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Der herzzerreißende Auftakt der »Between us«-Reihe von Nina Bilinszki: Was macht das Leben aus, wenn dein größter Traum zerstört wurde? Avery Cole will nichts anderes als Ballett tanzen, doch dann zerstört ein schwerer Autounfall ihren Lebenstraum. Sie wird nie wieder tanzen können. Am Boden zerstört beginnt Avery ein Studium am LaGuardia Community College – obwohl sie eigentlich gar nicht weiß, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Und dann begegnet sie in ihrer ersten Vorlesung auch noch einem Typen, der arrogante Kommentare über ihre Verletzung ablässt: Theo Jemison, dem gefeierten Star-Schwimmer des Colleges. Nur dumm, dass Schwimmen eine der wenigen Sportarten ist, die Avery mit ihrem kaputten Rücken noch bleiben. Und natürlich ist es ausgerechnet Theo, der ihren Kurs trainiert. Wohl oder übel verbringt sie mehr Zeit mit ihm und lernt eine völlig andere und viel nettere Seite von ihm kennen, die er sorgsam hinter der arroganten Fassade verbirgt. Doch als er sie plötzlich wieder von sich stößt, muss sich Avery fragen, wer der wahre Theo ist ... »Eine berührende Liebesgeschichte über zweite Chancen und die Suche nach Plan B. Ich habe von der ersten Seite an mit Avery und Theo mitgefiebert. Absolute Leseempfehlung!« Laura Kneidl Die neue New Adult-Reihe von Nina Bilinszki: »An Ocean between us« »A Fire between us«
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Nina Bilinszki
Roman
Knaur eBooks
Avery Cole will nichts anderes als Ballett tanzen, doch dann zerstört ein schwerer Autounfall ihren Lebenstraum. Sie wird nie wieder tanzen können.
Am Boden zerstört beginnt Avery ein Studium am LaGuardia Community College – obwohl sie eigentlich gar nicht weiß, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Und dann begegnet sie in ihrer ersten Vorlesung auch noch einem Typen, der arrogante Kommentare über ihre Verletzung ablässt: Theo Jemison, dem gefeierten Star-Schwimmer des Colleges. Nur dumm, dass Schwimmen eine der wenigen Sportarten ist, die Avery mit ihrem kaputten Rücken noch bleiben. Und natürlich ist es ausgerechnet Theo, der ihren Kurs trainiert.
Wohl oder übel verbringt sie mehr Zeit mit ihm und lernt eine völlig andere und viel nettere Seite von ihm kennen, die er sorgsam hinter der arroganten Fassade verbirgt. Doch als er sie plötzlich wieder von sich stößt, muss sich Avery fragen, wer der wahre Theo ist ...
Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Epilog
Danksagung
Playlist
Leseprobe »Two Hearts One Lie«
Für Caro
Die beste Parabatai,
die man sich wünschen kann
Februar
Ich fuhr blind.
Der Regen prasselte auf meine Windschutzscheibe, und obwohl die Scheibenwischer in der höchsten Geschwindigkeit liefen, konnte ich die Straße kaum erkennen. Dunkle Wolken hingen tief am Himmel und vermittelten das Gefühl, als hätte die Dämmerung bereits eingesetzt, dabei war es kaum drei Uhr nachmittags. Der Wind fegte Äste und allerlei Gestrüpp über den Asphalt und rüttelte meinen kleinen Fiat ordentlich durch. Krampfhaft hielt ich das Lenkrad fest, um nicht die Kontrolle über den Wagen zu verlieren.
Normalerweise wäre ich nicht im Traum auf die Idee gekommen, mich bei diesem Sturm ins Auto zu setzen, aber heute war ein besonderer Tag. Oder besser morgen. Da würde das Vortanzen für die Aufnahme an der Juilliard stattfinden. Und ich wollte es unbedingt schaffen.
Mein ganzes Leben hatte ich darauf hingearbeitet. Tanzen war alles, was ich je machen wollte. Jahrelanges hartes Training, strenge Diätpläne und kaum ein Leben neben dem Ballett würden sich endlich bezahlt machen. Hoffentlich.
Ich festigte meinen Griff um das Lenkrad und rutschte auf dem Sitz ein Stück nach vorne, um die Straße besser sehen zu können. Aber es war hoffnungslos. Eine graue Regenwand war alles, was ich ausmachen konnte, wie ein Schleier, der glitzernd von meinen Scheinwerfern in Szene gesetzt wurde.
Rechts und links von mir schossen die dunklen Schatten von Baumstämmen in den Himmel. Ich merkte, wie ich immer wieder halb auf die Gegenfahrbahn abdriftete, weil ich das Gefühl hatte, die Bäume würden näher kommen. Zum Glück schien ich die einzige Irre zu sein, die bei diesem Wetter unterwegs war. Seit ich die Kleinstadt Trenton, in der ich wohnte, verlassen hatte, war mir kein anderes Auto mehr begegnet.
»Avery? Bist du noch da?«, fragte meine beste Freundin Lizzy. Ihre Stimme kam verzerrt aus dem Lautsprecher meines Handys, aber es grenzte an ein Wunder, dass die Verbindung überhaupt noch hielt. Sie hatte darauf bestanden, mich wenigstens telefonisch nach New York zu begleiten, wenn sie schon nicht mitkommen konnte. Zuerst war ich dagegen gewesen, aber mittlerweile war ich dankbar, dass sie wenigstens auf diese Weise bei mir war.
»Ich sehe überhaupt nichts mehr«, sagte ich und blies mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, weil ich es nicht wagte, eine Hand vom Lenkrad zu lösen.
»Sei bloß vorsichtig.« Lizzy hörte sich besorgt an. »Vielleicht wäre es doch besser gewesen, erst morgen früh zu fahren.«
»Aber laut Wetterbericht soll der Sturm bis morgen noch stärker werden.« Außerdem war das Vortanzen für zehn Uhr angesetzt, und ich wollte nicht gehetzt und unausgeschlafen dort auftauchen. Nein, lieber fuhr ich heute, ging zeitig ins Bett und konnte morgen ausgeruht die paar Straßen von meinem Hotel zur Juilliard laufen.
»Ich mache mir halt Sorgen, bei diesem Wetter schickt man doch keinen Hund vor die Tür.«
»Außer mir ist auch niemand unterwegs, ich habe die Straße ganz für mich alleine«, versuchte ich Lizzy und mich selbst zu beruhigen. »Erzähl mir lieber was. Hat dein Bruder es geschafft, Brianna nach einem Date zu fragen?«
Lizzys Bruder Tyler war ein Jahr jünger als wir und unsterblich in unsere Klassenkameradin Brianna verliebt. Seit Wochen erzählte er uns, dass er sie fragen wollte, ob sie mit ihm ausgehen würde, hatte bisher aber nicht den Mut dafür aufbringen können.
Verzerrtes Lachen drang aus meinem Handy, als würde die Verbindung gerade schlechter werden. Ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass sie bis New York halten würde.
»Der kleine Feigling hat sich bisher natürlich nicht getraut. Zu Hause schwingt er immer große Reden, wenn er dann vor Brianna steht, bekommt er kein Wort über die Lippen und läuft rot an. Es ist irgendwie süß. Ich glaube, sie ahnt langsam was.«
»Aber du hast ihr nichts gesagt?«
»Natürlich nicht. Tyler würde mich in der Luft zerreißen.«
Tyler konnte keiner Fliege was zuleide tun und liebte seine Schwester abgöttisch, auch wenn sie sich ständig kabbelten, aber ich verstand, warum Lizzy nichts sagen wollte. Das wäre, als würde sie ihrem Bruder in den Rücken fallen.
»Aber hast du …«
Wie aus dem Nichts tauchten zwei Scheinwerfer aus der Dunkelheit auf. Zuerst nur schemenhaft, aber sie wurden rasch größer und schienen direkt auf mich zuzuhalten. Welcher Verrückte raste bei diesem Wetter so? Erschrocken blickte ich nach rechts, aber ich fuhr auf meiner Straßenseite. Wirkte es vielleicht durch den undurchdringlichen Regen nur so, als würde das entgegenkommende Auto direkt auf mich zuhalten?
Als ich wieder aufblickte, waren die Scheinwerfer direkt vor mir. »Scheiße«, entwich es mir. Jetzt konnte ich auch die schemenhaften Umrisse von zwei Personen im Auto erkennen. Zeit zum Nachdenken blieb mir nicht mehr. Um einer Kollision aus dem Weg zu gehen, riss ich das Lenkrad ohne nachzudenken nach links und trat auf die Bremse.
Der Motor heulte auf, als hätte ich statt der Bremse das Gaspedal betätigt. Der Wagen zog nach links, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann brach das Heck aus, und meine komplette Welt geriet außer Kontrolle. Mein kleiner Fiat drehte sich einmal um die eigene Achse, stieß gegen irgendwas und begann sich zu überschlagen. Das Knirschen und Kreischen von Metall war zu hören, unterbrochen vom Klirren brechenden Glases. Ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war, hielt mir nur schützend die Hände vor das Gesicht. Ein höllischer Schmerz bohrte sich in meinen Rücken und nahm mir die Luft. Ein unmenschlicher Schrei ertönte, aber bevor ich realisierte, dass er von mir stammte, umfing mich tröstliche Dunkelheit.
August
Gleißendes Sonnenlicht blendete mich, als ich mit Lizzy das Wohnheim verließ, um zu meiner ersten Vorlesung zu gehen. Überall um mich herum sah ich lachende Gesichter. Alle wirkten glücklich und schienen sich auf ihren ersten Tag am College zu freuen. Die Luft war erfüllt von aufgeregten Gesprächen und einer freudigen Erwartungshaltung. Selbst die Sonne strahlte mit uns um die Wette und tanzte durch das nicht vollständig geschlossene Blätterdach der kleinen Parkanlage, die das Wohnheim mit dem Campus verband.
Ich hasste alles hier.
Ich wollte nicht hier sein oder studieren, ich wollte am anderen Ende von New York sein und meine professionelle Tanzausbildung an der Juilliard beginnen, wie ich es geplant hatte.
Aber ich würde nie wieder tanzen können, zumindest nicht professionell.
Schnaufend schob ich die Gurte des Rucksacks auf meinen Schultern zurecht. Mein Rücken schmerzte, als würde ich eine Tonnenlast transportieren anstatt ein paar Heftchen und meinem Etui.
»Geht es?«, fragte Lizzy, als sie sah, wie sehr ich mich abmühte.
»Klar«, keuchte ich und drückte meinen Rücken durch, um die betroffene Stelle etwas zu entlasten. Das Letzte, was ich wollte, war ihr Mitleid oder – schlimmer noch – dass sie anbot, meinen Rucksack zu tragen, weil sie mich dazu nicht in der Lage glaubte. »Was hast du zuerst?«, wollte ich wissen, um von mir abzulenken. Lizzy begann ihr Psychologiestudium, was schon immer ihr Wunsch gewesen war. Ich dagegen hatte mich erst mal in allen möglichen Grundkursen eingeschrieben, weil ich keine Ahnung hatte, was ich mit meinem Leben anfangen sollte.
»Pädagogische Einführung. Und du?«
»Grundlagen der Sporttherapie.« Meine masochistische Ader hatte mich dazu verleitet, dieses Fach zu wählen, aber ich redete mir ein, dass ich dabei vielleicht etwas lernen könnte, das meinem Rücken helfen würde.
Lizzy verzog das Gesicht. »Warum tust du dir das an, Avery?«
»Darum«, entgegnete ich schmollend.
Lizzy blieb stehen und griff nach meinem Arm, um mich ebenfalls anzuhalten. Ihre grünen Augen funkelten mich herausfordernd an, aber ich sah auch Verständnis in ihren Zügen. »Ich weiß, dass es schwer für dich ist, nie wieder Sport machen zu können.«
»Nein, weißt du nicht«, sagte ich schärfer als beabsichtigt, aber ich hatte es einfach so satt, dass alle meinten, mich verstehen zu können, wenn sie in Wirklichkeit nicht den Hauch einer Ahnung hatten. Ich nahm einen tiefen Atemzug und redete versöhnlicher weiter. »Sorry, ich wollte dich nicht so anfahren, aber du kannst nicht nachempfinden, wie es für mich ist. Tanzen war nicht bloß mein Hobby, sondern mein kompletter Lebensinhalt. Ich bin achtzehn Jahre alt und stehe plötzlich vor dem Nichts. Es gibt nichts, was mich sonst interessiert. Ich will keinen Nullachtfünfzehn-Bürojob machen. Ich will tanzen, aber mein Körper ist zu kaputt dafür.« Anfangs hatte ich den Ärzten nicht glauben wollen und in der Abgeschiedenheit meines Zimmers einige Posen ausprobiert: eine Pirouette und eine Arabesque. Aber sobald ich nur versuchte, mich auf die Zehenspitzen zu stellen oder mein Bein zu heben, zog sich ein höllischer Schmerz durch meinen Rücken, der mich zusammenbrechen ließ. Egal wie oft ich es probierte, ich musste irgendwann einsehen, dass es einfach nicht ging.
Lizzy griff nach meiner Hand und drückte sie sanft. »Ich weiß, dass es schwer ist. Würde mir heute jemand sagen, ich dürfte nie wieder singen, ginge es mir genauso. Aber mal ehrlich, vermutlich wissen achtzig Prozent der Leute hier auch nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Ist ja auch völlig okay. Wir sind noch jung genug, um erst mal unser Leben zu genießen. Vielleicht kannst du es als kleinen Neuanfang betrachten und dabei herausfinden, was dir liegt, anstatt von vornherein alles zu verteufeln.«
Ich seufzte. »Das versuche ich ja. Heute ist es nur besonders schwer, das Positive an der ganzen Sache zu sehen.«
Lizzy trat auf mich zu und zog mich in eine feste Umarmung. »Deswegen ist es umso wichtiger, dass du gegen die dunklen Gedanken ankämpfst«, flüsterte sie mir zu.
Nickend löste ich mich von ihr. »Danke, das werde ich.« Langsam setzten wir uns wieder in Bewegung. »Und übrigens, es gibt eine Sportart, die ich noch machen kann. Schwimmen.«
Lizzy versuchte ihr Lachen mit einem Husten zu tarnen. »Genau dein Ding«, sagte sie sarkastisch. Sie wusste, dass ich Schwimmen schon früher verabscheut hatte. Selbst im Urlaub war ich maximal bis zu den Knien ins Wasser gegangen, wenn ich mich abkühlen wollte.
»Ich weiß, trotzdem habe ich mich für einen Kurs angemeldet. Mein Physiotherapeut meint, es sei die ideale Sportart, um wieder Muskeln aufzubauen, die meinen Rücken entlasten. Und wie du bereits erwähnt hast, sollte ich dringend anfangen, etwas Neues auszuprobieren.«
»Dann bin ich gespannt, was du von deiner ersten Stunde berichten wirst.«
Das war ich auch, aber vorher musste ich diesen Tag hinter mich bringen.
Der Vorlesungssaal war schon zur Hälfte gefüllt, als ich ankam. Vor allem die vorderen Reihen waren besetzt, was mich jedoch nicht störte, weil ich da ohnehin nicht sitzen wollte. Ich schob mich in den hinteren Bereich und ging mittig in eine noch überwiegend freie Reihe. Das laute Geschnatter hallte von den kahlen Wänden wider, die dringend einen neuen Anstrich benötigten. Der Tisch vor mir war mit Kritzeleien beschmiert, und unter der Platte klebte ein angelutschtes Kaugummi. Angewidert rutschte ich einen Platz nach rechts.
»Wir haben echt den schlimmsten Raum erwischt, oder?«, sagte plötzlich jemand neben mir. Sie hatte schulterlange Haare, die wie ein Regenbogen gefärbt waren, und sah genauso unbeeindruckt aus, wie ich mich fühlte. Ich mochte sie auf Anhieb.
»Allerdings. Ich frage mich echt, wann hier das letzte Mal renoviert wurde.«
»Vermutlich noch nie, dabei wirbt das LaGuardia Community College doch mit seiner Technologie, die auf dem neuesten Stand sein soll.«
»Die Technologie vielleicht, aber auf die Räumlichkeiten trifft es eindeutig nicht zu. Ich bin übrigens Avery«, stellte ich mich vor.
»Virginia. Und es beruhigt mich sehr, dass ich nicht die Einzige zu sein scheine, die nicht vor Begeisterung übersprüht.«
»In mir hast du eine Verbündete gefunden, ich will gar nicht hier sein.«
»Ich auch nicht. Dann hoffe ich mal, dass wir viele Kurse zusammen haben werden.«
Das glaubte ich kaum, auch wenn es mich freuen würde, mehr Zeit mit Virginia zu verbringen. »Warum willst du nicht hier sein?«, fragte ich.
Virginia presste die Lippen aufeinander und zog die Stirn kraus. Nachdenklich fuhr sie mit dem Zeigefinger einige Kratzer auf dem Tisch nach. »Ich mache das hier für meine Eltern. Eigentlich will ich Musikerin werden, aber meine Eltern meinen, das wäre kein richtiger Beruf und ich müsste was Anständiges lernen.« Sie hob die Schultern, als wäre es keine große Sache, aber ich konnte spüren, wie sehr es sie bedrückte.
»Was ist mit dir?«, fragte sie.
Bevor ich dazu kam, ihr zu antworten, betrat unser Dozent den Raum und ließ die Tür geräuschvoll hinter sich ins Schloss fallen.
Augenblicklich verstummten sämtliche Gespräche, und eine erwartungsvolle Anspannung flirrte durch die Luft. Ich rutschte auf meinem Sitz vor und sah gebannt nach vorne.
Unser Dozent hatte schwarze Haare, die an den Schläfen von grauen Strähnen durchzogen waren, gebräunte Haut und eine randlose Brille, die tief auf seine Nase gerutscht war. »Guten Morgen, mein Name ist Professor Ramirez, und ich werde Ihnen die Grundlagen der Sporttherapie näherbringen. Wir werden nicht nur Praktiken zur Rehabilitation durchnehmen, Sie werden zudem lernen, wie Sie Ihre Muskeln und Gelenke nach dem Training regenerieren und vorher lockern können, um Verletzungen zu vermeiden. Lassen Sie uns beginnen.«
»Ich weiß genau, was ich machen muss, um vor dem Training locker zu werden«, sagte eine anzügliche Stimme hinter mir.
Ein mädchenhaftes Kichern folgte, vermutlich von der Person daneben. »Du denkst aber auch immer nur an das eine, Theo.« Es klang, als wäre sie nicht diejenige, mit der Theo das eine anstellen würde.
»Was ist dagegen einzuwenden? Sex entspannt und macht den Kopf frei.«
»Nichts ist dagegen einzuwenden«, sagte sie zögerlich. Ich wartete auf ein Aber, das jedoch nicht kam.
Stattdessen sprach Theo erneut. »Vielleicht ist es genau das, was dir fehlt, dass du dich mal wieder richtig fallen lassen kannst.«
»Theo!« Jetzt klang sie entrüstet. »Du weißt genau, dass ich mich nicht auf jemanden einlassen kann, für den ich nichts empfinde.«
»Und ich kann mit dieser Gefühlsduselei nichts anfangen. Das lenkt nur ab und ist für Sex völlig überflüssig.«
Nur mit Mühe konnte ich ein Lachen unterdrücken. Die beiden waren ein wandelndes Klischee. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass er Footballspieler und sie Cheerleaderin war.
Virginia lehnte sich näher zu mir. »Sie steht auf ihn, und er lässt sie nicht ran, oder?«, raunte sie mir zu.
Ich nickte bloß, weil ich noch immer befürchtete, laut lachen zu müssen, sobald ich den Mund öffnete.
Ich blendete die beiden aus und versuchte mich für den Rest der Stunde auf die Vorlesung zu konzentrieren. Der Dozent zählte gerade die unterschiedlichen Möglichkeiten auf, wie strategischer Muskelaufbau den Bewegungsapparat stärken konnte. Das kannte ich zwar bereits aus der Krankengymnastik, aber vielleicht konnte ich etwas Neues dazulernen.
»Damit können zwar keine Wunder bewirkt werden«, erklärte Professor Ramirez, »aber es sind einige Fälle bekannt, in denen die Stärkung der Muskulatur zu einer deutlichen Verbesserung der Verletzung geführt hat.«
Meine Hand schoss in die Höhe. Erstaunt sah unser Dozent mich an und schob die Brille auf seiner Nase hoch. »Ja, Miss …?«
»Cole, Avery Cole«, stellte ich mich vor.
»Haben Sie etwas hinzuzufügen?«
»Eher eine Frage. Das funktioniert doch nicht immer, oder? Ich habe eine instabile Fraktur dreier Lendenwirbel durch einen Unfall erlitten und werde nie wieder professionell tanzen können.«
Professor Ramirez kam im Mittelgang näher auf mich zu. »Wenn durch den Unfall eine Quetschung des Knochenmarks vorliegt, kann das durchaus stimmen. Allerdings ist es schwierig, eine Diagnose zu treffen, ohne die genauen Hintergründe zu kennen. Zumal es bei dieser Art von Verletzung von Fall zu Fall unterschiedlich ist. Eine Verbesserung der Symptome kann durch strategischen Muskelaufbau trotzdem erreicht werden.«
Ich hörte Theo hinter mir raunen: »Also wenn ich keinen Sport mehr machen könnte, würde ich mich umbringen.«
Seine Worte brachten mein Blut zum Kochen. Was bildete er sich eigentlich ein? Abrupt drehte ich mich zu ihm um und sah ihn zum ersten Mal an. Er war groß und breitschultrig, hatte kurze, braune Haare und grünbraune Augen. Eigentlich ganz attraktiv, wäre da nicht dieses arrogante Lächeln. »Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?«, fuhr ich ihn an. »Dass ich mich umbringen sollte, weil mein Leben jetzt keinen Sinn mehr ergibt?«
Entgeistert starrte er mich an. »Bleib mal locker, dich habe ich damit doch gar nicht gemeint. Aber ohne Sport würde mir halt der komplette Lebensinhalt fehlen.« Er zuckte mit den Schultern.
Ein Brennen begann hinter meinen Augenlidern. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und biss mir von innen in die Wange, um die Tränen zurückzukämpfen. »Genau so geht es mir. Der Unfall hat meinen Traum zerstört.« Und ich musste nun lernen, aus den Scherben dieses Traumes wieder etwas Sinnvolles zu formen. »Daher würde ich es begrüßen, wenn du nicht so leichtsinnig darüber reden würdest.«
»Du hast Sport gemacht?«, mischte sich seine Nachbarin mit dem nervigen Kichern ein. »Du siehst gar nicht danach aus.« Abschätzend wanderte ihr Blick meinen Körper hinab.
Damit hatte sie nicht ganz unrecht. Im letzten halben Jahr hatte ich den Großteil meiner Muskeln verloren, was überwiegend den zwei Monaten absoluter Bettruhe nach dem Unfall geschuldet war. Trotzdem brachten mich ihre Worte auf die Palme. »Was denkst du eigentlich, wer du bist?«
Sie verengte die Augen, aber bevor sie mir antworten konnte, ging Professor Ramirez dazwischen. »Es wäre schön, wenn ich meine Vorlesung jetzt weiterführen könnte«, sagte er mit Schärfe in der Stimme.
Röte schoss mir ins Gesicht, weil mir erst jetzt bewusst wurde, dass ich all meinen Kommilitonen eine Show geboten hatte. Dabei hatte ich mir geschworen, mich am College einzufügen und nicht aufzufallen. Das hatte ja wunderbar funktioniert.
Mit gesenktem Kopf machte ich mich auf meinem Sitz klein und versuchte dem Rest der Stunde zu folgen, auch wenn ich innerlich noch immer vor Wut schäumte. Was für Idioten! Sie führten sich auf, als würde ihnen die Welt gehören, und niemand könnte ihnen etwas anhaben. War ihnen nicht bewusst, dass sie andere mit derart unüberlegten Aussagen verletzen könnten? Oder waren ihnen die Gefühle anderer schlicht egal?
Um mich zu beruhigen, begann ich in meinen Block zu zeichnen. Ich war nicht sonderlich gut darin, aber ich hatte bereits in der Reha gemerkt, dass es mich entspannte. Alleine die gleichmäßigen Handbewegungen und das sanfte Geräusch, wenn der Bleistift über das Papier glitt, ließen meinen Puls langsamer werden. Ich fand die Aussage dieses Theos noch immer dumm, aber ich verspürte nicht mehr den dringenden Wunsch, mich zu ihm umzudrehen und auf ihn loszugehen.
Als unser Dozent die Stunde beendete, ließ ich mir absichtlich viel Zeit damit, meine Sachen zusammenzupacken, bis Theo und seine Freundin abgehauen waren. Obwohl meine Wut noch nicht verraucht war, hatte ich keine Lust auf eine weitere Konfrontation mit den beiden. Virginia wartete, bis ich fertig war, und gemeinsam verließen wir das Gebäude.
Kaum hatten wir den Gang erreicht, platzte es aus ihr heraus. »Kann ich dich fragen, was passiert ist?«
»Sicher.« Auch wenn es mir schwerfiel, darüber zu reden, wollte ich kein Geheimnis daraus machen. »Ich hatte einen Autounfall, bei dem ich einen Bruch dreier Rückenwirbel erlitten habe. Durch die Verschiebung wurde das Rückenmark gequetscht, aber nicht zerstört. Mir wurden Platten eingesetzt, um die Wirbel zu stabilisieren. Ich kann zwar noch gehen und mich hoffentlich irgendwann wieder schmerzfrei bewegen, aber Ballett ist für mich gestorben.« Im Krankenhaus hatte man mir gesagt, ich hätte unheimliches Glück gehabt, dass ich zum Zeitpunkt des Unfalls mit Lizzy telefoniert hatte, die augenblicklich den Notruf abgesetzt hatte. Über mein Handy hatte man meinen Standpunkt orten können, denn der Unfallverursacher war einfach weitergefahren und man hatte ihn oder sie bis heute nicht finden können. Wäre Lizzy nicht gewesen, hätte man mich frühestens am nächsten Morgen gefunden, und wie es bis dann um meinen Rücken bestellt gewesen wäre, darüber wollte ich besser nicht nachdenken.
»Das muss schlimm sein, nicht mehr das machen zu können, was man liebt«, riss Virginia mich aus meinen Gedanken.
»Das ist es, aber jeder sagt mir, ich soll froh sein, nicht querschnittsgelähmt zu sein, und dass ich das Positive an der ganzen Sache sehen soll. Was ich aber unheimlich schwer finde.«
»Völlig verständlich. Es war unmöglich, was dieser Theo von sich gegeben hat. Als hätte das Leben nicht mehr zu bieten. Klar muss man ein wenig danach suchen, wenn einem das eine geraubt wurde, was einem alles bedeutet hat, aber es gibt noch so viel mehr zu entdecken.«
Ihre Worte berührten mich. »Danke. Ich hoffe, dass ich etwas Passendes für mich finde.«
»Mit Sicherheit.« Virginia drehte sich nach rechts zu einem Informationsbrett. Interessiert überflog sie die Aushänge und stieß ein Schnauben aus. »Immer dasselbe«, murmelte sie mehr zu sich selbst.
Ich trat näher, um den Zettel ebenfalls zu lesen. Ein Gitarrist für eine Rockband wurde gesucht. Unten auf dem Zettel stand in dicken Lettern »Keine Frauen«.
»Spielst du Gitarre?«, wollte ich wissen.
»Ja, aber es scheint, als würde es hier keine Band für mich geben. Entweder spielen sie Musik, mit der ich nichts anfangen kann, oder sie wollen keine Frau als Gitarristin haben.« Ihr Augenrollen zeigte mir deutlich, was Virginia davon hielt.
»Sexistische Arschlöcher«, entgegnete ich. »Hast du mal überlegt, einfach eine eigene Band zu gründen? Meine beste Freundin singt ziemlich gut, und wenn du einen Aushang machst, finden sich bestimmt ein Schlagzeuger und Keyboarder.«
Virginia betrachtete mich nachdenklich. »Ja, mal schauen, wäre zumindest eine Überlegung wert, wenn sich nichts anderes ergibt.«
Der Geruch von Chlor drang mir entgegen, sobald ich die Tür zum Hallenbad aufzog. Er kitzelte in meiner Nase, und ich verzog das Gesicht. Ein Grund, warum ich Schwimmen nicht mochte, war, weil ich es verabscheute, dass man diesen Geruch auch noch Stunden, nachdem man das Schwimmbad verlassen hatte, mit sich herumschleppte. Aber wenn ich mich nicht für den Rest meines Lebens mit meinem aktuellen Zustand zufriedengeben wollte, musste ich da durch.
Vor dem Eingang zu den Umkleiden stand bereits eine kleine Gruppe Studenten beisammen, zu denen ich mich gesellte. »Seid ihr auch für den Grundkurs hier?«, fragte ich ein Mädchen mit langen, dunklen Locken.
»Ja, unser Trainer verspätet sich wohl etwas«, erklärte sie.
»Okay.« Ich ließ meine Sporttasche von der Schulter gleiten und massierte meinen schmerzenden Rücken. Der heutige Tag war anstrengend gewesen, was sich durch ein Ziehen bemerkbar machte, wie ich es schon lange nicht mehr verspürt hatte. Kurzzeitig hatte ich sogar mit dem Gedanken gespielt, den Kurs sausen zu lassen, aber ich wollte nicht gleich am ersten Tag kapitulieren.
Während wir warteten, sah ich mich interessiert um. Die Halle wirkte genauso alt wie der Rest des Colleges. Grünliche Fliesen zierten die Wände, aber im Gegensatz zu den Vorlesungsräumen war es hier zumindest sauber. Ungefähr fünfzehn Leute standen beisammen, die meisten davon Frauen, einige so aufgetakelt, als würden sie in die Disco anstatt zum Schwimmen gehen.
Ich verlagerte mein Gewicht von einem Bein auf das andere und begann an einem losen Faden meines Oberteils zu zupfen.
»Da ist er«, sagte eine aufgeregte Stimme, und ein Raunen ging durch die Wartenden. Was war denn jetzt los? Erstaunt sah ich auf, und ein Ruck durchfuhr mich, als ich unseren Trainer erblickte. Es war niemand Geringerer als dieser arrogante Theo, mit dem ich in meiner ersten Stunde aneinandergeraten war.
Allerdings sah er jetzt völlig anders aus. Er trug nur knappe Schwimmshorts, die nicht viel Platz für Interpretation ließen, und hatte sich eine Trainingsjacke über die Schultern gehangen. Er stellte einen Körper zur Schau, bei dem mir das Wasser im Mund zusammenlaufen würde, wenn ich nicht wüsste, was für ein arroganter Typ er war. Ausgeprägte Muskeln wurden von einzelnen Wassertropfen bedeckt, als wäre er gerade erst aus dem Wasser gestiegen. Seine Haut war glatt und völlig frei von Haaren, wenn ich das richtig sah. Ein Tropfen rann sein Kinn hinab, und ich war wie hypnotisiert davon.
Dann fiel mir wieder ein, wen ich da anstarrte, und ich wandte verärgert meinen Blick ab. Seine Worte von vorhin hallten in meinem Kopf wider. Das war der Spinner, der mir durch die Blume zu verstehen gegeben hatte, dass ich mich auch umbringen könnte, weil ich meinen Sport nicht mehr ausüben konnte, das sollte ich nicht vergessen.
Alle um mich herum starrten Theo jedoch mit Bewunderung an, als hätte er irgendwas Großartiges geleistet, was mich stutzen ließ. »Wer ist das?«, fragte ich die Frau mit den dunklen Locken.
Entgeistert drehte sie sich zu mir um. »Kennst du etwa Theo Jemison nicht? Er ist der Star am College. Im letzten Jahr hat er alle regionalen Wettkämpfe gewonnen und ist in den überregionalen nur um eine Zehntelsekunde zu langsam gewesen, um zu den nationalen Meisterschaften zugelassen zu werden. Dieses Jahr will er den Durchbruch endlich schaffen.«
Ungewollt zuckte mein Blick erneut zu ihm. Das erklärte zumindest, warum er sich für was Besseres hielt. »Was zur Hölle hat er an einem Community College verloren, wenn er so ein gefeierter Star ist?«, platzte es aus mir heraus. Sollte er dann nicht ein Stipendium an einem Ivy League College haben, wo er seine Karriere richtig pushen könnte?
»Sein Vater trainiert das hiesige Schwimmteam, deswegen hat Theo sich für dieses College entschieden. Ehrlich, kennst du dich mit Sport gar nicht aus?«
Mit Schwimmen nicht, nein. Allerdings schien ich die Einzige zu sein, die ihn nicht kannte. Alle anderen starrten ihn mit Bewunderung an, und ich begann mich zu fragen, was ihre Motivation war, diesen Kurs zu besuchen. Hatten sie wirklich Lust auf Schwimmen, oder wollten sie einfach nur ihrem Star nahe sein? Würde dieser Kurs zu einer Farce ausarten, weil die Mädels Theo anhimmelten und sich am Ende sogar extra dumm anstellten, um eine Sonderbehandlung zu erhalten? Und wollte ich überhaupt von jemandem wie diesem arroganten Theo trainiert werden?
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus, das mir wie ein Klumpen Blei im Magen lag. Normalerweise war ich kein ängstlicher Typ, aber beim bloßen Gedanken daran, mir weitere abfällige Sprüche von ihm anhören zu müssen, wurde mir schlecht. Ich hatte mir erhofft, durch den Kurs ein neues Lebensgefühl zu erhalten, nicht dass ich durchgängig daran erinnert wurde, was ich verloren hatte.
Ich trat einen Schritt zurück. Dann noch einen. Ob ich heimlich verschwinden konnte, solange alle noch gebannt von Theo waren?
»Avery.« Seine Stimme durchfuhr mich wie ein Blitzschlag und ließ mich aufblicken. In wenigen Schritten war er bei mir, und ich wusste plötzlich nicht mehr, wo ich hinsehen sollte. Zu viel nackte Haut und dazu seine Augen, die mich mit einer ungekannten Intensität betrachteten. »Wo willst du hin?«
Nur weg von hier. »Ich denke nicht, dass dieser Kurs der richtige für mich ist.« Ich zog die Augenbrauen hoch, um ihm zu verdeutlichen, dass er der Grund war, warum ich ihn für ungeeignet hielt.
Theo verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich dachte, du kannst keinen Sport mehr machen.«
»Ich kann meinen Sport nicht mehr machen, Schwimmen dagegen soll gut für meinen Rücken sein. Trotzdem glaube ich nicht, dass ich hier richtig aufgehoben bin. Du hast deinen Standpunkt vorhin deutlich gemacht.« Eigentlich war ich niemand, der davonlief, wenn es schwierig wurde, aber aktuell hatte ich einfach keine Lust mehr auf Negativität. Daher wandte ich mich ab, um die Halle zu verlassen.
»Warte.« Theos Hand legte sich auf meinen Unterarm und ließ mich abrupt anhalten. Seine Haut war kühl und überraschend weich und schickte einen Schauer über meinen Rücken. »Wenn dir der Kurs wirklich helfen könnte, solltest du dich nicht davon abbringen lassen. Ich verspreche auch, mich zu benehmen.« Er zwinkerte mir kurz zu, ehe er sich umdrehte und zu der Gruppe zurückging.
Entgeistert starrte ich ihm hinterher. War das sein Ernst? Er hatte sich nicht mal entschuldigt und erwartete von mir, dass ich ihm hinterherdackelte wie einer seiner hörigen Fans? Ganz bestimmt nicht. Wenn überhaupt, hatte er mir mit seinem Verhalten nur bewiesen, dass ich gut daran tat, mich so weit wie möglich von ihm fernzuhalten.
Wütend schulterte ich meine Tasche und machte mich auf den Weg zum Wohnheim.
»Hey, du bist aber früh zurück«, begrüßte Lizzy mich, als ich unser Zimmer betrat. Als sie mich ansah, weiteten sich ihre Augen. »Und du siehst nicht glücklich aus.«
Schnaubend ließ ich meine Tasche sinken. Die Untertreibung des Jahrhunderts. »Dieser Tag ist für die Tonne.« Dann berichtete ich ihr von meinen Zusammentreffen mit Theo Jemison, Schwimmstar und Arschloch de luxe. Je länger ich redete, desto finsterer wurde Lizzys Miene.
»Er hat dir nicht ernsthaft geraten, dich umzubringen, nur weil du kein Ballett mehr tanzen kannst«, sagte sie aufgebracht.
»Nicht direkt, aber er meinte, er würde es tun, wenn er nicht mehr schwimmen könnte.«
»Das macht die Sache nicht besser. Was für ein Idiot.« Lizzy ließ sich geräuschvoll auf ihr Bett plumpsen und zog ein Buch unter dem Kopfkissen hervor. »Aber eine Sache verstehe ich noch nicht so ganz. Warum bist du nicht zu dem Kurs gegangen? Du lässt dir doch sonst nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Typen den Spaß verderben. Wo ist dein Kampfgeist geblieben, ihm die Stirn zu bieten und zu zeigen, dass dein Leben sehr wohl noch einen Sinn hat?«
Sie hatte ja recht, das war nicht meine Art, aber mein Kampfgeist lag in dem Straßengraben, in dem mein Auto gegen den Baum gedonnert war. Um jemandem zeigen zu können, dass mein Leben noch einen Sinn hatte, musste ich zuerst selbst daran glauben. Aber mein Vertrauen in mich war erschüttert und lag wie ein Scherbenhaufen zu meinen Füßen.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich, weil ich meine Gefühle nicht in Worte fassen konnte. Ich legte mich auf mein Bett und streckte meinen schmerzenden Rücken durch. Es war eine Wohltat, nicht mehr stehen zu müssen, und ich gab ein Seufzen von mir. Vielleicht sollte ich doch wieder zwischendurch die Orthese tragen, die ich in der Reha bekommen hatte. Eigentlich mochte ich die Schiene nicht, die wie ein Korsett um meine Mitte geschnürt wurde, aber sie entlastete meinen Rücken, wenn ich viel auf den Beinen war.
Lizzy blieb so lange ruhig, dass ich schon dachte, einer Zurechtweisung zu entgehen, doch dann ergriff sie erneut das Wort. »Du solltest zu diesem Kurs gehen. Wenn du willst, begleite ich dich sogar, aber wenn es deinem Rücken helfen könnte, solltest du diese Chance nutzen.«
Überrascht drehte ich mich auf die Seite, bis ich sie ansehen konnte. »Du würdest wirklich mitkommen?« Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus. Lizzy hatte mit Sport überhaupt nichts am Hut. Sie war ein gemütlicher Mensch, fühlte sich mit Büchern viel wohler und verabscheute es, zu schwitzen. Zudem zeigte sie sich nicht gerne in körperbetonter Kleidung, weil sie mit ihrer Figur unzufrieden war. Dass sie mir anbot, mich zu begleiten, war eine große Sache.
»Ich müsste mir zwar zuerst einen neuen Badeanzug kaufen, aber ich würde dich begleiten, wenn es dir hilft. Und wenn dieser Theo auch nur ein blödes Wort zu dir sagt, bekommt er es mit mir zu tun.« Sie nickte, wie um ihre Worte zu unterstreichen, ehe sie ihr Buch aufschlug und dahinter verschwand.
Keuchend schreckte ich aus dem Schlaf hoch. Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb, und kalter Schweiß bedeckte meinen Körper. Ich versuchte meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen, während die Erinnerung an den Albtraum langsam abebbte. Das beklemmende Gefühl aber blieb.
Einmal mehr war ich froh darüber, mir kein Zimmer mit einem Mitbewohner teilen zu müssen, der Zeuge meiner regelmäßigen Albträume wurde. Meistens wusste ich nicht einmal, wovon sie gehandelt hatten, sobald ich aufwachte. Trotzdem verursachten sie mir Übelkeit, denn den Auslöser dafür würde ich nie vergessen.
Doch daran wollte ich jetzt nicht denken. Ich blickte auf mein Handy, es war erst fünf Uhr und damit eigentlich viel zu früh zum Aufstehen, aber ich würde heute eh keinen Schlaf mehr finden. Daher konnte ich genauso gut ein kurzes Training vor meinen Vorlesungen einschieben. Ich zog mich an, schnappte meine Tasche und lief die drei Blocks zum Hallenbad des LaGuardia Community College.
Das Wasser weckte meine Lebensgeister, und die Bewegung ließ meine Gedanken verstummen. Mit jeder geschwommenen Bahn rückten meine Probleme weiter in den Hintergrund. Hier fühlte ich mich frei, konnte ganz ich selbst sein und war im Reinen mit mir. Hier musste ich keine Erwartungen anderer erfüllen, mich nicht auf eine bestimmte Art und Weise geben. Das Wasser verstand mich, ohne dass ich ein Wort sagen musste.
»Hey, Theo, was geht?« Kayson und Noah warteten bereits vor der ersten Vorlesung auf mich. Ich kannte beide seit meinem Beginn am College im letzten Jahr. Sie waren zu meinen Freunden geworden, weil sie sich im Gegensatz zu allen anderen nicht davon beeindrucken ließen, dass mich jeder kannte. Sie holten mich auf den Boden und schreckten auch nicht davor zurück, mich in die Schranken zu weisen, wenn ich abhob.
»Nicht viel, kein Bock auf die Vorlesungen.«
»Wer hat das schon?« Noah klopfte mir auf die Schulter und schob mich gleichzeitig in den Vorlesungssaal. »Aber Kopf hoch, es ist fast Wochenende, und morgen steigt die große Party in unserem Wohnheim. Bist du jetzt dabei oder nicht?«
Eigentlich konnte ich es mir nicht leisten. Ich hatte am Sonntag einen wichtigen Wettkampf, der ein erster Richtungsweiser für die überregionalen Meisterschaften war. Ich musste topfit sein, um meinen größten Widersacher zu schlagen, und ich war niemand, der seine Karriere wegen einer Party aufs Spiel setzte.
Andererseits nervte es mich auch, meinen Freunden so oft absagen zu müssen, weil ich schwimmen war. Schon unter der Woche konnte ich nachmittags nie etwas mit Noah und Kayson unternehmen, weil ich Training hatte. Würde es wirklich schaden, mit zu der Party zu gehen, wenn ich auf Alkohol verzichtete und nicht bis morgens um fünf blieb?
»Klar bin ich dabei, das lasse ich mir doch nicht entgehen.«
»Geil, Mann.«
»Wird Zeit, dass du mal wieder etwas aus dir rauskommst. Du bist in letzter Zeit irgendwie seltsam drauf.«
Abrupt wandte ich mich Kayson zu und versuchte das Schaudern zu unterdrücken, das mich überkommen wollte. War ich wirklich so leicht zu durchschauen? Ich wusste, dass meine Freunde mich gut kannten, aber ich hatte gedacht, meine Emotionen besser verstecken zu können. »Das Semester ist nicht mal eine Woche alt«, versuchte ich mich rauszureden.
Kayson bedachte mich mit einem unbeeindruckten Blick. »Ja, Mann. Kannst du mal sehen, wie schlecht du drauf bist, wenn selbst mir das so schnell auffällt. Noah hat es auch schon gesagt.«
»Hey, halt mich da raus«, wehrte Noah sofort ab und stapfte die Treppen nach oben. Auf dem Absatz drehte er sich um. »Für nächstes Wochenende habe ich eine Bahn in der Bowling-Alley für uns reserviert, vergesst das nicht.«
Ich verdrehte die Augen und folgte ihm. Als würde ich unsere regelmäßigen Besuche in der Bowling-Alley jemals vergessen. Es war eine meiner liebsten Nebenbeschäftigungen, die mich komplett vom Training und dem College ablenkte. Ich war froh, mit Kayson und Noah Gleichgesinnte dafür gefunden zu haben.
Wie immer setzten wir uns in der Vorlesung in die hinterste Reihe. Ich hatte kein großes Interesse an meinem Studium, sah es eher als Sprungbrett für meine Karriere an. Meine beiden, sozusagen. Die erste als Profischwimmer und die zweite als Trainer, wenn meine Muskeln zu schwach für Bestzeiten geworden waren. Deswegen hatte ich mich auch für dieses Community College entschieden. Mein Dad war Trainer hier, und er hatte schon so einigen den Weg ins olympische Team geebnet. Und solange ich mein Training ernst nahm, ließ er mich wegen allem anderen in Ruhe.
Ein quietschgelbes Handtäschchen wurde neben mir auf den Tisch gestellt, und Rena setzte sich neben mich. »Hat jemand die Hausarbeit gemacht? Unser Training ging gestern so lange, dass ich nicht mehr dazu gekommen bin.« Rena war Cheerleaderin, und da in nicht einmal zwei Wochen das erste Basketballspiel der Saison anstand, hatte sie momentan alle Hände voll damit zu tun, die neuen Leute in die Choreografien einzuarbeiten.
Rena und ich kannten uns schon seit dem Kindergarten. Wir waren zusammen aufgewachsen und schon immer befreundet gewesen, weil wir einen ähnlichen Ehrgeiz bei unseren Sportarten hatten – auch wenn diese unterschiedlicher nicht sein könnten. Während meine Karriere gerade erst begann, war Renas mit Ende des Colleges vorbei.
»Ich nicht.« Ich machte nie Hausarbeiten, und die meisten Dozenten behelligten mich auch nicht deswegen. Ein durchaus angenehmer Nebenaspekt meiner Bekanntheit.
»Du kannst meine haben.« Kayson schob Rena sein Heft zu. »Aber änder den Wortlaut ab, falls wir beide aufgerufen werden.«
»Ich bin doch nicht blöd.« Augenrollend zog Rena ein Notizbuch und einen Stift aus ihrer Tasche und begann von Kayson abzuschreiben.
Der Tag zog sich in die Länge, dabei hatte ich nur bis zur Mittagspause Vorlesungen, danach ging es für mich zum Training. Zuerst Krafttraining, dann konnte ich endlich wieder ins Wasser. Dad war heute besonders unerbittlich. Die Wettkampfsaison startete bald, und einige meiner Teamkollegen hatten das Training über die Ferien schleifen lassen. Zu wenig Bewegung und zu viel gutes Essen hatten einige schlaff werden lassen, was meinen Dad auf die Palme trieb und ihn dazu brachte, uns härter ranzunehmen als gewöhnlich. Am Ende des Trainings waren manche so fertig, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten.
Auch ich war ausgelaugt, aber ich hatte noch den Kurs, den ich trainierte, bevor der Tag für mich zu Ende war.
Ich schnappte mir ein Handtuch, mit dem ich mich notdürftig abtrocknete, während ich auf meine Gruppe wartete. Es dauerte nicht lange, bis die Ersten eintrudelten. Nach und nach füllte sich die Halle. Alle begrüßten mich freundlich, ein paar blieben kurz bei mir stehen, um einige Worte mit mir zu wechseln. Ich hatte es kaum geschafft, mir in der ersten Stunde irgendwelche Namen zu merken.
»Hallo, zusammen«, begrüßte ich die Gruppe, als so ziemlich alle versammelt waren. »Heute werden …« Das Geräusch der sich öffnenden Tür unterbrach mich, und alle drehten sich um.
Zwei weitere Frauen betraten die Halle, und mein Herz setzte für einen Moment aus. Eine davon war Avery, die in der letzten Stunde noch davongestürmt war. Es war irgendwie ironisch, dass ich mir ausgerechnet ihren Namen gemerkt hatte, aber sie hatte Eindruck bei mir hinterlassen. Nicht nur mit ihrem Auftritt im Hallenbad, sondern schon zuvor, als sie mich in der Vorlesung zurechtgewiesen hatte. Und vermutlich war sie die Einzige, die diesen Kurs nicht besuchte, um den berüchtigten Theo Jemison kennenzulernen. Sie hatte nicht eingeschüchtert gewirkt und mir ordentlich Kontra gegeben. Es war wirklich schade gewesen, dass sie gegangen war.
Daher freute es mich, dass sie zurückgekehrt war. Und diesmal hatte sie Verstärkung mitgebracht: Ihre Freundin bedachte mich mit einem ähnlich finsteren Blick wie Avery. Ein Grinsen stahl sich auf mein Gesicht.
Langsam ging ich auf die beiden zu und ließ meinen Blick verstohlen über Averys Körper wandern. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, und ihre blauen Augen blitzten mich gefährlich an. Sie hatte einen tollen Körper, trug natürlich nur einen Badeanzug, und ihre manikürten Füße steckten in rosa Flipflops. Ich fühlte mich wie elektrisiert, während ich sie betrachtete.
»Avery, wie ich sehe, hast du es dir anders überlegt«, begrüßte ich sie.
»Bild dir bloß nichts drauf ein«, entgegnete sie knapp und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie blieb in gebührendem Abstand stehen und taxierte mich aus kühlen Augen. Sie wirkte, als wäre sie an jedem anderen Ort lieber als hier, und ich fragte mich, warum sie dann überhaupt gekommen war.
Abwehrend hob ich die Hände. »Würde mir nie einfallen.«
»Es wird Regeln geben, wenn ich hier mitmache«, redete sie unbeirrt weiter.
Nur mit Mühe konnte ich ein Schmunzeln unterdrücken. Eine Ahnung sagte mir, dass Avery das nicht lustig finden würde. »Allerdings gibt es die. Die Hallenregeln und Verhaltensregeln des Colleges gelten hier zum Beispiel.«
»Nein, ich meine Regeln, die ich aufstelle.« Avery trat einen Schritt näher, bis ihre verschränkten Arme fast meinen Bauch berührten. Ich spürte ihre Wut in der Luft zwischen uns vibrieren.
Diesmal schaffte ich es nicht, das Zucken in meinen Mundwinkeln zu unterdrücken. Ich würde ihr Spiel mitspielen. Vorerst. Wenn das die Voraussetzung war, dass sie blieb. Denn aus irgendeinem Grund wollte ich nicht, dass sie erneut abhaute. »Und wie sollen diese Regeln aussehen?«
»Erstens.« Sie hielt mir ihren Zeigefinger unter die Nase. »Keine dummen Sprüche.«
Ich verdrehte die Augen, darauf konnte sie lange warten.
»Zweitens.« Der Mittelfinger folgte. »Kein Gerede davon, dass das Leben nichts mehr wert ist, nur weil man eine Sache nicht mehr machen kann.«
Darauf nickte ich. Inzwischen tat mir meine unbedachte Äußerung leid, denn ich konnte sie besser verstehen, als sie vielleicht glaubte. Schwimmen war alles, was mir etwas bedeutete. Würde man mir das nehmen, wüsste ich nicht, wie es mit mir weitergehen sollte. Der Spruch in der Vorlesung war allerdings nur so dahergesagt gewesen, war mir herausgerutscht, ehe ich es verhindern konnte.
»Drittens.« Averys Stimme holte mich in die Gegenwart zurück. »Du sprichst mich nur an, wenn du mir etwas zum Schwimmen erklären willst. Kein Small Talk, kein ›Wie geht’s dir?‹, nichts dergleichen. Ich bin nur hier, um meinem Rücken etwas Gutes zu tun, nicht um dir nahe zu sein wie deine ganzen Groupies da.« Sie nickte in Richtung einer Gruppe Mädels, die unseren Wortwechsel interessiert beobachtet hatten und Avery nun finster betrachteten.
Jetzt konnte ich das Lachen nicht mehr unterdrücken. Sie war frech, das gefiel mir, aber wenn sie wirklich dachte, sie könnte mir den Mund verbieten, hatte sie sich geschnitten. »Dafür, dass du nur zum Schwimmen hier bist, redest du aber verdammt viel«, entgegnete ich und wandte mich ab. »Ab ins Wasser«, sagte ich lauter, damit alle mich verstehen konnte.
Einige lange Sekunden spürte ich Averys Blick auf mir, ehe sie sich zum Beckenrand bewegte und mit einem wenig grazilen Sprung ins Wasser hüpfte. Ich verbuchte es als Erfolg, dass sie geblieben war, obwohl ich keiner ihrer sogenannten Regeln zugestimmt hatte.
Theo Jemison war ein arroganter Arsch.
Und ich eine blöde Kuh.
Warum war ich nicht gegangen, obwohl er meine Regeln nicht akzeptiert hatte? Er war nicht einmal darauf eingegangen, sondern hatte sich abgewandt, als wäre ich nicht einmal eine Erwiderung wert. Wobei er mir diese genau genommen sehr wohl gegeben hatte.
Dafür, dass du nur zum Schwimmen hier bist, redest du aber verdammt viel.
Was bildete er sich eigentlich ein? Sprang er mit allen Leuten so um, die ihm nicht zu Füßen lagen? Wollte er mir damit zeigen, dass für ihn andere Gesetze galten? Die Message war angekommen. Aber das hieß nicht, dass ich mich davon beeindrucken ließ.
Ich hatte nicht schon wieder abhauen wollen. Ich war hier, um mir selbst zu beweisen, dass ich mich von niemandem runtermachen ließ. Ich würde über seinen blöden Sprüchen stehen. So wie er meine Regeln mit einem Schulterzucken abgetan hatte, würde er auch mir völlig egal sein. Er hielt sich für einen unantastbaren Helden, der machen konnte, was er wollte? Ich würde ihm schon zeigen, was es hieß, sich mit Avery Cole anzulegen.
Nachdem wir uns einige Runden warm geschwommen hatten, reichte Theo jedem von uns ein Schwimmbrett, an dem wir uns mit den Händen festhalten konnten, um nur unsere Beintechnik zu trainieren, was mich vor ungeahnte Probleme stellte. Es fiel mir schwer, das Gleichgewicht im Wasser zu halten, während ich nur meine Beine bewegte. Mein Oberkörper schwang von rechts nach links, was sich auch auf mein Brett auswirkte und mich fast umkippen ließ. Ich kam nur mühsam voran und schluckte dabei mehr Chlorwasser, als gut für mich sein konnte.
»Avery.« Theo rief mich zu sich, nachdem ich mich die ersten vier Bahnen abgemüht hatte.
Ich schwamm zu ihm und stützte mich mit dem Ellbogen am Beckenrand ab. »Was gibt’s?«, fragte ich, als wüsste ich nicht genau, was kommen würde. Aber ich durfte vor ihm keine Schwäche zeigen. Nicht einmal ein kleines bisschen.
Theo ging vor mir in die Hocke. »Deine Beinarbeit ist schon wirklich gut, aber du arbeitest zu viel aus der Hüfte heraus. Versuch mal, deine Hüfte ruhig im Wasser liegen zu lassen und nur die Beine zu bewegen. Auch lieber erst einige Bahnen etwas langsamer, um ein Gefühl für die Technik zu bekommen. Das ist immerhin kein Wettkampf hier.« Er zwinkerte mir zu und richtete sich auf.
Mist, es schien, als hätte er mich durchschaut. Ich hatte extraschnell sein wollen, um ihm zu beweisen, dass ich seine Hilfe gar nicht brauchte. Und hatte damit nur unterstrichen, dass sie eben doch vonnöten war. Es war ein tief in mir verwurzelter Reflex. Ich hatte mich die letzten Jahre immer mit irgendwem messen müssen, daher war es schwer, diesen inneren Drang abzustellen.
Ich umfasste das Brett und stieß mich von der Wand ab. Diesmal hörte ich auf Theo, bewegte meine Beine langsam und versuchte meine Hüfte ruhig im Wasser liegen zu lassen. Zuerst war es schwierig, den neuen Bewegungsablauf umzusetzen, aber nach einigen Bahnen bekam ich ein Gefühl dafür. Ich wurde schneller, glitt regelrecht durch das Wasser und überholte einige Leute, die mich zuvor überrundet hatten.
Unwillkürlich schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen, denn das hier war gar nicht so übel wie befürchtet. Meine Muskeln waren froh, mal wieder einer sportlichen Betätigung nachzugehen, und ich genoss das Brennen in meinen Armen und Beinen, das ich in den letzten Monaten schmerzlich vermisst hatte. Mein Körper und meine Seele hatten sich einfach nicht daran gewöhnen können, dass ich zum Couch-Potato mutiert war. Ich war jemand, der sich gern und viel bewegte. Dass der Unfall mich dazu gezwungen hatte, jegliche Art von Sport aufzugeben, war das Schlimmste für mich gewesen. Auch wenn das Schwimmen meinem geliebten Ballett nie das Wasser reichen konnte, war es gut, überhaupt wieder etwas zu tun. Außerdem schmerzte mein Rücken so wenig wie seit einem halben Jahr nicht mehr, was ich als großes Plus wertete.
Als ich nach dem einstündigen Kurs das Wasser verließ, spürte ich einen nahenden Muskelkater in meinen Beinen und Armen. Ich freute mich über dieses leichte Ziehen, das sich bis morgen noch verstärken würde, und war froh, dass die nächste Stunde erst am Montag sein würde. Schwimmen war doch anstrengender als vermutet.
Theo rief die Gruppe noch einmal am Beckenrand zusammen. Ich verdrehte die Augen, als ich sah, wie manche Mädchen sich möglichst nah neben ihn stellten und ihm dabei ihre Oberweite entgegenreckten. Mussten sie sich derart anbiedern?
»Ihr habt gut mitgemacht«, sagte Theo in die Runde. »Nehmt eine heiße Dusche und lasst es morgen ruhig angehen, falls ihr Muskelkater habt. Vergesst auch nicht, etwas zu essen, denn nach dem Training müsst ihr eure Energiespeicher wieder auffüllen.«
Wie auf Kommando knurrte mein Magen, was mich erstaunt auf meinen Bauch sehen ließ. Seit dem Unfall hatte ich selten Hunger verspürt und meistens nur gegessen, weil ich es musste. Doch jetzt fühlte ich mich, als würde ein gefräßiges Monster in meinem Bauch sitzen.
»Wir sehen uns am Montag wieder.« Theo entließ unsere Gruppe, und gemeinsam mit den anderen begaben wir uns in Richtung Duschen.
»Was hältst du davon, wenn wir uns auf dem Weg zum Wohnheim eine Pizza holen?«, fragte Lizzy mich.
»Super Idee, ich sterbe gleich vor Hunger«, grinste ich sie an.
»Avery.« Theos Stimme hallte durch den hohen Raum und veranlasste die Härchen an meinen Armen dazu, sich aufzurichten.
Erstaunt blieb ich stehen und drehte mich zu ihm um. Was wollte er von mir?
»Warte mal kurz.« Er kam auf uns zugelaufen und rieb sich mit einer Hand über die kurzen Haare auf seinem Kopf. »Hat dein Rücken alles mitgemacht?«
Zweifelnd sah ich ihn an. Interessierte ihn das wirklich, oder fragte er nur, um danach einen blöden Spruch fallen zu lassen? »Es war okay«, sagte ich vorsichtig.
»Das ist gut. Es kann trotzdem sein, dass du morgen Muskelkater hast, auch im Rücken, wenn du …«
»Ich weiß, was ein Muskelkater ist und wie er sich anfühlt«, unterbrach ich ihn. »Wenn ich dich daran erinnern darf, ich habe jahrelang Leistungssport gemacht. Und glaub mir, die Schmerzen, die mir meine Wirbelsäule bereitet, haben nicht im Entferntesten etwas mit Muskelkater zu tun.«
Ein Grinsen zuckte um Theos Mundwinkel. »Ah, da ist ja wieder deine Kratzbürstigkeit.«
Ich verengte die Augen. »Ich bin nicht kratzbürstig.«
Er zuckte mit den Schultern. »Nenn es, wie du willst, mir gefällt es.« Damit drehte er sich um und ließ uns eiskalt stehen.
Entgeistert sah ich ihm hinterher. War das sein Ernst? Mal ganz davon abgesehen, dass niemandem meine patzige Art gefiel, ließ er mich danach einfach stehen? War er echt so überheblich, zu denken, dass er damit Eindruck bei mir schinden würde?
»Der steht auf dich«, sagte Lizzy. Als ich mich zu ihr umdrehte, sah sie viel zu zufrieden für meinen Geschmack aus.
»Als ob! Tut er garantiert nicht«, widersprach ich. Theo war einfach nur ein überheblicher Typ, dem es vermutlich nicht passte, dass es tatsächlich Frauen auf dieser Welt gab, die nicht den Boden küssten, auf dem er lief. Ob es sehr an seinem Ego kratzte? Das hoffte ich zumindest.
»O doch.« Lizzy grinste breit. »Und insgeheim magst du es, dass er dir dabei nicht zu Füßen liegt.«
Ein Schnauben entwich mir, und ich schüttelte wild mit dem Kopf, bis mein Pferdeschwanz mir ins Gesicht klatschte. »Ganz bestimmt nicht. Ich finde ihn überheblich und arrogant. Meinetwegen kann ihn gleich beim Duschen der Schlag treffen.« Ich ging in Richtung Umkleidekabinen davon und hörte, wie Lizzy mir lachend folgte.
Theo Jemison konnte mir gestohlen bleiben. Allerdings schien er ein annehmbarer Trainer zu sein, auch wenn ich das ungern zugab.
Wo willst du hin?«
Die Stimme meines Vaters ließ mich in der Bewegung erstarren. Ich hatte gerade die Schwimmhalle verlassen wollen, doch sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. Für einen Moment schloss ich die Augen, ehe ich mich zu ihm umdrehte. »Nach Hause«, erklärte ich. »Das Training ist vorbei.«
Dad kam langsam auf mich zu. Er war ein imposanter Mann. Groß, breitschultrig und mit einem harten Zug um den Mund. Ohne ein Wort sagen zu müssen, konnte er einschüchternd wirken. Vor allem auf Leute, die ihn nicht kannten. »Du warst unkonzentriert heute. Du liegst weit hinter deinen Bestzeiten zurück, und am Sonntag musst du liefern.« Er legte nur die Fakten dar, aber in seinen Worten lag eine unausgesprochene Warnung. Bereits letzte Woche hatte er mir mitgeteilt, dass bei diesem Wettkampf Scouts anwesend sein würden. Es galt also nicht nur, den Wettkampf zu gewinnen, sondern auch, die Scouts zu beeindrucken.
Ich schluckte. »Ich habe schlecht geschlafen.« Das war nicht einmal gelogen. Seit Beginn des Semesters waren meine Albträume schlimmer geworden. Regelmäßig rissen sie mich aus dem Schlaf, und die Bilder, die sie begleiteten, ließen mich danach nicht mehr einschlafen. Dabei wollte ich den Grund, der sie heraufbeschwor, einfach nur vergessen. Aber das konnte ich nicht. Es schien, dass er sich mir immer mehr aufdrängte, je mehr ich ihn zu verdrängen versuchte.
Dad betrachtete mich eingehend, und der Zug um seine Augen wurde weicher. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte mein Vater unter der Maske meines Trainers hervor. »Ist alles in Ordnung? Macht dir jemand Schwierigkeiten? Haben die Schlafstörungen einen Grund?« Auch das war typisch mein Dad. Er versuchte sofort, jedes Problem zu analysieren und ihm auf den Grund zu gehen.
»Nein, nein«, wiegelte ich sofort ab, obwohl es mir bei seiner letzten Frage eiskalt den Rücken herunterlief. Dad durfte nie erfahren, was vor einem halben Jahr geschehen war. Ich hatte mir geschworen, diesen Vorfall mit ins Grab zu nehmen und niemals darüber zu reden. Mit niemandem. »Es war nur die eine Nacht. Ich bin um drei wach geworden und konnte nicht mehr einschlafen. Keine Ahnung, warum. Vielleicht war Vollmond oder so.«
Dad wirkte nicht überzeugt, und für einen Moment war ich sicher, dass er mich weiter löchern würde. Doch schließlich nickte er, und ich atmete erleichtert aus. »Alles klar, mein Junge. Dann sieh mal zu, dass du nach Hause kommst und dich ausruhst. Mach morgen nur eine leichte Einheit zur Regeneration, damit du am Sonntag im Vollbesitz deiner Kräfte bist. Du musst gewinnen, um eine Chance auf die nationalen Meisterschaften zu haben, das ist dir hoffentlich bewusst.«
»Natürlich, Dad. Ich weiß, was auf dem Spiel steht, und werde Sonntag in Topform sein.« Diese Lüge kam mir so leicht über die Lippen, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes gemacht. Dabei hatte es eine Zeit gegeben, in der ich nicht gewagt hätte, meine Eltern anzuschwindeln.
»Ich habe vollstes Vertrauen in dich. Bis Sonntag.« Dad klopfte mir auf die Schulter, was das Zeichen war, dass ich entlassen war.
Ich wandte mich gerade ab und ergriff erneut die Türklinke, als er mir hinterherrief. »Deine Mutter möchte, dass du Sonntag nach dem Wettkampf zum Abendessen kommst. Und komm bloß nicht auf die Idee, zu dieser Party heute zu gehen.«
Ertappt zog ich den Kopf ein und verließ die Schwimmhalle, ohne ihm zu antworten. Mom wollte immer, dass ich sonntags vorbeikam, und dieses Mal würde ich mich nicht herausreden können. Während das okay war, würde ich jedoch auf jeden Fall auf die Party heute Abend gehen und war mir sicher, dass mein schuldbewusstes Gesicht mich verraten würde.
Eine Stunde später klingelte es an meiner Tür. Nur mit Jeans bekleidet, öffnete ich Noah und Kayson, die jeder einen Sixpack Bier unter dem Arm hielten. »Hey, Mann, was geht?«, begrüßte Noah mich, während Kayson mir zunickte. Er war der ruhigste und ernsthafteste in unserer Runde. Eine Eigenschaft, die ich sehr an ihm schätzte. Bei Problemen war er derjenige, der das Ganze mit kühlem Kopf betrachtete, während Noah, der Spaßvogel, viele Sachen nicht ernst nahm und ich zu aufbrausend war.
Die beiden gingen ins Wohnzimmer und ließen sich auf die Couch fallen. Ich stellte das Bier in den Kühlschrank und zog mich fertig an, ehe ich mich zu ihnen gesellte. Noah hatte bereits den Fernseher angeschaltet und zappte durch die Kanäle, während Kayson in meiner Schwimmzeitschrift blätterte. »Was für eine Party ist das heute eigentlich?« Ich setzte mich in den Sessel und strich mir über das immer noch feuchte Haar.
Noah ließ die Fernbedienung sinken und sah zu mir auf. »Einige Typen aus dem Abschlussjahrgang sind der Meinung, dass sie noch mal richtig auf den Putz hauen müssen, bevor der Prüfungsstress losgeht. Deswegen schmeißen sie jetzt noch mal ein paar Partys im Wohnheim.«
»Hat eure Wohnheimleitung nichts dagegen?«, hakte ich nach. Meines Wissens waren die Leitungen streng darauf bedacht, dass die Partysituation nicht eskalierte.
Kayson schnaubte. »Ich glaube, einer von denen vögelt Mrs Williams.«
Ich verzog das Gesicht. »Ist sie nicht vierzig oder so?«
»Ist sie, aber für ihr Alter ist sie heiß.« Noah wackelte anzüglich mit den Augenbrauen. »Außerdem macht Jordan das nur, damit sie ihm bei den Partys nicht dazwischenfunkt.«
Kopfschüttelnd ging ich in die Küche, um für uns alle Bier zu holen. Eines würde ich mir gönnen und danach auf alkoholfreies umsteigen. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, gar keinen Alkohol zu trinken, aber eins schadete sicher nicht. Manchmal wünschte ich mir, ein ganz normaler Student zu sein wie alle anderen auch.
Als ich zurückkam, hatte Noah einen Musiksender gewählt und den Ton etwas lauter gestellt. Wir quatschten eine Runde über die bevorstehende Basketballsaison, ehe wir uns gegen zehn auf den Weg zum Wohnheim machten.
Meine Wohnung lag ein wenig außerhalb des Campus. Es war ein Kampf gewesen, meine Eltern dazu zu bewegen, mich alleine wohnen zu lassen. Vor allem mein Dad hatte befürchtet, dass ich nur Dummheiten machen und auf Partys gehen würde. Er wollte nicht, dass mein Training darunter litt, und meinte, dass ich im Wohnheim besser aufgehoben wäre. Es hatte mich einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, bis ich ihm glaubhaft versichert hatte, dass im Wohnheim viel mehr Partys geschmissen wurden als in meiner eigenen Wohnung.
Schon von Weitem war die laute Musik zu hören. Sie schallte bis über den Campus hinaus in die angrenzende Siedlung. Wenn das so weiterging, war eine verärgerte Wohnheimleitung das geringste Problem der Partyveranstalter. Sollte die Polizei wegen Ruhestörung gerufen werden, würde Mrs Williams ihr Techtelmechtel mit Jordan sicher vergessen und ihn ausliefern.
Wir betraten das hohe Backsteingebäude, in dem die Musik so laut war, dass sie meine Haut zum Vibrieren brachte. Das untere Stockwerk war vollgestopft mit Menschen, sodass ich mir einen Weg durch die Massen bis zur Küche bahnen musste. Ich wollte sehen, ob einige meiner Schwimmkollegen da waren, während Kayson und Noah bereits nach oben gingen.
Der Geruch von Alkohol, Schweiß und den süßen Parfums der Frauen lag schwer in der Luft.
»Hey, Theo. Ich wusste gar nicht, dass du auch hier bist«, sagte eine Stimme neben mir, kaum dass ich die Küche betreten hatte, um mir eine Flasche Cola zu besorgen. Ich wandte mich ihr zu und entdeckte eine Frau neben mir, die ich auf den ersten Blick nicht einordnen konnte. Sie hatte lange, blonde Haare, war recht hübsch und trug ein Kleid mit einem Ausschnitt, der ihr fast bis zum Bauchnabel reichte. Mein Blick wurde von den sanften Rundungen ihrer Brüste angezogen, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte.
»Hey …«, sagte ich und trat einen Schritt näher an sie heran.
Lasziv legte sie eine Hand auf meinen Oberarm und sah mich unter gesenkten Lidern an. »Larissa«, half sie mir auf die Sprünge, aber auch ihren Namen konnte ich nicht einordnen. »Ich bin in deinem Schwimmkurs«, fügte sie an, als ich nicht reagierte.
»Ah«, sagte ich und trat einen Schritt von ihr zurück. Obwohl ich ab und zu nichts gegen einen kleinen One-Night-Stand hatte, hatte ich mir geschworen, von meinen Schülerinnen die Finger zu lassen. Zwar war ich auf dem College ohnehin schon als Frauenheld bekannt, aber ich wollte nicht, dass mein Dad Wind davon bekam.
»Du bist ein wirklich guter Trainer. Machst du das schon lange?« Sie schnurrte die Worte regelrecht, aber mein Interesse an ihr war verflogen. Ich sah mich bereits nach einer Möglichkeit um, sie möglichst schnell abzuwimmeln.
»Erst seit diesem Jahr, ist mein erster Kurs«, sagte ich abwesend, während ich Cola in ein leeres Glas schüttete.
Sie lächelte verführerisch. »Dann bist du ein Naturtalent. Wo hast du das alles gelernt?«
Nur mit Mühe konnte ich ein Augenrollen verhindern. Dieses Gespräch langweilte mich jetzt schon. »In den fünfzehn Jahren, die ich mittlerweile selbst schwimme. Wenn man trainiert wird, bekommt man einiges mit.«
»Genau, du bist ja so erfolgreich. Wie …« Larissa redete weiter, aber ich blendete sie aus. Normalerweise mochte ich es, von Frauen wegen meiner Erfolge beim Schwimmen umgarnt zu werden, gleichzeitig ödeten mich die ewig gleichen Gespräche auch an, und heute war ich einfach nicht in der Stimmung dafür. Ich sah mich nach meinen Freunden um, ehe mir einfiel, dass sie bereits in ihr Zimmer gegangen waren.
»Du, ich geh mal meine Kumpels suchen«, unterbrach ich Larissa und sah gerade noch ihren verdutzten Gesichtsausdruck, während ich mich umdrehte und die Küche verließ. Ich atmete erleichtert auf, als sie mir nicht folgte, und scannte die untere Etage nach einem bekannten Gesicht ab, konnte jedoch niemanden entdecken. Ich kämpfte mich zur Treppe vor, um ebenfalls nach oben zu gehen, doch eine andere Person ließ mich abrupt innehalten.
Avery saß auf den Stufen, eine Hand am Geländer und den Blick nach unten gewandt. Ich konnte das Grinsen nicht verhindern, als ich näher trat. Eine Unterhaltung mit ihr würde ganz bestimmt nicht langweilig sein.