdem wir ihm eine Gummibandage um den Kopf gepreßt hatten, führten wir den Mann auf die Straße. Vor dem Gartentor wartete sein Enkel mit der Schubkarre, die er keinen Augenblick aus den Augen lassen durfte. Schubkarren waren Raritäten.
Als wir den Stöhnenden hineinsetzten und dem Jungen den Weg zum nächsten Krankenhaus beschrieben, kamen Russen mit vorgehaltenen Maschinenpistolen die Straße herauf. Sie fragten nach versteckten Soldaten und Waffen.
Zum erstenmal standen wir den Eroberern gegenüber. Ein sehr unbehagliches Gefühl.
Frau Bellmann scheuchte Jola und mich in den Keller. Als ob ein Keller noch irgendeinen Schutz bieten würde. Außerdem brauchte sie uns im Sprechzimmer, denn ständig wurden Kranke oder Verletzte gebracht.
Die Leute berichteten von vielen hundert Toten. Von grauenvollen Szenen im Wald, wo Flüchtlingstrecks mitten in die erbitterten Kämpfe zwischen Russen und Deutschen geraten waren. Von plündernden Fremdarbeitern und betrunkenen Soldaten. Von den vielen Selbstmördern. Der Ortsgruppenleiter von Wannsee hatte sich, seine Frau und seine vier kleinen Kinder umgebracht.
»Erst machen sie Kinder, jedes Jahr eins, dann verlieren sie die Nerven und bringen sie um. Ein Wahnsinn das«, schimpfte eine Patientin, und eine alte Frau betete: »Herr, erbarm dich ihrer armen Seelchen!« »Sie waren noch nicht kalt, da kamen schon die Plünderer in die Wohnung – auch Deutsche haben mitgemacht.« Ein entfernter Nachbar von uns, ein berühmter Clown, hatte sich mit seiner Frau vergiftet, hieß es. Kolbenschläge an der Sprechzimmertür ließen uns zusammenfahren. Unsere letzte Patientin riß ihr Kleid vom Stuhl und floh, halb angezogen, an einer bewaffneten Kommissarin vorbei ins Freie. Diese war von einer ehemaligen ukrainischen Zwangsarbeiterin im glanzseidenen Nachmittagskleid, Söckchen und Stöckelschuhen begleitet, die uns mit zufriedenem Triumph betrachtete. Sie war nun frei und wir auf der Verliererseite. Keine sogenannten Herrenmenschen mehr, der Willkür und persönlichen Rache jedes einzelnen Siegers ausgeliefert. Nun wurde uns endlich heimgezahlt, was wir andern Völkern angetan hatten – das stand in ihrem Blick.
Die Kommissarin, eine untersetzte Frau von etwa dreißig Jahren mit breiten Wangenknochen und schmalen Lippen, schob uns mit ihrem MG beiseite und ging schweren Schrittes durch das Sprechzimmer, faßte herumliegende Instrumente an, zog Schubfächer auf, roch an Flaschen, baute sich endlich gebieterisch vor Frau Bellmann auf und erteilte Befehle.
Die Ukrainerin hatte hinter dem Schreibtisch Platz genommen und dolmetschte: »Genossin Kommissar schwanger. Kind drei Monat. Weg, aber schnell.«
Wir standen wie vom Donner gerührt. Was sollten wir? Zum erstenmal erlebte ich, daß die resolute Frau Bellmann die Fassung verlor. »Ein Abortus! Ja, so was habe ich noch nie gemacht. Du guter Gott! Das kann ich nicht. Ich bin keine Ärztin, sagen Sie das der Frau Kommissar.« Die beiden berieten sich auf russisch. Dann setzte die Kommissarin den Lauf ihrer Maschinenpistole auf Frau Bellmanns Busen und stieß Drohungen aus.
Während die Dolmetscherin mit einer Tischbronze (tanzende Nymphe) spielte, übersetzte sie genüßlich: »Du lügen. Du nix wollen Kind weg. Genossin Kommissar holen Soldat. Kommen wieder. Machen dir tot. Bum– bum!«
Es war eine groteske Situation. Jola, die meinen Hang zu hysterischen Lachanfällen im grundfalschen Moment kannte, trat mir warnend gegen das Schienbein.
Die beiden zogen ab, die Ukrainerin unter Mitnahme der tanzenden Nymphe.
Frau Bellmann sank heulend auf einen Stuhl. »Jetzt holen sie Verstärkung, dann werde ich erschossen! Ich brauche einen Kaffee!!«
Jola und ich verließen einen Augenblick das gruftkalte Haus, um uns in den Sonnenstrahlen im Vorgarten aufzuwärmen.
Auf der nahen Königstraße hupten Autos, trappelten Hufe, knirschten Panzerketten, dazwischen das Rattern von Motorrädern. Helle, kehlige Stimmen schrien Befehle. In der Ferne gellte ein Pfiff, setzte sich wellenartig über den endlosen Zug fort. Mit einem Ruck stand er still. Aus der Kolonne löste sich ein mit Heu beladener Wagen und bog räderquietschend in unsere Straße ein. Lastwagen mit Soldaten folgten. Fouragewagen, von flink trippelnden Panjepferdchen gezogen. Dahinter gingen angehalftert herrliche Trakehner.
Unsere Hausbewohner kamen gleichzeitig die Straße herauf, sie schleppten überschwappende Wassereimer von der Pumpe im Hof des Schusters.
Ihnen folgte ein hochgewachsener Offizier ins Bellmann- sehe Haus und erkundigte sich in fast fehlerfreiem Deutsch, ob er sich hier waschen und rasieren könnte. »Endlich einer, der einen versteht!« eilte Frau Bellmann in ihrer Not auf ihn zu. Ihre ausgestreckte Begrüßungshand übersah er. »Ich soll erschossen werden, weil ich Ihrer Genossin Kommissar nicht das Kind abgetrieben habe. Ich kann das nicht. Ich bin keine Ärztin. Jetzt holt sie das Vollstreckungskommando!«
»Beruhigen Sie sich«, sagte der Offizier. »Sie wird nicht wiederkommen.«
»Das kann man nicht wissen!«
Ich holte Handtuch und Schüssel aus dem Sprechzimmer, Jola goß vom frischgeholten Pumpenwasser ein. Wir ließen den Offizier allein. Gingen aber nicht fort.
»Ist Hitler wirklich tot?« fragte Frau Bellmann durch die angelehnte Tür.
»Ja.«
»Und Berlin? Finden dort noch Kämpfe statt?«
»Hat heute früh kapituliert«, antwortete er unter Wasserprusten.
»Dann ist der Krieg so gut wie zu Ende?«
»Ja.«
»Und was wird jetzt aus uns?«
Das konnte er ihr auch nicht sagen.
Ein paar Soldaten schwärmten ins Haus auf der Suche nach Schnaps: ein Arzt mußte Spiritus haben. Im Unterhemd, Seifenschaum am Kinn, drängte der Offizier sie zur Tür hinaus. Dann zog er sich an, stellte ein Tütchen mit Zucker auf den Tisch, warf einen nachdenklichen Blick auf Jola und mich und sagte: »Unsere Soldaten haben viel Schnaps in den Häusern gefunden. Sie werden heute das Ende der Kampfhandlungen feiern. Es wäre besser, wenn die jungen Mädchen verschwinden.« Setzte seine Pelzmütze auf und lief federnd die Stufen hinunter zur Straße, die sich zwischen unseren Häusern mittlerweile in einen sonnenbeschienenen, östlichen Dorfplatz verwandelt hatte. Heu und junges Lindengrün bedeckten das Pflaster dort, wo die ausgespannten Pferde standen. Sie reckten ihre Hälse und zupften Blätter aus den Baumkronen oder grasten unseren Steingarten ab, soweit sie über den Zaun reichten. Der Rasen war mit Uniformstücken besät.
Halbnackte, schnauzbärtige ältere Männer - weißhäutig unterhalb der sonnenverbrannten Gesichter – wuschen sich, über Eimer gebeugt. Meine Mutter mußte einem den Rücken schrubben.
»Frau Barris steht in der Küche und kocht Kaffee«, rief sie mir über die Straße zu.
Zwei Männer in lose fallenden grünen Mänteln rissen die Klingelanlage aus der Pforte und freuten sich über die vielen bunten Drähte.
Vor wenigen Stunden noch hatten wir mit dem Leben abgeschlossen, und nun diese Idylle.
»Weißt du eigentlich, was wir für ein unbeschreibliches Glück haben?« sagte Frau Bellmann hinter mir. »Ausgerechnet in unsere Straße hat man den Troß eingewiesen. «
Immer mehr junge Soldaten von der kämpfenden Truppe schlenderten den Damm herauf. Wir erinnerten uns an die Mahnung des Offiziers.
»Am besten, wir verduften«, meinte Jola.
Etwas verloren irrten wir durch das Bellmannsche Haus auf der Suche nach einem Versteck.
Im Gästezimmer trafen wir auf den Flüchtling Kaunap.
Noch gestern maulstarker Kämpe, der jeden zu erschießen drohte, der nicht an den Endsieg glaubte, hatte er sich heute früh ins Bett verkrochen und toter Mann gespielt. Seine Frau – lautlos huschende Hausmaus und geprügelte Untertanin – mußte ihn umsorgen. Am liebsten hätte er sich hinter ihren speckigen, ausgebeulten Röcken versteckt. Dabei brauchten wir ihn so dringend, war er doch der einzige unter uns, der russisch sprach. Nun hatte er sich hierher geschlichen.
Es gab eben keine Männer mehr, auf die wir uns verlassen konnten außer seinem stillen, vierzehnjährigen Sohn Gottfried. Die autoritäre Fuchtel seines Vaters hatte ihn bisher daran gehindert, eine eigene Persönlichkeit zu entfalten. Auf einmal ruhte die Verantwortung für mehrere Frauen und Mädchen auf seinen mickrigen Schultern.
Mit langen Sprüngen kam er die Treppe herauf, hatte Windeln überm Arm wie ein Kellner seine Serviette und brachte ein Stück Kohle mit.
»Sie möchten beide sofort rüberkommen. Und das hier soll’n Sie sich um den Kopf binden.« Er reichte uns die Windeln. Mit der Kohle rußte er unsere Gesichter ein. Gleich darauf erschien Frau Barris, zog uns die Tücher tief ins Gesicht, knöpfte die Kittel zu.
»Was soll der Quatsch?« Jola mochte es nicht, wenn man an ihr herumfingerte.
»Zu euch rüber, Luise, unters Dach.«
Es waren nur wenige Schritte über die Straße zu unserem Haus und die Vorgärten schmal. Unter dem Gejohle junger Soldaten kam uns der Weg wie ein endloser Spießrutenlauf vor. Voran ging Hanna Barris, dann wir zwei Mädchen mit gesenkten Köpfen, zuletzt Gottfried Kaunap mit unserer Habe, Faxen schneidend, um die Aufmerksamkeit von uns abzulenken. Denn trotz blutiger langer Arztkittel und Ruß im Gesicht sahen wir eben doch wie junge Mädchen mit Ruß im Gesicht aus.
Aus unserem Keller krauchten die einquartierten Frauen herauf und sahen uns feindselig an. »Was wollt ihr hier? Haut ab! Ihr zieht bloß die Iwans ins Haus!«
Meine Mutter drückte uns Kissen und Decken in die Hand. »Gottfried«, sagte sie, »steh Schmiere! Wenn einer kommt, dann pfeif!«
»Was soll ich pfeifen, Frau Hartwig?«
»Irgendwas.«
Im ersten Stock lehnte eine Leiter zum Dachboden.
Ich stieg als erste hoch und stieß die verglaste Klappe auf, deren eine Scheibe zerbrochen war, zog Kissen, Mäntel und Decken herauf und meinen Rucksack mit dem Tagebuch. Es folgte Jola. Mit etwas zuviel Schwung. Sie donnerte mit der Stirn gegen einen Dachbalken.
»Frau Hartwig, jetzt muß ich pfeifen«, rief Gottfried von unten.
»Schnell, die Klappe zu!« flüsterte meine Mutter. Durch die kaputte Scheibe sah ich, wie sie die Treppe hinunterging auf die ins Haus polternden Eroberer zu.
»Quartier – hier!« Das war ein Befehl.
»Nix Quartier«, sagte sie, »alles kaputt. Ruski bumbum kaputt. Kommt mit, guckt’s euch an – alles kaputt–« und führte sie durch das zerschossene Haus voller Scherben und Stoffetzen und Schutt und zerbrochener Möbel. »Characho–«, sagte einer, er war schlimmere Unterkünfte gewöhnt. Heute nacht, nach der Waffenstillstandsfeier, wollte er einziehen. Zum Abschied bot er meiner Mutter Zigaretten an – nix ein – swei, drrei, Frau!
Jola und ich versuchten unterdessen, unser »Sittenexil« einzurichten. An seiner höchsten Stelle maß es einen Meter. Sein Holzboden war mit Sand, Kieseln, stinkendem Stroh und einem zehnjährigen Massengrab von Fliegen, Brummern, Wespen und Mücken bedeckt. Tausende von schillernden Insektenflügeln raschelten unter uns wie mürber Taft, sobald wir uns bewegten. An jedem Holzbalken hingen Netze mit zusammengerollten Kreuzspinnen, die – durch unseren Einzug aufgeweckt – in die Flucht huschten. Ich hatte meinen Schuh ausgezogen und hieb hysterisch hinter ihnen her. Jola verrenkte sich indessen beim Ausbreiten unserer Decken.
In der Mittagshitze fühlten wir uns unter dem fast flachen, von Einschüssen zerlöcherten Dach wie unter einem Brennglas. Zudem stank es nach Mäusedreck. Von unten kam ein Pfiff. Auf der steilen Hühnerstiege stand meine Mutter und reichte mir einen Korb mit Kommißbroten und Tee herauf. An den Henkel hatte sie eine Wäscheleine gebunden. Nun besaßen wir einen Speiseaufzug.
»Und wenn wir mal müssen?« fragte Jola.
»Ihr dürft nur runter, wenn die Luft rein ist. Also trinkt nicht soviel!«
***
Die Sonne ging über Potsdam unter, die Dämmerung kam, und mit ihr zog Kühle unters Dach. Das Befehleschreien und Räderrollen auf der Königstraße hatte aufgehört. Die Soldaten hatten Schnaps und in Unterständen zurückgelassene Panzerfäuste und Munition gefunden. Benebelte Köpfe und scharfe Munition ergaben eine wirkungsvolle Waffenstillstandsfeier.
Leider erlebten wir sie nicht im Keller mit, sondern unter einem flachen Dach.
Geschosse zischten über uns hinweg, ihr Einschlag ließ das Haus erbeben. Scheiben klirrten. In der Nähe prasselte ein durch Leuchtmunition entzündetes Haus ungelöscht nieder. Erhellte unser Exil mit flackerndem Rot. Und dann ein trommelfellzerreißender Knall. Krachen. Splittern. Eine stinkende Staubwolke machte uns blind, blockierte das Atmen. Rieselte in Form von Stroh, Kieseln, Holzsplittern und Insektenflügeln auf uns nieder. Als sich der Staub verzogen hatte, sahen wir das klaffende Loch im Dach.
Jolas Schulter hatte ein zerfetzter Balken getroffen. Auf meinem Bauch lag ein altes Wespennest.
Nun war es genug. »Ich will runter«, zischte sie, außer sich vor Panik. Ich auch – und räumte mit zitternden Fingern das Fensterchen vom Einstieg. Hatte schon den Fuß abwärts, stieg im Dunkeln auf die Hand meiner Mutter, die auf der Leiter stand.
»Seid ihr verletzt?« fragte Hanna Barris hinter ihr.
»Wir wollen runter!«
»Ihr bleibt oben. Da–«, meine Mutter reichte mir zwei harte, hohle lederne Halbkugeln. »Sturzhelme. Guido hat sie in einem OT-Lager geklaut. Die setzt ihr auf.« »Nein. Laßt uns runter!«
»Dann nehmen wir die Leiter ab«, drohte Frau Barris. Als wir noch kleine Mädchen waren und im Grunewald nur fünf Minuten voneinander entfernt wohnten, hatte der Kontakt zwischen unseren Müttern aus gelegentlichen Telefonaten, uns Kinder betreffend, bestanden. Sie lebten in zu verschiedenen Welten, um befreundet zu sein. Jetzt funktionierten sie so selbstverständlich miteinander, als ob sie seit Jahren gemeinsam gedacht und gehandelt hätten. Beide Löwenmütter, um ihre Jungen besorgt.
Aber warum sperrten sie uns dann unters Dach zu Kreuzspinnen und lebensgefährlichen Einschüssen?
»Jahrelang hat sich Mami nicht um mich gekümmert, auf einmal diese Bevormundung«, tobte Jola neben mir. »Ach, wär ich doch bei Oma geblieben. In unserm Haus kenne ich genug sichere Verstecke, wo uns keiner finden würde, Luise.«
»Ja«, schnatterte ich, »hier ist es beschissen.«
Wir brachen dennoch nicht aus unserem Exil aus, weil immer mehr Soldatenstiefel im Haus polterten.
Draußen war es plötzlich still. Die Gaudiknallerei hatte aufgehört.
Die Luke im Dach war nun voller Sterne. Wir hörten Pferde purren. Kehliges Lachen. Ein Akkordeon. Dazwischen quäkte ein Grammophon die Arie der Gilda aus »Rigoletto«: Teurer Name, dessen Klang … Betrunkene Stimmen gröhlten mit. Kreischendes Lachen. Verzweifelte Schreie einer Frau, die in Wimmern übergingen. Hilferufe. Das Heulen eines Hundes schleppte sich immer weiter fort.
Kaum war die Rigolettoarie zu Ende, fing sie von neuem an.
Eisige, feuchte Nachtluft ließ uns erstarren. Wir krochen eng aneinander. Als die Kellertür aufging, hörten wir Gröhlen und Vivat-Stalin-Geschrei. Dort feierten die Männer vom Troß mit unserer Einquartierung. Von Hanna Barris wußten wir, wie das vor sich ging, denn sie hatte daran teilnehmen müssen: Trinkspruch auf Stalin, Wodka ex, Glas gegen Wand, ein Stück fetten Speck, nächster Trinkspruch, nächster Wodka, nächstes Glas, nächster Speck. Sie vertrug weder Wodka noch Speck. Guido zeigte ihr, wie man die Prozedur überlebte. Er ging ab und zu in den Garten und steckte den Finger in den Hals. Und dann feierte er weiter. Feierte Stalin als seinen Befreier. Noch vor zwei Monaten war er Gärtner in der italienischen Botschaft gewesen. Konnte sich gar nicht daran erinnern, jemals ein Faschist gewesen zu sein. Jetzt fühlte er sich vor allem als Ausländer und als solcher den Russen ebenbürtiger als den ramponierten Deutschen. Die waren nur akzeptable Bündnispartner der Italiener gewesen, solange sie siegten.
Frau Bellmann war vor einem betrunkenen Soldaten in unser Haus geflohen – durch die Haustür herein und über die Terrasse wieder hinaus. Den Soldaten hatte sie uns dagelassen.
Er torkelte mit einer Blendlaterne durch das stockdunkle Haus, ihr Licht taumelte an den Wänden des Treppenhauses hoch, sprang durch das zerbrochene Glas auf mein Gesicht. Ich warf mich zur Seite. Stroh raschelte.
»Frau–?«
Wir hörten auf zu atmen, als er sich umständlich auf die Leiter zu unserem Versteck begab. Seine nägelbeschlagenen Sohlen rutschten immer wieder von den schmalen Sprossen, aber mit der Ausdauer des Volltrunkenen schaffte er es mühsam höher, stemmte nun die Faust gegen den Einstieg. Ich preßte von oben dagegen, Jola hatte sich auf mich geworfen, um meine Kraft mit ihrem Gewicht zu verdoppeln …
In diesem Augenblick spielte jemand den »Fröhlichen Landmann« auf meines Vaters Flügel, wie ein Kind in der Klavierstunde. Der Betrunkene rutschte mit einem Juchzer von der Stiege, polterte die Treppe abwärts und stürzte sich mit allen zehn Fingern auf die Tasten. Dazu gröhlte er, eine Frauenstimme sang mit.
»Das ist Mami«, erkannte Jola atemlos.
Was fällt Müttern nicht alles ein, um den Feind vom Nest abzulenken!
***
Die Siegesfeier im Keller ist kotzend und schnarchend zusammengebrochen. Aber noch immer plärrt Gilda durch die Nacht. Und dazu das Schreien – wie von einem Tier, das bei lebendigem Leibe geschlachtet wird – ist aber kein Tier, sondern eine Frau – die Stimme muß aus dem Haus neben Bellmanns kommen.
»Wird das nun immer so sein?« fragt Jola verzagt.
Ich möchte wissen, wie spät es ist. Ob die Nacht noch lange dauert?
Wo sind unsere Mütter?
»Wenn das Schreien nicht aufhört...« Ich setze den Sturzhelm auf. Unter ihm klingt es nicht mehr so herzzerreißend schrill. Schaue in die Sterne. Sie funkeln kalt und unbeteiligt …
***
Als ich erwache, schmerzt jeder vereiste Knochen beim Auftauen. Zumindest habe ich so ein Gefühl.
Im ersten Augenblick weiß ich nicht, wo ich bin. Dann sehe ich den blassen Morgenhimmel in der Dachluke. Höre Vogelzwitschern, erst süß und tastend, dann immer kräftiger und jubilierender, als ob gar nichts geschehen wäre.