An der Zeitmauer - Ernst Jünger - E-Book

An der Zeitmauer E-Book

Ernst Jünger

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Beschreibung

Ernst Jünger führt in der »Zeitmauer« Gedanken seines »Arbeiter«-Essays fort; so schrieb er 1959 in einem Brief: Das Buch hat sich zu einer Fortsetzung von ›Der Arbeiter‹ entwickelt, führt allerdings in neue Richtungen. Das Thema ist ungefähr die Schilderung der Überwältigung der Weltrevolution durch Erdrevolution. Manches davon deutete sich bereits im ›Arbeiter‹ an.«

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Seitenzahl: 344

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Ernst Jünger

An der Zeitmauer

TAGEBÜCHER VIII

J.G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH

Klett-Cotta

Impressum

Der Text dieser Ausgabe folgt Ernst Jüngers Fassung letzter Hand in den Sämtlichen Werken in 22 Bänden, erschienen bei Klett-Cotta.

 

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2013 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Reihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg,

unter Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin

 

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96069-3

E-Book: ISBN 978-3-608-10604-6

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20209-0

 

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2013 der Printausgabe.

Inhalt

An der ZeitmauerFremde VögelMeßbare und SchicksalszeitAn der ZeitmauerSiderische EinteilungenUrgrund und PersonADNOTEN ZU »AN DER ZEITMAUER«
Zurück

AN DER ZEITMAUER

ERSTAUSGABE1959

FREMDE VÖGEL

1

Im Vorliegenden sind zwei nicht nur zeitlich einander folgende, sondern auch thematisch verschiedene Schriften verschmolzen, von denen die eine der anderen den Maßstab gibt. Ein Hinweis auf die Entstehung ist daher angebracht.

Der erste Teil wurde mit dem Neuen Jahr 1957 begonnen und in wenigen Tagen abgeschlossen; um diese Zeit steigt die Flut astrologischer Deutungen und Vorhersagen besonders hoch. Anlaß zu der Betrachtung gaben nicht die Inhalte dieser Weisungen, die sich in ihrer Fülle gegenseitig aufheben. Nachdenklich stimmte vielmehr die Massenhaftigkeit ihres Auftretens.

Wenn eine Tierart, die in unseren Breiten selten, ungewöhnlich oder gar unbekannt ist, plötzlich in Menge auftritt, so knüpfen sich daran sowohl im Volk wie bei den Gelehrten verschiedene Erwägungen. Zunächst läßt sich die Art als solche betrachten, beschreiben, in das System einordnen. Nehmen wir etwa den Seidenschwanz, einen bunten, auffälligen Vogel des hohen Nordens, der zuweilen in Schwärmen bei uns erscheint. Es lohnt sich gewiß, ihn zu beobachten, sei es für den Naturfreund, sei es für den Zoologen, sei es für den Künstler, der Motive sucht.

Außer dieser Aufmerksamkeit, die sich auf die Erscheinung des Tieres richtet, gibt es noch eine andere, die durch sein Erscheinen wachgerufen wird. Wenn etwas Fremdes auftaucht, und gar zahlreich, so kann das kein bloßer Zufall sein. Wir fragen mit Recht nach dem Zusammenhang.

In diesem Fall ist der Zusammenhang klimatisch: Wenn nämlich der arktische Winter streng wird, muß der Vogel auch weiter als sonst aus seiner Heimat weichen; sein ungewöhnliches Erscheinen geht also mit einer Ungewöhnlichkeit des Klimas einher. Das ist ein Datum, und es lassen sich Schlüsse davon ableiten, unter anderem eine Voraussage: Wenn wir wissen, daß der arktische Winter hart ist, so dürfen wir schließen, daß sich seine Herrschaft auch auf unsere Breiten ausdehnen wird. In diesem Sinne ist der Seidenschwanz ein Wetterprophet. Er ist ein Flüchtling, dem ein Eroberer folgt. Im Kombinationsschluß lassen sich an sein Erscheinen andere Daten weben, von Sonnenflecken und kosmischen Störungen bis zu den Kohlenpreisen, dem Schiwetter.

Würde der Seidenschwanz nun häufiger kommen, würde er seine Flüge tiefer in den Süden ausdehnen, würde er länger verweilen, bis in den Sommer hinein, würde er endlich gar hier Nester bauen, brüten und Junge aufziehen, so dürften wir annehmen, daß es sich nicht mehr um einen ungewöhnlichen Winter handelt, den er kündet, sondern um eine Wetterwende in großem Ausmaß, um einen Klimasturz. Hiervon wird alles, das Größte wie das Kleinste, berührt.

Auch das massierte Auftauchen von Horoskopen, das heißt: von neuen Uhrzeichen, in unserer Welt ist ungewöhnlich; es scheint sogar zu ihren Grundgesetzen in scharfem Widerspruch zu stehen. Daher wird es nicht nur von der Wissenschaft, sondern auch von ernsthaften Astrologen mit kritischen Blicken angesehen. Diese Kritik wird hier weder geteilt noch abgelehnt. Sie betrifft, wie beim Vogel, die Erscheinung – was jedoch hier betrachtet werden soll, ist das Erscheinen als Klima- und Zeitzeichen. Mit anderen Worten: Es soll nichts bemerkt werden zu den astrologischen Deutungen und Prophezeiungen. Dagegen wird das Erscheinen der Astrologie als ungewöhnliches und in hohem Maße prognostisches Zeichen aufgefaßt.

Kehren wir nochmals zum Seidenschwanz zurück. Er kommt vom Norden; ein anderer, fast tropisch gefärbter Vogel, der Bienenfresser, fällt manchmal von Süden ein. Darin, daß beide als Unglücksvögel gelten, deutet sich an, daß das Neue selbst dort, wo es schön ist, im Menschen Mißtrauen erweckt. Dieser konservative Zug ist nicht unbegründet, denn das Neue bringt selten Gutes, auch dort, wo es als Glück, als Großes Los erscheint. Die Märchen sind voll davon. Das Neue fordert zunächst Opfer, denn es will nicht nur bewohnten Raum besetzen, sondern auch verdient, erworben, bezwungen sein. Wo Neues kommt, und gar ein neues Klima, folgt ihm eine Akklimatisation, ein Unbehagen, folgen Fieber und Seuche, auch der Tod. Der Seidenschwanz hieß auch der Pestvogel.

Daß nun der Seidenschwanz, der Bienenfresser als Unglücksvögel gelten, schließt, ähnlich wie die Voraussicht eines strengen Winters, eine Prophezeiung ein. Was die Wettervoraussage betrifft, so kann der wissenschaftliche Geist, der ja an allen Schranken Wache hält, sie passieren lassen, wie man Bauernregeln oder in der Medizin die alten Volksmittel billigt, obwohl man über Besseres verfügt. Das Wort »Unglücksvogel« dagegen gehört einer versunkenen Schicht an; es ist ein Ausdruck mantischer Praxis, wie sie vordem geübt wurde. Die alten Annalen sind voll davon. Auch Mißgeburten gehörten zu den Vorzeichen.

Bei etwas schärferer Betrachtung lassen sich doch vielleicht Zusammenhänge zwischen dem im heutigen Sinne Belegbaren und der mantischen Praxis herstellen. Die Alten dachten zwar nicht abstrakt, sondern anschaulich, aber sie machten doch gute Beobachtungen. Der Seidenschwanz sollte also Kriege und Seuchen ankündigen. Es ist nun durchaus möglich, daß zwischen solchem Unheil und einem außerordentlichen Winter Folgerichtigkeit besteht. Der Winter könnte etwa so lange währen, daß er die Ernte in Frage stellt und damit auch fremde Völkerschaften zum Aufbruch nach Süden zwingt. Das könnte Kriege zur Folge haben und dieser Seuchen mitbringen. In diesem Falle wäre das Auftauchen des Seidenschwanzes wirklich ein prognostisches Zeichen gewesen, und zwar eines von denen, deren Verknüpfung wir kaum noch wahrnehmen.

Das Beispiel soll eine Methodik beleuchten, die im Folgenden nicht angewendet werden wird oder nur dann, wenn die morphologische Ähnlichkeit zwischen zwei Denkstilen anschaulich gemacht werden soll. Wissenschaftliches und astrologisches Denken können in der Tat sehr ähnlich werden, wie auch ein Horoskop und eine Uhr sich ähnlich sind. Das bleibt aber immer Analogie hinsichtlich eines Dritten, Herrschenden. Auch ein Wal und ein Fisch sind sich ähnlich, und zwar »täuschend« ähnlich; die Verwandtschaft liegt aber nicht in ihnen, sondern in einem Dritten – mögen wir es nun das Meer nennen oder neptunischen Geist und seine Influenz. Die Tatsache aber, daß es sich um zwei Modelle handelt, muß in der Betrachtung gewahrt bleiben. Der Geist kann Folgerichtigkeiten nur bis zu einem bestimmten Punkte durchführen, an dem der Beweis der Evidenz weichen muß. Dort heißt es springen oder sich abwenden.

Die Bruchstelle, um die es sich hier handelt, bezeichnet ein Mysterium der Zeit. Bruchstellen sind Fundstellen. Auch der Tod ist eine Bruchstelle, kein Ende; und das Wort »Ursprung« gehört hierher. Wenn der Geist lange einen Widerspruch umkreiste, gelingt es ihm plötzlich, ihn zu lösen; das Umkreisen fällt in die Zeit, doch nicht die Lösung: Sie gleicht dem Funken zwischen zwei Feldern, in denen sich differente Ladungen sammelten.

Ich versuchte den Vorgang bereits vor dreißig Jahren in einer kurzen Betrachtung zu schildern, im »Sizilischen Brief an den Mann im Mond«. Hier wurde ausgeführt, daß der Mond Gegenstand sowohl der astronomischen wie der mythischen Annäherung sein kann und daß seine Oberfläche sowohl einen meßbar realen als auch einen physiognomischen Charakter besitzt. Beide Qualitäten können synoptisch vereint werden, wenn die Kraft des Geistes es vermag. Dann ist der Sprung, der Rücksprung zum Ursprung, gelungen, und der perspektivischen Deckung der Gegensätze entspringt stereoskopisch eine neue Dimension, die sie nicht nur räumlich vereint, sondern auch qualitativ erhöht.

2

Anlaß zu diesem ersten Teil der Arbeit gab, wie gesagt, das gehäufte Auftreten von Horoskopen und die mit ihm verbundene Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Freunden der Astrologie. Diese Polemik über eine Bruchstelle hinweg ist lehrreich, nicht etwa wegen ihrer Ergebnisse, sondern als Schauspiel an sich. Sie erinnert an Streitigkeiten zwischen zwei Parteien, von denen die eine das ganze Haus, die andere das oberste Stockwerk bewohnt. Unsere Wissenschaft läßt sich ohne weiteres und ohne Rangminderung im astrologischen System unterbringen, nicht aber umgekehrt. Schon diese Beobachtung ist wertvoll, denn wir brauchen Fangschnüre für unsere sich immer souveräner entfaltende technisch-abstrakte Welt, die aus sich heraus Grenzen und Hemmungen nicht zu entwickeln vermag.

Das waren die Voraussetzungen zu einer kurzen, für den eigenen Gebrauch bestimmten Untersuchung: »Meßbare und Schicksalszeit. Gedanken eines Nichtastrologen zur Astrologie.«

Nach Jahresfrist, am Neujahrstage 1958, sah ich das Manuskript wieder ein, um etliche Notizen nachzutragen, die Gespräche und Briefwechsel über astrologische Themen angeregt hatten. Es sollte an das Bestehende noch eine Kammer oder ein Erker angebaut werden zur Betrachtung von großen Zeitabschnitten, zu deren Beurteilung unsere historischen Erfahrungen zu ephemer, unsere Urkunden zu jungen Datums sind. Hier erwacht das Bedürfnis nach metahistorischen Maßstäben. Die Vorgeschichte, die Zoologie, die Geologie und Astronomie, die solche anbieten, werden von der Geschichtschreibung als Vestibüle behandelt, die mehr oder weniger flüchtig zu durchschreiten sind.

Daß sie auch zur Geschichte gehören, daß wir also jetzt und hier in mythischen, urmenschlichen, zoologischen, geologischen und astronomischen Prozessen begriffen sind, scheint schwer ersichtlich, obwohl es auf Einzelgebieten und selbst im Tagesgeschehen merkbar zu werden beginnt. Dafür zeugt unter anderem die wachsende Rolle der Meteorologie, nicht nur in den kleinen Zeitabschnitten und den in ihnen zu treffenden Entscheidungen, sondern auch hinsichtlich der Theorien der großen Zyklen, und endlich als einer Wissenschaft, die sich in zunehmendem Maße mit schicksalhaften Vorgängen verknüpft. Das ist ein Zeichen unter vielen dafür, daß das historische Gebäude rissig zu werden beginnt. Wir werden darauf näher eingehen.

Wenn nun gegenüber dem Versuch, neue, etwa kosmische, Elemente in die Menschengeschichte einzubeziehen, geäußert würde, daß damit die Geschichte als Wissenschaft zerstört wird, so ist das richtig – es wäre aber zu erwägen, ob denn das Bedürfnis nach einer solchen Einbeziehung nicht schon einer vollzogenen Zerstörung, und zwar der Zerstörung der geschichtlichen Welt in ihrem herkömmlichen Sinne, entspricht.

Das eben sollte in der zweiten Kammer, an der »Zeitmauer«, bedacht werden. Dabei ergab sich, daß der Durchbruch eher einem Fenster als einer Tür ähnelte – einem Fenster, das den Ausblick auf eine neue Landschaft eröffnete – oder sogar einer herausfallenden Wand.

Für einen ersten, kurzen Ausflug in diese Landschaft diente die Anfangsbetrachtung als Maß- und Wanderstab.

Die Astrologie verbindet nämlich drei große Vorzüge zur Betrachtung metahistorischer Zeiträume. Sie geht von der größten Spannweite, der Ausdehnung des Universums, aus. Sie hält sich an die größte und zugleich genaueste Uhr, auf deren Gang jedes Zeitmaß und jede Zeitmessung beruht: an den Zyklus der kosmischen Umläufe. Und endlich verfügt sie über ein in Qualitäten aufgeteiltes Zifferblatt, das die Zeit nicht gleichmäßig und monoton zerstückelt, sondern auf dem die Stunden sich folgen, jedoch nicht gleichen, und mächtige, tiefgegründete Bilder sich ablösen. Diese Verbindung von Weite, Präzision und Fülle gibt ein Vorbild der höheren Zeitbetrachtung überhaupt. Jede irdische Chronik hat hier nicht nur ihren Ursprung genommen, sondern auch ihr beständiges Maß.

Damit ist nicht die Verpflichtung verbunden, an der Astrologie das anzuerkennen, wodurch sie im allgemeinen anzieht, also ihre Aussagen und Voraussagen. Hier geht es nicht so sehr um den Gewinn als um die Kenntnis der Spielregeln. Schon in der Schicksalsvermutung liegt, unabhängig von Glück oder Unglück, ein mächtiger Trost. Über die Realität der astrologischen Maße läßt sich streiten, obwohl sie mit der des Dezimalsystems wetteifern kann. Doch stört es uns wenig, daß der Meter nicht das ist, als was die Gelehrten der Pariser Sternwarte ihn ausgaben, nämlich der vierzigmillionste Teil eines Erdmeridians. Das sind Fiktionen der Zahlenwelt.

3

In diesem Zusammenhang dürfte noch ein Hinweis am Platze sein: Wo im Folgenden Ziffern auftauchen oder Wörter, die an Lehrbücher erinnern, wie »Meridian«, »Steinzeit«, »Gene«, »Mutation«, handelt es sich um bloße Anklänge. Sie sollen in jedem Falle auf anderes hinweisen.

Das Peinliche solcher Wörter liegt darin, daß sie, ähnlich der obszönen Wendung, stark vom Willen geprägt sind; das allzu Überzeugende schmeckt durch. Daher wird der Geist ihrer bald überdrüssig; sie wechseln wie die Patentmedizinen mit jeder Generation. Erst in der Rückschau werden sie wieder annehmbar.

Das gilt natürlich nur für eine Sprache, der das Wort nicht als bloßes Verständigungsmittel dient und der die ziffernmäßige Exaktheit nicht genügt. Wir können daher auch Gottfried Benn nicht in der Meinung beistimmen, daß der terminus technicus sogar in das Gedicht gehört. Sie entspricht einer nicht zu haltenden Grenzlage, fast einer Kapitulation.

Zu allen Zeiten ist der Rang eines Geistes am Eifer zu erkennen, mit dem er sich auf solche Wörter einläßt oder nicht. Außerdem bringen sie die Spezialisten auf den Plan. Wenn jemand es unternimmt, einen Wald zu beschreiben, kann er sich nicht mit den Kennern der Pflanzengallen, der Maulwurfsnester und der Maikäferbekämpfung einlassen. Er tut gut daran, von vornherein einzuräumen, daß all diese Geister ihm gegenüber recht haben.

Das hat aber nichts mit dem Walde zu tun. Die Absicht, einen Wald zu beschreiben, verrät eine von den Fakultäten unabhängige Qualität. Es ist dabei sogar unwichtig, ob der Wald richtig beschrieben wird oder nicht. Eine Summe von Richtigkeiten ergibt noch keine Wahrheit; eine Summe von Blättern höchstens ein Buch, aber noch keinen Baum.

Wenn daher hin und wieder eine skeptische Wendung gegen die Naturwissenschaften nicht unterdrückt sein sollte, so ist das cum grano salis zu verstehen. Die enorme geistige Arbeit, die hier sowohl von den Einzelnen wie in den Kollektiven geleistet wird, zeugt für sich durch die Veränderung der Welt. Vielleicht kündet sich hier der neue Mönchsorden an, den Joachim von Fiore als wirkende Kraft für ein Zeitalter des Geistes verkündet hat.

Es ist ja auch kein Grund vorhanden, aus dem ein scharfer Kopf nicht von einem großen Menschen getragen werden könnte; das Menschliche ist dann sogar besonders geglückt. Ein Geist kann in der Fakultät wie auch in der Qualität hervorragen, ein großer Physiker auch ein guter Metaphysiker sein. Dafür gibt es Beispiele. Die Fakultät allein dagegen sichert weder Welt noch System.

Wenn also der kalkulierende Verstand als Erdverfeinerung, als zoologisches Kennzeichen begriffen wird, so richtet sich das nicht gegen den Träger dieser Fähigkeit. Aber es ist nicht zu bezweifeln, daß eben dieses Wissen auch den Pflanzen und Tieren innewohnt. Wenn wir ihre Listen, ihre Bauten, ihre Kunstfertigkeit betrachten, wie das im 19. Jahrhundert, der großen Zeit der Zoologie, so musterhaft geschehen ist, müssen wir zugeben, daß sich von ihrem Scharfsinn bis zu dem unseren Schritt für Schritt ein Übergang vollzieht. Was dort vor sich geht, erfahren wir erst im Fortschritt unserer Einsichten. Wir werden es nie ganz wissen. Des Ultraschalles bediente sich, längst ehe es Menschen gab, die Fledermaus. Indessen zu einem kurzen Gedicht wie diesem:

Die Linien des Lebens sind verschieden,

Wie Wege sind, und wie der Berge Gränzen.

Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen

Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.

führt niemals ein solcher Übergang. Da ist der Sprung, die hohe Verwirklichung zum Menschen, die tiefste Einheit mit der Welt. Da gibt es keine Erklärungen.

Wir können daher auch Oswald Spengler nicht zustimmen in seiner Aufforderung an die neue Generation: »sich der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik zuzuwenden« – obwohl man gewiß vorm Sprung das Überflüssige ablegen muß. Wir alle haben es, mehr oder weniger widerstrebend, gemußt. Aber das Gedicht gehört zum Wesen des Menschen, nicht zum Gepäck. Es bleibt sein Ausweis, sein Kennzeichen, sein Losungswort.

MESSBARE UND SCHICKSALSZEIT

Gedanken eines Nichtastrologen zur Astrologie

4

Der Umfang, in dem die Astrologie in das tägliche Leben eindringt, berechtigt uns zu der Vermutung, daß hier mehr als eine bloße Mode sich geltend macht. Wir finden astrologische Voraussagen und Hinweise nicht nur in volkstümlichen Kalendern und als feste Sparte im Text der Tages- und Wochenblätter, sondern auch in den Anzeigen. Auch wer den astrologischen Typen und Prognosen Wirklichkeit nicht zubilligt, kann nicht bestreiten, daß sie in wachsendem Maße beachtet werden und damit Wirkung ausüben. Fast jeder kennt heute sein Sternzeichen und mit ihm einen Aspekt seines Wesens, der bis vor kurzem den meisten unbekannt war, der ihnen wenig oder nichts bedeutete.

Der Einbruch geschieht nicht ohne Widerstand. Die Einwände gegen die Astrologie sind uralt wie die Sterndeutung selbst. Zuerst waren es die Theologen, die Ärgernis nahmen, sodann die Philosophen, und heute treten die Naturwissenschaftler ihre Nachfolge an. In ihren Organen wiederholt sich der Aufsatz gegen den »Unfug der Astrologie«, in dem belegt und nachgewiesen wird, daß es sich hier weder um eine Wissenschaft handle noch überhaupt um einen logisch ernstzunehmenden Zusammenhang.

Wir haben hier, noch deutlicher als in der Farbenlehre, zwei nicht zu vereinbarende Standorte. Was würde aber der Nachweis bedeuten, daß etwa das Schachspiel keine Wissenschaft sei? Würden deshalb seine Kombinationen weniger geistreich sein? Würde die Zahl der Schachspieler abnehmen? Das Schachspiel hat insofern Ähnlichkeit mit der Astrologie, als es weder zu den Wissenschaften noch zu den Künsten zählt. Es ist eben ein Spiel und hat als solches unzählige Menschen beglückt. Auch darin ähnelt es der Astrologie, daß seine Figuren an bestimmte Bewegungen gebundene Typen sind.

Bei der Astrologie tritt noch der mantische Charakter, die Schicksalsweisung und Schicksalsdeutung hinzu. Das erinnert wiederum an andere Spiele, etwa an kreisende Glücksräder, wie die Roulette, oder an solche, bei denen man aus aufgeschlagenen oder geworfenen Zeichen die Zukunft zu deuten sucht. Das geschah in alten Zeiten auch mit den Buchstaben, woraus sich nicht nur ihr Name, sondern auch das Wort »lesen« erklärt. Es waren mit Runen gezeichnete Stäbchen, die geworfen und aufgelesen wurden, wie Tacitus es schildert und wie es in ähnlicher Weise in China noch heute gebräuchlich oder bis vor kurzem gebräuchlich gewesen ist. Hierher gehört auch das augurium, die Beobachtung des Vogelzuges und seine Ausdeutung.

Von diesen Spielen und Orakeln unterscheidet sich die Astrologie dadurch, daß sie nicht nur über ein System von Feldern und Zeichen verfügt, sondern daß diese Zeichen auch ihren Periodus besitzen, daß sie in bestimmter, berechenbarer Weise sich entfernen, wiederkehren und Zeit setzen. Wir sehen hier die Umdrehung des großen Rades noch auf die altvertraute Weise, die dem Menschen das Gefühl der Mitte, wohnlicher Sicherheit verleiht. Er hat noch ein Gewölbe über sich. Dort kehren die festen und die bewegten Zeichen wieder, und zwar auf mathematisch berechenbare Art. Diese Verknüpfung eines flüchtigen Schicksalsdatums mit dem unerschütterlichen Gang der Weltenuhr verleiht der Astrologie ihren eigentümlichen Reiz, der sie alle anderen mantischen Künste und Operationen überdauern ließ. Ihm gesellt sich die Deutung der Konstellationen, die hohe und nicht nur verstandesmäßige Geisteskräfte in Anspruch nimmt.

Die Konstellation des Horoskops ist nicht, wie beim Schachspiel, durch eine Reihe von kombinatorischen Schlüssen entstanden, sondern durch die Fixierung des Weltenrades im Augenblick und am Orte der Geburt. Das menschliche Sein wird damit auf eine Bewegung bezogen, die vom Willen und auch von anderen Größen, wie Rasse und Erbteil, unabhängig ist und der es sich nur durch Ort und Stunde des Eintritts in die Welt verknüpft. Nicht diese Welt und ihre Güter – die Sterne bestimmen das eigentliche Haus. Ein neues Rädchen beginnt inmitten des ungeheuren Umlaufs seinen vorgeschriebenen Gang. Das Horoskop des Menschen gilt als Abbild der Weltenuhr. Aus ihrem Stande soll das Gesetz ermittelt werden, »nach dem er angetreten« ist.

Der Blick auf den gestirnten Himmel ist nicht nur bildend und erhebend, sondern er offenbart zugleich dem Menschen die Grenzen seines Wissens und seiner Macht. Zahlreiche, zu Zitaten gewordene Worte unserer Größten geben Zeugnis dafür. Insofern ist die Sternschau numinos im besten Sinn. Daß sie zugleich als ominös gewertet wird, entspricht dem menschlichen Charakter, und ebenso die Tatsache, daß auf diese zweite Wertung die Anziehung sich gründet, welche die Astrologie auf die Massen übt. Dem Menschen hat von jeher sein Da-Sein mehr gegolten als sein So-Sein: die Schicksalslinie, ihre Länge, ihr Glück und Unglück mehr als der eigentliche Stoff des Schicksals, der allem Bedeutung gibt. Macht gilt ihm mehr als Einsicht, Reichtum mehr als Charakter, die Länge des Lebens mehr als sein Inhalt, Schein mehr als unveräußerliches Sein.

Daher haben auch jene stets Undank geerntet, die dem Menschen zur Selbsterkenntnis verhelfen, die ihm sein Wesen deuten wollten, während der Zulauf den Weissagern galt.

5

Bekanntlich läßt sich beim Schachspiel eine Reihe von Zügen vorausberechnen – man kann mit Bestimmtheit sagen, daß dieser richtiger als jener, und oft sogar, daß ein anderer der beste sei. Auf diese Tatsache gründen sich die Handbücher der Eröffnungen.

Die Voraussage ist freilich nur für eine begrenzte Zahl von Zügen möglich, nach denen die Partie ins Unberechenbare führt, selbst wenn man das Wort arithmetisch nehmen will. Der Schachspieler mit guter Theorie gleicht einem Schwimmer, der im Meer für einige Schritte festen Grund hat, dann aber sich der Tiefe und seinen Kräften anvertrauen muß.

Ähnlich verhält es sich mit der Beurteilung einer abgebrochenen Partie. Auch hier läßt sich das Dickicht auf eine gewisse Distanz aufhellen. Dabei kann es allerdings vorkommen, daß gerade das, was man den genialen Schachzug nennt, übersehen wird. Immerhin darf man annehmen, daß einige gute Köpfe, die sich mit einer Position beschäftigen, das Beste herausholen.

Der im wissenschaftlichen Sinn perfekte Spieler müßte jeweils mit dem besten Zuge aufwarten. Das würde Berechnungen voraussetzen, die über die menschliche Kombinationskraft hinausgehen. Es fragt sich sogar, ob eine der großen Rechenmaschinen unserer oder auch einer künftigen technischen Ausrüstung dazu hinreichten. Wir wollen aber unterstellen, daß es Apparate, Schachautomaten gäbe, die jeweils den stärksten Zug ermittelten. Was würde die Folge sein?

Zunächst würde die Partie, gleichviel ob einer oder beide Partner mit solchen Rechnern ausgestattet wären, den Charakter des Spiels verlieren; sie würde zum technischen Akt. Zugleich wäre es mit dem Reiz des Spieles vorbei, mit der Eigenart der Begegnung zweier Intelligenzen, zweier Temperamente und Charaktere auf einem abgesteckten Plan. Es würde entfallen, was das Spiel zum Turnier macht – der kühne Angriff, die zähe Verteidigung, die listige Verschleierung, der überraschende Sprung, und auch der Sieg verdiente diesen Namen nicht mehr.

Statt dessen würde es ein nach allen Richtungen hin durchdachtes und abgedecktes Spiel geben. Der Stil der Eröffnung würde sich durch die ganze Partie hinziehen. Es würde weder Sieg noch Niederlage geben, sondern eine perfekte Partie würde zum remis führen. Wenn wirklich der jeweils stärkste Zug errechnet würde, so könnte bei gleicher Eröffnung nur eine, die optimale, Partie ablaufen. Sie würde sich in ihren Einzelheiten wiederholen wie ein Film.

Es leuchtet ein, daß das nicht der Sinn des Spieles sein kann. Spiel und Kunst schließen die Verwendung technischer Hilfsmittel aus. Nicht aber die Wissenschaft. Wo die wissenschaftliche Methodik mit ihrer Technik in das Spielfeld eindringt, wird der Genuß, wird die Freiheit des Spieles zerstört. Der Zwang breitet sich aus. Darauf beruht nicht nur der Unterschied der griechischen Olympiade von der unseren, sondern überhaupt die Verödung weiter Gebiete, auf denen, was früher als Spiel, als Wettkampf oder auch als Kampf getrieben wurde, von der Technik zugleich der Perfektion genähert und im Wesen vernichtet wird.

6

Bei der astrologischen Konstellation handelt es sich nicht um die Beurteilung eines ungemischten Spieles oder einer Partie, bei der die Figuren in der Ausgangsstellung stehen. In dieser Hinsicht erinnert sie mehr an ein Kartenspiel: die Blätter sind bereits gemischt und zugeteilt. Das Spiel ist voll entwickelt; die Partie steht auf dem Höhepunkt. Vielleicht sind wichtige Figuren dem Spieler vorenthalten, andere stehen in schlechter Position. Hier gibt es kein Recht und keinen Anspruch; das Schicksal teilt seine Lose aus.

Es fragt sich nun, was von der Beurteilung erhofft, erwartet werden darf. Kann es für den Menschen von Wert sein, zu erfahren, ob die Partie gewonnen oder verloren werden wird? Dazu müßte zunächst bestimmt werden, was Gewinn und Verlust bedeuten und ob sie als Schicksalsqualitäten verschiedenes Gewicht haben. Im Grunde verliert jeder die Partie. Der letzte Zug wird von einer anderen Hand geführt. Diesen Gedanken vertrat jener, der sagte, das beste wäre, nicht geboren zu sein.

Auch die Schachpartie endet nicht mit Gewinn und Verlust; sie endet damit, daß die schwarzen und die weißen Figuren vom Brett genommen und in den Kasten gesteckt werden. Dann bleibt etwas anderes zurück als Sieg oder Niederlage – es bleibt die Erinnerung an einen Stoff, der gewirkt, an eine Melodie, die gespielt worden ist. Es bleibt nicht Scipio. Es bleiben Scipio und Hannibal. Der eine konnte und kann auf ewig nicht ohne den anderen sein. Der Gewinn liegt nicht im letzten Zuge, er liegt in der Endsumme.

In anderer Hinsicht gleicht das Leben eher einer der Patiencen, bei denen an den aufgelegten Karten zwar nichts zu ändern ist, die aber in diesem Rahmen Kombinationen zulassen. Der einsame Spieler sucht das Zugeteilte zu ordnen und hinauszuführen, soweit es ihm gelingt. Dabei kann die günstige Ausgangsposition verdorben, die ungünstige durch unerwartete Lösungen gekrönt werden. Ein Mensch wird als Fürst geboren und endet auf dem Schafott; ein blindes und taubstummes Kind findet durch einen winzigen Spalt in seiner Höhle den Zugang zu höheren Welten und erntet dort Schätze ein.

Freilich läßt sich auch das als zugeteilt betrachten. Der Streit um Freiheit und Schicksal führt durch alle Ebenen; er endet auf Erden nie. Es ist möglich, daß sowohl der Fürst wie das Kind ihre Aufgabe erfüllt haben, denn auch der Preis ist nicht der Gewinn. Die Partie bleibt die gleiche, ob es um eine Krone oder um eine Handvoll Nüsse geht. Diogenes schätzte den Platz an der Sonne höher als den Besitz von Asien. Und die »Krone des Lebens« kann im Martyrium verdient werden.

Weder Gewinn oder Verlust noch Art und Höhe des Preises lassen sich durch astrologisches Wissen beeinflussen. Medizinisch gesprochen, kann die Deutung zwar Prognose und Diagnose, aber sie kann kein Rezept geben. Sie kann den Stil beurteilen, aber kaum beeinflussen. Ebenso kann die Absicht der Graphologie nicht in der Verbesserung der Schrift liegen. Der Versuch würde nicht über die Norm hinausführen; er würde sogar schädlich sein. Wir gewinnen den Duktus, wenn wir vergessen, daß wir schreiben gelernt haben. Ein Mensch, der bewußt nach dem Horoskop leben würde, gliche einem Schüler, der nach der Vorlage schreibt. Er würde nie über den Stand des Schülers hinauskommen. Die Fehler gehören zum Leben wie der Schatten zum Licht. Außerdem entzieht uns die Kenntnis der Stunde dem Griff des Schicksals nicht. Das ist ein Gedanke, der Shakespeare und Schiller faszinierte, ein Thema für Geister, denen das Leben als Drama erscheint. Cäsar und Wallenstein waren gewarnt worden.

Es fragt sich nach all diesen Einschränkungen, was überhaupt von der Deutung erwartet werden darf. Sie mag entbehrlich scheinen, wenn sie nichts ändern oder bessern kann, bedenklich sogar, indem sie Unabänderliches anleuchtet. Das führt dann zu der Frage, warum ein so starkes Bedürfnis nach Deutung besteht.

Wie jedes Bedürfnis, ist auch dieses ein Ausdruck der Unzufriedenheit. Es entspringt der Vermutung, daß ein Ergänzendes hinzutreten müßte, damit das Spiel seine Bedeutung erhält. In diesem Sinn ist der Deutende der Hinzutretende, der zwar nichts ändert, aber Sicherheit verleiht.

7

Wenn im Schachspiel der König bedroht wird, die Dame sich opfert, ein Bauer in den ersten Rang rückt, so ist das über die Partie hinaus bedeutend, weil sich darin Figurationen der Weltordnung abspiegeln. Aber auch in den Bewegungen des geschichtlichen Königs spiegelt sich ein anderes Königtum.

Das Treiben in den Schalterräumen einer Großbank, in denen Papiergeld, Wechsel, Schecks und andere Symbole von Hand zu Hand gehn, erweckt den Eindruck angespannter und ausgefüllter Tätigkeit. Je besser die Konjunktur ist, desto weniger wird man auf den Gedanken kommen, daß diese Tätigkeit sich auf einer dünnen, fiktiven Decke abspielt, die für Transaktionen geschaffen ist. Und doch sind diese Papiere »an sich« wertlos; sie gelten in Hinsicht auf ein anderes, etwa auf Arbeit, Land, Güter oder in den Kellern gehortetes Gold. Das ist ihre Voraussetzung. Der Zusammenhang zwischen dem Umsatz und seiner Deckung ist lose, meist unsichtbar. Wer eine Banknote annimmt, läßt sich nicht das Gold im Keller zeigen, das sie bedeutet, ja er denkt daran so wenig, daß es fast gleichgültig scheint, ob es dort vorhanden ist oder nicht. Die meisten Leute, die eine Hypothek besitzen, waren nie in dem Hause, auf dem sie ruht.

Immer aber bleibt ein Schatten der Unsicherheit, ein Mißtrauen, das sich in den Krisen steigern wird. Damit wächst das Bedürfnis, zu sehen, was die bedruckten Papiere bedeuten: Land, Weizen, Häuser, Goldbarren. Oft werden die Güter an entfernten, unzugänglichen Orten lagern; dann ist es schon beruhigend, von jemandem zu hören, daß er sie gesehen hat. Das ist der Hinzutretende.

Das gleiche Bedürfnis herrscht im Leben überhaupt. Zu hören, daß seine Taten, Werke und Begegnungen noch etwas anderes bedeuten, als man gemeinhin annimmt, daß sich in ihnen große Mächte spiegeln und sie mit Sinn belehnen, kurzum: daß er ein Schicksal habe – das zu vernehmen, ist offenbar für den Menschen ein unausrottbares Anliegen. Je mehr der Umsatz, der Umtrieb zunimmt, je mehr das Leben großstädtisch, technisch-abstrakt wird, desto stärker muß dieses Anliegen hervortreten. Das wird besonders dann der Fall sein, wenn es zu Krisen oder gar zu Katastrophen kommt, angesichts deren der technische Optimismus bedroht wird oder zusammenbricht. Dann fühlt der Mensch sich einer Deutung bedürftig, eines Hinweises auf Mächte, die außerhalb der Zirkulation liegen. Dazu bedarf er des Hinzutretenden.

Das ist der Grund für die erstaunliche Anziehungskraft der Astrologie in unserer Zeit, und nicht für sie allein. Ihre Stärke liegt nicht darin, daß sie die Prinzipien der Gegenwart verkörpert, sondern darin, daß sie ihnen widerspricht. Daher argumentiert der Astrologe, der seine Kunst als Wissenschaft verteidigt, nicht auf dem Feld seiner Stärke; sie führt ihn über die Wissenschaft hinaus. Als wissenschaftlich darf er sein Handwerkszeug bezeichnen, aber die mathematisch-astronomische Berechnung kann nur in den Kreis führen, in dem die synoptische Schau auf die Konstellation beginnt. Dort muß Divination hinzutreten.

8

Über die Realität der Astrologie soll kein Urteil gewagt werden. Der Streit um das, was wirklich an ihr ist, wird aufschlußreicher, wenn man sich nicht an ihm beteiligt – wird er doch auf einem Felde geführt, auf dem zwei Arten der Weltbetrachtung schroff aufeinanderstoßen wie auf keinem anderen. Das gibt uns eine Ahnung von der Vollkommenheit des umstrittenen Gegenstandes, der unsichtbaren Welt.

Es wird für Menschen ewig müßig bleiben, über das zu streiten, was in den Sternen geschrieben steht. Unbestreitbar jedoch bleibt ihr Bedürfnis nach Schicksalserforschung, das unausrottbar ist und durch kein Wissen befriedigt werden kann. Der Astrologe, der um die Anerkennung seiner Einsicht als Wissenschaft sich abmüht, geht daher in verkehrter Richtung; der Erfolg würde ihm ebensowenig nützen wie die Erfindung des Schachautomaten den Schachspielern.

Es gibt Schätze, die sich verändern mit der Art des Schlüssels, den man benutzt. Zu ihnen gehört das Gold. In seinem sichtbaren Glanze spiegelt sich mythische Macht. Verlöre es diesen Schimmer, so würde es ein Stoff sein wie jeder andere.

Man kann nicht beweisen, daß dem Gold ein Vorrang vor anderen Metallen gebührt. Weit eher ist beweisbar, daß seine Schätzung auf Vorurteil beruht. Gelänge, überzeugte dieser Nachweis, so würden die in den Tresoren aufgehäuften Schätze ihren Kurs verlieren, sie würden nach ihrem Industriewert taxiert werden. Sie würden jene Qualität einbüßen, deretwegen der Mensch Leben und Ehre einsetzt, Entdeckungsfahrten rüstet, sich in alchimistische Spekulationen verirrt.

In der Tat werden Angriffe aus dieser Richtung gegen den Mythos des Goldes geführt. Sie könnten gelingen, wenn das technisch-ökonomische Denken absolut würde, etwa in einer Welt, die weder Blumen noch Schmuck mehr kennt. Gold würde nicht Gold mehr sein.

Ebenso wäre berechenbares, meßbares Schicksal nicht Schicksal mehr. Das Schicksal darf geahnt, gefühlt, gefürchtet, aber es darf nicht gewußt werden. Verhielte es sich anders, so würde der Mensch das Leben eines Gefangenen führen, der die Stunde seiner Hinrichtung kennt.

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Bei den Plädoyers für und gegen die Bedeutung des Horoskops sollte jede Partei nur Argumente anführen, die auf ihrem eigenen Felde gewachsen sind. Das gilt bereits für die Erwägung, ob die Rolle der Geburt nicht überschätzt wird, insofern sie, verglichen mit der Zeugung, nur transitorischen Charakter trägt. Tatsächlich findet sich in der Geschichte der Astrologie nicht selten die Bevorzugung des Empfängnishoroskops gegenüber dem Geburtshoroskop, so schon bei den Babyloniern und besonders in der hellenistischen Zeit. Man kannte daher Stunden und Tage, die für die Zeugung als günstig galten; der Grieche sagte »Ich pflanze einen Menschen«, wie man sagt: »Ich pflanze einen Baum.«

An sich ist die Unterscheidung freilich zweiten Ranges; denn wenn überhaupt Schicksalszeit vermutet wird, so muß sie nicht weniger durchlaufen als die astronomische oder die mechanische Zeit. Nur ist sie nicht in gleicher Weise teilbar; ihre Stunden folgen sich wohl, aber sie gleichen sich nicht. Hier herrscht derselbe Unterschied wie zwischen dem Kirchenjahr und dem astronomischen Jahr. Die Feste sind ungleichmäßig verteilt und fallen auch auf verschiedene Kalendertage, wobei der Name »Fest« auch Tod und Leiden umfaßt. Im Festjahr verbirgt sich das große Horoskop »des Menschen«, die Koordinierung seiner Laufbahn mit dem Sonnenjahr. Das ist eine Uhr, die die Kirchen nicht schaffen, sondern als Hinzutretende deuten, wie ja die Rolle des Priesters von jeher die des Hinzutretenden war. Es ist ein Rad, in dessen Speichen sie mitschwingen, weswegen die Feste auch älter als die Kirchen sind. Die Annahme einer neuen Weltzeit, etwa aus technischen oder ökonomischen Rücksichten, würde die Kirche nicht nur in ihrem Ritual, als zeitsetzende Macht, sondern zugleich in ihrem Kern treffen: als zeitempfangende.

Wenn die Schicksalszeit durchläuft, obgleich in einem anderen Rhythmus als die astronomische, so müßte die Kenntnis einiger Knoten genügen, um das Netz zu beurteilen und um zu ahnen, was darin gefangen werden kann. Zeugung, Geburt und Tod müßten in notwendiger Relation stehen, die Ermittlung von günstigen und ungünstigen Tagen möglich sein. Die Unterscheidung zwischen Geburts- und Zeugungshoroskop wäre sekundär. In der Tat sucht man in der astrologischen Praxis aus wichtigen Lebensdaten auf die Konstellation zu schließen, vor allem dann, wenn über die Geburtsstunde Zweifel herrschen oder sie auf einen bedeutenden Schnittpunkt fällt.

Die eigentliche Schwierigkeit, ein solches Verhältnis durchzurechnen, liegt weniger in den Befunden als in ihrer Beurteilung. Wir wissen zu wenig vom Rang der Begegnungen. In unseren Träumen wird er spürbarer. Was wir für groß halten, kann nichtig sein, was wir als Unglück empfinden, günstig, und umgekehrt. Ein Lotteriegewinn kann unser Unglück einleiten, eine Verwundung uns dem Untergang in einer Kesselschlacht entziehen. Der Hinzutretende müßte dem Geborenen zunächst mitteilen, was wichtig für ihn ist. Das Urteil ändert sich mit der Eigentümlichkeit des persönlichen Schicksals und seiner Aufgabe. Es lassen sich daher aus jedem Datum, auch aus dem der Geburt und der Zeugung, nur Schlüsse ziehen, nur Annäherungen erreichen, nicht aber bestimmte Aussagen. Freilich können diese Schlüsse Wichtigeres berühren als die historischen Ereignisse eines Lebens, nämlich den Grund, von dem diese Ereignisse abhängen und durch den sie geformt werden. Bis zu welcher Tiefe das geschieht, hängt von der deutenden Sicht des Hinzutretenden ab.

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In diesem Zusammenhang sei eine andere Schwierigkeit gestreift, die sich auf die Beurteilung der Charaktere bezieht.

Der Grapholog ist bekanntlich nicht imstande, mit Sicherheit zu bestimmen, ob eine Vorlage von einem Mann geschrieben wurde oder von einer Frau. Man könnte, angesichts dieses Unvermögens gegenüber einem so wichtigen Verhältnis, über seine Kunst den Stab brechen. Man kann aber auch zu einem anderen Schluß kommen, nämlich zu dem, daß der Charakter tiefer gegründet ist als das Geschlecht. Dem würden Ontologen, Psychologen und Mythologen zustimmen. In diesem Falle ist die Kenntnis des Geschlechtes wertvoll für die Beurteilung des Schreibers, aber sie geht nicht mit Notwendigkeit aus der Beurteilung hervor. Mit anderen Worten: es ist für das Schicksal eines Menschen von geringerer Bedeutung, ob er als Mann oder als Frau geboren wurde, als ob ihm männliche oder weibliche Charaktere zuteil wurden. Das aber läßt sich aus der Handschrift ablesen. Es mag als Beispiel dafür dienen, daß Wissen und Deuten verschiedene Schwerpunkte haben; hier wie dort gibt es Dinge, die sichtbar, und andere, die verborgen sind. Es gibt daher zwischen beiden kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch.

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Der Kampf des Gelehrten gegen die Astrologie hat etwas vom Angriff gegen die Windmühlen. Er hält die Astrologie für eines der Gebäude, in deren Bauplan er bewandert ist. Er mißt es an den Maßen der Logik und ihres Erkenntnisstils und hält es für schlecht konstruiert. Er übersieht dabei den Unterschied, der zwischen Begriff und Anschauung, zwischen abstraktem und konkretem Wissen, und insbesondere den, der zwischen Wissen und Weisheit besteht. Darum richten seine Angriffe auch wenig aus. Er sieht mit Ingrimm das von ihm Verachtete sich ausbreiten.

Wenn wir unvoreingenommen das Gebäude der Astrologie betreten, wird uns bald spürbar, daß dort in der Tat ein Wissen obwaltet. Wir fühlen, daß sich unsere Augen schärfen und astrologische Typen wahrnehmen, oder wenigstens Typen, die den astrologischen ähnlich sind. Freilich sind diese Typen nicht meßbar wie Figuren der Geometrie. Und darin liegt ihre Qualität. Sie haben keinen Ziffernwert.

Wir wollen über die Realität der astrologischen Typen kein Urteil abgeben. Ohne Zweifel gibt es ein So-Sein des Menschen, das tief unter seinen Eigenschaften ruht und das sich in den Zügen des Körpers, des Geistes und des Charakters einheitlich offenbart. Lehren, die uns die Kenntnisse dieses So-Seins vermitteln würden, wären von großem Wert für uns. Sie würden uns nicht nur in unserer Bahn durch Raum und Zeit sichern und fördern, sondern auch hinsichtlich unserer Ergänzungen.

Der Blick, der den Menschen in seiner schicksalhaften Tiefe erfaßt, dringt bis zum Grunde, auch bis zum Grunde von Feindschaft und Harmonie. Er sucht den Menschen zu ergreifen mit seinen Tugenden und Fehlern, die wie Licht und Schatten ineinander einspielen. Vorzüge und Fehler besagen an sich nichts für oder gegen die Harmonie. Sie können sich ergänzen wie Schloß und Schlüssel; und daß Vorzüge sich summieren, ist ein Vorurteil. Der Fehler des einen kann uns fördern, die Tugend des anderen schädlich sein. Wer Menschen betrachtet, wie man Tier- und Sternbilder betrachtet, erkennt sie jenseits ihrer gesellschaftlichen und moralischen Sphäre, in ihrer notwendigen Art. Gerade deshalb hat er ein besseres Urteil über den Ort, an dem sie sich dem Ganzen einfügen, über ihren Rang in der Konstellation. Und für jeden gibt es einen solchen Ort.

Würde die Astrologie nur dazu dienen, den Blick für die notwendige Eigenart des Menschen zu schärfen, so wäre das schon viel in einer Zeit, die diese Eigenart verwischt, vertuscht, verbilligt wie keine andere. Es handelt sich hier weniger um einen Gewinn an Wahrheit als an bildender Kraft. Die astrologischen Figuren sind Formen, nicht anders als Figuren des logischen Kurses, der Übung im Denken beabsichtigt. Ist das gelungen, so mag man den Modus Barocco und Modus Barbara vergessen; sie haben ihren Dienst getan.

Ganz ähnlich ist es mit den Typen der Astrologie. Sie sind nicht die einzigen. Und sie deuten Wirklichkeiten nur an. Aber sie schließen inmitten einer immer schneller werdenden Bewegung eine ruhende Tiefe auf. Sie führen den Geist in verfallene Schachtgänge. Dort bleibt er nicht ohne Ausbeute.

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Hierzu ein Weiteres. Die Naturwissenschaften erobern sich einen immer stärkeren Anteil an unserer Bildung und Ausbildung. In den Lehrplänen ist das, wie bekannt, auf Kosten der Humaniora geschehen. Weniger bekannt ist die Verlagerung innerhalb der Naturwissenschaften selbst, die die beschreibenden Fächer immer mehr zugunsten der angewandten verdrängt. Zu einem Physikum gehört heute eine Unmenge chemischen Wissens, kaum Botanik, kaum Zoologie. Diese beschreibenden Fächer waren Typenlehren; sie weichen dynamischen und funktionalen Systemen, zu denen seit langem auch die Biologie gehört. Dazu kommt die Zerstörung der Vorbilder in der Geschichte durch eine ameisenhafte, dem Mythos, dem Nomos und der Paternität feindliche Tätigkeit und endlich die wachsende Abneigung gegen die metaphysischen und selbst die erkenntniskritischen Studien, die dazu geführt hat, daß der Verstand auf ganz naive Weise sein Urteil und seine Maßnahmen von der empirischen Welt und ihren Ereignissen abhängig macht.

Das liegt im Zuge der Zeit und ihrer wachsenden Beschleunigung. Diese Beschleunigung ist allgemein. Der Wunsch, sie dort zu bremsen, wo ihre Nachteile empfindlich werden, ist verständlich, aber er wird Wunsch bleiben, denn die Beschleunigung herrscht nicht nur in den äußeren Ringen und nicht nur in den technischen Wirkungen. Sie wird hervorgebracht und unterhalten durch eine Bejahung, die nicht in ethischer, sondern in schicksalhafter Tiefe ihre Aufgabe kennt. Da diese Aufgabe hart ist, wimmelt es in unserer Welt von Geistern, die entweder ihre Wissenschaft ändern müßten oder ihre Moral. Zu ihnen gehört der Lehrer, der seinen Schülern sonntags noviolence predigt, nachdem er sie in der Woche in die Finessen der Selektionstheorie einführte.

Sichtbarer wird das noch, wo die Naturwissenschaften zur praktischen Anwendung kommen, also in der technischen Welt. Wir brauchen dazu nicht gleich in die Zonen der großen Zerstörung zu gehen. Ein Blick auf den Alltag genügt, etwa auf den Verkehr mit seinen drohenden Warnungen, der Technik des Überholens, in der Wettlauf und Brutalität sich paaren, dem dämonischen Rausche der Geschwindigkeit. Wir fühlen die Stärke des Bannes, der uns zwingt; wir formen und verändern uns durch ihn. Daß es dabei zahllose Tote geben muß, wird unmittelbar anschaulich. Der Unfall ist nicht zu vermeiden, denn er entspringt nicht technischen Mängeln, sondern dem Denk- und Willensstil einer Epoche, ihrem triebhaften Zug. Das Opfer wird auf der Oberfläche abgehandelt, dort wo das Versagen des Individuums und seiner Mittel eine Rolle spielt. Im Grunde, vom Typus aus, wird es bejaht. Die Opfer werden als notwendig erkannt. Niemand würde auf den Gedanken kommen, die Luftfahrt aufzugeben, weil in der Woche hundert Menschen oder mehr in Flammen aufgehen. Jeder nimmt dieses Risiko auf sich, der ein Flugzeug besteigt. Das ist ein erstaunlicher Zug innerhalb einer Epoche, der der Heroismus anrüchig wird. Wir werden darauf noch eingehen.

Gogol sah in der berühmten Vision der »Toten Seelen« Rußland als Troika auf rasender Fahrt zu einem unbekannten Ziel. Für unsere Bewegung möchte eher der Vergleich mit einem Geschoß zutreffen, das in wachsender Beschleunigung den Raum durcheilt. Wer hat es abgeschossen, und wer möchte es aufhalten? Sogar die Ortung wird schwierig, ja fast unmöglich, wo die Bewegung Ufer und Mitte verliert.