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WORUM GEHT ES? Amerikas Aufstieg zur Supermacht wird gemeinhin als heroische Geschichte erzählt. Im Mittelpunkt dieses Buches, das der amerikanische Filmregisseur Oliver Stone zusammen mit dem Historiker Peter Kuznick geschrieben hat, stehen die Schattenseiten dieses Aufstiegs: blutige Eroberungskriege, die Kolonisierung Lateinamerikas durch Großkonzerne, der Aufstieg von Großbanken als Kriegsgewinnler, Rassismus und Antisemitismus, der Abwurf von Atombomben ohne militärischen Nutzen, die brutale Kriegführung in Vietnam, Afghanistan und im Irak, die Inszenierung von Militärputschen in Lateinamerika und Afrika, Mord, Folter, Menschenrechtsverletzungen. Ein umfassendes Sündenregister, ein Schwarzbuch Amerika, eine Chronik der Unterdrückung, Ausbeutung und Versklavung. WAS IST BESONDERS? Kompetent und fundiert liefern Stone und Kuznick rechtzeitig zum kommenden Präsidentschaftswahlkampf eine kritische Bilanz der Schattenseiten von Amerikas Aufstieg zur Weltmacht. WER LIEST? • Alle, die Amerikas Rolle als Weltmacht kritisch sehen • Leser der Bücher von Peter Scholl-Latour, George Packer und Michael Moore
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Das Buch
Das 20. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert Amerikas. Sein steiler Aufstieg zur Supermacht wird spätestens seit den Siegen im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg als heroische Geschichte erzählt. Führungsmacht des Westens, Vorkämpfer von Freiheit und Demokratie, stärkste Wirtschaft der Welt - Superlative überall. Doch wie wurden die USA zu dem, was sie heute sind?
Oliver Stone, für seine amerikakritischen Filme mit drei Oscars ausgezeichnet, beleuchtet zusammen mit dem US-Historiker Peter Kuznick die Schattenseiten des Aufstiegs der USA zur Weltmacht: die blutigen Eroberungskriege in Mittelamerika; die Ausbeutung Kubas und der Philippinen nach dem Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898; die wirtschaftliche Kolonisierung Lateinamerikas durch Großkonzerne; der Aufstieg von Großbanken durch Kriegsgewinne im Ersten Weltkrieg; der grassierende Rassismus; der Abwurf der Atombomben ohne militärischen Nutzen; die brutale Kriegführung in Korea, Vietnam, Afghanistan und Irak; die Inszenierung von Militärputschen in Lateinamerika und Afrika; Mord, Folter, Menschenrechtsverletzungen.
Kompetent und fundiert ziehen Stone und Kuznick eine kritische Bilanz der Geschichte Amerikas, die für das Verständnis der Weltmacht unverzichtbar ist.
Die Autoren
Oliver Stone, geboren 1946, zählt zu den renommiertesten Filmregisseuren der USA. Seine Filme, für die er drei Oscars erhielt, widmen sich der amerikanischen Zeitgeschichte, u. a. dem Vietnamkrieg und den Präsidentschaften Kennedys und Nixons. Zur Zeit arbeitet Stone an einem Film über Edward Snowden.
Peter Kuznick, Professor für Neuere Geschichte an der American University, Washington, ist Experte für die amerikanische Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Oliver StonePeter Kuznick
AMERIKASUNGESCHRIEBENEGESCHICHTE
Die Schattenseiten der Weltmacht
Aus dem Amerikanischenvon Thomas Pfeiffer und Enrico Heinemann
Propyläen
Die Originalausgabe erschien 2014unter dem Titel The Concise History Of The United Statesbei Gallery Books, ein Verlag von Simon & Schuster, Inc., New York
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ISBN: 978-3-8437-1170-8
© 2014 Oliver Stone, Peter Kuznick© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Lektorat: Jan Martin OgiermannCovergestaltung: Morian & Bayer-Eynck, CoesfeldTitelillustration: © Showtime Networks Inc. 2012
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Über das Buch und die Autoren
Titelseite
Impressum
Widmung
1 Aufbruch eines Imperiums – von Kuba nach Versailles
Anmerkungen zum Kapitel
2 Zwischen Big Business und ideologischer Versuchung
Anmerkungen zum Kapitel
3 Wie Stalin Hitler bezwang und Amerika ihm dabei half
Anmerkungen zum Kapitel
4 Drei Schicksalsfiguren: Roosevelt, Wallace, Truman
Anmerkungen zum Kapitel
5 Die Bombe – Japans Ende?
Anmerkungen zum Kapitel
6 Ein goldener Moment und bleierne Zeiten
Anmerkungen zum Kapitel
7 Kalte Krieger an der Macht – die Ära Eisenhower
Anmerkungen zum Kapitel
8 Kennedy oder die Lichtgestalt am Abgrund
Anmerkungen zum Kapitel
9 Vietnam: der Bruchpunkt
Anmerkungen zum Kapitel
10 Zwischenzeit und Hochrüstung – von Nixon zu Reagan
Anmerkungen zum Kapitel
11 Vertane Chancen: die Neunziger
Anmerkungen zum Kapitel
12 Kriege beginnen, Kriege beenden – Bush und Obama
Anmerkungen zum Kapitel
Anhang
Danksagung
Bildteil
Bildnachweis
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
Für unsere Kinder – Tara, Michael, Sean, Lexie, Sara und Asmara – und die bessere Welt, die sie und alle Kinder verdient haben.
Aufbruch eines Imperiums – von Kuba nach Versailles
Die Präsidentschaftswahl im Jahr 2000 zwischen George Bush und Al Gore stellte das amerikanische Volk vor die schwierige Entscheidung, zwischen zwei grundverschiedenen Zukunftsvisionen zu wählen. Nur wenige erinnern sich, dass genau hundert Jahre zuvor das amerikanische Volk schon einmal vor einer ähnlichen Wahl stand. Es musste darüber entscheiden, ob die Vereinigten Staaten eine Republik bleiben oder ein Imperium werden sollten.
Für den Amtsinhaber, den republikanischen Präsidenten William McKinley, lag die Zukunft Amerikas im »Freihandel« und im Aufbau eines weltumspannenden Imperiums. Sein Herausforderer, der Demokrat William Jennings Bryan, war dagegen ein überzeugter Antiimperialist. Kaum jemand nahm von dem dritten Kandidaten Notiz – dem Sozialisten Eugene V. Debs. Die sozialistische Bewegung repräsentierte die neue Arbeiterklasse, und für sie bedeutete ein Imperium nur eines: Ausbeutung.
Dem Wahlkampf McKinleys gaben die boomende Wirtschaft und der Sieg über Spanien im Krieg von 1898 Rückenwind. Für ihn war klar: Wollte Amerika überleben, dann musste es expandieren. Bryan, ein Populist aus Nebraska mit dem Beinamen »the Great Commoner«, war ein erklärter Feind der Industriebarone und Banken und zitierte gerne Thomas Jefferson: »Wenn es ein Prinzip gibt, das tief im Verstand eines jeden Amerikaners verwurzelt ist, dann dass wir nichts mit Eroberung zu tun haben sollten.«1
Nachdem sie in Übersee mehrere Kolonien – die Philippinen, Guam, Pago Pago, die Wake- und die Midway-Inseln, Hawaii und Puerto Rico – annektiert und die Kontrolle über Kuba übernommen hatten, waren die Vereinigten Staaten auf dem besten Wege, ihr kostbarstes Geschenk an die Menschheit zu verraten.
Während die meisten Amerikaner glaubten, mit der Ausbreitung über Nordamerika hätte die Nation ihre »Manifest Destiny«, ihre offensichtliche Bestimmung, erfüllt, entwarf William Henry Seward, Außenminister unter Abraham Lincoln wie auch unter Andrew Johnson, eine überaus bombastische Vision von einem amerikanischen Imperium und fasste die Aneignung von Hawaii, Kanada, Alaska, den Jungfern- und den Midway-Inseln sowie Gebieten in der Dominikanischen Republik, Haiti und Kolumbien ins Auge. Sewards Traum sollte zu großen Teilen wahr werden.
Während Seward noch träumte, handelten die Europäer, allen voran Großbritannien, das seinem Weltreich in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Territorien von insgesamt 10,3 Millionen Quadratkilometern einverleibte, eine Fläche deutlich größer als die Vereinigten Staaten. Wie die alten Römer glaubten die Briten, dass es ihre Mission sei, der Menschheit die Zivilisation zu bringen. Frankreich schnappte sich 7,7 Millionen Quadratkilometer und der Nachzügler Deutschland immerhin noch 2,6 Millionen Quadratkilometer. Allein das spanische Weltreich befand sich im Niedergang. 1878 kontrollierten die europäischen Imperien und ihre früheren Kolonien 67 Prozent der Landoberfläche der Erde, 1914 waren es atemberaubende 84 Prozent. Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Europäer 90 Prozent des afrikanischen Kontinents unter sich aufgeteilt, wobei der Löwenanteil auf Belgien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland entfiel.
Die Vereinigten Staaten waren bestrebt, die verlorene Zeit wettzumachen. Obwohl die Amerikaner als ein Volk von Einwanderern der Vorstellung von einem Imperium ablehnend gegenüberstanden, war die Zeit um 1900 auch die Ära der »Robber Barons«, also der skrupellosen Kapitalisten und insbesondere der als die »400« bekannten Elite mit ihren riesigen Ländereien, Privatarmeen und Heerscharen von Arbeitern und Angestellten. Männer wie J. P. Morgan, John D. Rockefeller und William Randolph Hearst hielten eine enorme Macht in Händen. Die kapitalistische Klasse, heimgesucht von den Bildern der revolutionären Arbeiter, die 1871 die Pariser Kommune ausgerufen hatten, beschwor ähnliche Schreckensszenarien herauf, in denen Radikale die USA ins Chaos stürzten. Schon ein knappes halbes Jahrhundert vor der Russischen Revolution von 1917 wurden diese Radikalen oder Kommunarden auch als Kommunisten bezeichnet. Jay Gould, Herr über ein 24000 Kilometer langes Eisenbahnnetz, verkörperte den kapitalistischen Raubritter in seiner schlimmsten Ausprägung. Gould, der sich einmal brüstete, er könne »die eine Hälfte der Arbeiterklasse anheuern, um die andere Hälfte umzubringen«, dürfte der meistgehasste Mann in Amerika gewesen sein.2
Als die »Panik von 1893« am ersten »Schwarzen Freitag« die Wall Street erfasste, begann die bis heute schlimmste Wirtschaftskrise in der US-Geschichte. Im ganzen Land schlossen zahlreiche Stahlwerke, Fabriken, Hochöfen und Minen, vier Millionen Menschen wurden entlassen, und die Arbeitslosigkeit schnellte auf 20 Prozent. Die American Railway Union unter Gewerkschaftsführer Eugene Debs reagierte auf Entlassungen und Lohnkürzungen durch George Pullmans Palace Car Company mit Streiks und legte die Eisenbahnen des Landes lahm. Soldaten wurden auf Seiten der Eisenbahnbarone gegen die Streikenden ausgesandt, Dutzende Arbeiter erschossen und Debs für ein halbes Jahr hinter Gitter gesteckt.
Für die amerikanischen Sozialisten, Gewerkschafter und Reformer gab es keinen Zweifel, dass die zyklischen Krisen des kapitalistischen Systems eine Folge der zu geringen Kaufkraft der Arbeiterklasse waren. Jacob Riis, der in seinen erschütternden Fotografien das Elend der Armen in New York festhielt, schockierte mit seinen Bildern die Nation. Arbeiterführer forderten die Umverteilung des Reichtums im Land, damit die arbeitenden Menschen die Güter kaufen konnten, die sie in den Fabriken und auf den Farmen des Landes produzierten.
Aber die »400« – die amerikanischen Oligarchen – lehnten das als eine bloße Spielart des Sozialismus ab. Stattdessen, sagten sie, könnte es einen größeren Kuchen für alle geben, doch dafür müssten die USA mit anderen Imperien konkurrieren und den Welthandel dominieren, so dass die Ausländer die wachsenden Überschüsse der amerikanischen Wirtschaft abnahmen. Vor allem jenseits der eigenen Grenzen lockte der Profit – in Form von Handel, billiger Arbeit und günstigen Rohstoffen.
Besonders lockte China, der große Preis in diesem Spiel. Wollten die USA diesen gigantischen Markt erschließen, benötigten sie eine moderne, mit Dampf angetriebene Seestreitmacht und Stützpunkte rund um die Welt. Nur so würde man dem Britischen Empire mit seinem wichtigen Hafen Hongkong Paroli bieten können – ganz abgesehen davon, dass auch Russland, Japan, Frankreich und Deutschland mit Macht nach China drängten. Amerikanische Unternehmer forderten den Bau eines Kanals durch Mittelamerika, der helfen sollte, die Tür nach Asien aufzustoßen. In diesem Klima globaler Konkurrenz annektierten die USA1898 Hawaii. Beinahe ein Jahrhundert später entschuldigte sich der US-Kongress in einer Resolution bei den »eingeborenen Hawaiianern« dafür, dass ihnen das Recht auf Selbstbestimmung genommen worden war.
Auf Kuba, nur 150 Kilometer vor Florida gelegen, war ein Aufstand gegen die korrupte spanische Herrschaft ausgebrochen, woraufhin die Spanier einen guten Teil der Bevölkerung in Konzentrationslager sperrten, in denen 95000 Menschen von Krankheiten dahingerafft wurden. Als die Kämpfe an Intensität zunahmen, forderten einflussreiche Bankiers und Unternehmer wie Morgan und Rockefeller, die viele Millionen Dollar auf Kuba investiert hatten, den Präsidenten zum Handeln auf – er sollte ihre Interessen schützen. Als Signal an die Spanier, dass die USA die amerikanischen Interessen zu wahren gedachten, entsandte Präsident McKinley die USS Maine in den Hafen von Havanna. In einer tropisch heißen Nacht im Februar 1898, das Thermometer zeigte über 38 Grad an, explodierte die USS Maine, 261 von 355 Besatzungsmitgliedern kamen ums Leben. Sogleich vermutete man einen spanischen Sabotageakt. Angeführt von Randolph Hearsts New York Journal und Joseph Pulitzers New York World überschlug sich die amerikanische Sensationspresse in Schuldvorwürfen gegen die Spanier und schuf ein Klima, in dem die Forderungen nach Vergeltung immer lauter wurden: »Remember the Maine, To Hell With Spain!« – »Denkt an die Maine, schickt Spanien zur Hölle!« wurde zum populären Schlachtruf.Millionen Amerikaner lasen die Artikel und gewannen die feste Überzeugung, dass Spanien, diese bröckelnde katholische Kolonialmacht, zu jeder Schandtat bereit war, um sein Reich zu bewahren. Als McKinley Spanien den Krieg erklärte, schrieb sich Hearst das auf die Fahne. »Wie gefällt euch der Krieg des Journal?«, fragte er.3
Der Spanisch-Amerikanische Krieg, bei dem viele Amerikaner an Teddy Roosevelts Angriff mit den »Rough Riders« auf den San-Juan-Hügel denken, war nach drei Monaten vorüber. US-Außenminister John Hay sprach von einem »glänzenden kleinen Krieg«. Von knapp 550 Toten auf amerikanischer Seite waren weniger als 400 im Kampf getötet worden, die übrigen waren Krankheiten erlegen. Der 16-jährige Smedley Darlington Butler log über sein Alter, als er sich zu den US-Marines meldete. Butler sollte zu einem der berühmtesten Kriegshelden der USA aufsteigen und im Laufe einer Karriere, welche die ganze Frühphase von Amerikas Aufstieg zur Weltmacht begleitete, gleich zweimal die Medal of Honor, die angesehenste Tapferkeitsauszeichnung für US-Soldaten, verliehen bekommen.
Nach dem Sieg über die Spanier strömten amerikanische Unternehmen auf die Insel, schnappten sich, was sie kriegen konnten, und verwandelten Kuba im Grunde in ein Protektorat. Allein die United Fruit Company sicherte sich knapp 800000 Hektar Land für den Zuckerrohranbau. Bis 1901 hatten sich Bethlehem Steel und andere US-Unternehmen über 80 Prozent der kubanischen Bodenschätze unter den Nagel gerissen.
Über siebzig Jahre später, 1976, kam eine in den Medien wenig beachtete offizielle Untersuchung der U.S. Navy zu dem Schluss, dass der wahrscheinlichste Grund für die »Versenkung« der Maine ein Heizkessel war, der in der tropischen Hitze explodierte, woraufhin der Munitionsbunker ebenfalls in die Luft ging. Wie im Fall des Vietnamkriegs und der beiden Irakkriege griffen die USA, die ihre Reaktion mit falschen geheimdienstlichen Informationen begründeten, zu den Waffen, weil sie den Krieg wollten.
Im Glanz des Sieges sahen sich die Vereinigten Staaten jedoch mit einem neuen, weitaus größeren Problem konfrontiert. Neben Kuba hatte man den Spaniern eine riesige, aber marode Besitzung im Pazifik abgenommen: die Philippinen, die als idealer Zwischenstopp für Schiffe auf dem Weg nach China galten. Wie bei der Invasion im Irak 2003 waren die Kämpfe zunächst erfolgreich verlaufen; im Mai 1898 zerstörte Kommodore George Dewey in der Manila Bay die spanische Flotte, was ein Antiimperialist mit den Worten kommentierte: »Dewey hat Manila unter Verlust eines Mannes und all unserer Prinzipien eingenommen.«4
Die Anti-Imperialist League, 1898 in Boston gegründet, bemühte sich, die Annexion der Philippinen und Puerto Ricos durch die USA zu verhindern. Zu ihren Mitgliedern zählte auch Mark Twain, der die berühmte Frage stellte: »Sollen wir weiterhin unsere Zivilisation Völkern weitergeben, die im Dunkeln sitzen, oder sollen wir diesen armen Kreaturen nicht lieber eine Ruhepause gönnen?«5 Präsident McKinley gab Ersterem den Vorzug und entschied sich für eine Annexion. »Uns blieb keine andere Wahl«, verkündete er, »als sie alle aufzunehmen, als die Filipinos zu erziehen, sie emporzuheben und zu zivilisieren und zu christianisieren und ihnen, als Mitmenschen, für die Christus auch starb, dank Gottes Gnade das Beste angedeihen zu lassen.«6
Doch McKinley stieß in seinem Kreuzzug auf ein gewichtiges Problem: die Filipinos selbst. Angeführt von Emilio Aguinaldo hatten die Bewohner der Philippinen 1899 nach der Befreiung vom spanischen Joch ihre eigene Republik ausgerufen und, nicht anders als die kubanischen Rebellen, erwartet, dass die USA sie anerkannten. Nun ging den Filipinos auf, dass sie ihren Alliierten falsch eingeschätzt hatten – und setzten sich zur Wehr. Als nach Protesten tote Amerikaner auf den Straßen von Manila lagen, tobte die amerikanische Sensationspresse und forderte Rache an den Barbaren. Folter, einschließlich Waterboarding, wurde zur täglichen Übung. Die Aufständischen, beziehungsweise »unsere kleinen braunen Brüder«, wie William Howard Taft, Generalgouverneur der Philippinen, sie nannte, wurden mit Salzwasser vollgepumpt, bis sie »wie Kröten« aufquollen, um sie »zum Reden zu bringen«.7 Ein US-Soldat schrieb nach Hause: »Jeder von uns wollte ›Nigger‹ killen. […] Auf Menschen schießen ist um Welten besser als die Kaninchenjagd.«8 Es war ein Krieg der Gräueltaten. Als amerikanische Truppen auf der Insel Samar in einen Hinterhalt der Rebellen gerieten, befahl Oberst Jacob Smith seinen Männern, alle Bewohner zu töten, die älter als zehn Jahre alt waren, und die Insel in »eine heulende Wildnis« zu verwandeln.9
Aus dem Guerillakrieg, der dreieinhalb Jahre andauerte, kehrten über 4000 amerikanische Soldaten nicht nach Hause zurück. 20000 philippinische Rebellen wurden getötet, und bis zu 200000 Zivilisten verloren ihr Leben, viele von ihnen durch die Cholera. Wegen der verzerrten Berichterstattung in der amerikanischen Presse trösteten sich viele Amerikaner mit dem Gedanken, man habe einem rückständigen Volk die Zivilisation gebracht.
Der Krieg auf den Philippinen ließ die amerikanische Gesellschaft abstumpfen. Die Doktrin der angelsächsischen Überlegenheit, mit der das noch junge imperiale Projekt gerechtfertigt wurde, vergiftete auch zu Hause die gesellschaftlichen Verhältnisse und gab den Rassisten in den Südstaaten Auftrieb, die ihren Feldzug zur Umkehrung der Folgen des amerikanischen Bürgerkriegs intensivierten und neue, sogenannte Jim-Crow-Gesetze verabschiedeten, die die Vorherrschaft der Weißen zementierten und die Rassentrennung zwischen Weißen und Afroamerikanern vorschrieben.
In China mündete die Sehnsucht nach Unabhängigkeit in den Boxer-Aufstand von 1898 bis 1901. Nationalistisch gesinnte Chinesen erhoben sich, ermordeten Missionare und kündigten an, alle ausländischen Invasoren aus dem Land zu werfen. McKinley schickte 5000US-Soldaten, die den Europäern und Japanern bei der Niederschlagung der Rebellen Beistand leisteten. Als Angehöriger des Expeditionskorps führte Leutnant Smedley Butler seine Marineinfanteristen nach Peking, wo er mit eigenen Augen sah, wie die siegreichen Europäer mit den Chinesen verfuhren. Smedley war angewidert.
Wie 2008 waren auch während der Präsidentschaftskampagne des Jahres 1900 amerikanische Truppen in zahlreichen Ländern im Einsatz – damals in China, auf Kuba und auf den Philippinen. Dennoch schlug McKinley, der sich im Ruhm des Sieges über Spanien sonnte, Bryan noch deutlicher, als ihm das 1896 gelungen war. Eugene Debs, der Sozialist, brachte es nicht einmal auf ein Prozent. Die Amerikaner hatten sich klar für McKinleys Vision von Handel und Imperium entschieden.
Auf dem Höhepunkt seiner Popularität wurde McKinley 1901 von einem Anarchisten ermordet, der als Grund für das Attentat die amerikanischen Gräueltaten auf den Philippinen nannte. Der neue Präsident, Theodore Roosevelt, war ein wohl noch radikalerer Imperialist und führte McKinleys expansionistische Politik fort. Er war es dann auch, der eine Revolution in der kolumbianischen Provinz Panama orchestrierte und anschließend einen Vertrag mit der neugeschaffenen panamaischen Regierung über die Verpachtung der Kanalzone schloss. Dieser räumte den USA dieselben Interventionsrechte ein, die sie schon Kuba aufgezwungen hatten. Der Kanal wurde unter großen Schwierigkeiten gebaut und schließlich 1914 in Betrieb genommen.
In den folgenden Jahren wurden US-Marines wiederholt zum Schutz amerikanischer Unternehmensinteressen in, wie man sie jetzt nannte, »Bananenrepubliken« geschickt, die als rückständig galten und angeblich die strenge Herrschaft von gegebenenfalls brutalen Diktatoren brauchten, die in der Lage waren, die Interessen der amerikanischen Unternehmen gegen aufmüpfige Arbeiter und Bauern durchzusetzen. Kuba. Honduras. Die Dominikanische Republik. Haiti. Panama. Guatemala. Mexiko. Die amerikanische Besatzung dauerte oft Jahre, manchmal Jahrzehnte.
Niemand verfügte über mehr persönliche Erfahrung mit der Intervention in anderen Ländern als Smedley Butler, inzwischen zum Oberst im Marine Corps aufgestiegen. Smedley wurde von seinen Männern bewundert, die ihn nach einer in Honduras erlittenen Verwundung »Old Gimlet Eye« (»Das stechende Auge«) nannten. Am Ende seiner langen und hochdekorierten Laufbahn ließ er sein Leben in Uniform in einem Buch Revue passieren. In diesem Buch, War is a Racket, schrieb Smedley:
Ich habe als Mitglied der beweglichsten Militäreinheit dieses Landes, des Marine Corps, 33 Jahre und vier Monate im aktiven Militärdienst verbracht. Ich habe in allen Offiziersdienstgraden gedient, vom Leutnant bis zum Generalmajor. Und in diesen Jahren war ich den Großteil meiner Zeit ein erstklassiger Muskelmann für das Big Business, für die Wall Street und für die Banken. Kurz, ich war ein Gauner, ein Gangster für den Kapitalismus. Damals vermutete ich nur, dass ich Teil einer Verbrecherbande war. Heute bin ich mir sicher. Wie alle Angehörigen des Militärdienstes machte ich mir niemals eigene Gedanken, bis ich den Dienst quittierte. […] Ich habe geholfen, Mexiko, insbesondere Tampico, für die amerikanischen Ölinteressen zu sichern. Ich habe geholfen, Haiti und Kuba so zu unterdrücken, dass die Jungs von der National City Bank dort ihre Gewinne abschöpfen konnten. Ich habe bei der Vergewaltigung von einem halben Dutzend mittelamerikanischer Republiken zum Nutzen der Wall Street mitgemacht. Die Liste der Verbrechen ist lang. Von 1909 bis 1912 habe ich geholfen, Nicaragua für das internationale Bankhaus Brown Brothers zu säubern. 1916 habe ich den amerikanischen Zuckerbaronen die Dominikanische Republik serviert. In China habe ich mit dafür gesorgt, dass Standard Oil ungestört seinen Geschäften nachgehen konnte. In diesen Jahren hatte ich, wie die Jungs in den Hinterzimmern sagen würden, eine prächtige Gangsterbande am Laufen. Wenn ich so zurückblicke, glaube ich, dass ich Al Capone ein paar Tipps hätte geben können. Er schaffte es gerade einmal, mit seiner Bande in drei Bezirken zu operieren. Ich operierte auf drei Kontinenten.10
Seine Offenheit sollte Butler teuer zu stehen zu kommen, als er bei der Beförderung zum Commandant des Marine Corps übergangen wurde, aus dem er 1931 im Streit ausschied.
Wenn der Krieg »organisiertes Verbrechen« ist, wie Butler sagte, dann gehörte der Erste Weltkrieg zu den dunkelsten Episoden des organisierten Verbrechens in der Geschichte der Menschheit. Zu den weniger bekannten Fakten der Geschichte gehört, dass am Vorabend des Ersten Weltkriegs die Banken des Britischen Empire in der Krise steckten. Das britische Wirtschaftsmodell, das darauf hinauslief, im Interesse des eigenen Überlebens die Volkswirtschaften immer größerer Teile des Erdballs auszubeuten, statt in die heimische Industrie zu investieren, stand vor dem Aus. Immer neue Wirtschaftskrisen kamen und gingen.
Im Gegensatz dazu führte das neu vereinigte Deutsche Reich die kontinentaleuropäischen Länder an in der Wende vom Freihandel hin zum Protektionismus, der das Wachstum einer einheimischen, weniger von Kolonisierung abhängigen Industriebasis förderte. Deutschland war stark in der Produktion von Stahl, Strom, chemischen Erzeugnissen, Eisen, Kohle und Textilen. Seine Banken und Eisenbahnen wuchsen, und im Kampf um Öl, den neuen, strategisch wichtigen Treibstoff moderner Seestreitkräfte, schloss die deutsche Handelsflotte rasch zur britischen auf. Großbritannien, inzwischen stark von Ölimporten aus den USA und Russland abhängig, suchte verzweifelt nach neuen Vorkommen im Nahen Osten, der zum wankenden Osmanischen Reich gehörte. Als die mit dem Osmanischen Reich verbündeten Deutschen dann den Bau einer Eisenbahnlinie von Bagdad nach Berlin in Angriff nahmen, um ihrerseits Zugriff auf das Öl zu bekommen, war man in London äußerst beunruhigt. Die Interessen im benachbarten Ägypten und in Indien waren bedroht. Doch schwere Unruhen auf dem Balkan, insbesondere in Serbien, trugen dazu bei, die Fertigstellung der Bahnverbindung zwischen Berlin und Bagdad zu verhindern.
Tatsächlich war es ein eher geringfügiger Zwischenfall mit Serbien im Brennpunkt, der schließlich die in den Ersten Weltkrieg mündende Ereigniskette in Gang setzte, als Erzherzog Franz Ferdinand, Thronerbe von Österreich-Ungarn, im glutheißen Sommer 1914 in Sarajewo einem Attentat zum Opfer fiel. Die Situation spitzte sich rasch zu, und eine komplizierte Gemengelage von Bündnissen zwischen konkurrierenden Wirtschaftsmächten führte zum bis dahin größten Krieg in der Geschichte.
Der Krieg war von Anfang bis Ende ein Gemetzel unfassbaren Ausmaßes. In der Marneschlacht Anfang September 1914 wurden jeweils eine viertel Million Franzosen und Deutsche verwundet oder getötet. Der Krieg dauerte länger, als selbst die größten Pessimisten erwartet hatten. An einem einzigen Tag an der Somme zählten allein die Briten 60000 Verwundete und Gefallene, und in der Schlacht um Verdun 1916 beliefen sich die Verluste der Deutschen und Franzosen auf insgesamt rund 700000 Tote und Verwundete.
Die Franzosen, die ihre Soldaten immer wieder gegen das Feuer der deutschen Maschinengewehre und Artillerie anstürmen ließen, opferten am Ende zehn Prozent der aktiven männlichen Bevölkerung. Nach einem abgebrochenen Versuch an der Ostfront bei Bolimów setzten die Deutschen erstmals im April 1915 in der zweiten Flandernschlacht Giftgas ein, das über eine Breite von sechs Kilometern die französischen Stellungen einnebelte. Das Gas trieb die französischen Soldaten, so ein Bericht in der Washington Post, in den Wahnsinn oder ließ sie elendig ersticken, ihre Körper wurden schwarz, grün und gelb verfärbt. Die Briten übten im September 1915 bei Loos mit einem Giftgasangriff Vergeltung, doch dann drehte der Wind und drückte das Gas in die britischen Stellungen, so dass bei dem Angriff mehr britische als deutsche Soldaten ums Leben kamen. 1917 setzten die Deutschen, ebenfalls in Flandern, das noch stärkere Senfgas gegen die Briten ein. Der Schriftsteller Henry James schrieb: »Der Absturz der Zivilisation in diesen Abgrund aus Blut und Düsternis verrät vollständig das ganze lange Zeitalter, in dem wir geglaubt hatten, die Welt würde nach und nach zu einer besseren werden.«11
Woodrow Wilson verkörperte Henry James’ Vorkriegsideal von Hoffnung und Zivilisation. 1912 erstmals zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt, hegte er wie die meisten Amerikaner Sympathien für die Alliierten (Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan und Russland) und gegen die Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn und die Türkei), lehnte aber einen Kriegseintritt ab und begründete das mit den Worten: »Wir müssen neutral bleiben. Denn andernfalls würden die vielen Völker, aus denen wir bestehen, gegeneinander Krieg führen.«121916 wurde Wilson mit dem Slogan »Er hat uns aus dem Krieg herausgehalten« erneut ins Weiße Haus gewählt, vollzog aber kurz darauf einen radikalen Kurswechsel.
Wilson war ein interessanter Mann. Er war Präsident der Princeton University und Gouverneur von New Jersey gewesen. Väter- wie mütterlicherseits ein Abkömmling presbyterianischer Prediger, legte er eine ausgeprägte moralische Haltung und eine gelegentlich selbstgerechte Unbeweglichkeit an den Tag. Er teilte die Auffassung von einer missionarischen Rolle Amerikas in der Welt und glaubte an den Export der Demokratie – auch in Länder, die auf diese Segnung gerne verzichtet hätten. Außerdem teilte er die Überzeugung seiner Südstaaten-Vorfahren von der Überlegenheit der weißen Rasse und führte in Bundesbehörden und Streitkräften wieder die Rassentrennung ein. Als eine Delegation von Afroamerikanern deswegen bei ihm vorstellig wurde, erwiderte er: »Die Trennung der Rassen ist keine Demütigung, sondern eine Wohltat.«13
Großbritannien, das im 19. Jahrhundert mit seiner überlegenen Seestreitmacht den Atlantik beherrscht hatte, verhängte eine Seeblockade über Nordeuropa. Deutschland schlug mit einem höchst wirksamen U-Boot-Krieg zurück, der die Machtverhältnisse auf hoher See zu kippen drohte. Der alte Antiimperialist William Jennings Bryan, nun Außenminister unter Wilson, versuchte im Krieg die amerikanische Neutralität zu wahren, doch Wilson lehnte seine Bemühungen ab, US-Bürgern das Reisen auf Schiffen kriegführender Nationen zu verbieten. Im Mai 1915 versenkte ein deutsches U-Boot den britischen Liniendampfer Lusitania, etwa 1200 Menschen starben, darunter 128 Amerikaner. Ein Schock. Rufe wurden laut, Amerika solle in den Krieg eintreten. Doch im Widerspruch zu anfänglichen Dementis kam heraus, dass das Schiff entgegen der Neutralitätsbestimmungen eine große Ladung Waffen für Großbritannien an Bord gehabt hatte.
Bryan forderte Wilson auf, sowohl die britische Seeblockade gegen Deutschland wie auch den deutschen Angriff zu verurteilen, die für ihn die Rechte der neutralen Länder beschnitten. Als Wilson sich weigerte, trat Bryan, der fürchtete, dass Wilson sich auf einen Kriegseintritt zubewegte, aus Protest zurück. Bryans Furcht war begründet. Wilson gelangte allmählich zu der Überzeugung, dass die USA, sollten sie nicht in den Krieg eintreten, bei der Gestaltung der Nachkriegsordnung außen vor bleiben würden.
Im Januar 1917 redete Wilson als erster Präsident seit George Washington hochoffiziell vor dem Senat. Er rief auf zu einem »Frieden ohne Sieg«, auf Grundlage der amerikanischen Prinzipien von Selbstbestimmung, Freiheit der Meere und einer offenen Welt ohne einschnürende Bündnisse. Das Herzstück einer solchen Welt sollte ein Völkerbund zur Durchsetzung des Friedens sein. Wilsons Idealismus war aber verdächtig, weil seine Politik im Widerspruch zu seinen hehren Prinzipien stand. Die amerikanische Neutralität in diesem Krieg war denn auch mehr prinzipieller als praktischer Natur.
J. P. Morgan und Rockefeller von Standard Oil waren seit dem Bürgerkrieg die beiden Titanen der amerikanischen Finanzwelt. Morgan starb 1913, aber sein Sohn J. P. Morgan jr. fungierte von 1915 bis zum amerikanischen Kriegseintritt 1917 als Bankier der USA für Großbritannien. Anfangs hatte die US-Regierung amerikanischen Banken die Vergabe von Krediten an kriegführende Nationen verweigert, da diese die Neutralität Amerikas untergrüben. Doch dann, im September 1915, schlug Wilson Bryans Rat in den Wind und vollzog eine Kehrtwende. Noch im selben Monat legte Morgan ein Darlehen über 500 Millionen US-Dollar für Großbritannien und Frankreich auf. 1917 hatte das britische War Office bei Morgan und anderen Wall-Street-Banken knapp 2,5 Milliarden US-Dollar an Darlehen aufgenommen. An Deutschland waren nur 27 Millionen US-Dollar geflossen. 1919 schuldete Großbritannien den Vereinigten Staaten die atemberaubende Summe von 4,7 Milliarden US-Dollar – 61 Milliarden nach heutigem Wert. Morgan war zudem der exklusive Einkäufer für das Britische Empire in den USA geworden und tätigte Order über rund 20 Milliarden US-Dollar, wobei er zwei Prozent des Warenwerts als Kommission einstrich und Geschäftsfreunde wie die Besitzer von Du Pont Chemical und Remington Arms begünstigte.
Der Sozialist Eugene Debs hatte die Arbeiter immer wieder gedrängt, sich gegen den Krieg zu stellen, und gesagt: »Lasst die Kapitalisten selbst kämpfen und ihre eigenen Leute opfern, und es wird nie wieder einen Krieg auf dieser Erde geben.«14 Ob aus finanziellen Gründen oder aus Idealismus, mit den Worten »Die Welt muss ein sicherer Ort für die Demokratie werden« forderte Wilson im April 1917 vom Kongress eine Kriegserklärung gegen Deutschland. Sechs Senatoren stimmten dagegen, darunter Robert La Follette aus Wisconsin, sowie fünfzig Abgeordnete im Repräsentantenhaus einschließlich Jeannette Rankin aus Montana, die als erste Frau in der Geschichte in den Kongress gewählt wurde. Gegner griffen Wilson als Handlager der Wall Street an. »Wir setzen ein Dollar-Zeichen auf die amerikanische Flagge«, warf ihm Senator George Norris aus Nebraska vor.
Der Widerstand war heftig, aber Wilson setzte sich durch. Die Regierung war zuversichtlich, eine Million Freiwillige rekrutieren zu können, doch die Berichte von den Schrecken des Grabenkriegs dämpften den Enthusiasmus, und als sich nach sechs Wochen gerade einmal 73000 Männer zum Militär gemeldet hatten, führte der Kongress kurzerhand die Wehrpflicht ein.
Anfang 1918 sah es so aus, als könnten die Mittelmächte den Krieg tatsächlich gewinnen und die Alliierten besiegen – und den US-Banken gewaltige Verluste bescheren. Die Amerikaner kauften massenhaft »Liberty Bonds«, Kriegsanleihen für die Freiheit, und viele der führenden Progressiven des Landes – unter ihnen John Dewey und Walter Lippmann – schlugen sich auf Wilsons Seite. Es waren Republikaner aus dem Mittleren Westen wie La Follette und Norris, die wussten, dass der Krieg echten inneren Reformen das Totenglöckchen läutete. Der Kongress bestätigte die Befürchtungen, als er einige der repressivsten Gesetze in der Geschichte der Nation erließ: Das Spionagegesetz von 1917 und das Volksverhetzungsgesetz von 1918 beschränkten die Meinungsfreiheit und schufen ein Klima der Intoleranz gegenüber jeglicher abweichenden Meinung.
An den Universitäten wurden Professoren, die gegen den Krieg waren, gefeuert oder eingeschüchtert. Hunderte wurden verhaftet, weil sie öffentlich gegen den Krieg Stellung bezogen, unter anderem der Vorsitzende der Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW), »Big Bill« Haywood. Eugene Debs, der wiederholt öffentlich gegen den Krieg protestierte und schließlich im Juni 1918 verhaftet wurde, sagte: »Eroberung und Plünderung waren in der gesamten Geschichte die Gründe für Kriege, und das ist das Wesen des Kriegs. […] Immer schon hat die Klasse der Herrschenden Kriege erklärt; und immer schon hat die Klasse der Untertanen die Schlachten geschlagen.«15 Vor seiner Verurteilung wandte sich Debs mit eloquenten Worten an das Gericht: »Euer Ehren, vor Jahren erkannte ich meine Verwandtschaft mit allen lebenden Wesen und kam zu dem Schluss, dass ich kein bisschen besser als der geringste Mensch auf Erden bin. Ich sagte damals, und ich sage es heute, solange es eine Unterschicht gibt, gehöre ich ihr an; solange es ein verbrecherisches Element gibt, gehöre ich dazu; solange ein Mensch im Gefängnis sitzt, bin ich nicht frei.«16 Der Richter verurteilte Debs zu zehn Jahren Gefängnis. Drei davon saß er ab, von 1919 bis 1921.
Mit Wilsons Erlaubnis zerschlug das Justizministerium den IWW, genannt die Wobblies. Während Amerikaner zu den Klängen des Hits »Over There« in den Krieg marschierten, antworteten die Wobblies mit einer Parodie auf »Onward Christian Soldiers«, die sie »Christians at War« nannten und die mit der Zeile endete: »Die Geschichte wird von euch sagen: ›Dieser Haufen gottverdammter Idioten‹.«17165IWW-Funktionäre wurden wegen Verschwörung zur Behinderung der Einberufung und der Anstiftung zur Fahnenflucht angeklagt. Big Bill Haywood setzte sich ins revolutionäre Russland ab, viele andere folgten ihm.
Deutschamerikaner wurden mit besonderer Feindseligkeit ins Visier genommen. Schulen, von denen viele von ihren Lehrern neuerdings Loyalitätsschwüre verlangten, strichen Deutsch aus dem Lehrplan und Orchesterstücke von deutschen Komponisten aus ihrem Repertoire. Genauso wie »French Fries« – Pommes frites – später aufgrund der französischen Opposition gegen die Invasion im Irak 2003 von erbosten Fremdenhassern in »Freedom Fries« umbenannt werden sollten, wurden Hamburger damals in »Liberty Sandwiches« und Sauerkraut in »Liberty Cabbage« umgetauft. Die »German Measles« – Röteln – wurden zu »Liberty Measles« und Deutsche Schäferhunde zu »Police Dogs«.
Die Kriegsjahre sollten ein beispielloses Ausmaß an heimlicher Zusammenarbeit zwischen Großunternehmen und der Regierung bringen. Es ging darum, die Wirtschaft zu stabilisieren, den freien Wettbewerb nicht außer Kontrolle geraten zu lassen und die Profite der gelegentlich als »Händler des Todes« charakterisierten Rüstungskonzerne abzusichern.
Im Frühsommer 1918, über ein Jahr nach dem Kriegseintritt der USA und ein halbes Jahr vor Kriegsende, griffen schließlich die amerikanischen Soldaten auf französischem Boden erstmals massiv in die Kämpfe ein und halfen den bedrängten französischen Streitkräften an der Marne das Kriegsglück zu wenden. Mit ihrer Truppenstärke und ihrer industriellen Macht hatte der Auftritt der USA auf der Bühne des Krieges einen enormen psychologischen Effekt und demoralisierte die Deutschen, die schließlich die Waffen streckten.
Der lange, brutale Krieg ging am 11. November 1918 zu Ende. Die Verluste waren immens. Von den zwei Millionen amerikanischen Soldaten, die in Frankreich ankamen, fielen über 116000, weitere 204000 wurden verwundet. Die Verluste der Europäer übertrafen die aller früheren Kriege – knapp zehn Millionen Soldaten und zwischen acht und zehn Millionen Zivilisten starben, Letztere häufig an Krankheiten oder Hunger.
Die Überlebenden fanden sich in einer neuen Weltordnung wieder. Großbritannien war ebenso wie Frankreich stark geschwächt, das Deutsche Reich kollabiert. Das Ende des Habsburgerreiches nach vier Jahrhunderten mündete in die chaotische Neuordnung Osteuropas. Und auch das riesige polyglotte Osmanische Reich, in dem 600 Jahre lang Araber, Türken, Kurden und Armenier, Muslime, Christen und Juden zusammengelebt hatten, fiel in sich zusammen.
In Russland übernahm eine mysteriöse Gruppe von Revolutionären, die sich als Bolschewiki bezeichneten und Brot, Land und Frieden verhießen, im Oktober 1917 die Macht in der vormaligen Hauptstadt von Zar Nikolaus II. Dieser hatte im Gemetzel des Ersten Weltkriegs die russische Armee und mir ihr das Vertrauen sowohl der Soldaten als auch der Arbeiter verloren, die von der Brutalität dieses Kriegs genug hatten. Die Bolschewiki waren inspiriert von Karl Marx, einem deutsch-jüdischen Intellektuellen, der für die soziale und wirtschaftliche Gleichberechtigung aller Menschen eintrat. Und sie machten sich sofort daran, die russische Gesellschaft von Grund auf zu reorganisieren – sie verstaatlichten die Banken, enteigneten Großgrundbesitzer und verteilten das Land an die Bauern, unterstellten Fabriken der Kontrolle der Arbeiter und konfiszierten den Besitz der Kirche.
Im März 1918, acht Monate vor Ende des Kriegs, schloss Bolschewiken-Führer Wladimir Lenin mit Deutschland den Friedensvertrag von Brest-Litowsk und zog die russischen Truppen aus dem Krieg ab. Woodrow Wilson und die Alliierten tobten. Die Bolschewiki gelobten, das kapitalistische System mitsamt dem Imperialismus zu zerschlagen und auf den Scheiterhaufen der Geschichte zu werfen. Sie kündigten – unfassbar – die Weltrevolution an, und in Budapest, München und Berlin kam es zu Aufständen. Andere europäische Länder – Belgien, Großbritannien und Frankreich – erzitterten. Seit der Französischen Revolution rund 125 Jahre zuvor war Europa nicht mehr derartig in seinen Grundfesten erschüttert und verändert worden. Inspiriert von der Russischen Revolution, erfasste eine Welle der Hoffnung kolonisierte und unterdrückte Völker auf sechs Kontinenten.
In Moskau plünderten Lenins Rote Garden das alte Außenministerium und veröffentlichen, was sie dort fanden: ein Geheimabkommen zwischen den europäischen Alliierten, das die Nachkriegslandkarte im Nahen Osten in exklusive Interessensphären aufteilte. Nicht anders als nach der Veröffentlichung diplomatischer Dokumente durch Wikileaks 2010 waren die Alliierten empört über diesen Verstoß gegen das traditionelle diplomatische Protokoll, der Woodrow Wilsons hehren Aufruf zur »Selbstbestimmung« der Völker nach dem Krieg als bloßes Lippenbekenntnis entlarvte. Hielt Wilson auch wenig von Lenins Vorgehen, so war er doch empört über das, worauf sich Briten und Franzosen insgeheim verständigt hatten. Dennoch schickte er amerikanische Truppen nach Europa, um für Frankreich und Großbritannien zu kämpfen.
Die konservative Gegenrevolution in Russland war massiv. Aus allen Richtungen griffen verschiedene Armeen die Bolschewiki an – zarentreue Russen und Kosaken, die Tschechoslowakische Legion, Serben, Griechen, Polen im Westen, die Franzosen in der Ukraine und rund 70000 Japaner im Fernen Osten. Schätzungsweise 40000 britische Soldaten wurden nach Russland entsandt, ein Teil von ihnen wurde im Kaukasus zum Schutz der Ölfelder von Baku stationiert. Winston Churchill, der einflussreiche ehemalige Erste Lord der Admiralität, forderte, man müsse »den Bolschewismus in der Wiege erwürgen«. In dieser Situation stampfte Lenins Co-Revolutionsführer Leo Trotzki mit rabiaten Mitteln eine Rote Armee von rund fünf Millionen Mann aus dem Boden. Obwohl 1920 die Kämpfe im Großen und Ganzen vorüber sein sollten, hielten sich kleinere Widerstandsherde bis 1923. In einer Vorwegnahme dessen, was rund sechzig Jahre später kommen sollte, dauerte der muslimische Widerstand in Zentralasien bis in die 1930er Jahre hinein an.
Um den Konterrevolutionären ihre wichtigste Symbolfigur zu nehmen, ordnete Lenin im Juli 1918 und in radikaler Abkehr von den Gepflogenheiten Vorkriegseuropas die Exekution des Zaren und seiner Familie an. Die ins Landesinnere exilierten Romanows wurden erschossen und brutal mit Bajonetten erstochen. Lenins Geheimpolizei, die Tscheka, schaltete viele der noch verbliebenen Gegner der Bolschewiken aus. Schauergeschichten über den »Roten Terror«, häufig maßlos übertrieben, gelangten nach Westen. Und als Wilson es gestattete, dass amerikanische Truppen bis 1920 in Russland blieben, vergiftete das die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen von Beginn an. Die USA sollten Sowjetrussland erst 1933 nach der Wahl von Franklin D. Roosevelt zum Präsidenten anerkennen.
Als Wilson im Dezember 1918 zur Pariser Friedenskonferenz in Europa eintraf, wurde er von begeisterten Menschenmengen empfangen. In Paris jubelten ihm zwei Millionen Menschen zu. In Rom wurden bei seiner Ankunft die Straßen nach antiker Tradition mit goldenem Sand bestreut und Wilson von den Italienern zum »Friedensgott« ausgerufen.
Am 12. Januar 1919 kamen in Paris 27 Nationen zusammen. Wilson war der Star der Konferenz. Die Welt sollte neu geordnet werden. Wilson verstand sich selbst als das »persönliche Instrument Gottes« und die Friedenskonferenz als den krönenden Moment seiner göttlichen Mission. Es war in der Tat sein glorreichster Moment, aber nicht anders als Alexander der Große in Babylon, Cäsar in Rom und Napoleon an den Grenzen Europas hatte er den Zenit seines Erfolgs überschritten.
Entlang der Linien der französischen Revolutionskriege ein Jahrhundert zuvor interpretierte Wilson den Ersten Weltkrieg ideologisch neu und verkündete, dass dieser Krieg die Menschheit verändern und alle Kriege beenden würde. In einer Rede vor dem US-Kongress in jenem Jahr sagte er, dass der Aufstieg der Vereinigten Staaten auf die Weltbühne »nicht durch einen von uns ausgedachten Plan zustande gekommen ist, sondern durch die Hand Gottes. […] Das ist das Los, das wir bei unserer Geburt gezogen haben. Amerika wird tatsächlich den Weg weisen.«18 In Wilsons Augen handelte es sich bei der »Manifest Destiny«, der offensichtlichen Bestimmung der USA, nicht mehr um die kontinentale Expansion. Sie war nun eine gottgewollte Mission zur Rettung der Menschheit. Diese Vorstellung von der Rettung der Menschheit sollte sich in allen kommenden Kriegen als ein unverzichtbares Element des amerikanischen Nationalmythos erweisen.
In dem Bemühen, Lenins revolutionärer Zugkraft etwas entgegenzusetzen, hatte Wilson im Jahr zuvor, während der Krieg noch mit voller Wucht tobte, eine Reihe internationaler demokratischer Prinzipien verkündet, darunter den Freihandel, offene Meere und öffentliche statt geheimer Abkommen zwischen den Nationen, Prinzipien, die zur Grundlage der neuen internationalen Friedensordnung werden sollten: Wilsons berühmte 14 Punkte.
Die Deutschen kapitulierten auf der Grundlage von Wilsons 14 Punkten in der Überzeugung, dass sie dies vor der Zerstückelung durch die Alliierten retten würde. Deutschland verpasste sich sogar eine neue Regierungsform, verwandelte sich in eine Republik und stellte sich gegen den Kaiser, der bald ins Exil verschwand. Die Vereinigten Staaten waren die neue dominante Macht in der Welt. 1914 waren die USA noch eine Schuldnernation mit Außenständen in Höhe von 3,7 Milliarden US-Dollar gewesen, 1918 dagegen waren sie eine Gläubigernation, und die Kriegsalliierten standen mit über 7 Milliarden US-Dollar bei ihnen in der Kreide.
Dessen ungeachtet hatten die europäischen Kolonialmächte an Wilsons Idealismus kein Interesse – sie wollten Rache, Geld und Territorien. In den USA sei, wie der britische Premier Lloyd George anmerkte, im Krieg »nicht einmal eine Hütte« zerstört worden. Und der französische Premierminister Georges Clemenceau, dessen Land über eine Million Soldaten verloren hatte, meinte: »Mr. Wilson langweilt mich mit seinen 14 Punkten; selbst der liebe Gott hat nur zehn!«19 Infolge dieser ablehnenden Haltung sollten mehrere von Wilsons 14 schwammigen Punkten keinen Eingang in den Versailler Friedensvertrag finden.
Großbritannien, Frankreich und Japan teilten die deutschen Kolonien in Asien und Afrika untereinander auf, und in einer Art Lippenbekenntnis zum versprochenen Selbstbestimmungsrecht der Araber, die sich gegen das Osmanische Reich erhoben hatten, zerschlugen Winston Churchill und das Foreign Office das jahrhundertealte Großreich und schufen neue Satellitenstaaten wie Mesopotamien, das man willkürlich in Irak umbenannte. Eine jüdische Heimstätte in Palästina war in einem Brief des britischen Außenministers Arthur Balfour an den jüdischen Bankier Lionel Walter Rothschild in Aussicht gestellt worden. Der Völkerbund richtete ein Protektorat über Palästina ein. Schätzungsweise 85 Prozent der angestammten Bevölkerung waren palästinensische Araber, nicht einmal acht Prozent Juden.
Die alten Großmächte beschönigten ihr Vorgehen, indem sie diese neuen Kolonien als »Mandate« bezeichneten. Wilson verband sein Einverständnis mit dem Hinweis, dass die Deutschen ihre Kolonien rücksichtslos ausgebeutet, die Alliierten die Untertanen in ihren Kolonien dagegen human behandelt hätten – eine Einschätzung, die bei den Bewohnern Französisch-Indochinas Fassungslosigkeit auslöste. Ho Chi Minh, ein junger Sozialist aus Indochina, lieh sich Smoking und Melone und überbrachte Wilson in Paris eine Petition, in der er die Unabhängigkeit Vietnams forderte. Wie andere Führer aus der Dritten Welt musste auch Ho Chi Minh lernen, dass eine Befreiung nur durch den bewaffneten Kampf erreicht werden konnte – und nicht durch Woodrow Wilsons Großmut.
Lenin war zwar nicht nach Paris eingeladen, doch die unsichtbare Präsenz Russlands warf einen Schatten über die Verhandlungen. Lenin nannte Wilson einen »Besänftiger« und meinte, man könne »nur echten Revolutionären vertrauen«. In der Dritten Welt fand Lenins Aufruf zur weltweiten Revolution Gehör, von China bis nach Lateinamerika.
Wilson, der sich bewusst auf den Völkerbund konzentrierte, den er zur Verhinderung künftiger Kriege für unerlässlich hielt, schaffte es nicht, den Friedensvertrag für einen »Frieden ohne Sieg« durchzusetzen, für den er öffentlich eingetreten war. Großbritannien und Frankreich missbrauchten Wilsons Konzept der Selbstbestimmung gegen Deutschland mit der Folge, dass Millionen deutsche Bürger sich unvermittelt außerhalb der Grenzen ihres geschrumpften Landes wiederfanden. Mit der berühmten Kriegsschuldklausel bürdete der Vertrag von Versailles Deutschland zugunsten der anderen Kolonialmächte die alleinige Schuld für den Ausbruch des Krieges auf und verdonnerte Berlin dazu, knapp 33 Milliarden US-Dollar an Kriegsreparationen an die Alliierten zu zahlen – mehr als doppelt so viel, als die Deutschen erwartet hatten.
Ein prominentes Mitglied von Wilsons Delegation war Thomas Lamont, der führende Partner des Bankhauses Morgan. Lamont sorgte dafür, dass die deutschen Reparationszahlungen an Großbritannien und Frankreich diese wiederum in die Lage versetzten, die gigantischen Summen zurückzuzahlen, die sie, um zu überleben, während des Kriegs bei den Wall-Street-Banken aufgenommen hatten. Genau genommen ruhte die gesamte Struktur der neuen Finanzwelt auf dem wackeligen Fundament der deutschen Kriegsreparationen, die mit zum wirtschaftlichen Zusammenbruch Deutschlands und damit zum Aufstieg Adolf Hitlers beitrugen.
In den folgenden Jahren sollte sich der US-Kongress in mehreren Untersuchungsausschüssen mit den Umtrieben der sogenannten »Merchants of Death«, »Händler des Todes«, befassen – Industriellen und Bankern, die aus dem Krieg obszön hohe Profite geschlagen hatten. Niemand wurde verurteilt, nichts konnte bewiesen werden. Doch in der Bevölkerung blieb ein unterschwelliges Misstrauen gegen den Kriegseintritt der USA haften. Viele, darunter auch Kongressführer, hatten den Verdacht, dass Millionenbeträge zum Wohle der Banken und anderer Kriegsgewinnler geopfert worden waren. Die Verbitterung der Menschen saß tief.
Wilson kehrte in ein Land zurück, in dem die Arbeiter aufbegehrten und auf Reformen drängten. Allein 1914 kamen an die 35000 Arbeiter bei Arbeitsunfällen ums Leben. 1919 traten über vier Millionen Arbeiter in den Streik, darunter 365000 Stahlarbeiter, 450000 Bergleute und 120000 Textilarbeiter. In Seattle legte ein Generalstreik die gesamte Stadt lahm. In Boston streikte sogar die Polizei, woraufhin das Wall Street Journal warnte: »Lenin und Trotzki sind auf dem Weg.«20 Vor diesem Hintergrund suchte Präsident Wilson Lenins Botschaft zu diskreditieren. Der Kommunismus sei, verkündete er, eine europäische Verrücktheit, keine amerikanische. Während des sogenannten »Roten Sommers« 1919 brachen zudem in Chicago und mehreren anderen Städten, darunter auch Washington, D. C., Rassenunruhen aus. Um die Ordnung wiederherzustellen, mussten Soldaten eingreifen.
Im November 1919 setzte Justizminister A. Mitchell Palmer in einer ersten von zahlreichen Razzien Bundesagenten gegen radikale Gruppen und Gewerkschaften in Marsch. Geleitet wurde der Einsatz vom 24 Jahre alten Direktor der gegen Radikale gerichteten General Intelligence Division des Justizministeriums, J. Edgar Hoover. Zwischen 3000 und 10000 Dissidenten wurden verhaftet, viele über Monate ohne Anklageerhebung eingesperrt. Hunderte im Ausland geborene Radikale, darunter die aus Russland stammende Emma Goldman, wurden abgeschoben, die Bürgerrechte zunehmend eingeschränkt und abweichende Meinungen mit einer unamerikanischen Gesinnung gleichgesetzt.
Präsident Wilson reiste weiter durchs Land und betonte, dass die USA den Vertrag von Versailles ratifizieren und den Völkerbund aus der Taufe heben müssten. Nur so könne seine Vision vom Weltfrieden wahr werden. Progressive Republikaner verhöhnten Wilsons Völkerbund als einen Bund von Imperialisten, die darauf aus seien, Revolutionen niederzuschlagen und ihre selbstsüchtigen imperialen Ambitionen zu verteidigen. Kritiker verlangten Änderungen, aber für Wilson kamen Modifikationen nicht in Frage. Wilsons Gesundheit verschlechterte sich, und am 19. September 1921 brach er in Pueblo, Colorado, bei einer Rede – sie sollte seine letzte sein – mit einem schweren Schlaganfall zusammen. Für den Rest seines Lebens war er halbseitig gelähmt.
Der Senat lehnte den Vertrag von Versailles mit einer Mehrheit von sieben Stimmen ab. Der Völkerbund wurde gegründet, aber ohne die USA war die Organisation von Anfang an schwach. Wilson starb 1924 als gebrochener Mann.
Anfang der 1920er Jahre gab es das Amerika Jeffersons, Lincolns und William Jennings Bryans nicht mehr. An seine Stelle war die Welt Morgans, der Wall-Street-Banken und der großen Konzerne getreten. Wilson hatte gehofft, die Welt umzugestalten, aber seine Bilanz war alles andere als positiv. Obwohl er für das Recht auf Selbstbestimmung und gegen Imperien eintrat, mischte er sich wiederholt in die inneren Angelegenheiten anderer Nationen ein, so in Russland, Mexiko und vielen anderen lateinamerikanischen Ländern. Obwohl er Reformen förderte, hegte er ein tiefes Misstrauen gegen jenen fundamentalen oder gar revolutionären Wandel, der das Leben der Menschen tatsächlich verbessern würde. Obwohl er die menschliche Brüderlichkeit propagierte, war er überzeugt, dass die nichtweißen Menschen minderwertig wären, und verfolgte eine Politik der Rassentrennung. Und obwohl Wilson die Demokratie und den Rechtsstaat rühmte, schloss er die Augen vor schwersten Verstößen gegen die Bürgerrechte.
Wilsons Scheitern markierte das Ende einer Zeit, in der eine einzigartige Mischung aus Idealismus, Militarismus, Habgier und Diplomatie die Nation auf dem Weg zu einem neuen Imperium vorantrieb. 1900 hatten die Amerikaner William Jennings Bryan abgelehnt und für McKinleys Vision von Handel und Wohlstand votiert – und damit die imperialen Eroberungen der USA legitimiert. Mit der Präsidentschaftswahl von 1900 hatten die Vereinigten Staaten einen Weg eingeschlagen, auf dem es kein Zurück gab.
1. William Jennings Bryan, Speeches of William Jennings Bryan, Bd. 2, New York 1909, S.17 und 24 ff. Eine exzellente Biographie von Bryan liegt vor mit Michael Kazin, A Godly Hero. The Life of William Jennings Bryan, New York 2006. Deutsche Übersetzung nach http://www.citationtube.com/thomas-jefferson-politik-de-474.php
2. Philip Sheldon Foner, History of the Labor Movement in the United States, Bd. 2, From the Founding of the A.F. of L. to the Emergence of American Imperialism, New York 1975, S. 50.
3. Kenneth Wythe, The Uncrowned King. The Sensational Rise of William Randolph Hearst. Berkeley 2009, S. 406.
4. Robert L. Beisner, Twelve Against Empire. The Anti-Imperialists 1898–1900, New York 1968, S. xiv.
5. Mark Twain, »To the Person Sitting in Darkness«, in: North American Review 172 (Februar 1901), S. 164.
6. Lewis Gould, The Presidency of William McKinley, Lawrence, Kansas 1980, S. 140 ff.
7. Stuart Creighton Miller, Benevolent Assimilation. The American Conquest of the Philippines, 1899–1903, New Haven, CT, 1982, S. 211.
8. David Howard Bain, Sitting in Darkness. Americans in the Philippines, New York 1984, S. 84.
9. Stephen Kinzer, Overthrow. America’s Century of Regime Change from Hawaii to Iraq, New York 2006, S. 52 f. (Dt. Ausg.: Putsch! Zur Geschite des amerikanischen Imperialismus, Frankfurt/Main 2007.
10. Howard Zinn und Anthony Arnove, Voices of a People’s History of the United States, New York 22009, S. 251 f.
11. Ebenda, S. 350.
12. George C. Herring, From Colony to Superpower, U.S. Foreign Relations Since 1776, New York 2008, S. 399.
13. https://en.wikiquote.org/wiki/Woodrow_Wilson.
14. Ray Ginger, The Bending Cross. A Biography of Eugene Victor Debs, New Brunswick, NJ, 1949, S. 328.
15. Zinn, A People’s History of the United States, S. 358.
16. Ebenda, S. 358 f.
17. Nell Irvin Painter, Standing at Armageddon. The United States, 1877–1919, New York 1987, S. 336.
18. The Public Papers of Woodrow Wilson. War and Peace (1917–1924), New York 1927, S. 551 f.
19. Woodrow Wilson, Essential Writings and Speeches of the Scholar-President, New York 2006, S. 36.
20. Robert K. Murray, Red Scare. A Study in National Hysteria 1919–1920, New York 1955, S. 124–129.
Zwischen Big Business und ideologischer Versuchung
Als die Truppen nach dem Krieg aus Europa zurückkehrten, versprach der republikanische Präsidentschaftskandidat Warren G. Harding den Amerikanern die »Rückkehr zur Normalität« und leitete eine der konservativsten Phasen in der amerikanischen Geschichte ein. Doch dann erschütterte der Teapot-Dome-Bestechungsskandal seine Regierung, und es kam ans Tageslicht, dass Hardings Innenminister auf der Gehaltsliste von »Big Oil« stand, sprich der Ölkonzerne, die staatlichen Grund und Boden geplündert hatten. Gleichzeitig entwickelten sich die 1920er Jahre zu einem Jahrzehnt kühner kultureller Experimente, gepaart mit einem ausgeprägten politischen Konservatismus. In einem Jahrzehnt, das als die »Roaring Twenties« in die Geschichte eingehen sollte, wurde die alte Kultur des Mangels gegen eine neue Kultur des Überflusses abgelöst.
Moralapostel trieb die Furcht um, die heimkehrenden Soldaten, die den sogenannten »French Way« entdeckt hatten, könnten ihren neuen Appetit auf Oralsex an unschuldigen amerikanischen Mädchen befriedigen und sie mit Krankheiten infizieren. Immerhin hatten die lasterhaften Franzosen angeboten, Bordelle für die amerikanischen Truppen einzurichten, ganz nach dem Vorbild der Etablissements, die sie für ihre eigenen Soldaten unterhielten – ein Angebot, das vom US-Militär allerdings kategorisch zurückgewiesen wurde. Derweil hatten zu Hause die Kämpfer für Zucht und Ordnung die Ängste der Kriegszeit ausgenutzt und im ganzen Land Rotlichtbezirke geschlossen – mit der Folge, dass die Prostituierten in den Untergrund gedrängt wurden und gezwungen waren, Schutz bei Gangstern und Zuhältern zu suchen.
1919 wurde der 18. Verfassungszusatz ratifiziert und damit die Herstellung und der Verkauf von Alkohol in den Vereinigten Staaten verboten – eine Reform, die von Abstinenzlergruppen, mehreren protestantischen Kirchen, dem wiedergeborenen Ku-Klux-Klan und etlichen Progressiven unterstützt wurde. Doch wie im seit den 1970er Jahren geführten Krieg gegen die Drogen blieb Alkohol für alle, die ihn haben wollten, problemlos verfügbar, und der Krieg gegen den Alkohol bescherte einer neuen, von italienischen, irischen und jüdischen Einwanderern dominierten kriminellen Schicht märchenhafte Gewinne.
Smedley Butler hatte die Gewaltexzesse im Ersten Weltkrieg und die anschließende Korruption miterlebt. Dann nahm er eine Auszeit von seiner Militärlaufbahn und bekleidete für ein Jahr den Posten des Polizeichefs von Philadelphia. Butler ließ 600 Flüsterkneipen schließen – darunter auch zwei, wo die Elite der Stadt verkehrte, die dann dafür sorgte, dass er seinen Hut nehmen musste. »Philadelphia zu säubern«, merkte Butler später an, »war schwieriger als jede Schlacht, in der ich je kämpfte.«21
Zu den repressiven Merkmalen des neuen Amerikas gehörten verschärfte Einwanderungsgesetzte, welche die Einwanderung aus Süd- und Osteuropa stark begrenzten und die aus Japan, China und Ostasien ganz stoppte. Der Antisemitismus griff um sich. Manche setzten Juden mit Kommunismus und Radikalismus gleich. Andere fanden, dass die Juden in Hollywood, in der Wirtschaft und an den Universitäten zu viel Einfluss ausübten. Harvard fuhr den Anteil von Juden an den Studienanfängern von 28 Prozent 1925 auf 12 Prozent 1933 zurück. Andere Eliteuniversitäten folgten.
Auch gegen sogenannte »Unerwünschte« wurde nun verschärft vorgegangen. 1911 hatte der begeisterte Eugenik-Anhänger Woodrow Wilson als Gouverneur von New Jersey ein Gesetz unterzeichnet, das die Zwangssterilisierung von verurteilten Verbrechern, Epileptikern und Geistesschwachen autorisierte. In den folgenden Jahrzehnten wurden an die 60000 Amerikaner zwangssterilisiert, über ein Drittel davon in Kalifornien. Besonders betroffen waren sexuell aktive Frauen. Der spätere »Führer« Adolf Hitler verfolgte die Entwicklungen in den USA aufmerksam und bekundete später, dass er einen Teil seiner Methoden zur Schaffung der »Herrenrasse« nach dem Vorbild der US-Programme gestaltete habe, die er zwar lobte, aber auch dafür kritisierte, dass sie nicht weit genug gingen. Hitler sollte weiter gehen. Sehr viel weiter.
In der Zeit von 1920 bis 1925 schlossen sich zwischen drei und sechs Millionen Amerikaner dem rassistischen, antisemitischen und antikatholischen Ku-Klux-Klan an, der in den Bundesstaaten Indiana, Colorado, Oregon, Oklahoma und Alabama die Politik dominierte und 1924 mehrere Hundert Delegierte zum US-weiten Parteitag der Demokraten entsandte. Es klingt unvorstellbar, dass 1925 eine Viertelmillion Amerikaner zusah, als 35000 Klanmitglieder durch die Straßen von Washington, D. C., marschierten.
Abseits der Küsten grassierte der Hass. Der 14-jährige Henry Fonda, der spätere Filmstar, sah von der Druckerei seines Vaters in Omaha, Nebraska, aus einem Lynchmord zu: »Es war das Entsetzlichste, was ich je zu Gesicht bekommen hatte. Wir verriegelten die Druckerei, gingen hinunter und fuhren ohne ein Wort zu sagen nach Hause. Meine Hände waren schweißnass, und in meinen Augen standen Tränen. Alles, woran ich denken konnte, war dieser junge Schwarze, der am Ende eines Stricks baumelte.«22 Hunderte Afroamerikaner erlitten ein ähnliches Schicksal. Häufig im Voraus angekündigt und auf Postkarten und in Tonaufnahmen verewigt, mutierten die Lynchmorde zu perversen Schändungsritualen, inklusive Zerstückelung, Kastration und der Mitnahmen von Leichenteilen als Andenken.
Auf dem Land entstanden allerorten Bibelschulen. Der Antiintellektualismus griff um sich. 1925 wurde in Tennessee ein Lehrer namens John Thomas Scope angeklagt, für schuldig befunden und zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er in der Schule Darwins Evolutionstheorie gelehrt hatte.
Der Erste Weltkrieg markierte den Aufstieg der USA und Japans, der beiden eigentlichen Gewinner des Kriegs. In Amerika war es zu einer beispiellosen Kollaboration von Banken, Unternehmen und Behörden gekommen, um die Wirtschaft anzukurbeln und den Unternehmen Gewinne zu garantieren. 1925 produzierten die USA über 70 Prozent des weltweit geförderten Rohöls, das im Krieg die Schiffe, Flugzeuge, Panzer und Kraftwagen der Alliierten angetrieben hatte. New York hatte London als Zentrum der Weltwirtschaft abgelöst. Die Größe der amerikanischen Wirtschaft ließ selbst die ihrer schärfsten Rivalen zwergenhaft erscheinen.
Von einem brutalen Krieg desillusioniert, hungerten die zum Zynismus neigenden Menschen danach, das Leben auf eine ganz neue Weise zu erfahren. Ein neuer Materialismus erfasste das Land, angeheizt von Krediten, dem Rundfunk, Filmpalästen und der aufblühenden Werbung, welche die kapitalistische Kunstform perfektionierte, nicht nur die Hoffnungen und Phantasien der Verbraucher zu manipulieren, sondern auch ihre Ängste und Unsicherheiten. Henry Ford, der Gründer der Ford Motor Company, verkaufte 15 Millionen Exemplare seines Modells T, bevor er 1927 das modischere Modell A auf den Markt brachte.
Der Jazz mit seinen Wurzeln im afroamerikanischen Süden wurde ungemein populär. Flapper – selbstbewusste, hedonistische Frauen –, Petting, Flüsterkneipen, die schwarze Kunstbewegung Harlem-Renaissance, der Sport und wilde neue Filme mit und ohne Ton hatten ihre Blütezeit. Rebellische junge Schriftsteller betraten die Szene. Der Expressionismus tauchte auf in den Werken von E. E. Cummings, John Dos Passos, T. S. Eliot, Ernest Hemingway, Ezra Pound, William Faulkner, Lawrence Stallings, Sinclair Lewis, Eugene O’Neill, Willa Cather, Langston Hughes und Dalton Trumbo. An der Oberflächlichkeit der amerikanischen Kultur verzweifelnd, setzten sich viele von ihnen nach Europa ab. »Hier war eine neue Generation«, schrieb F. Scott Fitzgerald 1920, »die aufgewachsen war, um herauszufinden, dass alle Götter tot waren, alle Kriege ausgefochten, alle Überzeugungen erschüttert.« Gertrude Stein, eine in Paris lebende lesbische Autorin, sagte zu Hemingway und seinen betrunkenen Freunden: »All ihr jungen Leute, die ihr im Krieg wart. Ihr seid eine verlorene Generation.«23
Der Wohlstand der 1920er Jahre ruhte auf zunehmend brüchigen Fundamenten – auf hemmungsloser Kreditaufnahme, gigantischen Spekulationen und deutschen Kriegsreparationen. Die Landwirtschaft in den USA steckte das gesamte Jahrzehnt hindurch in der Krise. Die Autoproduktion und der Straßenbau verlangsamten sich. Die Investitionen in den Wohnungsbau gingen zurück, die Kluft zwischen Arm und Reich vertiefte sich rapide. Das Kapital suchte verzweifelt nach gewinnträchtigen Anlagemöglichkeiten.
In dem Bemühen, die Last der Kriegsreparationen zu stemmen, begründete der deutsche Außenminister und prominente jüdische Industrielle Walther Rathenau wirtschaftliche, diplomatische und selbst militärische Beziehungen zum kommunistischen Russland – und schlug eine Brücke zwischen den beiden von Versailles ausgeschlossenen Nationen, um ihre vom Krieg verheerten Gesellschaften wieder aufzubauen. Das löste nicht nur in Großbritannien und Frankreich Unmut aus, Rathenau brachte damit auch die militanten rechtsgerichteten deutschen Freikorps gegen sich auf, die wegen der Reparationszahlungen Deutschlands sowieso schon in Rage waren. 1922 wurde Rathenau von ehemaligen Freikorps-Angehörigen ermordet.
Die deutsche Wirtschaft wurde von einer Hyperinflation erfasst, wie es sie in der Geschichte noch nicht gegeben hatte. Schubkarrenweisen wurden wertlose Markscheine als Heizmaterial verbrannt. 1923 konnte das bankrotte Deutschland die Reparationen an Frankreich und Großbritannien nicht länger leisten, die daraufhin Washington um Erleichterungen bei den milliardenschweren Kriegsschulden baten, die sie gegenüber den USA zu begleichen hatten. »Auf gar keinen Fall«, wies der neue republikanische Präsident Calvin Coolidge das Ansinnen zurück.
1924 standen die europäischen Volkswirtschaften am Rande des Zusammenbruchs. Wie noch einmal vier Jahre später tüftelten mit Bankern und Unternehmern besetzte Kommissionen unter Führung von J. P. Morgan und Konsorten Pläne für eine wirtschaftliche Erholung Deutschlands aus, die es zu einer Wiederaufnahme der Reparationszahlungen befähigen sollten. Das Ergebnis lief im Kern darauf hinaus, dass die USA Deutschland Geld liehen, damit es, zu erleichterten Bedingungen, Reparationen an Frankreich und Großbritannien zahlen konnte, die mit diesem Geld dann ihre Kriegsschulden bei den USA bedienten. Die Banken wurden reich, die Menschen blieben arm. Obwohl Deutschland immense Reparationszahlungen leistete, stand es 1933 bei den Alliierten noch tiefer in der Kreide als 1924. In diesem Klima, das von wirtschaftlichen Krisen im Westen und der kommunistischen Revolution im Osten geprägt war, erhob sich ein neues Monster – der Nationalsozialismus.
Unabhängig von Deutschland hatten 1922 in Italien Benito Mussolini und seine Faschisten die Macht übernommen und in blutigen Straßenschlachten die Kommunisten dezimiert. Ende 1925 war es dann das Bankhaus Morgan, das der Regierung Mussolini einen Kredit über 100 Millionen US-Dollar gewährte, damit diese ihre Kriegsschulden an Großbritannien zurückzahlen konnte. Die Bank war sehr angetan von Mussolinis repressiver Politik gegenüber der Arbeiterbewegung.
Angeführt von Adolf Hitler unternahmen 1923 in München Nationalsozialisten einen Putschversuch. Zu Hitlers Gefolgsleuten gehörten Kriegsveteranen, die sich nicht an das Zivilleben anpassen konnten und sich danach sehnten, die kommunistischen Aufstände, die zu der Zeit in Deutschland tobten, niederzuschlagen. Für seine Rolle bei dem gescheiterten Putschversuch verbrachte Hitler neun Monate in Festungshaft, während der er seine Ansichten weiterentwickelte. Die von ihm vertretene schrille Behauptung, das deutsche Militär habe den Krieg gewonnen, nur um dann zu Hause von Politikern den Dolch in den Rücken gestoßen zu bekommen, fand mehr und mehr Zulauf. Als die Zentralbanken die Welt dann 1929 mit Volldampf in eine unvorhergesehene Katastrophe steuerten – die Weltwirtschaftskrise –, brachte das Hitlers Bewegung einen gewaltigen Schritt voran.
Montagu Norman, der von 1920 bis 1944 der privaten Bank of England vorstand, war ein paranoider Antikommunist und Antisemit und reiste aus Furcht vor einem Attentat stets inkognito. Norman bat den Gouverneur der New Yorker Federal Reserve Bank, die Zinsen zu erhöhen, um die überbordenden Börsenspekulationen an der Wall Street einzudämmen. Ironischerweise hatte Norman zwei Jahre zuvor mit dafür gesorgt, dass der damalige Gouverneur der Fed die Zinssenkungen veranlasste, die der systemgefährdenden spekulativen Orgie erst richtig Nahrung gaben. Für Morgans Seniorpartner Thomas Lamont war Norman »der klügste Mann, dem ich je begegnet bin«.24
Doch die amerikanischen Investoren hatten, wie sie das auch 2008 tun sollten, ihr Geld und ihre Kredite von der Realwirtschaft in die Spekulation umgelenkt und sich bis über beide Ohren verschuldet, um gewaltige Spekulationsprofite abzuschöpfen. Als die Zentralbanken in Großbritannien und Amerika nun die Zinsen erhöhten, folgte rasch eine weltweite Kreditklemme, und in den USA kam es zu einer Bankenpanik. In Österreich und Deutschland gingen große Geldhäuser bankrott. Mit dem Börsencrash kam der Fluss amerikanischer Kredite nach Deutschland zum Erliegen, im Winter 1931/32 brach die deutsche Wirtschaft vollends zusammen. Die Arbeitslosigkeit schnellte auf über 30 Prozent und spülte Millionen wütender junger Männer auf die Straßen. Die deutsche Industrie und konservative Politiker fürchteten einen kommunistischen Staatsstreich, und die herrschende Klasse bot Hitler, dem größten Antikommunisten, die Regierung an. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt nur einer radikalen Minderheitspartei vorstand, wurde Hitler im Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt.
In seinen mitreißenden Reden sprach Hitler bei vielen Deutschen eine tiefliegende Sehnsucht an und versprach ihnen etwas, an das sie sich kaum mehr erinnern konnten – Stolz. Doch auf Hitlers Aufstieg an die Macht folgten Gewalt und Unterdrückung. Ende Februar 1933 brannte in Berlin der Reichstag. Hitler gab den Kommunisten die Schuld, und viele von ihnen wurden in Konzentrationslager gesperrt.
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