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This book poses questions that we therapists ask patients whose existence is threatened by hidden fear and hopelessness. These fears of patients of not being able to live or survive, consciously or unconsciously lead to a commitment to countervail the perceived threats. Alfred Adler sees a general principle of human life in this compensation. The special feature of the individual analytical psychology is in emphasising the individual experience and in the concept of double dynamics of compensation and sense of community. This vision is the result of case vignettes from therapy.
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1. Auflage 2016
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-026864-7
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-026865-4
epub: ISBN 978-3-17-026866-1
mobi: ISBN 978-3-17-026867-8
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Vorwort
1 Einführung
1.1 Eine kurze Einstimmung in Adlers Denken
1.2 Die Differenz zwischen Adler und Freud anlässlich ihrer Trennung 1911
1.3 Die Besonderheiten der Theorie Adlers
2 Die Lebensbewegung: Lebensstil in jedem Phänomen
2.1 Erste kurze Fallvignette
2.2 Zweite kurze Fallvignette
2.3 Dritte kurze Fallvignette
3 Das Subjektiv-Individuelle in der Lebensbewegung
3.1 Vorgeschichte
3.2 Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik
3.3 Eine entwicklungspsychologische Perspektive
3.4 Die individualpsychologische Perspektive
3.5 Individualpsychologische Deutung
4 Das Leiden an den Zielen
4.1 Auslösende Situation
4.2 Frage nach der Finalität
4.3 Adlers abstraktes Ziel versus Ideal-Ich der Psychoanalyse
4.4 Konkrete Ziele der Patientin: Bemühung und Scheitern
4.5 Restitutionsversuch als Teufelskreis
4.6 Reale Partnerbeziehung oder innere Objektbeziehung, Realität oder Projektion?
4.7 Das Leiden an der Neurose
5 Das Ziel erzwingen
5.1 Krisensituation vor Beendigung der Therapie
5.2 Diagnostik
5.3 Erster Blick auf die Lebensbewegung des Patienten
5.4 Die Lebensgeschichte des Herrn P
5.5 Der Lebensstil des Herrn P
5.6 Diskussion der Drohung mit der Pistole
5.7 Rückblick auf den Therapieverlauf
5.8 Ausblick auf sein Leben nach der Therapie
6 Veränderungen im Verlauf der Therapie
6.1 Vorgeschichte
6.2 Eine negative Übertragung nach wenigen Sitzungen
6.3 Ein Prozess der projektiven Identifikation
6.4 Adlers Psychodynamik oder der Lebensstil
6.5 Methodisches Vorgehen
6.6 Veränderungen in der Therapie
6.7 Zusammenfassung
7 Zwei Perspektiven auf die Phänomene in einer Therapiestunde
7.1 Einleitendes Protokoll Fonagys
7.2 Mein Entwurf des Lebensstils von Frau A, abgeleitet aus Fonagys Einführung
7.3 Fonagys Protokoll einer Therapiesitzung, kommentiert aus individualpsychologischer Perspektive
7.4 Meine Perspektive auf die Entfaltung der Beziehung von Analytikerin und Patientin
8 »Augenblick der Begegnung«
8.1 Darstellung des Phänomens
8.2 Zwei psychodynamische Erklärungsmuster
8.3 Meine Erfahrung des Augenblicks der Begegnung
8.4 Der »Moment of Meeting« bei Stern
8.5 Die Schlüsselrolle des »Augenblicks der Begegnung« im therapeutischen Prozess
9 Das Auftauchen des Gemeinschaftsgefühls im Augenblick der Begegnung
9.1 Doppelte Dynamik in jedem Phänomen
9.2 Adlers Konzeptualisierung der Bewegung
9.3 Der erste Aspekt der doppelten Dynamik, das Überwindungsstreben
9.4 Der zweite Aspekt der doppelten Dynamik, das Gemeinschaftsgefühl
9.5 Das Auftauchen des Gemeinschaftsgefühls im Augenblick der Begegnung
10 Verschiedene Perspektiven auf die Phänomene
10.1 Einführung von Fosshage mit seinen Angaben zur Anamnese der Patientin
10.2 Protokolle der Sitzungen
10.3 Mein individualpsychologisches Verständnis der Patientin im Vergleich zum Verständnis anderer Kommentatoren
10.4 Zusammenfassung
11 Psychoanalytische Konzepte in individualpsychologischer Sicht
11.1 Intersubjektive Entwicklung des Lebensstils im Vergleich mit anderen Richtungen
11.2 Interaktion der Lebensstile in der Kindheit und in der Therapie
11.3 Gemeinschaftsgefühl in der Begegnung von Analytikerin und Patient
12 Die doppelte Dynamik
12.1 Die doppelte Dynamik in jedem Phänomen
12.2 Die Ausgestaltung der Lebenskraft in der doppelten Dynamik
12.3 Die Individualpsychologie im philosophischen Verständnis
Literaturverzeichnis
Alfred Adler Studienausgabe
Alfred Adler Schriften
Allgemeine Literatur
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis
Seit vielen Jahren beschäftigen mich bestimmte Themen in Adlers Schriften, die ich wie ungehobene Schätze seiner Theorie empfand. Zum Beispiel, wie sehr unbewusste Phantasien oder Fiktionen das menschliche Fühlen und Handeln prägen; wie schon in frühester Kindheit ein unbewusster Lebensentwurf gestaltet wird und fortan das Leben bestimmt. Auch faszinierte mich in Adlers Hauptwerk von 1912 seine Betonung der Eigenaktivität des Kleinkindes aufgrund seiner schöpferischen Kraft. Mit seinem Konzept des Gemeinschaftsgefühls konnte ich mich lange Zeit nicht anfreunden, bis ich dann Adlers Schriften gründlicher studierte. Das Gemeinschaftsgefühl steht im Zentrum der Individualpsychologie ebenso wie der Mensch, wie er leibt und lebt, strebt und scheitert.
Wesentlich ist, dass es Adler immer um das Individuelle geht. Man muss die Einzigartigkeit des Selbst oder das Wesen der Person intuitiv erahnen. Wenn man nur die Bedeutung eines Symptoms verstehen will, sagt Adler: »Reißt man ein einzelnes Phänomen aus diesem Zusammenhang, so wird man es immer missverstehen. Die einzelnen Töne sagen uns nichts, wenn wir die Melodie nicht kennen. Wer aber die Bewegungslinie eines Menschen kennt, für den beginnen die einzelnen Erscheinungen zu sprechen« (Adler, 1923c/2010, S. 207).
Es gibt inzwischen unzählige Erkenntnisse der psychoanalytischen und psychotherapeutischen Richtungen, die für jeden Therapeuten eine Bereicherung darstellen. Aufgrund dieser Vielfalt stellt sich die Frage: Wie lassen sich diese Erkenntnisse für die therapeutische Praxis innerhalb der Individualpsychologie nutzbar machen? Das Buch versucht darauf eine Antwort zu geben.
Viele Einflüsse, Impulse und Anstöße haben zum Entstehen des Buches beigetragen. Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, die meine individualpsychologische Entwicklung begleitet haben. Vor allem Heide Bade und Hans-Jürgen Lang haben mir wertvolle und hilfreiche Anregungen gegeben. Der Austausch mit meinem Lebensgefährten Karl Heinz Witte hat mich in vielen Gesprächen bereichert und inspiriert. Sein Wirken hat die Rezeption der Individualpsychologie in München entscheidend beeinflusst, vor allem durch die Gründung des Studienkreises für analytische Individualpsychologie und der Werkstatt für Individualpsychologie in Bernried. Ich danke Rolf Kühn, dass er mich in die Lebensphänomenologie eingeführt hat und mir dadurch wesentliche Impulse gab, Adlers Ausdruck der doppelten Dynamik mit »Leben« zu erfüllen.
Ich danke meiner Lektorin Frau Filbrandt für ihr Interesse an meinem Buchprojekt und für ihre freundliche Hilfsbereitschaft in allen meinen Fragen und Anliegen.
München, im Oktober 2015
Gisela Eife
Nach umfangreichen empirischen Studien stellt Louis W. Sander (2009) fest:
»Wir konnten vor der Einzigartigkeit eines jeden einzelnen Aspektes der individuellen Daten unserer Teilnehmer nicht die Augen verschließen. Je genauer wir hinschauten, umso offenkundiger manifestierte sich Individualität. […] Es ist höchst bedeutsam, diese individuelle Einzigartigkeit zu erkennen und anzuerkennen. […] Nach jahrzehntelangen Untersuchungen des Normativen fragen wir: Kann es sein, dass dem auf die individuelle Einzigartigkeit gerichteten Aufmerksamkeitsfokus nun mehr eine neue Signifikanz in der Entwicklungspsychologie zugestanden werden muss – etwas, das dem simplen Weitermachen und der Beschränkung auf die Reparatur von Tragödien und Defiziten in der frühen Entwicklung entgegentritt?« (Sander, 2009, S. 276).
Die Umkehr des Aufmerksamkeitsfokus vom Normativen auf das Einzigartige entspricht der Vorgehensweise in diesem Buch. Die individualpsychologische Sichtweise soll an Fallvignetten aus der Therapie heraus entfaltet werden. Ausgehend vom Erleben der Patienten/der Patientinnen und der Analytikerin soll gemeinsam erforscht werden, mit welcher individuellen Verarbeitung die Patientinnen versucht haben, die erlebten Mängel oder Traumata zu überwinden. Nach Benedetti (1992, S. 13) liegt die existenzielle Herausforderung jeder Therapie darin, dass sich die Therapeutin nicht auf ihre Theorie, auf ihr Verstehensmodell zurückziehen kann. Es geht um die Frage nach der Existenz des Menschen, nach Grenzsituationen und Wandlungen dieser Existenz, eine Frage, die wir uns beim Patienten stellen, dessen Existenz durch furchtbare Angst und Aussichtslosigkeit bedroht ist. Ich zitiere Benedetti: »Auf diese existenzielle Frage, die jeder psychisch kranke Patient an mich stellt, unbewusst, aber von mir als solche erlebt, kann ich als Therapeut und Mitmensch nur mit dem Einsatz meiner gesamtpersönlichen Existenz antworten, wobei alle Technik, alles Wissen, alle Theorie nur die selbstverständliche, ›handwerkliche‹ Grundlage sind« (Benedetti, 1992, S. 13).
Die Besonderheit der analytischen Individualpsychologie liegt in der Zusammenhangsbetrachtung der Lebensbewegung der einzelnen Patientin und in der Betonung des individuellen Erlebens. Die Hinwendung zum Individuellen erscheint gerade heute notwendig, da viele Menschen in ihrem Selbstverständnis sich entfremden, sich einer Zweckrationalität unterwerfen und als Folge ihre eigenen zutiefst menschlichen Belange übergehen. Die existenzielle Perspektive der analytischen Individualpsychologie nimmt diese Entfremdung der Menschen von sich selbst in den Blick. Denn aufgrund der Entfremdung wird die eigene Lebendigkeit nicht mehr gespürt und das eigene Leben erscheint abhängig von Dingen und Sachverhalten in der Welt. Lebt man sein Leben auf diese Weise, so glaubt man, dass die eigene Existenz Sinn, Fülle und Gelingen vor allem in der Teilhabe an den Dingen und Trends der Welt finden kann. Eine solche Vermittlung von Leben durch Gegenstände und Konstellationen außerhalb des subjektiven Lebens führt dazu, dass es sich nicht mehr zu empfinden vermag. Denn seine Wirklichkeit kann das Leben nur aus sich selbst, aus seinen inneren Erfahrungen und Empfindungen beziehen.
Die inneren Erfahrungen der Patienten sind voller Leid und rufen tiefe Ängste hervor, nicht leben oder überleben zu können. Die Ängste führen bewusst oder unbewusst zu einem Bestreben, die empfundenen Defizite und Traumata zu kompensieren. Für diese Kompensation findet Adler ein allgemeines Prinzip des menschlichen Lebens, das den existenziellen Ansatz seiner Dynamik deutlich macht: Der Mensch entwirft (unbewusst) Vorstellungen von sich selbst, wie er sein möchte, um in dieser Welt leben zu können. Für Adler bündeln sich die psychischen Tendenzen in einer »leitenden Fiktion«,die der allgemeinen Lebensbewältigung, aber auch dem Überleben in einer feindlich empfundenen Umwelt dient. Wenn diese Zielvorstellung außerhalb der menschlichen Möglichkeiten angesiedelt ist, scheitern die Patienten in ihren Bemühungen, das unbewusst gesetzte Ziel zu erreichen. Dies führt sie letztlich zur Therapie.
Im Gegensatz zu Freud hat Adler kein Theoriegebäude (Rieken, Sindelar & Stephenson, 2011; Schmidt, 1982) entwickelt, auch wenn teilweise eine Systematisierung versucht wurde (Ansbacher & Ansbacher, 1972). Ein Theoriegebäude kann dazu führen, dass die klinische Erfahrung in den Hintergrund tritt. Diesen Eindruck haben auch Buchholz und Gödde (2013). Sie beschreiben, wie therapeutische Prozesse von affektiver Resonanz geprägt sind und hoffen mit ihrem Konzept der resonanten Dimension des Unbewussten, dass die klinische Situation wieder ihren Primat gegenüber der Theorie gewinnt. Denn nicht nur in der Diagnostik, sondern teilweise in speziellen störungsspezifischen Behandlungen wird der Patient/die Patientin eingeordnet in die Klassifikationen psychischer Störungen (Arbeitskreis OPD, 2014; Dilling, 2011; Rudolf, 2006).
Adlers Schriften zu lesen fällt dem Leser schwer, wenn er eine systematische Darstellung der Lehre erwartet. Das Lesen seiner Schriften ist wie ein Spaziergang am Meeresstrand, bei dem immer wieder metaphorische Edelsteine aufleuchten, wie Muscheln und besondere Steine, jedenfalls Dinge, die persönlich berühren, begeistern und zum weiteren Nachdenken anregen.
In der klinischen Anwendung der Individualpsychologie kann bei Bedarf auf psychoanalytische Phänomenbeschreibungen fokussiert werden, ohne die adlerianische Perspektive (Bühring, 2011) aus dem Blick zu verlieren ( Kap. 11). Auf diese Weise kann richtungsübergreifend gearbeitet werden. Eine weitere Besonderheit der Individualpsychologie liegt in der allgemein verständlichen Sprache, sodass auch Laien den Ausführungen gut folgen können.
Die Annahme, dass entscheidende seelische Erfahrungen unbewusst bleiben, bildet eine Grundannahme der Individualpsychologie und der Psychoanalyse. Zwei weitere Grundannahmen sind für Adler wesentlich: die Ganzheitsbetrachtung und die Sicht auf das menschliche Leben als Bewegung.
»So sonderbar es manchem klingen mag, es hat nie jemand anders geurteilt, als dass er zuerst das Ganze zu erfassen und in den Einzelheiten wieder die ganze Linie zu entdecken versucht hat, die sich durch das Ganze hindurchwindet, diese Linie, die Bewegungslinie, die uns das Seelenleben vorstellen muss, in dem nichts Ruhendes, in dem jedes Element dieser Bewegung Schluss einer vorhergegangenen Bewegung und Beginn einer neuen ist« (Adler, 1926k/2010, S. 252).
Ganzheit und Bewegung sind grundlegende Erfahrungen. Nach Daniel N. Stern sind »Ganzheiten, Gestalt und emergente Eigenschaften das, womit wir arbeiten müssen, und das, woraus die vertraute Welt großenteils gemacht ist« (2010, S. 6). Nach Stern werden in den Bewegungen basale »Ausdrucksformen der Vitalität« als Ganzes in einer Gestalt wahrgenommen (ebd., S. 5), wobei die Bewegung sogar »eine Vorrangstellung in der Erfahrung« das ganze Leben hindurch hat (ebd., S. 19). Nach Lauschke (2015) entsenden Bewegungen ins Bewusstsein kinästhetische Empfindungen, die von emotionalen Zuständen begleitet sind. Sie zitiert auch Müller-Freienfels, dass zur Wahrnehmung vier Bewegungen gehören: die Auffassungs-, Anpassungs-, Nachahmungs- und Ausdrucksbewegung.
Dass das Leben Bewegung ist, klingt einerseits wie eine Selbstverständlichkeit, andererseits ist es ungeheuer schwer, alle Inhalte des Seelenlebens einschließlich des Ich in Bewegung zu denken. Nach Ansicht des Quantenphysikers Hans-Peter Dürr denken wir immer noch in den Kategorien der klassischen Physik. Theoriegebäude, abstrakte Konstruktionen und Begriffe bestimmen unser Denken und verleiten uns dazu, die Begriffe zu verdinglichen. Wenn Dürr (2012) die neue Sichtweise der Physik beschreibt, spricht er von einer anderen Dimension, die ein radikales Umdenken erfordert. Diese andere Sichtweise der Wirklichkeit in Sprache auszudrücken, sei schwierig, weil jene Wirklichkeit sich dem Greifen und Begreifen entzieht. »Die Beziehungen der Quantentheorie bewirken, dass die Eigenexistenz von Teilen aufgehoben wird und damit ein neues und qualitativ anderes Ganzes entstehen kann« (Görnitz & Görnitz, 2008, S. 76).
Die Wirklichkeit ist nichts Feststehendes, sondern ein Erfahrungsfeld von Möglichkeiten. Wirklichkeit ist »ein Erwartungsfeld, eine Art Potenzialität, die angibt, wie wahrscheinlich in Zukunft ein reales Ereignis auftreten kann. Es bezeichnet nicht die Realität des Zukünftigen selbst – die Zukunft ist wesentlich offen« (Dürr & Oesterreicher, 2001, S. 37). Die Wirklichkeit entzieht sich dem Begreifen, weil sie, laut Dürr, im Unterschied zur dinglichen Realität nur die Möglichkeit einer Gestaltgebung ist. Und doch kann sie erfahren werden. Sie kann bruchstückhaft erfahren werden, indem wir Aspekte von ihr als dingliche Realität empirisch untersuchen. Schwierig wird es, sie in ihrer Ganzheit und Potenzialität zu erfahren. Dürr verweist in einem Seminar der Lindauer Psychotherapiewochen auf die Bedeutung der Ahnung im Erkenntnisprozess. Wenn ich die Dinge genau sehe, fixiere ich mich auf Einzelheiten. Aber Beziehungsstrukturen erkenne ich nur, wenn ich nicht »scharf« sehe. Das Erkennen der Beziehungsstrukturen trotz des unscharfen Sehens nennt Dürr die Ahnung. Nicht das Wissen, sondern die Ahnung vermittelt zwischen der Wirklichkeit als Möglichkeit zur Gestaltgebung und der dinglichen Realität, die ich empirisch erfassen und messen kann.
Erkenntnistheoretisch stellen in der Individualpsychologie und ähnlichen Wissenschaften die Konnotationen der Begriffe einen solchen Zwischenbereich der Ahnung dar. »Konnotation« meint im allgemeinen Sprachgebrauch die Nebenbedeutungen eines Wortes. Konnotation kann man auch als zusammen-schreiben, zusammen-denken verstehen. Dieses Zusammen-Denken meint: aus den vielen Möglichkeiten die für die jeweilige Wirklichkeitskonfiguration passenden Verbindungen hervorzuheben. Der Wissenschaftstheoretiker Schülein (1999, S. 211 f) nennt deshalb die Konnotationen eines Begriffs sozusagen den »Hof« der Ahnungen um den Begriff herum oder den Raum, in dem die Wirklichkeit als offene Möglichkeitsgestalt erfasst wird. Deshalb spricht er von der dauerhaften Vorläufigkeit der zur Interpretation der Realität verwendeten Theorien. Die Leistung konnotativer Theorien liege darin, dass sie nicht Funktionszusammenhänge, sondern Sinnzusammenhänge auf ihren Begriff bringen.
Für die Individualpsychologie gilt die Zuordnung zu den konnotativen Theorien in besonderer Weise. Ihre Begriffe wie »Minderwertigkeitsgefühl« und »Gemeinschaftsgefühl« sind anschaulich, vage und vieldeutig. Sie sind sprachlich den Phänomenen sehr nahe und haben einen ausgedehnten Konnotationshof. Werden ihre Begriffe nur alltags- und umgangssprachlich verwendet, dann besteht die Gefahr der Verflachung. Werden dagegen die Konnotationen mit dem Begriff »zusammengedacht«, dann ist die individualpsychologische Theorie ganzheitlich und mehrdimensional. Was manche Individualpsychologen oft kritisiert und bedauert haben, erweist sich hiermit als eine Besonderheit. Die Leistung der Individualpsychologie als konnotativer Theorie liegt darin, dass sie sowohl durch die sprachliche Nähe zum Phänomen wie durch Unschärfe und Vieldeutigkeit ihrer Begriffe das »Unmögliche« fertig bringt, die Komplexität der Sinnzusammenhänge trotz der Reduktion zu bewahren.
Alles, was theoretisch »auf den Begriff gebracht wird«, zeigt sich ursprünglich in der therapeutischen Situation als Phänomen. Die Phänomenologie ist die Erforschung der Dinge (»Erscheinungen«), wie sie sich dem Bewusstsein präsentieren; dazu gehören Wahrnehmungen, Sensationen, Gefühle, Erinnerungen, Träume, Phantasien, Erwartungen, Ideen – all das, was uns innerlich bewegt. Die Phänomenologie fragt nicht danach, wie diese Dinge von unserem Geist erzeugt wurden oder wie sie ihren Weg ins Bewusstsein fanden. Sie beschäftigt sich ausschließlich mit der Erscheinung der Dinge, mit der Art und Weise, wie sie sich von sich her zeigen und sich unserem Erleben präsentieren oder darstellen. Der englische Dichter William Blake (1757–1827) fand für die Ganzheit, wie sie sich uns präsentiert, eine wunderschöne Metapher: »Um eine Welt in einem Sandkorn zu sehen und einen Himmel in einer wilden Blume, halte die Unendlichkeit in deiner flachen Hand und die Ewigkeit in einer Stunde.«1
Seelische Phänomene sind sprachlich nicht eindeutig fassbar. Über »Seelisches kann kaum anders denn metaphorisch gesprochen werden« (Buchholz & Gödde, 2005, S. 703). Metaphern werden nach dem Philosophen Ricoeur gebraucht, um das Träumen der Worte zu hören (ebd., S. 680). Die Metapher verweist »über den manifesten Aussagegehalt auf etwas Anderes, das jenseits ihrer selbst liegt, auf das sie nur deuten kann« (ebd., S. 703). Mit Hilfe der Metapher »können wir über diskursiv Unsagbares (wie die Zeit, das Leben, die Seele, den Tod, Beziehungen oder die Liebe) sprechen« (ebd., S. 684).
Die klinischen Phänomene werden unterschiedlich konzeptualisiert ( Kap. 11). Zum Beispiel tauchen sie bei Wilfried Bion und Antonino Ferro als »Beta«- und »Alpha-Elemente« im therapeutischen Feld auf, bei Daniel Stern als »Gegenwartsmomente«, die zu einem Begegnungsmoment führen können. Bei Adler zeigt sich in jedem Phänomen »die doppelte Dynamik« ( Kap. 12).
Nach Adler ist das Leben eine Bewegung, die in Form des Lebensstils auf ein Finale ausgerichtet ist. Wie in einem Film, der vor unserem Auge abrollt, wird jedes Bild nur verständlich,
»wenn wir das Ganze im Auge haben, wenn wir die Bewegungslinie weiter ausziehen, den Blick richten auf das Finale dieser Bewegung, das Endziel, zu dem alles zusammentritt. Dichter, wenn sie Personen und Gestalten schufen, handelten so, dass sie bereits zu Beginn, schon im ersten Akt die Grundlinien legten, die unweigerlich zu einem einheitlichen Ende führen mussten. Die großen Komponisten vereinigten schon in den ersten Takten den ganzen Sinn ihrer Symphonie. Sie gaben uns ein richtiges Bild des menschlichen Seelenlebens« (Adler, 1926k/2010, S. 252).
Diese Bewegung zum Finale dient nach Adler der Bewältigung und der Sicherung des Lebens. Um sich vor der Unberechenbarkeit des Lebens zu sichern, versucht der menschliche Geist, »alles Fließende in eine Form zu bringen«; Adler spricht von der gefrorenen Bewegung, von der Bewegung, die Form geworden ist. Das Finale der gefrorenen Bewegung ist ein fiktives Ziel. Adler beruft sich dabei auf die 1911 erschienene ›Philosophie des Als ob‹ Vaihingers (1927). »Für Vaihinger sind unsere Vorstellungen von der Welt und von den Dingen in erster Linie praktische Analogien, gedankliche Hilfsoperationen, die uns Handeln und Selbstbehauptung in der Wirklichkeit ermöglichen« (Wiegand, 1995, S. 152 f). Metaphern (Buchholz & Gödde, 2005, S. 685) und Fiktionen werden im Modus des Als-ob verwendet und vermeiden dadurch die Gefahr einer Hypostasierung. Die Auffassung des Fiktiven besagt, dass nicht eine objektive Erkenntnis, sondern subjektive Interpretationsweisen das menschliche Handeln bestimmen. Dieses Individuelle der Weltsicht, die sowohl Irrtumsmöglichkeiten wie auch subjektive Wahrheit umfasst, fließt in Adlers Aussage ein: »Die goldene Regel der Individualpsychologie lautet: ›Alles kann anders sein‹« (Adler, 1936f/2010, S. 604; siehe auch Adler, 1933/2008, S. 25). Diese Aussage meint nicht, dass alles beliebig ist, sondern es ist eine programmatische Feststellung Adlers. Mit Hilfe dieser Aussage (»Alles kann anders sein«) lassen sich ideologische Festlegungen erkennen. Adler spricht von den vielen Varianten des Seelenlebens, die sich im Individuellen ausdrücken. Nach Adler (1931/2010, S. 453) ist die Sprache zu arm, um die tausend Varianten zu schildern. Es kommt auf den Zusammenhang an, welche Gedanken, Gefühle, Emotionen und Affekte bestehen und welche Folgerungen daraus gezogen werden (ebd. S. 454).
Die Individualpsychologie sieht zwei Dimensionen der menschlichen Lebensbewegung: eine aktive unbewusste bis bewusste Bewegung hin auf ein Finale und eine in jedem Moment des Lebens auftauchende subjektive leibseelische Erfahrung. Nach Adler kann der Patient »nichts anderes benützen, als was in seiner (früheren) Erfahrung gelegen ist. Es ist unmöglich, irgendwie anders vorzugehen als unter Benutzung früherer Erfahrung« (Adler, 1931m/2010, S. 474). Eine »frühe Erfahrung«, ein früher Ausdruck von Gefühlen, ist eine unmittelbare Erfahrung, die im Hier und Jetzt der therapeutischen Sitzung wieder auftaucht, auch wenn das »Material seiner Erfahrungen […] in der Vergangenheit« (Adler, 1931f/2010, S. 502) liegt. Die subjektive Erfahrung des Patienten teilt sich in all seinen Ausdrucksbewegungen mit, atmosphärisch, in Gesten, im Spiel des Kindes oder in den Worten des heranwachsenden oder erwachsenen Patienten. Die therapeutische Haltung der Mitbewegung gilt für jede Altersgruppe (vgl. Behrmann-Zwehl & Freund, 2014, S. 94).
Nach Adler bieten sich »verschiedene Aspekte der unmittelbaren Erfahrung. Aber Wissenschaft werden diese erst, wenn es uns gelingt, die unmittelbaren Erfahrungen, die wir machen, auf etwas tiefer liegendes Gemeinsames zurückzuführen, das durchaus nicht unmittelbar mehr erfassbar ist, sondern nur als Idee, als vereinigendes Prinzip vorhanden ist« (Adler, 1931l/2010, S. 453). Dieses Prinzip ist nach Adler der Lebensstil ( Kap. 1.3). Bion (1997, S. 12 f) nennt dieses Gemeinsame der unmittelbaren Erfahrungen die »Invarianten« in der Transformation. Er findet dafür eine schöne Metapher, in der dasselbe Mohnfeld malerisch in den unterschiedlichsten Stilrichtungen dargestellt wird. Damit ich das Mohnfeld als Mohnfeld erkenne, muss es in der Transformation vom Mohnfeld in der Realität zum Mohnfeld im Gemälde Invarianten geben, etwas, das unveränderbar ist. Wenn ich diese Metapher auf die therapeutische Situation übertrage, dann transformiert sich die emotionale Erfahrung des Patienten in all seinen Ausdrucksmöglichkeiten. Im Mit-Pathos mit den Spielepisoden, Inszenierungen und verbalen Mitteilungen ahne ich, was der Patient fühlt und in einem eher träumenden Denken, der rêverie nach Bion, erschließt sich mir vielleicht eine Deutung. Dies geschieht im umgekehrten Weg der Transformation von der Mitteilung zurück zu den Invarianten der emotionalen Erfahrungen. Aus meiner Perspektive der Individualpsychologie erkenne ich auf diese Weise das Lebensstilmuster, das sich unverändert wiederholt.
Die Frage ist: Wie kann eine unmittelbare Erfahrung konzeptualisiert werden? Denn solange die Erfahrung unmittelbar ist, präsentiert sie sich nicht in einem Konzept; wenn sie aber Ausdruck gefunden hat, ist sie nicht mehr unmittelbar. Bei den Lindauer Psychotherapiewochen 2002 sprach Hans Peter Dürr über die Wirklichkeit als dingliche Realität oder offene Möglichkeitsgestalt. In diesem Seminar fand er eine Metapher für die unmittelbare Erfahrung an der Schwelle zur Bewusstwerdung im Unterschied zur tatsächlichen Bewusstwerdung und zur dann folgenden Konzeptualisierung dieser Erfahrung. Die Metapher ist: Eingetaucht-Sein im Wasser und Auftauchen aus dem Wasser. Solange ich unter Wasser bin, weiß ich nicht, dass ich nass bin, erst wenn ich auftauche. Wenn ich aber schnell auftauche, dann bin ich noch nass, und »unmittelbar danach« weiß ich noch, wie es im Wasser war. Das ist der Beginn der Konzeptualisierung eines Verrinnenden. Gegenüber dem Erleben, in dem ich mitten drin bin, ist die Erfahrung, sobald ich mir meines Erlebens bewusst werde, schon etwas Verarbeitetes. In dieser Metapher entspricht das Auftauchen aus dem Wasser, das Gerade-noch-nass-Sein, der verwehenden Spur der unmittelbaren Erfahrung. Wenn wir Dürrs Metapher übertragen auf das psychische subjektive Erleben, dann ist das Erleben der Erfahrungsbezug, sozusagen das Rohmaterial, auf dem die Sprache aufbaut.
Das ursprüngliche subjektive Erleben ist nicht greifbar und doch ist es ganz real und bestimmt unser Leben. Daniel Stern konzeptualisiert die Erfahrung im Gegenwartsmoment: »Die gefühlte Erfahrung des Gegenwartsmoments ist all das, dessen ich mir jetzt, während ich den Moment lebe, gewahr bin.« (Stern, 2005, S. 50). Dem subjektiven Erleben nach scheinen die aktuellen psychischen Inhalte unbemerkt ins Gewahrsein zu gleiten oder mitunter zu springen, ohne dass wir von ihrer Bildung Notiz genommen hätten.
»Der Gegenwartsmoment ist häufig schwer zu erfassen, weil wir immer wieder blitzschnell aus dem aktuellen Erleben herausspringen, um eine objektive Position, den Blickwinkel einer dritten Person, zu beziehen. Wir versuchen das, was wir soeben erlebt haben, festzuhalten, indem wir es im nächsten Augenblick in Worte oder Bilder fassen. Diese Bemühungen um Introspektion (unverzögerte Retrospektion) scheinen das Erleben zu objektivieren. Und von dieser distanzierteren Position aus können wir fragen: Kann es nicht so und so erklärt werden? […] Gewöhnlich übersehen wir dabei, dass wir mit jedem Sprung aus einem Gegenwartsmoment heraus in einen anderen (den nächsten) Gegenwartsmoment hineingelangen – in diesem Fall in die neue Gegenwartserfahrung des Nachdenkens über die vorangegangene Gegenwartserfahrung« (ebd., S. 50).
So weit Daniel Sterns phänomenologische Betrachtung.
Die Erfahrung teilt sich auf in die Vorgängigkeit dessen, was uns affiziert, und eine Nachträglichkeit dessen, was wir darauf antworten. Deshalb spricht Waldenfels (2002, S. 9) davon, dass die Erfahrung gebrochen ist, sich zerteilt. Widerfahrnisse gleichen einer Wunde, die wir schon empfangen haben, wenn wir sie vorweisen. Im Getroffensein komme eine eigentümliche Passivität zum Ausdruck, aber eine »Passivität, die nicht das schiere Gegenteil einer Aktivität ist« (ebd.). Das Getroffensein-von sei radikaler zu denken, nämlich als Vorgängigkeit einer Wirkung, die dem Erscheinen ihrer Ursache vorausgeht. Erst im Antworten auf das, wovon wir getroffen sind, trete das, was uns trifft, als solches zutage.
Merleau-Ponty würdigt die individuelle Erfahrung:
»Gerade in unserer Unterschiedenheit, in der Einzigartigkeit unserer Erfahrung, bekundet sich ihr eigentümliches Vermögen, zum Anderen zu gelangen, die Akte des Anderen nachzuvollziehen; und hier findet sich eine Wahrheit begründet, auf die wir, wie Pascal sagte, nicht verzichten, zu der wir aber auch keinen vollen Zugang haben können. […] Von dem Augenblick an, in dem ich erkannt habe, dass meine Erfahrung, gerade insofern sie die meine ist, mich dem öffnet, was ich nicht bin, dass ich für die Welt und die Anderen empfindsam bin, nähern sich mir in einzigartiger Weise alle Wesen, die das objektive Denken auf Distanz hielt. Oder umgekehrt: Ich erkenne meine Verwandtschaft mit ihnen, ich bin nichts als ein Vermögen, ihnen Widerhall zu geben, sie zu verstehen, ihnen zu antworten. Mein Leben erscheint mir absolut individuell und absolut universell« (Merleau-Ponty, 2003b, S. 63).
Dem Vermögen, Widerhall zu geben, entspricht in der Individualpsychologie die originäre Verbundenheit, der basale Aspekt des Gemeinschaftsgefühls. Die individuelle Erfahrung wird in doppelter Weise verarbeitet: in der Verbundenheit der Menschen, die leid- oder freudvoll sein kann, und in der zielgerichteten Bewältigung des Lebens. Adler prägte 1929 den Ausdruck »doppelte Dynamik« (Adler, 1929f/2010, S. 353), ein Konzept, das er nicht mehr ausgearbeitet, aber in vielen Gedankengängen weiter verfolgt hat. Die Doppelheit der Erscheinungen findet sich auch in der philosophischen Richtung der Lebensphänomenologie (Henry, 1992; Henry, 1997; Kühn, 2009) und in den philosophischen Gedankengängen von Karl Heinz Witte (2010) ( Kap. 12).
Dieses Buch versteht sich als ein Vorschlag zum therapeutischen Denken und Handeln, vor allem aber als Einladung zum Weiterdenken und Fortentwickeln der analytischen Individualpsychologie. Wenn von der »individualpsychologischen« Sichtweise die Rede ist, ist meine eigene subjektive Auslegung und Weiterentwicklung von Adlers Gedankengängen gemeint. Selbstverständlich sind andere Auslegungen möglich. In diesem Buch verwende ich im Allgemeinen die weibliche Form und spreche mit Ausnahme mancher Fallbeispiele von Patientin und von Therapeutin oder Analytikerin.
Alfred Adler wurde 1902 von Sigmund Freud eingeladen, sich einem kleinen Gesprächskreis von Kollegen anzuschließen. Aus diesem kleinen Kreis wurde die psychoanalytische »Mittwochgesellschaft«.Adler gehörte somit zu deren Gründungsmitgliedern. Wie Almuth Bruder-Bezzel (Adler, 2007, S. 9) schreibt, wurde Adler in diesem Freud-Kreis der frühen Jahre einer der aktivsten, ideenreichsten, einflussreichsten und stets anwesenden Vortragenden und Diskutanten – das ist in den »Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung« (ab 1906) gut zu verfolgen (Nunberg & Federn, 1976–1979). 1908 schrieb Freud an Adler, er sei »der stärkste Kopf der kleinen Vereinigung und einer, der so viel Einfluss auf deren Zusammensetzung genommen hat« (Bruder-Bezzel, 2011, S. 30). Nach neunjähriger Zugehörigkeit wurde Adler 1911 der erste »Dissident«. In den Abschnitten 1.2.1 und 1.2.2 folge ich den Ausführungen von Karl Heinz Witte (2000).
Eine wesentliche Meinungsverschiedenheit zwischen Adler und Freud betraf die Gewinnung von Erkenntnissen. Allgemeine Regeln und statistische Erfassung dürfen nach Adler nur »zur Beleuchtung des Gesichtsfeldes Verwendung finden, auf dem der Einzelfall in all seinen Verwicklungen gesichtet werden muss« (Adler, 1933l/2010, S. 568). Diese Metapher aus der Optik, »ein Gesichtsfeld beleuchten«, repräsentiert als wissenschaftstheoretisches Prinzip den Perspektivismus, der besonders von Nietzsche entwickelt wurde (König, 1971–2007): Es hängt von meinem Standpunkt und meiner Blickrichtung ab, was ich erkennen kann. Adler war der Ansicht, dass es für das Verstehen des individuellen Erlebens nur einen ebenfalls individuellen Zugang gebe, und dieser bringe zwar gültige, aber keine allgemeingültigen, objektiven Erkenntnisse. Zur Erfassung des Individuums bedürfe es einer spezifischen Methode, eben der individualpsychologischen Methode, die eine Analogie mit der künstlerischen Betrachtung aufweist. Freud (1914/1941, S. 104) hingegen fordert in seiner Polemik gegen Adler und Jung, »den Faktor der persönlichen künstlerischen Willkür dort möglichst einzuschränken, wo er noch eine übergroße Rolle spielt«. Aus diesem Grundgegensatz in der Auffassung von Wissenschaft entspringen die von Freud abweichenden Konzepte der adlerschen Individualpsychologie. Insofern besteht die Differenz zwischen Adler und Freud anlässlich ihrer Trennung 1911 in der Frage, welche Gültigkeit die Erkenntnisse der Psychoanalyse haben. Die Unvereinbarkeit der Positionen Freuds und Adlers liegt demnach erst sekundär in divergierenden Meinungen über bestimmte theoretische Inhalte, z. B. über die Rolle der Sexualität bzw. des Willens zur Macht oder über die Bedeutung des Ich bzw. des Unbewussten.
Unvereinbar waren nicht nur die Konzeptionen der Psychoanalyse als Wissenschaft, sondern auch die Vorstellungen über die Strategie und die Taktik der internationalen Vereinigung, welche der »Pflege und Förderung der von Freud begründeten psychoanalytischen Wissenschaft« dienen sollte (Freud, 1914/1941, S. 89).
Auf dem (zweiten) internationalen Kongress 1910 in Nürnberg wurde in einem Überraschungscoup C. G. Jung an die Spitze der Internationalen psychoanalytischen Vereinigung gesetzt, als »Führer«, der, wie Freud schreibt, »wie selbstverständlich mein Ersatz werden sollte«. »Ein Oberhaupt, meinte ich aber, müsse es geben. Ich wusste zu genau, welche Irrtümer auf jeden lauerten, der die Beschäftigung mit der Analyse unternahm, und hoffte, man könnte viele derselben ersparen, wenn man eine Autorität aufrichtete, die zur Unterweisung und Abmahnung bereit sei« (Freud, 1914/1941, S. 85). Diese Absicht veröffentlichte Freud selbst vier Jahre nach der Gründung der IPV, und er versuchte sie bekanntlich nach Jungs Ausscheiden in seinem berüchtigten »Geheimen Komitee« weiter zu verwirklichen. Aber schon anlässlich der Einsetzung Jungs 1910 berichtet Freud selbst:
»Adler sprach in leidenschaftlicher Erregung die Befürchtung aus, dass eine ›Zensur und Einschränkung der wissenschaftlichen Freiheit‹ beabsichtigt sei« (ebd., S. 86). Heute wird niemand mehr bestreiten, was Adler damals argwöhnte. Den Protest gegen die Einengung der wissenschaftlichen Forschung machte Adler auch zum Hauptthema seiner öffentlichen Erklärung über die Trennung von Freud:
»Die Anregung zur Gründung des ›Vereins für freie psychoanalytische Forschung‹ ging im Juni 1911 von einigen Mitgliedern der unter der Leitung Professor Sigmund Freuds stehenden ›Wiener psychoanalytischen Vereinigung‹ aus, die zu bemerken glaubten, dass man die Mitglieder des alten Vereins auf den ganzen Umfang der Lehrsätze und Theorien Freuds wissenschaftlich festlegen wolle. Ein solcher Vorgang schien ihnen nicht nur mit den allgemeinen Grundbedingungen wissenschaftlichen Forschens schwer vereinbar, sondern bei einer so jungen Wissenschaft, wie es die Psychoanalyse ist, von besonderer Gefahr zu sein. Es hieß nach ihrer Meinung auch den Wert des bisher Erreichten in Frage stellen, wenn man sich voreilig auf gewisse Formeln verpflichten und die Möglichkeit aufgeben wollte, neue Lösungsversuche zu unternehmen. So ließ ihre Überzeugung von der entscheidenden Bedeutung psychoanalytischer Arbeitsweise und Problemstellung es ihnen als eine wissenschaftliche Pflicht erscheinen, einer nach allen Seiten hin unabhängigen psychoanalytischen Forschung eine Stätte zu sichern« (Adler, 1912a/2008, S. 21).
Wie Adler formuliert, sollen die spezifisch individualpsychologischen Aspekte »ein Gesichtsfeld beleuchten«, auf dem das Individuum erscheinen kann. In der Betonung des je Einmalig-Existenziellen in der Situation des Augenblicks ist für den Individualpsychologen der Vorrang der »Praxis« vor der »Theorie« begründet. Jeder praktizierende Psychoanalytiker jeder Richtung wird von seiner Praxis sagen, dass das individuell Ereignishafte im Augenblick der Therapiesitzung das wesentliche Moment seines Berufes ist. Die Frage ist, ob dieses individuell Ereignishafte, diese Erfahrungsgewissheiten nur für den intimen Therapieraum gültig sind oder ob sie Anspruch auf Verbindlichkeit, auf intersubjektive Zustimmung haben. Vielleicht wollte Adler deshalb dies Einmalige zum Fundament seiner individualpsychologischen Methode machen (Adler, 1926k/2010). Wilfried R. Bion (1994, S. 15) sagt:
»Ich finde, man kann zu lange in die [psychoanalytische] Ausbildung und in Seminare gehen. Erst nach dem Abschluss hat man die Chance, ein Analytiker zu werden. Der Analytiker, der du wirst, bist du selbst und du allein; du musst vor der Einmaligkeit deiner eigenen Persönlichkeit Achtung haben – sie brauchst und gebrauchst du, nicht all diese Deutungen«.
Den Konflikt zwischen Freud und Adler über bestimmte theoretische Inhalte hat Bruder-Bezzel in der Einleitung zu Band 1 der Alfred-Adler-Studienausgabe (2007) ausführlich erläutert und durch die frühen Aufsätze Adlers dokumentiert. Darauf soll hier nicht näher eingegangen werden. Zunächst sah Adler seine eigenen Beiträge als Ergänzung zu den theoretischen Überlegungen Freuds, auch wenn er ab 1906 ganz eigenständigen Gedankengängen folgte. Schon ein Jahr nach der Trennung von Freud publizierte Adler sein Hauptwerk »Über den nervösen Charakter« (Adler, 1912a/2008).
In seinem Hauptwerk entwickelt Adler sein fundamentales Prinzip der Kompensation für alles menschliche Leben: Die Psyche wird nach ihm durch ein unbewusstes Streben strukturiert, das Streben in Richtung auf ein Ziel der Überlegenheit, um den Mangel der menschlichen Existenz zu überwinden. Die Zielgerichtetheit »ist eine Auffassung a priori, […] die [uns] dazu dient, Geschehnisse zu ordnen und sie unter ein gemeinsames Licht zu stellen« (Adler, 1932g/2010, S. 517). Aufgrund einer solchen Kompensationsleistung wurde der Stotterer Demosthenes zu einem berühmten Redner. Allerdings kann dies nach Adler zur Überkompensation führen, wenn der Mensch einem Machbarkeitswahn verfällt. Durch das Überwindungsstreben wird ein Gefühl von Autorschaft über das individuelle Leben erzielt. Da Ursprung und Auswirkung des kompensatorischen Strebens unbewusst, psychosomatisch und im impliziten Gedächtnis enthalten sind, ist es entscheidend für die Therapie, das unbewusste Selbstkonzept, die impliziten Gedanken und Überzeugungen des Patienten zu erforschen.
Dieses Streben in Richtung auf ein Ziel formt eine »Gestalt«. Adler nennt sie »Lebensstil«. Eine Gestalt kann nicht in mehrere Teile aufgelöst werden. Um die Gestalt zu erahnen, werden deshalb jedes Symptom und jeder Charakterzug, sogar jedes Ereignis im Leben eines Patienten miteinander verbunden. Es ist wichtig, dass das Ganze im Blick bleibt, um die individuelle Gestalt zu erkennen.
»Reißt man ein einzelnes Phänomen aus diesem Zusammenhang, so wird man es immer missverstehen. Die einzelnen Töne sagen uns nichts, wenn wir die Melodie nicht kennen. Wer aber die Bewegungslinie eines Menschen kennt, für den beginnen die einzelnen Erscheinungen zu sprechen« (Adler, 1923c/2010, S. 207).
Man kann einige Noten einer Melodie sogar auslassen oder überhören und doch die Melodie noch erkennen. Das bedeutet, dass man in der Therapie die Individualität der Persönlichkeit des Patienten nicht erfassen kann, indem man eine Bestandsaufnahme seiner Symptome oder Charakterzüge erstellt, sondern man muss die Einzigartigkeit des Selbst oder das Wesen der Person intuitiv erahnen. Adler spricht von künstlerischer Wahrnehmung und intuitiver Einfühlung des Therapeuten.
1. Nach Adler gründet die Neurosenlehre in einem übergeordneten Motiv, nämlich der Zielorientiertheit des Menschen statt in einem Partialtrieb (Libido oder Machttrieb) oder in einem System von mehreren Motivationen. Der Mensch entwirft in den ersten drei Lebensjahren (unbewusst) Vorstellungen von sich selbst, wie er sein möchte, um in dieser Welt leben und überleben zu können. Diese unbewusste Vision (Adler, 1912a/2008, S. 80) sichert den Menschen vor der Unsicherheit des Lebens, gibt ihm Orientierung und bedingt die Möglichkeit des einheitlichen Handelns. Der Lebensstil bündelt und konzentriert die traumatischen und Mangelerfahrungen, die Adler im Begriff des Minderwertigkeitsgefühls zusammenfasst, wie einen Laserstrahl auf einen extremen Punkt. Davon ausgehend entwirft der Mensch seine Vision, sein Ziel der Sicherheit und der Überwindung dieser Erfahrungen.
2. Die Neurose des Einzelnen ist in die gesellschaftliche Machtorientierung (Alles ist machbar, wenn man sich nur anstrengt) eingebettet. Zwei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg deutet Adler die Existenz des Einzelnen in seinem In-der-Welt-Sein als »Willen zur Macht«. Alfred Adler hat diesen Begriff von Friedrich Nietzsche übernommen. »Wo ich Lebendiges fand, da fand ich den Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein« (Nietzsche, 1977a, S. 371). Jeder Lebensbereich ist davon erfasst. »Der Wille zur Macht ist der Lebenswille schlechthin. Das Wort bezeichnet die Tendenz des Lebens, speziell der Psyche, zur Selbstmächtigkeit oder zur Selbstermächtigung. Man übersieht oft, dass Nietzsche und auch Adler nicht in erster Linie von der Macht sprechen, sondern von einer Eigenart des Willens, nämlich mächtig sein zu wollen« (Witte, 2010, S. 114), und dieses Charakteristikum finden Nietzsche und Adler gerade bei solchen Menschen, denen die reale Macht fehlt. Witte (ebd., S. 114) übersetzt »Willen zur Macht« ins Psychologische: es heißt »unbedingt etwas können zu wollen«, gerade dort, wo sich dieses Etwas jedem Können-Wollen grundsätzlich entzieht.
3. Ein weiteres Merkmal ist die Individualität, wie das Ziel »die Individualität des Einzelnen« (Adler, 1923c/2010, S. 207) formt. Es geht also nicht darum, wie sich die Patienten in eine bestimmte Diagnose einordnen lassen, worin sie sich gleichen, sondern gerade umgekehrt, wie sie sich individuell unterscheiden. Symptome, die das Gleiche bedeuten, gibt es nicht (Adler, 1931m/2010, S. 465). In der Individualität eines Menschen sehen wir »seine Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und sein Ziel wie in einem Brennpunkt« (Adler, 1914j/2009a, S. 33). Man kann alle »fertige[n] Begriffsbestimmungen wie Charakter, Affekt, Temperament, Symptome, ja jede seelische Eigenschaft [nicht] anders verstehen denn als Mittel, die einem geformten Lebensplan entsprechen und ihn ausführen« (ebd., S. 33).
4. Ein viertes Merkmal: Der Lebensstil wird als frühkindliche Inkorporation entwickelt – die niemals in Worte gefasst, nur in der Weise lebendig gemacht wurde, »wie das Kind den sozialen Zusammenhang dunkel versteht« (Adler, 1933i/2010, S. 557). Darin liegt Adlers eigene dynamische Konzeption von »unbewusst« mit fließenden Übergängen von bewusst zu unbewusst. Adler geht es nicht um Inhalte, sondern um die Tatsache des Unbewusstwerdens. Innerhalb des Lebensstils hat das Unbewusstwerden eine bestimmte Funktion: Ob ein psychisches Phänomen bewusst ist oder unbewusst, hängt immer davon ab, ob es so oder so besser im Dienste des Ziels eingesetzt werden kann (Adler, 1913h/2010, S. 106). Nietzsches bekannter Aphorismus (1977b, S. 625) sagt dies wunderbar ironisch: »Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.« Auch die moderne Neurobiologie bestätigt dies (Roth, 1994).
Immer mehr beschäftigt Adler der Gesamtzusammenhang, das Leben des Einzelnen innerhalb der menschlichen Gemeinschaft, der Natur und des Kosmos. Die Jahre von 1926 bis 1933 waren für seine Theorieentwicklung eine bedeutsame und fruchtbare Zeit. In diesen Jahren wendet sich Adler nicht nur der von seinen Patienten erlebten Entmutigung zu, sondern beschäftigt sich auch intensiv mit den Phänomenen Bewegung und emotionale Erfahrung. Auf der Grundlage dieser Vorarbeiten entfaltet Adler sein Konzept des Gemeinschaftsgefühls.
Nach Adler liegt in der Erkenntnis der Wurzeln des Gemeinschaftsgefühls »der ganze Wert und die ganze Bedeutung der Individualpsychologie. […] Diese Erkenntnis ist nicht unmittelbar erfassbar, sie kann nicht gefunden werden durch eine Analyse der sichtbaren Erscheinungen und Tatsachen« (Adler, 1933i/2010, S. 551). Manche Erkenntnisse erschließen sich nur in einer inneren subjektiven Gewissheit, einer inhärenten Stimmigkeit.
Der Ausdruck Gemeinschaftsgefühl (Seidenfuß, 1995) hat einen großen Konnotationshof: Gefühl, Gemeinschaft, Verbundenheit, Bezogenheit, Einfühlung, Mitfühlen, Intuition, künstlerische Versenkung, Identifizierung, Ermutigung, Mit-Bewegung, Mit-Leben. Rainer Schmidt nennt es »eine Lichtseite in unserer Seele, eine tief in uns verwurzelte Sehnsucht nach Mitmenschlichkeit« (2008, S. 81). Psychoanalytisch: »depressive Position« mit den Gefühlen der Dankbarkeit nach Melanie Klein, das »wahre Selbst« nach Winnicott und Bion’s Sigel »O« ( Kap. 12). Ein Vorläufer-Begriff ist nach Adler das »Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes«, das eine »Befriedigung dieser nach dem Objekt ringenden Regungen« (Adler, 1908d/2007, S. 79) sucht.
Im Folgenden nenne ich drei wesentliche Aspekte des Gemeinschaftsgefühls (Eife, 2011b):
1. Die originäre Verbundenheit: Das Gemeinschaftsgefühl ist nicht nur angeboren und muss entfaltet werden, sondern es ist auch Ausdruck einer originären Verbundenheit der Menschen. »Das neugeborene Kind findet im Leben immer nur das vor, was die anderen zum Leben, zur Fürsorge, zur Sicherheit beigetragen haben« (Adler, 1933i/2010, S. 556). Der Einzelne partizipiert also am Gemeinsamen, schon bevor die individuelle Entwicklung einsetzt. Die Entwicklung der Sinnesorgane wie die Entwicklung des Denkens sind abhängig vom Interesse für den Mitmenschen; Adler nennt dieses Interesse ein »Beseeltsein« (Adler, 1931g/2010, S. 432). Fehlt es, wird der Blick »seelenlos« und leer. Das Interesse zeige sich in der Art, »wie einer zum andern spricht und sich im Sprechen mit jemand verbindet« (ebd., S. 432). »So sind alle Funktionen unserer Organe nur dann richtig entwickelt, wenn sie dem Gemeinschaftsgefühl nicht abträglich sind« (Adler, 1933i/2010, S. 556). Adler hofft, »dass die Menschheit der Zukunft Gemeinschaftsgefühl besitzen und betätigen wird wie Atmen« (ebd., S. 55). In dieser basalen leib-seelischen Dimension ist das Gemeinschaftsgefühl als Ausdruck der originären Verbundenheit der Menschen das unbewusste Leben und Mit-Leben selbst. Es ist die nicht vom menschlichen Wollen (Intentionalität) geformte unbewusste Lebensbewegung.
2. Der zweite Aspekt ist die intuitive Einfühlung und das Mitfühlen. Gemeinschaftsgefühl ist nicht aus einer nur distanzierten reflexiven Position zu erfassen, es muss erlebt und erfahren werden, mit anderen Worten: Man muss Gemeinschaftsgefühl auch sich selbst gegenüber entwickeln, sein eigenes Leben bejahen. Adler nennt es »die Verwachsenheit mit unserem Leben, die Bejahung, die Versöhntheit mit demselben« (Adler, 1908b/2007a, S. 76, Erg. 1922, Anm. 63). Wenn man mit sich selbst und seinem Leben versöhnt ist, wird man das Gemeinschaftsgefühl im Mit-Pathos oder im Mit-Leben auch auf andere übertragen. Das Phänomen der Mitbewegung zeigt sich in Adlers Forderung, eine seelische Erkrankung nur »auf jenen Wegen zu erforschen, die der Kranke selbst gegangen ist« (Adler, 1914k/2010, S. 161), aber Adler selbst verwendet den Ausdruck Mitbewegung nicht; erst Heisterkamp hat »die psychotherapeutische Wirkungseinheit auf den Begriff einer Mit-Bewegung gebracht« (2005, S. 232).
3. Im Jahr 1933 sieht Adler im Gemeinschaftsgefühl ein richtunggebendes Ideal, aber er betont auch, dass erst »die, die nach uns kommen« (Adler, 1926k/2010, S. 256) entscheiden können, ob eine Handlung sich für das Gemeinwohl positiv ausgewirkt hat. Ebenfalls 1933, im Jahr der Machtergreifung Hitlers, reagiert Adler auf die weit verbreitete faschistische und auch austrofaschistische Bewegung. Er spricht davon, dass das Konzept des Gemeinschaftsgefühls missbraucht werden kann.
»Gefährlich scheint mir der Missbrauch der Idee des Gemeinschaftsgefühls in der Form, die gelegentliche bisherige Ungeklärtheit des Weges zum Gemeinschaftsgefühl dazu zu benützen, gemeinschaftsschädliche Anschauungs- und Lebensformen gutzuheißen und zu forcieren unter dem Titel der Rettung der gegenwärtigen oder sogar einer zukünftigen Gemeinschaft« (Adler, 1933bc/2008b, S. 72).
Und er betont: Die »absolute Wahrheit« ist »dem menschlichen Vermögen unzugänglich« (ebd., S. 161).
Nach Adler ist Leben Bewegung und Entwicklung. Um eine Ganzheitsbetrachtung zu erleichtern, beziehe ich mich auf wenige adlerianische Begriffe, die die menschliche Lebensbewegung kennzeichnen: vor allem auf den Lebensstil als Minderwertigkeits-Kompensations-Dynamik und auf das Gemeinschaftsgefühl. Alle weiteren adlerianischen Begriffe lassen sich diesen wenigen Begriffen zuordnen, zum Beispiel die Ermutigung zum Gemeinschaftsgefühl, die tendenziöse Apperzeption zum Lebensstil usw. Immer wieder erhoben individualpsychologische Kolleginnen und Kollegen Einwände vor allem gegen den Begriff des Gemeinschaftsgefühls (Antoch, 2001; Wiegand, 1998). Ich meine, eine Weiterentwicklung der Individualpsychologie ist gerade mit den phänomennahen Begriffen gut möglich.
Die individuelle Stilisierung der Lebensbewegung in der Gestalt des Lebensstils braucht zwei Referenzpunkte, um ihre Bewegungsrichtung zu bestimmen: Minderwertigkeitsgefühl und leitende Fiktion (Ziel). Dabei umfasst das Minderwertigkeitsgefühl sowohl die konstitutionelle Minderwertigkeit wie die frühe Not im Erleben von Mangel oder Traumata. Die Dynamik des Lebensstils liegt im kompensatorischen Streben nach dem Ziel der Überwindung oder Überlegenheit. Das Ziel ist Ausdruck des Willens zur Macht und wird gestaltet von der schöpferischen Kraft. Die existenzielle Perspektive sieht in der menschlichen Lebensbewegung nicht nur das zielorientierte Streben, sondern auch die originäre Verbundenheit im Gemeinschaftsgefühl, das unauflösbare Affiziertsein vom Leben. Im Begriff der doppelten Dynamik führt Adler beide Aspekte, Lebensstil und Gemeinschaftsgefühl, zusammen.
Die folgenden Kapitel werden sich jeweils mit einem Aspekt eingehender befassen, zunächst mit dem Lebensstil ( Kap. 2–6), später dem Gemeinschaftsgefühl ( Kap. 8 und 9). Der jeweilige Aspekt wird entweder am Anfang eines Kapitels erläutert oder am Ende zusammengefasst. Die Kapitel 7 und 10 vergleichen Perspektiven anderer psychoanalytischer Richtungen mit der individualpsychologischen Perspektive. In Kapitel 11 werden Gemeinsamkeiten in manchen Phänomenbeschreibungen psychoanalytischer Autoren mit meinem individualpsychologischen Verständnis aufgezeigt. Die doppelte Dynamik wird in Kapitel 12 ausführlich dargestellt.
1 »To see a world in a grain of sand and a heaven in a wild flower, hold infinitiy in the palm of your hand and eternity in an hour.« http://www.poetryfoundation.org/poem/172906, aufgerufen am 04.08.2015
An drei kurzen Fallvignetten soll gezeigt werden, wie nach Adler der Lebensstil in jedem Phänomen zu finden ist. Diese Beispiele sind wie die Träume und Kindheitserinnerungen Modelle des Lebensstils. »Wir lernten in jeder seelischen Bewegung zugleich Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und Endziel, gleichzeitig auch die frühkindliche Situation des Betreffenden an der Geburtsstätte seiner Persönlichkeit erblicken« (Adler, 1926m/2010, S. 273).
Bei jedem Begriff wird das Phänomen aufgesucht, das durch den Begriff bezeichnet wird. Im folgenden Beispiel steht hierfür der Begriff des Gegenwartsmoments.
In einem der »mikroanalytischen Interviews« von Daniel Stern (2005, S. 35) wird deutlich, dass der Gegenwartsmoment nicht nur, wie Stern meint, frühere und künftige Muster in sich vereint, sondern dass er den Lebensstil des Interviewpartners mit Namen GS in einer wunderbar anschaulichen Weise darstellt. Im Folgenden ein Auszug aus dem Interview:
GS berichtet dem Interviewer, der mit I abgekürzt wird, von zwei Gegenwartsmomenten, die an diesem Vormittag eine besondere Bedeutung für ihn gehabt hätten:
GS
»Ich habe also die Kühlschranktür geöffnet, so« (er macht eine Handbewegung, um zu zeigen, wie er die Tür öffnete).
I
»Warum haben Sie mir gezeigt, wie Sie die Tür öffneten? Hat es damit eine besondere Bewandtnis?«
GS
»Oh ja, allerdings. Die Tür ist nicht ganz in Ordnung. Wenn man sie zu vorsichtig öffnet, fällt sie von selbst wieder zu. Und wenn man sie allzu ruckartig öffnet, schwingt sie weit auf und schlägt gegen den Schrank, der neben dem Kühlschrank steht. Deshalb muss ich sie auf eine ganz spezielle Weise öffnen, nicht zu sacht und nicht zu energisch. Nur dann bleibt sie an einem bestimmten Punkt offen stehen. Das mache ich ganz bewusst, weil es für mich eine Art Spiel ist, das volle Aufmerksamkeit verlangt.« Pause. »Danach habe ich vermutlich zuerst den Orangensaft herausgenommen. Ich erinnere mich nicht mehr daran, aber das tue ich ganz automatisch. Ich muss mit dem Orangensaft zum Tisch gegangen sein und mir auf dem Weg dorthin noch ein Glas geholt haben.« »Das nächste, woran ich mich bewusst erinnere, ist, dass ich Saft ins Glas gegossen habe.«
I
»Aha. Und wie genau?«
GS
»Ich mache es normalerweise so, dass ich das Glas möglichst voll gieße, aber nicht ganz voll. Es soll voll sein, aber es darf nichts überschwappen, wenn ich es zum Mund führe. Darauf muss ich beim Eingießen ganz bewusst achten.« Schweigen »Es ist eine Art Spiel.«
Nach Auffassung von Stern (2005) konkretisieren beide Momente dasselbe Thema, die Suche nach der Balance zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig. Außerdem erzählt GS, dass er am Vorabend versuchte, den Diskussionsteil seiner Dissertation abzuschließen. Das Schwierige daran war, dass er sich nicht entscheiden konnte, wie stark er seine Ergebnisse und Schlussfolgerungen zuspitzen sollte. GS deutet dies selbst: »Ich teste den Spielraum zwischen Zuviel und Zuwenig. Ich gehe an die Grenzen. Das fasziniert mich und ist für mich wichtig.«
Nach Daniel Stern ist der Gegenwartsmoment ein holistisches Ereignis, eine Gestalt. Er »organisiert Sequenzen oder Gruppen kleiner, wahrnehmbarer Einheiten (wie Noten oder Phoneme), die wir registrieren, ohne es zu bemerken, zu Einheiten einer höheren Ordnung« (ebd., S. 53). Von einem distanzierten Standpunkt aus lässt sich die Episode »in einzelne Bestandteile zerlegen: Affekte, Kognitionen und eine Aufeinanderfolge von Aktionen, Wahrnehmungen und Empfindungen. Jede einzelne dieser Komponenten kann isoliert, für sich betrachtet werden. Unmittelbare Erfahrungen aber, Erfahrungen, die wir in der Ersten Person machen, können nicht auf diese Weise zerlegt werden; sie werden als ein Ganzes empfunden« (ebd., S. 53).
Auch für Adler ist der Lebensstil, die Gestalt dieser Lebensbewegung, ein holistisches Ereignis (Adler, 1933/2008, S. 53 mit Bezug auf Smuts, J. C., 1926). Der Unterschied liegt nur darin, dass Adler auf die zielgerichtete Bewegung achten würde. GS möchte, dass die Kühlschranktür so weit wie möglich offen bleibt, ohne an den Schrank zu stoßen. Auch will er so viel Orangensaft wie möglich trinken und füllt das Glas so, dass der Saft gerade nicht überschwappt. Er will das Zuspitzen seiner Schlussfolgerungen so weit wie möglich treiben, ohne den Bezug zu den tatsächlichen Ergebnissen zu verlieren. Man könnte sagen, er will die Fülle des Lebens; dabei ist seine Bewegung spielerisch; das bedeutet, dass er sein Können-Wollen flexibel den äußeren und inneren Möglichkeiten anpassen kann.
In einem Traum hat der Patient Angst, beim Klettern von einer Felswand abzustürzen. Für ihn bedeute ein Absturz, dass er selbst nicht seinen Ansprüchen entspreche und seine Existenz gefährde. Patient: »Es geht nicht nur um meine eigenen Ansprüche, sondern noch mehr um die Erwartungen anderer. Beim Handballspiel muss ich gut sein, damit ich von meiner Mannschaft akzeptiert werde. Manchmal wird mir dies zu viel, immer den Erwartungen entsprechen zu müssen, und in mir regt sich ein massiver Widerstand dagegen. Aber als wir bei einem Spiel drei Tore zurück waren, schoss ich in einer Minute vier Tore und wir siegten.« Der Patient deutet diese Episode entsprechend seinem Lebensstil, wie wir ihn bisher verstanden haben. Für den ersten Teil dieser Episode mag dies auch zutreffen. Der Patient spürte den Druck der Erwartungen, vielleicht auch seine Ängste davor, von der Gruppe fallen gelassen zu werden, wenn er den Erwartungen nicht entspricht. Gleichzeitig spürte er seinen Widerstand gegen die (realen und projizierten) Erwartungen der Gruppe als verinnerlichter mütterlicher Figur. »Aber« – so leitet er den folgenden Satz ein, das heißt, all dies spielte vermutlich keine Rolle mehr, als die Mannschaft beim Spiel drei Tore zurück war. Er könnte plötzlich die Notwendigkeit gespürt haben, seiner Mannschaft zum Sieg zu verhelfen. Es war ein eigener Entschluss aus seinem Gemeinschaftsgefühl heraus.
In der erzählten Episode taucht nicht nur die Gestalt seines Lebensstils auf, sondern auch das Gemeinschaftsgefühl. Sowohl der Lebensstil wie auch das Gemeinschaftsgefühl sind in jedem Phänomen präsent, auch wenn wir es oft nicht erkennen. Das Gemeinschaftsgefühl kann unerkannt bleiben, vor allem dann, wenn unsere Aufmerksamkeit auf das gerichtet ist, was bisher erkannt worden ist, das heißt »gewusst« wird. Vor diesem Wissen warnt Bion und legt uns nahe, vor jeder Sitzung alles zu vergessen, was wir vermeintlich wussten und jeden Wunsch sein zu lassen, etwa eine gute Therapeutin sein zu wollen. Es wird eben keine beständige objektive Wahrheit, sondern eine dem Erleben im Augenblick der Sitzung aufscheinende subjektive innere Wahrheit formuliert.
In den ersten Wochen der Therapie saß die Patientin dem Fenster und mir gegenüber. Immer wieder ließ sie ihren Blick sekundenschnell vom Fenster zu mir und zurück zum Fenster hinauswandern. Mir wurde schwindelig, als hätte ich keine feste Bodenhaftung mehr. Mit der Zeit verstand ich meine Reaktion: Ich hatte das Lebensgefühl der Patientin gespürt: einerseits keine Bodenhaftung, nicht wirklich präsent; andererseits das Ziel ihrer Sehnsucht im Blick in die Ferne. Zwischen diesen Polen, Abwesenheit und Sehnsucht, spannte sich das Leben der Patientin.
Die mangelnde Bodenhaftung weist auf die innere Notlage hin, ihr Blick in die Ferne könnte eine Rettungsmaßnahme sein, der Versuch einer Bewältigung ihrer Notlage. Die Vermeidung des direkten Anblickens könnte signalisieren, dass die Patientin fürchtet, eine reale Beziehung sei unerträglich. Was damit gemeint ist, wird verständlich, wenn die Entwicklung der Patientin in den ersten Lebensjahren kurz skizziert wird, denn »die kindliche Erfahrung ist oft, wenn auch nicht immer, der relevante Bezugsrahmen […], der diese [heutigen] Erfahrungen in neuem Licht erscheinen lässt, sodass sie plötzlich verstanden und integriert werden können« (Buchholz & Gödde, 2013, S. 859). Dadurch verbindet sich die phänomenologische mit der hermeneutischen Sichtweise.
Im Erstgespräch fiel auf, wie die 51-jährige Patientin, Frau D, zwar ein differenziertes Bild ihres Lebens, ihrer inneren Befindlichkeit entwirft, aber es bleiben Worte ohne nachhaltigen Affekt. Es ist nur ein flüchtiges Bild, wie wenn sie darauf hoffen würde, dass sie durch das Angeschaut- und Angehörtwerden, durch das Gegenüber zum Leben kommt. Sie klagt über Rücken- und Gelenkschmerzen seit einigen Wochen. Vorherrschend ist das Gefühl, nicht vorhanden zu sein. Sie lebe dumpf und entscheidungsgehemmt vor sich hin. Diesen Zustand kenne sie zwar von früher, aber jetzt sei es kaum noch zu ertragen. Als der Freund sie vor drei Monaten verlassen habe, habe sie sich in einer Stimmung von Aussichtslosigkeit selbst an den Armen verletzt und eine Nervenärztin habe ihr eine Psychotherapie empfohlen.